Artur Tschistokjow

Draußen regnete es und Dunkelheit hüllte die kaum beleuchtete Plattenbausiedlung im Südteil der weißrussischen Stadt Wizebsk ein. Artur Tschistokjow, ein hochgewachsener Mann von 31 Jahren, saß an seinem schäbigen Wohnzimmertisch und spielte gedankenverloren mit einem kleinen Schnapsgläschen, welches er immer wieder zwischen seinen Fingern umhertanzen ließ.

Er goss sich einen weiteren Schluck billigen Fusel ein und starrte mit seinen großen, blauen Augen die Wand an. Heute war er nervöser denn je, denn die GSA, der internationale Geheimdienst, war ihm auf den Fersen. Agenten der Weltregierung waren hier nach Weißrussland gekommen und suchten fieberhaft nach ihm. Das war kein angenehmer Zustand. Aber hier, in dieser grauen Wohnblocksiedlung voller Armut und Tristesse, würden sie ihn nicht finden. Er war nirgendwo gemeldet, hatte keinen Scanchip mehr und verließ seine eintönige Wohnung, welche von einer unauffälligen Person angemietet worden war, nur im äußersten Notfall. Seine Freunde und Mitstreiter versorgten ihn mit Nahrungsmitteln und bezahlten seine Rechnungen. Es ging nicht anders.

Der Mann verhielt sich stets ruhig und wünschte seinen Nachbarn allenfalls einen „Guten Tag“, wenn sie ihm auf dem dunklen, grauen Hausflur zufällig über den Weg liefen. Er hatte auf ein Telefon und einen Internetanschluss verzichtet. Das war zu gefährlich, in dieser Zeit der allgegenwärtigen Überwachung. Offiziell war er aus jeder Registrierungsdatei der örtlichen Behörden verschwunden und das sollte auch so bleiben. Tschistokjow ging zum Kühlschrank, diesem halbverrosteten Etwas im Nebenraum, und schmierte sich eine Scheibe Brot, dann trottete er zurück in sein schlicht eingerichtetes Wohnzimmer und betrank sich weiter. Dieses Leben war auf Dauer eine Qual, aber es war immer noch besser, als erwischt und liquidiert zu werden.

Der Russe strich sich durch seine strähnigen, blonden Haare und verzog sein schmales Gesicht mit dem spitzen Kinn zu einer traurigen Maske. Dann schaute er erneut aus dem Fenster, doch da war niemand. Nur der Regen, die Dunkelheit und eine reparaturbedürftige, alte Straßenlampe, die einen Wackelkontakt hatte und abwechselnd an und aus ging.

Einige der Fenster im Wohnblock gegenüber waren noch beleuchtet. Wer da wohl sein trauriges Leben fristete? Vielleicht ein Mensch, der genau so unglücklich war wie er selbst. Nach einigen Stunden schlief er mit einem benebelten Schädel auf der Couch ein und wachte erst im Morgengrauen wieder auf.

Am Vormittag kam Peter Ulljewski, Arturs bester Freund und langjähriger Weggefährte, zu Besuch. Er brachte Brot und Wurst mit. Peter war 34 Jahre alt und Handwerker. Vor einigen Monaten war er zusammen mit Artur nach Wizebsk gezogen und wohnte in einer kleinen Wohnung am Stadtrand.

Der kräftige Mann mit dem kantigen Gesicht und den breiten Schultern erzählte Tschistokjow die neuesten Nachrichten aus der Stadt, was diesen noch nervöser machte.

„Sie haben gestern Nacht zwei von uns verhaftet, Andrej und Igor“, erzählte er. „Die beiden haben unsere Zeitung in die Briefkästen geworfen, da haben sie die verdammten Bullen erwischt.“

„Noch mehr Ausfälle!“, kam von Artur nur zurück und der junge Mann ließ sich auf sein schäbiges Sofa zurückfallen.

„Sieht aber gut aus, oder?“, sagte Peter und zog eine dünne Zeitung aus der Hosentasche. Er übergab sie seinem Freund.

Tschistokjow blätterte sich durch die Seiten, welche mit großen Lettern bedruckt waren, hindurch und nickte.

„Ja, so habe ich mir das vorgestellt. Mein Leitartikel über die Anhebung der Verwaltungssteuer ist auf der Titelseite. Gut so!“, meinte Artur und seine Miene erhellte sich für einen kurzen Augenblick.

