Während Alfred zu einer feucht fröhlichen Silvesterparty bei den Wildens ging, blieb Frank allein zu Hause zurück. Ihm war nicht nach Feiern zu Mute. Jede Hoffnung, sowohl im politischen, wie auch im privaten Bereich erschien zerschlagen. Es war eine Katastrophe.
Und dieser finstere Winter war besonders hart. Nicht nur in Frank Seele, sondern auch in der Realität. Eine grausame Kältewelle fegte bis Ende Februar 2034 über Russland und die umliegenden Länder hinweg. Auch das Baltikum wurde unter einer dicken Schneeschicht begraben.
In dieser schrecklichen Zeit erfroren oder verhungerten vielerorts Abertausende von Obdachlosen und Bettlern, welche sich kein Dach über dem Kopf leisten konnten und auch keine Aussicht mehr auf einen Broterwerb hatten.
So erging es großen Teilen Europas, aber in Osteuropa war es am schlimmsten und so wuchs eine Welle des Unmuts in der Bevölkerung heran, wie sie vorher noch nie da gewesen war.
Zudem wurde seit Beginn des neuen Jahres eine weitere Steuererhöhung durchgesetzt, um die ständig leeren Kassen des Sub-Verwaltungsbezirks „Baltikum-Weißruss-land“ wieder kurzzeitig aufzufüllen. Ein großer Teil der Gelder wurde allerdings für das Abtragen von Schulden an den „Global Bank Trust“, die internationale Bank des Weltverbundes, aufgewendet und war genau so schnell wieder ausgegeben, wie er eingenommen worden war.
So bildete sich langsam ein Nährboden für Unruhen, doch von Artur Tschistokjow war noch immer nichts zu sehen. Er blieb nach wie vor irgendwo im Untergrund und scheute die Öffentlichkeit aus verständlichen Gründen. Stattdessen verfasste er ein Buch mit dem Titel „Der Weg der Rus“, in dem er seine wichtigsten politischen Ziele, aber auch Biographisches, zu Papier brachte. Der junge Mann schrieb in dieser Zeit wie ein Besessener und bald brachte es sein Werk auf über 1.200 Seiten.
Artur Tschistokjow war entschlossen wieder zu kommen. Die Verfolgungswelle und die brutale Zerschlagung seiner Organisation hatten ihn nur kurzzeitig demoralisiert, dann folgte er wieder seinen Visionen von einem freien Russland und sein fanatischer Wille ließ ihn nicht mehr ruhen.
Seine Eltern und sein älterer Bruder waren inzwischen, nach einer langen Zeit in Haft, im Zuge der letzten großen Liquidierungswelle von den Schergen der Weltregierung ermordet worden. Das hatte er mittlerweile herausgefunden. Es war zu Beginn des Jahres passiert.
Scheinbar hatte man sie überhaupt nur so lange leben lassen, weil die Behörden hofften, dass er sich vielleicht doch eines Tages wegen ihnen aus seinem Versteck hinauswagen würde. Doch das hatte er nicht getan und somit sahen die Mächtigen keine Veranlassung mehr, sie nicht zu liquidieren.
Artur Tschistokjows Hass wuchs in diesen Wintermonaten ins Unermessliche und ihm wurde immer deutlicher bewusst, dass auch sein Leben nur noch mit dem Erfolg seiner Bemühungen Sinn machte. So fasste er den felsenfesten Entschluss, jetzt endgültig mit allen Konsequenzen zu kämpfen und zu siegen – oder zu fallen.
Frank, Alfred, Wilden und Sven warteten in HOKs Arbeitszimmer jetzt schon eine halbe Stunde sehnsüchtig auf das Klingeln des Handys. Heute Morgen hatte sich Artur Tschistokjow bei dem fülligen Informatiker auf einer gut verschlüsselten Leitung gemeldet und nach Herrn Wilden gefragt. HOK hatte erklärt, dass er den Dorfchef erst holen müsse und der Rebellenführer versprach, dass er sich um 13.00 Uhr wieder melden würde.
„Wir haben jetzt Ende Februar. Wo hat der Kerl die ganze Zeit gesteckt?“, fragte Frank die anderen.
„Er hatte sich verdrückt. Das war auch das einzig Richtige. Wir sollten froh sein, dass die Behörden nicht auf Ivas aufmerksam geworden sind“, antwortete der Dorfchef und starrte mit gierigen, aufgerissenen Augen auf das Display des Handys vor ihm. Die Uhr zeigte jetzt 13.20 Uhr, das Display leuchtete hell auf und ein Klingeln zerriss die erwartungsvolle Stille.