„Davon haben wir 10.000 Exemplare drucken lassen. Ich habe den jungen Leuten gesagt, dass sie beim Verteilen noch vorsichtiger sein sollen“, bemerkte Peter und nahm sich eine Sprudelflasche aus dem Kühlschrank.

„Wir verbreiten die Zeitung erst einmal nur hier in Wizebsk – und nur in den Plattenbausiedlungen. Da bekommen wir den meisten Zuspruch aus der Bevölkerung“, ordnete Tschistokjow mit ernstem Gesicht an. „Was machen die Aufkleber?“

„Etwa 20.000 sind in Druck“, antwortete sein Gegenüber.

„Gut! Damit überschwemmen wir die Innenstadt in den nächsten Wochen!“, Artur rückte sich sein Hemd gerade und ging zum Fenster. „Was ist mit der Gruppe in Minsk?“

„Die wollten noch mal 20.000 Stück“, sagte sein Mitstreiter.

„Wenn noch Geld da ist, dann druckt die Dinger so schnell es geht“, erklärte der Flüchtling und zog die Gardinen wieder zu.

„Vor drei Tagen warst du im Fernsehen. Sie haben dein Bild gezeigt und um Hinweise aus der Bevölkerung gebeten“, bemerkte Ulljewski.

„Ich weiß, hat mir Wladimir schon berichtet …“, erhielt er als Antwort. „War auch noch etwas in der Zeitung?“

„Nur ein kleiner Artikel über unsere Sprühaktion vom letzten Dienstag. Nichts wichtiges, aber wir werden langsam bekannt! Die scheinen sich jetzt immer mehr mit uns zu befassen.“

„Allerdings!“, brummte Tschistokjow nachdenklich.

„Für Samstag ist alles vorbereitet. Hast du deine Rede fertig?“, wollte Peter wissen.

„Ich arbeitete daran! Mach dir keine Sorgen. Mir fällt schon etwas ein. Das ist das geringste Problem“.

Arturs Gehilfe verabschiedete sich bald darauf und verließ lautlos die Wohnung.

„Ich hole dich so um 18.00 Uhr ab!“, sagte er noch, dann zog er die Eingangstür hinter sich zu.

Artur Tschistokjow schluckte, die Angst in ihm stieg wieder auf und er betete dafür, dass die kleine Veranstaltung seiner Organisation am Samstag ruhig verlief. Wenn die Behörden ihn in die Finger bekommen sollten, dann hatte er das Schlimmste zu befürchten.

Der aus Kiew stammende politische Dissident hatte die Führung über die Freiheitsbewegung der Rus, einer regierungsfeindlichen Organisation von Widerständlern, welche sich die Befreiung ihrer Heimat auf die Fahnen geschrieben hatte, vor knapp zwei Jahren übernommen. Damals war er nach Minsk gezogen. Mittlerweile war die ehemals winzige Splittergruppe durch ihre werbewirksamen Aktionen der letzten Monate vielen Menschen ein Begriff geworden.

Die Sympathie in der Bevölkerung erwies sich als recht groß, doch die staatlichen Behörden und nun auch auswärtige GSA-Agenten hatten sich an seine Spuren geheftet und würden nicht eher ruhen, bis sie ihn erwischt hatten.

Sein Name als Kopf der Organisation war zu oft genannt worden, zu häufig war er jetzt schon aufgefallen. Sogar das Fernsehen hatte in den letzten Wochen mehrfach in der üblichen, hetzerischen Weise über ihn berichtet. Einen „Terroristen“ und „gefährlichen Irren“ schimpften sie ihn und setzten eine hohe Belohnung auf seinen Kopf auf, obwohl er lediglich Werbematerial publizierte und nie jemandem etwas getan hatte.

Wenn er seine unauffällige Wohnung tagsüber verlassen musste, so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mehr oder weniger heraus zu schleichen. Den Nachbarn war er vermutlich noch nicht aufgefallen, sonst hätte ihn die Polizei längst besucht. In die Innenstadt von Wizebsk, die mittlerweile mit zahllosen Kameras und Augenscannern übersät war, traute er sich schon gar nicht mehr hinein.

Sein älterer Bruder und seine Eltern waren vor einem Jahr verhaftet worden. Mit dieser Aktion wollten sie ihn aus seinem Versteck locken, doch er gab sich nirgendwo zu erkennen. Vielleicht waren sie bereits liquidiert worden – er hatte nichts mehr von ihnen gehört und sich in seinem Elternhaus blicken zu lassen, bedeutete glatten Selbstmord.

Sein Hass war in letzter Zeit enorm gewachsen und er fühlte sich hilflos. Obwohl immer mehr Leute in Weißrussland kaum noch Globes zum Leben hatten, die Weltregierung verabscheuten und die Unzufriedenheit täglich anzuschwellen schien, bekannten sich nur wenige offen zu seiner politischen Gruppe. Den meisten stillen Befürwortern schnürte die Angst um ihre nackte Existenz buchstäblich die Kehle zu.

Wer bei der Freiheitsbewegung der Rus im Geheimen mitmachte und erwischt wurde, dem drohte die behördliche Sperrung des Scanchips und damit im schlimmsten Fall der Hungertod, die Inhaftierung oder sogar die Hinrichtung. Die Situation war furchtbar für alle Beteiligten und langsam fraßen die Sorgen und Nöte den früher einmal so kreativen und lebensfrohen Mann von innen her auf.

„Ich haue notfalls nach Japan ab, wenn es gar nicht mehr geht“, sagte er manchmal zu sich selbst und war dann für einen kurzen Moment beruhigt. Doch jener Zustand hielt nie lange an, denn die pulsierende Furcht in seinem Kopf machte in diesen Tagen niemals Urlaub.

„Tor!“, brüllte Frank Kohlhaas enthusiastisch und drehte sich zu seinen Mitspielern um. Sein bester Freund und heutiger Gegenspieler, Alfred Bäumer, schaute ihm wütend hinterher. Gerade war er von Frank gehörig ausgetänzelt worden. Jetzt schoss der Torhüter den Ball quer über das Feld zurück und weiter ging es.

„Her mit dem Ding!“, hörte Frank seinen Mitspieler Sven vom anderen Ende des verwilderten Rasenplatzes rufen und beförderte das Leder mit einem wohl überlegten Kick in Richtung des jungen Mannes. Kopfball, Tor, Alfred lag erneut im Dreck und fluchte.

„Mensch, da ist ja meine Oma schneller!“, höhnte ein Bursche aus Franks Mannschaft. Bäumer knurrte ihm irgendetwas zu und hämmerte den Ball weit von sich weg. So lief es noch eine Stunde lang.

Heute war es sonnig und warm. Ein idealer Tag für ein kleines Fußballturnier im litauischen Dorf Ivas. Frank Kohlhaas’ Truppe konnte die drei anderen Teams aus der winzigen Ortschaft jedenfalls besiegen und trabte am Ende mit einem zufriedenen Grinsen vom Rasen.

„Was war denn heute mit dir los, Alter?“, fragte Frank den frustrierten Bäumer mit leicht hämischem Unterton.

„Ach, keine Ahnung! Ich war heute einfach nicht in Form. Das nächste Mal fegen wir euch vom Platz!“, brummte der Hüne und gab dem Ball einen wütenden Tritt.

Julia Wilden schenkte Frank einen bewundernden Blick und der junge Mann genoss dies in vollen Zügen.

„Frank vor! Noch ein Tor!“, rief sie und lächelte.

„Meinen letzten Treffer widme ich dir, holde Maid!“, tönte Kohlhaas und gab Alf einen Stups in die Seite.

„Ja, ja!“, raunte dieser und ließ sich auf einem Hocker nieder.

Es sollte noch ein wundervoller Tag werden. Julia schenkte Frank ihre ganze Aufmerksamkeit und umschwärmte ihn regelrecht. Ihr Vater, das Oberhaupt der Dorfgemeinschaft von Ivas, klopfte ihm auf die Schulter und lobte ihn: „Wusste gar nicht, dass du so ein Dribbelkünstler bist, Junge!“

Kohlhaas tat dieser sportliche Sommertag gut. Keine Sekunde dachte er heute an die Schrecken des japanischen Krieges, welche seine Gedanken in den letzten Monaten so oft eingesponnen hatten. Die Politik, der Krieg und alles andere schienen in weite Ferne gerückt zu sein. Und das war gut so.

„Komm wir trinken noch einen bei Sven“, schlug Alf vor und machte den Eindruck, als ob er sich wieder beruhigt hatte.