„Ja?“ Wilden nahm den Anruf mit unterdrückter Rufnummer entgegen.
„Ich bin es, Thorsten!“
„Ha, ha! Du lebst! Wo warst du die ganzen Monate?“
„Ich war versteckt. Ich kommen nach Ivas. Morgen!“
„Super! Wir freuen uns alle auf dich. Wann kommst du?“
„15.00 Uhr ich bin bei dir.“
„Gut, bis morgen!“
Der ältere Herr legte auf und strahlte die anderen glücklich an. Frank klopfte ihm sanft auf die Schulter und stieß einen Freudenschrei aus.
„Ich danke Gott, dass er noch lebt!“, bemerkte Kohlhaas erleichtert und strahlte.
„Wenn sie ihn erwischt hätten, dann wäre das schon im Fernsehen gekommen. Meinst du nicht auch?“, sagte Alf.
„Das ist wohl wahr! Mensch, was bin ich froh!“, stieß Frank aus und ballte die Faust wie ein Olympiasieger.
Artur Tschistokjow verneigte sich höflich und zwinkerte Frau Wilden, welche ihm die Tür geöffnet hatte, zu. Dann kam er die Treppe herauf und ging ins Arbeitszimmer des Dorfoberhauptes, wo ihn ein Dutzend Männer freudig begrüßte.
„Ich bin noch da. Zurück aus den Exil!“, scherzte der Russe.
„Wo warst du denn?“, erkundigte sich Frank.
„In Nähe von Khoyniki, in Süden von Weißrussland. Dort glaubten die Polizei nicht, dass ich bin. Sie haben in Norden meistens gesucht …“
„Ha, ha! Hatte das wieder Peter organisiert?“, fragte Wilden und lehnte sich zufrieden in seinen Sessel zurück.
„Ja, er und andere Freunde!“
„Willst du denn jetzt weitermachen mit der Freiheitsbewegung der Rus?“, kam von Sven.
„Natürlich! Ich mache jetzt richtig weiter. Jetzt richtig! Versteht du?“, erwiderte der Politiker entschlossen. Artur öffnete seinen Aktenkoffer und nahm einen riesigen Stapel Papiere heraus. Er überreichte ihn Wilden.
„Was ist das?“
„Das ist Manuskript von mein Buch, welche ich habe geschrieben in die letzte Monate. Es heißt auf Deutsch „Der Weg der Rus“. Das kannst du lesen. Eine Tages ich werde es machen lassen.“
„Drucken lassen“, ergänzte Frank und zwinkerte Tschistokjow zu.
„Ja, ich lasse den Buch drucken!“
„Interessant!“, murmelte Herr Wilden. „Mal sehen, ob mein Russisch wirklich so gut ist.“
„Die Krise von Wirtschaft wird größer in Weißrussland. Es wird immer schlimmer“, sagte Tschistokjow.
„Ja, es gibt wohl noch mehr Potential für unsere Sache als vor einem halben Jahr“, fügte der Dorfchef hinzu.
„Richtig! Noch mehr arme Leute, noch mehr Probleme in ganze Land!“
„Aber deine Organisation ist doch zerstört, oder?“, fragte ein junger Mann aus dem Hintergrund.
„Sie ist nicht ganz kaputt, viele Struktur ist noch da, meine Freunde. Ich werde jetzt kämpfen bis zu Sieg. Nie mehr ich werde mich verstecken!“, predigte Tschistokjow mit Verbitterung.
„Im Fernsehen haben sie neulich gesagt, dass du Selbstmord begangen hast. War auch auf den englischsprachigen Kanälen“, sagte Sven.
„Ach, davon habe ich gar nichts mitbekommen“, wunderte sich Alf.
„Nein, ich lebe noch. Sie lügen! Sie lügen immer in Fernsehen! Meine Eltern und mein Bruder haben sie erschossen, in Januar. Ich weiß es von eine Freund!“, grollte der blonde Mann und fletschte die Zähne.
Frank Kohlhaas zuckte innerlich zusammen, als Tschistokjow das erzählte. Er wusste zu gut, wie er sich fühlen musste. Das gleiche grausame Schicksal hatte ihn vor einigen Jahren ereilt.
„Sie verhaften Eltern und Schwester und Bruder, um mich heraus zu holen. Versteht ihr, wie ich meine?“, fuhr Tschistokjow fort.
„Ja!“, zischte Frank mit finsterem Blick und Hass glühte in ihm auf. „Bei mir haben sie das Gleiche getan! Diese Ratten!“
„Das ist unsere ‚Fate’… in Englisch“, bemerkte Artur mit einem zynischen Lächeln.
„Schicksal! Das ist unser Schicksal!“, erklärte Frank und nickte.
„Sie werden zahlen! Wenn wir den Macht haben, werde die Schweine zahlen! Ich werde ihr Blut verschütten!“, knurrte der Russe mit starren Augen.
Die Situation hatte sich wieder ein wenig beruhigt, zumindest im Bezug auf den immensen Verfolgungsdruck, den die Behörden und die GSA auf die Anhänger der Freiheitsbewegung der Rus im letzten halben Jahr aufgebaut hatten. Offenbar dachten sie, dass die Organisation weitgehend vernichtet sei, nachdem sie mehrere Tausend Verdächtige im ganzen Land inhaftiert oder erschossen hatten. Den Kopf der Bewegung hatten sie jedoch nicht erwischt und dieser hatte sich zu einem noch radikaleren und entschlosseneren Fanatiker und Revoluzzer entwickelt. Artur Tschistokjow war nun zu allem bereit und hatte sich mit dem Gedanken, eines Tages vielleicht selbst zum Schafott geführt zu werden, offenbar abgefunden. Aber als Widerständler hatte er schon seit langem ein gutes Verhältnis zum Jenseits entwickelt.
Anfang März machten sich Artur und Peter auf den Weg nach Minsk. In einem Außenbezirk im Westen der Metropole hatten sie etwa hundert ihrer Anhänger zusammengetrommelt. Es war Tschistokjows erster Versuch seit Monaten, die orientierungslosen Männer wieder unter dem Banner des Drachenkopfes zu versammeln. Viele waren außer sich vor Freude in die kleine, leerstehende Turnhalle am Stadtrand gekommen, als sie hörten, dass der Rebellenführer wieder aktiv war und sie in Minsk besuchte.
Etwa ein Dutzend Männer hatte Gewehre dabei, einige schielten immer wieder durch ein schmutziges Fenster und sahen auf den verregneten Parkplatz vor dem Gebäude. Wenn hier heute die Polizei auftauchte, dann würde es notfalls Tote geben. Das hatte Tschistokjow seinen Leuten schon im Vorfeld gesagt.
Der Politiker unterhielt sich noch kurz mit dem Anführer seiner Gruppe in der größten Stadt des Sub-Verwaltungssektors „Weißrussland-Baltikum“, Michael Tcherezov, einem grimmig dreinschauenden Mann Mitte dreißig, und ging dann hinter das Rednerpult. Er musterte den Haufen vor sich, starrte sie mit durchdringendem Blick an und begann dann mit seiner Rede.
„Meine Mitstreiter! Meine Freunde!
Als wir vor einigen Jahren mit unserem Kampf begannen, da waren wir ein winziger Trupp von kaum 300 Mann im ganzen Land, Kinder einer finsteren Zeit, von Sorgen, Ängsten und Nöten geplagt.
Wir kamen aus allen Ecken und Lagern der Gesellschaft mit einem gemeinsamen Ziel vor Augen: Unser Russland nicht sterben zu lassen und es wieder frei und unabhängig zu machen!
Jetzt sind wir fast vernichtet. Man hat uns beinahe ausradiert aus der Geschichte und uns anonym gemacht. Das System hat auf uns mit allen Mitteln eingeschlagen, unsere Leute verhaftet und ermordet, uns mit Lügen und Hetze überschüttet. Sie haben eine Menge aufgefahren, um uns zu zerstören – offenbar haben unsere Worte und unser Zeichen schon ausgereicht, dass dieses System solch verzweifelte Mittel angewendet hat.
In unserer Ohnmacht richten wir uns jetzt wieder auf. Wir verteidigen, was vielleicht schon gefallen ist, und werden dann von der Verteidigung zu einem ungestümen Angriff übergehen!
Gebt uns die Freiheit zurück! Gebt uns unser Land zurück! Wir werden nicht ruhen, bis entweder das Weltsystem tot ist oder wir es sind!
Wir haben uns nicht zu entschuldigen! Wir geben nicht auf! Wir werden weiterkämpfen! Fanatischer und selbstloser als es sich unsere Feinde ausmalen können!