„Gute Idee, Alter!“, bemerkte Frank und lächelte zufrieden.

Sie gingen wieder ins Dorf und kehrten bei Sven ein. Kaltes Bier erwartete sie dort. So viel Spaß und Entspannung hatten die Freunde seit langer Zeit nicht gehabt.

Es war Samstag und heute fand die Veranstaltung statt. Die alte Lagerhalle, irgendwo weit auf dem Land im Norden Weißrusslands, war mit fast 200 Menschen gefüllt, welche sehnsüchtig auf Artur Tschistokjows Rede warteten.

Bis auf ein paar zerfallene Bauernhäuser und unbestellte Äcker gab es um sie herum nichts. Der Vorsitzende der Freiheitsbewegung der Rus blickte immer wieder nervös aus dem schmutzigen Fenster neben sich. Es war jetzt nach 19.00 Uhr und wurde langsam dunkel.

„Hoffentlich sind unter den 200 Leuten keine Spitzel“, sagte er leise zu sich selbst und atmete schwer vor Sorge. Die panische Angst, dass sich plötzlich die Polizei näherte, ließ ihn kaum einen klaren Gedanken fassen. Einige seiner Leute hatten sich mit Gewehren im Eingangsbereich der Halle postiert und waren bereit, diese auch zu benutzen, sollten die Behörden sie hier verhaften wollen.

Vor ihm hatte der Anführer der Gruppe in Minsk, Michail, die Veranstaltung eröffnet und tosenden Beifall geerntet. Er schimpfte auf die weißrussischen Politiker, welche der Weltregierung als Statthalter und Verwalter des Landes dienten. Er nannte sie „Verräter am Volk“ und „Blutsauger“. So etwas hörten die Unzufriedenen, die heute gekommen waren, gern. Es klang wie Musik in ihren Ohren, in einer Zeit, wo alle Hoffnung abgestorben zu sein schien.

Ein Mitstreiter aus Gomel wandte sich Artur zu und forderte ihn auf, mit seiner Rede zu beginnen. Der junge Mann schritt einige hölzerne Stufen empor und stellte sich hinter das stümperhaft zusammengeschusterte Rednerpult, welches ihm seine Getreuen bereitet hatten und an dem die Fahne der Organisation hing. Tschistokjow schnaufte kurz, dann setzte er sich in Bewegung.

Die hier Anwesenden, ein paar Neue waren auch wieder dabei, johlten und applaudierten. Der eine oder andere klopfte ihm erwartungsvoll auf die Schulter. Ein junger Mann sagte ehrfürchtig: „Ich bin stolz, Sie heute persönlich kennenlernen zu dürfen, Herr Tschistokjow! Ich habe im Fernsehen den Bericht über Sie gesehen …“

Der Widerständler lächelte ihm verhalten zu und betrachtete den skurrilen, kleinen Haufen naiv wirkender Rebellen vor sich.

„Vor diesem Grüppchen braucht sich nicht einmal eine Maus zu fürchten“, murmelte er vor sich hin. Dann begann er mit seiner Rede.

„Meine lieben Mitstreiter! Ich begrüße euch herzlich zu dieser Veranstaltung der Freiheitsbewegung der Rus, unserer Organisation, die sich dem herrschenden System mit all ihren begrenzten Mitteln entgegenstellt.

Es sind einige neue Leute heute hier, einige mir noch unbekannte Gesichter und ich hoffe, dass wir in den nächsten Stunden unsere Ruhe haben werden und uns niemand stört oder gar verhaftet.

Wir sind etwa 200 Personen in dieser verfallenen, alten Halle. Das sind wahrlich nicht viele, aber das ist auch besser als nichts. Ihr alle riskiert Kopf und Kragen, wenn ihr zu uns kommt und mit uns den Kampf gegen das Ausbeutungssystem der Weltregierung aufnehmt. Das ist mir wohl bewusst und euren Mut muss ich achten.

Aber was bleibt uns allen in diesen Tagen noch anderes übrig? Weiter still halten? Sich von einem trostlosen Tag zum nächsten hangeln, von einem Billigjob zum anderen? Hauptsache man verhungert nicht und wird nicht obdachlos?

Nein, das kann nicht der Weg sein! Wir müssen uns wehren und wir werden uns wehren. Die Büttel der Weltregierung in unserem Heimatland haben erst letzte Woche einen neuen Raubzug gegen unser Volk gestartet. Anhebung der Verwaltungssteuer, Strompreiserhöhung, noch niedrigere Löhne für die, welche überhaupt noch Arbeit haben und so weiter!

Sie lassen uns keine Luft mehr zum atmen. Sie ziehen die Schlinge immer enger und enger und pressen das Letzte aus unserem Volk heraus.

Es gab vor langer Zeit einmal bessere Zeiten. Zeiten, in denen der Bauer von seinem Ertrag leben konnte, der Arbeiter von dem, was er an Lohn erhielt und wir so etwas wie eine eigene Kultur hatten und freie Männer und Frauen waren.

Jetzt sind wir Sklaven und gehen langsam, aber sicher, vor die Hunde. Wir Russen haben kaum noch Kinder, weil sich die Familien keine mehr leisten können. Unsere jungen Leute wandern in andere Länder aus, um überhaupt noch Arbeit zu finden. Wer seine Anstellung verliert und nicht schnell wieder eine neue findet, der verhungert oder endet als Bettler.

Zur gleichen Zeit aber siedelt diese Regierung Hunderttausende von Fremden aus Asien und dem Orient in unseren Städten an, um unser Land und unsere Kultur noch schneller ins Chaos zu stürzen. Wer einmal durch einige Teile von Minsk, Moghilev, Grodno, Gomel und so weiter gegangen ist, der glaubt nicht mehr, dass er sich noch auf russischem Gebiet befindet.

Sie wollen hier einen Flickenteppich verschiedener Völker schaffen, weil der sich nicht mehr einheitlich wehren wird. Wir Russen sollen am besten verschwinden und aussterben, wenn es nach Medschenko und Konsorten geht.

Das Fernsehen hämmert uns allen pausenlos seine Lügen und seine hirnlose Unterhaltung ein, jeden verdammten Tag. Man will uns eine Gehirnwäsche verpassen und uns von unserem Elend ablenken.

Aber einer kleinen Gruppe von Leuten geht es ja auch gut, nämlich der, welche mit der Weltregierung zusammenarbeitet und ihr hilft, unser Land weiter ausbluten zu lassen.

Sub-Gouverneur Medschenko in Minsk ist so eine Wanze und sein ganzer Stab von Helfern gehört auch zu dieser Bande!“

„Diesen Hundesohn sollte man totschlagen!“, schrie einer der Anwesenden.

„Medschenko, das Verräterschwein!“, giftete ein junger Mann und hob seine Fäuste.

Der Rest der Leute schrie und applaudierte. Diese Worte waren wie Balsam auf ihre frustrierten Seelen.

Artur Tschistokjow fuhr fort und langsam fiel die Angst von ihm ab, jetzt steigerte er sich regelrecht in seine Rede hinein und gestikulierte wild umher.

„Wir fordern, dass dieses Land wieder unabhängig vom Versklavungssystem des Weltverbundes wird! Wir fordern, dass dieses Land nur von den Leuten regiert werden darf, die auch dem Volk dienen und sich dazu auch vor dem Volk verpflichten lassen!

Dieses Land gehört den Russen und nicht den Besatzern, der Weltregierung oder sonstigen Fremden!“, rief er und seine Anhänger jubelten.

Er schlug mit der Faust auf sein schiefes Rednerpult und warf seinen Leuten einen entschlossenen Blick zu, sein schmales Kinn bebte vor Erregung.

„Doch machen wir uns nichts vor. Die, welche uns unterdrücken, werden auch weiter den Ausbeutern dienen und nicht morgen vernünftig oder einsichtig werden!

Sie werden die wenigen Globes, die sie noch aus uns allen herauspressen können, nicht für den Aufbau von Schulen, von Kindergärten oder für die Schaffung von Arbeitsplätzen verwenden. Nein! Sie werden höchstens noch mehr Kameras aufstellen lassen, noch mehr bezahlte Spitzel umherschicken und notfalls noch mehr GCF-Soldaten in unserer Land holen, damit wir diese Unterdrücker noch mit unseren Abgaben durchfüttern können!