Schlagt ruhig auf uns ein, das wird uns nur hart machen. Und verzeihen werden wir eines Tages nicht! Wir werden euch keine Gnade gewähren, so wir ihr uns, unserem ganzen Volk und auch der übrigen Welt niemals Gnade gewährt habt! Es wird ein Kampf auf Leben und Tod werden und wir sind bereit, ihn auszufechten! Komme, was wolle!
Ich habe in den letzten Tagen mit vielen von uns gesprochen. Einige hatte man inhaftiert und gefoltert, damit sie Informationen über mich preisgeben.
Andere hingegen hatten nicht mehr das Vergnügen, überhaupt noch inhaftiert zu werden, sie wurden direkt erschossen. Wir werden sie erst im Jenseits wiedersehen und ihnen dann hoffentlich sagen können: Brüder, wir haben es auf Erden geschafft. Unsere Kinder wachsen jetzt als freie Männer und Frauen auf, in einem Land, das ihnen gehört!
Wer nicht bereit ist, den Kampf bis zur letzten Kugel zu führen, der soll jetzt gehen und nicht mehr wiederkommen! Wem sein eigenes Leben mehr wert ist, als das Leben unseres Volkes, der soll jetzt für immer verschwinden!
Alle anderen mögen mit mir kommen, mir folgen. Auch wenn ich euch durch die Hölle führen muss, so bin ich sicher, dass nach diesem schrecklichen Weg ein neuer Morgen auf uns wartet!
Wir beugen uns nicht! Wir geben nicht nach! Sie müssen uns alle totschlagen, damit wir den Mund halten! Und genau so werden wir sie alle totschlagen, wenn sich die Machtverhältnisse eines Tages ändern! Kompromisse gibt es nicht mehr – es gibt nur noch Untergang oder Sieg!“
Tosender Applaus ertönte. So wollten es Arturs Mitstreiter hören. Zumindest die meisten. Ein paar von ihnen waren allerdings auch verstört, denn Tschistokjow strahlte an diesem Tag eine geradezu unheimliche Entschlossenheit und Willensstärke aus. Seine Worte mochten auf den ersten Blick pathetisch und übertrieben wirken, doch er meinte sie todernst.
Den Rest des Monats verbrachte der Anführer der Rus mit einer unermüdlichen Reise durch alle wichtigeren Städte des Landes, wo er seine Getreuen zusammenrief und ihnen die Schlagwörter der neuen Kampfphase einhämmerte. Seine Anhänger waren wesentlich weniger geworden, doch die, welche ihm treu geblieben waren, schwor er auf den neuen, harten Kurs mit fast wahnsinniger Verbohrtheit ein.
Jetzt wollte er ernst machen und seine Organisation zu einer Massenbewegung formen. Die wirtschaftliche Lage hatte sich dramatisch verschlechtert und nun galt es für ihn zu ernten. Doch diese Ernte sollte blutig werden …
In Ivas ging das Leben derweil einmal mehr seinen gewohnten Gang. Arturs Besuch hatte sie alle wieder moralisch aufgebaut und Wilden hielt engen Kontakt zu dem Russen.
Auch die Gruppe der jungen Männer aus Ivas, die der Freiheitsbewegung der Rus in den vorherigen Monaten so oft bei Aktionen unter die Arme gegriffen hatte, war schnell wieder zu begeistern gewesen.
Als der verregnete April über das Baltikum und Weißrussland kam, begannen sie wieder mit fieberhaftem Eifer, aktiv zu werden und waren oft tagelang, besonders im Westen und Norden Weißrusslands, zusammen mit ihren russischen Mitstreitern unterwegs. Vor allem Sven tat sich durch vielseitige Hilfe in allen Bereichen hervor.
Frank und Alfred beobachteten Arturs Wiederkehr auf die Bühne der Politik jedoch nach wie vor recht distanziert und besuchten lediglich die eine oder andere Veranstaltung.
Mitte April führte Artur Tschistokjow eine Protestkundgebung in Brest durch. Etwa 1.000 Teilnehmer kamen und zogen für eine Stunde durch die Innenstadt. Es gab schwere Auseinandersetzungen mit der Polizei und zwei Dutzend Tote.
Eine Woche später tauchten die Männer der Freiheitsbewegung in Pinsk auf und zogen mit etwa 300 Leuten vor eine Fabrik, um die Arbeiter zum Streik zu ermutigen. Es folgten weitere spontane Protestmärsche in Slutsk und Begoml.