Unser Land ist beim „Global Bank Trust“ so schwer verschuldet, dass es kaum noch lebensfähig ist und wir alle im Dreck hausen müssen, aber für die Überwachung der eigenen Bevölkerung und die Unterhaltung der GCF-Truppen hier in Weißrussland haben Medschenko und seine Diener scheinbar immer noch genügend Geld!“

„Richtig!“, brüllte ein alter Mann und klatschte in die Hände. Einige applaudierten ebenfalls und nickten Artur Tschistokjow wohlwollend zu. Er fuhr fort …

„Als ich mich damals entschlossen habe, Widerstand gegen die Zerstörung und Ausplünderung unserer Heimat zu leisten, war mir klar, dass es ab diesem Punkt kein Zurück mehr geben sollte. Damals habe ich mir geschworen, dieses Land frei zu machen, seine Unabhängigkeit zu erkämpfen und es seinen rechtmäßigen Besitzern wieder zu geben – und das sind ohne Zweifel wir!

Ich habe oft Angst, dass sie mich finden und ermorden, aber ich, und wir alle, dürfen keine Angst haben, denn wir sind die Kämpfer des Guten!“, schmetterte er in den Saal.

„Unsere Freiheitsbewegung wird nicht eher ruhen, bis dieses Land wieder frei ist, bis unsere Landsleute wieder leben können und nicht mehr Hunger und Elend fürchten müssen. Wenn wir dabei draufgehen, dann soll es so sein. Was haben wir schon zu verlieren?

Ich stehe hier lieber eine Stunde vor euch als freier Mann als hundert Jahre als überwachter, halbverhungerter Sklave leben zu müssen!

Und ab heute gibt es nur noch ein Gebot für uns alle: Kampf, Aufklärung, das Wort verbreiten, bis es zur Tat werden kann – überall!

Wir müssen raus zu den Leiharbeitern in den verbliebenen Produktionskomplexen unseres Landes!

Wir müssen raus zu den zahllosen Obdachlosen, die keine Hoffnung mehr haben!

Wir müssen raus zu den Familien, raus zu allen unseren Landsleuten und unsere Freiheitsbewegung bekannt machen, ihnen unsere Ziele vorführen!

Die Leute in Weißrussland verzweifeln immer mehr und wir müssen ihnen zeigen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, als sich versklaven zu lassen!

Unsere frohe Botschaft wollen wir von nun an noch entschlossener in die Köpfe der Massen tragen! Die Zeit ist reif, meine Freunde!“

Artur Tschistokjows Rede ging noch über zwei Stunden. Er sprach von der großen Weltpolitik, vom japanischen Befreiungskrieg, von der Wirtschaft in Weißrussland und brüllte seine Forderungen durch die mittlerweile halbdunkle Halle.

Der junge Mann stellte anschließend einige seiner eigenen Konzepte vor. Er sprach davon, wie man Weißrussland wieder frei und unabhängig machen, den Massen Arbeit geben und die eigene Kultur wieder aufrichten konnte.

Er selbst war mit seiner Rede nur in Teilbereichen zufrieden, seine Anhänger aber verabschiedeten ihn mit einem triumphierenden Jubel und himmelten ihn regelrecht an. Er konnte nicht leugnen, dass ihm dieser Moment sehr gut tat und er für einen Augenblick regelrecht euphorisch am Ende der Halle, belagert von seinen begeisterten Getreuen, ausharrte.

Anschließend besprach Artur Tschistokjow die nächsten Schritte mit seinen Gruppenleitern, wovon ihm einer stolz berichtete, dass er sogar einen hochrangigen Beamten des Staatsdienstes als Sympathisanten gewonnen hatte. Die Veranstaltung, welche fernab von neugierigen Blicken in einem unbedeutenden Dörfchen fernab von Wizebsk stattfand, verlief ruhig und alle Gäste kamen unbemerkt und heil wieder nach Hause.

Der Anführer der Freiheitsbewegung der Rus ordnete noch einige Aktionen an und warb für die kleine Zeitung der Organisation, dann zog er sich mit seinem Freund Peter in dessen Auto zurück und redete über seine Pläne zur Einrichtung weiterer, illegaler Internetseiten und eines Untergrund-Radiosenders, irgendwo in Weißrussland.

Erschöpft, aber beflügelt von dem Zuspruch seiner Mitstreiter, kehrte er in den frühen Morgenstunden nach Wizebsk zurück und verschwand für die nächsten Tage wieder in seinem tristen Wohnblock am Stadtrand.