Die Medien berichteten landesweit vom erneuten Erscheinen Tschistokjows und die Behörden begannen im Gegenzug mit groß angelegten Verhaftungen, Verhören und sogar Erschießungen. Dies führte dazu, dass Artur bei Zusammenstößen mit der Polizei seinen Mitgliedern nun befahl, ebenfalls Gewalt anzuwenden und zurück zu schießen.
Alles in allem beeindruckten der Mut und die Entschlossenheit Tschistokjows viele verzweifelte Bürger und seine Reihen füllten sich langsam wieder. Sein Schneid sich so offen mit einem brutalen und vollkommen übermächtigen System auseinander zu setzen, rang sogar vielen weißrussischen Polizisten eine gewisse Bewunderung ab.
Als es ihm schließlich sogar gelang, drei gleichzeitig stattfindende Demonstrationen in Slonim, Vidzy und Slavgorod mit jeweils über 700 Teilnehmern durchzuführen, schenkten ihm die Medien noch mehr Aufmerksamkeit.
Die öffentlich proklamierten Forderungen des ungebrochenen Revolutionärs trafen die Verwaltungsregierung Weißrusslands schwer. Zehntausende von Bürgern bekamen unangenehme Wahrheiten zu hören, über die kein Fernsehsender jemals berichtet hätte.
Medschenko und seine Vasallenregierung wurden bloßgestellt und ihre Verbrechen offen angeprangert. Die meisten Weißrussen, welche Arturs Reden hörten, kamen durchaus ins Nachdenken und waren anschließend auch durch die beste Fernsehpropaganda nicht mehr so einfach auf Spur zu bringen. Zudem kollabierte die Industrie im Frühjahr 2034 noch flächendeckender als in den Jahren zuvor. Zehntausende weißrussische Leiharbeiter wurden entlassen, ganze Fabrikkomplexe geschlossen und in andere Länder ausgelagert. Im Gegenzug stiegen die Lebensmittelpreise und Gebühren weiter an. Eine finstere Wolke der unterschwelligen Wut pulsierte in den Köpfen vieler Weißrussen und die soziale Situation machte keinerlei Anstalten sich in den nächsten Jahren zu verbessern.
Weiterhin entbrannte bei vielen Einheimischen eine offene Abneigung gegen die von der Regierung angesiedelten Fremden aus den orientalischen und asiatischen Ländern und immer öfter kam es mit dieser wachsenden Gruppe zu Konflikten in den Großstädten.
Kriminelle Banden aus den ehemaligen Teilrepubliken der alten Sowjetunion überschwemmten mittlerweile das Land und machten durch Raub, Mord, Drogen- und Menschenhandel von sich reden. In manchen Vierteln der Großstädte Weißrusslands entstanden gefährliche Ghettos voller Kriminalität, Armut und Gewalt. So heizte sich die explosive Stimmung im Land weiter auf.
„Ich werde jetzt in jede größere Stadt in Land eine Demonstration machen!“, erklärte Tschistokjow und nahm einen Schluck Tee zu sich.
Heute hatten sie sich in Franks Haus getroffen. Wilden war auch dabei und hatte eine Karte von Weißrussland mitgebracht. Warme Sonnenstrahlen drangen durch das Küchenfenster und erhellten den alten, noch immer leicht renovierungsbedürftigen Raum, in einem angenehmen Licht.
„Und hier willst du anfangen?“, fragte Frank und deutete mit seinem Finger auf die Kleinstadt Verkhnedvinsk an der litauischen Grenze.
„Ja, ich fange in Norden an und gehe bis Süden, bis an die Grenze von Ukraine!“, erklärte der Anführer der Freiheitsbewegung selbstsicher.
„Aber dann können sich die Behörden doch denken, wo ihr als nächstes demonstriert“, warf Bäumer etwas verdutzt ein.
„Und was ist mit Minsk?“, wollte Frank wissen.
„Sie sollen es doch wissen. In die kleine Städte sind wenige Polizisten und wir werden immer mehr Leute sein. Dann gibt es Konfrontation! Na und?“, gab Artur grimmig zurück.
„Und Minsk?“, hakte Kohlhaas nach.
„In Minsk wir werden nicht demonstrieren. Das ist zu gefährlich! Auch nicht in die andere ganz große Städte, wie Wizebsk und so weiter …“
Artur erläuterte weitere Einzelheiten seines Vorhabens. Er wollte die Macht der Behörden tatsächlich zuerst in den ländlicheren Regionen auf die Probe stellen. Wilden fand die Idee gut und lobte die Entschlossenheit des jungen Politikers. Frank und Alfred waren allerdings noch immer nicht ganz von Arturs Plänen überzeugt.