Es war ein trüber Abend. Draußen goss es wieder einmal in Strömen und der Regen prasselte unerbittlich gegen die Fensterscheibe. Frank fühlte sich matt und erschöpft, aber dennoch weigerte sich sein Körper einzuschlafen.

„29 … 30 … 31“, zählte er im Geiste vor sich hin. Er addierte alle, die er bisher getötet hatte. Die Menschen, an welche er sich erinnern konnte – in Paris, in Sapporo und bei der Mission im Dschungel von Okinawa.

Sicherlich konnte er noch einige dazu rechnen, denn vor allem im japanischen Krieg hatte er bei Nachtangriffen oft auf Schatten in der Dunkelheit gefeuert und sicherlich noch das eine oder andere Lebenslicht zum Erlöschen gebracht. Er hatte Handgranaten in Räume und Gräben geworfen und nicht mehr nachgesehen, wie viele Menschen von ihnen zerfetzt worden waren.

Sie nannten ihn einen „Helden“, doch er fühlte sich heute nicht so. Eine furchtbar schwere Last von Schuld und Zweifeln lag auf seiner Seele. Er blickte aus dem Fenster und dachte an die großen Krieger der Geschichte, jene, welche im Gedächtnis der Nachwelt als Helden gefeiert und verehrt wurden. Alle, denen man später Denkmäler und prunkvolle Schreine errichtet hatte.

„Wie viele Menschen mag König Leonidas bei den Thermophylen erschlagen haben?“, fragte er sich selbst und musterte nachdenklich die alte Weide vor seinem Fenster. „Hat er je an sie gedacht?“

Der junge Mann verfluchte die Welt, in welche er hineingeboren war. Diese Welt, in der ihm keine Wahl gelassen wurde, wie er sich selbst versicherte.

„Ich war ein glückliches Kind. Naiv und unwissend, aber glücklich. Nach ein paar Jahren erkannte ich jedoch, in welche Zeit mich das Schicksal gestoßen hatte“, flüsterte er vor sich hin.

„Es ist nicht deine Schuld, Frank! Du würdest jedes kleine Tier retten, jeder alten Frau über die Straße helfen. Das bist du Frank, ein Mensch mit allerbestem Kern. Und trotzdem hast du so viele getötet …“

Kohlhaas setzte sich auf sein Bett, atmete schwer und hielt sich den Kopf. Draußen begann es heftiger zu regnen.

Vor zwei Jahren war die Verwaltungssteuer von der Weltregierung im gesamten Verwaltungssektor „Europa-Ost“ eingeführt worden und hatte schon damals zu einer stillen Welle des Unmutes in der Bevölkerung geführt.

Heute, am 15.04.2033, hatten die Fernsehsender und Zeitungen verkündet, dass die verhasste Steuer erneut um über 50% angehoben worden war. Zwar versuchte man, den Leuten die „erhöhten Gebühren für eine verbesserte Scanchip-Verwaltung“ als notwendig und fortschrittlich zu verkaufen, doch änderte das nichts daran, dass die Bürger Weißrusslands, welche oft kaum mit ihren Hungerlöhnen über die Runden kamen, jetzt jeden Monat noch weniger Globes in ihren Taschen hatten.

Der stark beim „Global Bank Trust“, der internationalen Weltfinanzbehörde, verschuldete Unter-Verwaltungssektor „Weißrussland-Baltikum“ versuchte auf diese Weise, die leeren Haushaltskassen mit dreister Abzocke noch ein wenig aufzufüllen – das war den meisten Bürgern klar.

Offiziell behaupteten die Medien allerdings, die erhöhte Verwaltungssteuer sei unumgänglich, da mehr Beamte für einen besseren Service und eine schnellere Bearbeitung von Scanchip-Angelegenheiten notwendig seien. Viele Einwohner Weißrusslands wussten aber, dass die Scanchips fast ausschließlich durch automatisierte Computerverfahren verwaltet wurden und von einer Einstellungswelle neuer Beamter und Verwalter bekam niemand etwas mit.

Ab dem 15.04.2033 wurden jedem Bürger trotz allem weitere 57,99 Globes im Monat von seinem elektronischen Scanchip-Konto abgebucht. Eine unerhörte Dreistigkeit, welche in unzähligen Haushalten die Wut auf die Machthaber aufkochen ließ.