Am 03.05.2034 begann Tschistokjow mit einem ersten Protestmarsch in Verkhnedvinsk, einer verschlafenen Kleinstadt mit kaum 15.000 Einwohnern im äußersten Norden Weißrusslands. Über 2.000 Anhänger konnte er dort versammeln, welche seiner fast zweistündigen Rede lauschten. Der Zuspruch in der Bevölkerung war enorm und der Politiker wurde von vielen tatsächlich wie ein Befreier gefeiert und bis auf eine kleine Anzahl von filmenden Polizisten ließ sich die Staatsgewalt nicht blicken. Es war ein erster Erfolg.
Eine Woche später nahmen sich die Anhänger der Freiheitsbewegung der Rus die Stadt Disna vor. Sven und die anderen jungen Leute hatten bereits einen Tag vor der Kundgebung Flugblätter rund um die Kleinstadt verteilt und sich bei den Bauernfamilien, welche hier um ihre wirtschaftliche Existenz kämpften, viele Sympathien verschafft. Dann folgte eine Kundgebung mit etwa 800 Leuten. Frank und Alfred waren diesmal auch mit dabei.
Auch hier verlief alles ruhig, denn die wenigen Polizisten ließen es offenbar auf keine Straßenschlacht ankommen.
Zwei Wochen später gab es Demonstrationen in Kobylnik und Dokshitsky im Nordwesten des Landes. Die Massenversammlungen wurden gleichzeitig durchgeführt und eine leitete Artur selbst. Die andere organisierte Michail Tcherezov aus Minsk.
Insgesamt nahmen an beiden Veranstaltungen über 3.000 Menschen teil. In Kobylink kam es diesmal zu ersten Auseinandersetzungen mit zwei Hundertschaften der regionalen Polizei. Ein Beamter und drei Demonstrationsteilnehmer wurden erschossen und mehrere verletzt. Anschließend gab es einige Verhaftungen.
Anfang Juni führte Artur Tschistokjow noch eine letzte Demonstration durch Lepel, eine heruntergekommene Kleinstadt im Süden von Wizebsk. Frank und Alfred begleiteten den Demonstrationszug von etwa 1.000 Männern und Frauen diesmal als bewaffnete Ordner. Es verlief alles ruhig und die Rus ernteten erneut viel Zuspruch bei den Einwohnern der Stadt.
Nach jener letzten Veranstaltung für diesen Monat zog sich der Anführer der Freiheitsbewegung zuerst einmal für ein paar Wochen zurück und arbeitete weiter am inneren Aufbau seiner Organisation.
Gelegentlich tauchte er in dieser Zeit auch unangekündigt in Ivas auf und besprach diverse Dinge mit Wilden. Der rastlose Rebellenführer hatte mittlerweile eine neue, geheime Druckerei für seine Zeitung eingerichtet und brachte das Blatt mit Wildens finanzieller Hilfe in einer beeindruckend hohen Auflage heraus.
Seine Bewegung hatte sich in den letzten Monaten gut erholt und war stark angewachsen. Alle neuen Mitglieder wurden jetzt endgültig dazu verpflichtet, bei öffentlichen Auftritten in grauem Hemd und schwarzer Hose zu erscheinen, um die Einheit der Rus zu demonstrieren. Schließlich brachte Tschistokjow sogar sein in den letzten Wintermonaten verfasstes Buch, „Der Weg der Rus“, endlich in gedruckter Form heraus.
Er verkaufte es nicht nur an seine Getreuen, welche es ihm förmlich aus der Hand rissen, sondern verschickte es auch anonym, in gedruckter Form oder als elektronische Datei, an Tausende von hohen Beamten, Polizeichefs und Leiter von Verwaltungseinrichtungen, um ihnen seine Gedanken näher zu bringen.
Die Medien berichteten über die Aktion und warnten eindringlich vor den „Wahnideen“ Tschistokjows und seinem „hetzerischen Machwerk“.
Scheinbar hatte er damit sogar ein wenig Erfolg, denn als er Anfang August eine weitere Kundgebung in der kleinen Grenzstadt Surazh durchführte, war ein Teil der wenigen Polizisten, welche den Marsch der etwa 4000 Demonstranten beobachteten, ungewöhnlich freundlich und verhielt sich demonstrativ ruhig.
Auch Frank und Alfred waren von dem mutigen Auftreten ihrer russischen Gesinnungsgenossen beeindruckt und flankierten die Menschenmasse an diesem Tag erneut als bewaffnete Ordner.