Konspiratives Treffen

Frank Kohlhaas, Alfred Bäumer, Thorsten Wilden und zwei weitere Männer aus Ivas standen auf einem abgelegenen Parkplatz und warteten. Die Uhr zeigte jetzt schon 22.00 Uhr und es wurde langsam dunkel.

Sie waren in einen Außenbezirk der Stadt Wizebsk im Nordwesten Weißrusslands gefahren und hatten sich neben einem leerstehenden Gebäude postiert. Die Männer spähten nun seit einer Weile zur Landstraße herüber, welche direkt auf sie zu führte.

„So, wir haben 22.02 Uhr – pünktlich sind die schon einmal nicht“, knurrte Wilden und musterte seine Digitaluhr.

„Hauptsache, sie kommen und sind sauber“, warf Alf in die Runde.

Martin Steinbacher, einer der beiden jungen Männer, die als Begleitschutz mitgekommen waren, schluckte nervös und atmete schwer.

„Ruhig bleiben!“, flüsterte ihm Frank zu und tastete nach seiner Pistole, die er tief in seinem Mantel hatte verschwinden lassen.

Nach einigen Minuten sahen sie die Scheinwerfer eines Autos am Horizont aufblitzen. Jemand näherte sich dem Treffpunkt.

„Aha …“, sagte Wilden nur und warf den beiden jüngeren Begleitern einen ernsten Blick zu.

Der PKW kam mit einem leisen Brummen näher. Er schien ebenfalls fünf Personen zu transportieren, deren Umrisse man durch die Scheiben im Halbdunkel ausmachen konnte.

Das Fahrzeug hielt an und ein hagerer, blonder Mann in einem langen, grauen Trenchcoat stieg als erster aus. Dann folgten ihm vier weitere Männer, die grimmig dreinschauten und komplett schwarz gekleidet waren.

Der blonde Mann, Artur Tschistokjow, näherte sich Wilden, welchen er richtig als Anführer der fünf Fremden ausgemacht hatte und reichte ihm die Hand.

„Menja sawut Artur Tschistokjow!“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.

„Priwjet, Thorsten Wilden!“, antwortete der Dorfchef und warf einen freundlichen Blick zurück.

„Please talk in English, Mr. Tschistokjow!”, bat Wilden sein Gegenüber.

Die anderen Männer kamen jetzt auch näher und stellten sich vor. Frank und Alf waren beruhigt und schüttelten ihnen die Hände.

„Tj nemez?“, fragte Tschistokjow.

„Da! Ja nemez!“, sprach Wilden und grinste.

„Choroschow! Dann ich versuche sprechen in Deutsch!“, gab der Anführer der Freiheitsbewegung zurück und zog seine Augenbrauen nach oben.

„Gut! Das freut mich. Sie können also deutsch, Herr Tschistokjow …“, sagte Wilden gelöst.

„Ein bisschen ich kann sprechen. Es wird genug sein zu Konversation!“

Wilden schien sofort Gefallen an seinem Gesprächspartner gefunden zu haben und redete nun munter drauflos. Arturs Gefolgsleute schwiegen und standen nur wie Statuen hinter ihm.

„Warum haben sie deutsch gelernt?“, wollte das Oberhaupt von Ivas wissen.

„Ich bin große Freund von deutsche Kultur. Dann ich habe als Hobby deutsche Sprache gelernt“, gab Tschistokjow zurück und nickte.

„Tut mir leid, dass ich euch an so eine Ort treffen muss, aber es ist wegen „security“. Sie verstehen?“

„Sicherheit!“, sagte Frank.

„Ja, wegen Sicherheit!“, ergänzte der blonde Mann und lächelte Kohlhaas zu.

Das Gespräch dauerte fast zwei Stunden und bald war es so dunkel, dass nur noch die Scheinwerfer der beiden Autos den zehn Männern etwas Orientierung gaben.

Die Gäste aus Ivas und ihre neuen Bekannten aus Weißrussland verstanden sich prächtig und waren politisch vollkommen auf einer Linie. Wilden gab wie üblich sein umfassendes Wissen zum Besten und staunte nicht schlecht, dass ihm Artur Tschistokjow trotz Sprachschwierigkeiten auf gleichem Niveau antworten konnte.

Nachdem sie sich auf dem Parkplatz schließlich gründlich die Beine in den Bauch gestanden hatten, verabschiedeten sie sich voneinander.

„Wir bleiben in Kontakt. Ich freue mich schon auf gemeinsame Aktionen“, sagte Wilden euphorisch und klopfte Tschistokjow freundschaftlich auf die Schulter. Dann fuhren sie davon.

Auf der Fahrt zurück nach Ivas wirkte der Dorfchef überschwänglich und hatte seinen alten Tatendrang wiedergefunden.

„Sagt mal, was haltet ihr von ihm?“, fragte er seine Beifahrer.

„Er scheint in Ordnung zu sein und wirkt aufrecht“, meinte Frank.

„Und hat die Weltlage gut durchschaut“, kam von Alf.

Die beiden jüngeren Männer aus Ivas nickten nur und hielten sich ansonsten mit Antworten zurück.

„In Litauen gibt es also auch Leute von Tschistokjows Organisation. Wir werden mit ihnen sofort Kontakt aufnehmen und zusammen etwas aufziehen“, tönte der Dorfchef.

„Aber wir sagen ihnen nicht, woher wir genau kommen. Auch diesen Tschistokjow geht das erst einmal nichts an. Du bist doch immer so für Verschwiegenheit, Thorsten“, sagte Frank und versuchte, Wilden wieder etwas abzukühlen.

„Ja, ja! Natürlich! Wir sagen ihnen nichts. Aber ist es nicht schön, dass wir jetzt solche Mitstreiter in unmittelbarer Nähe von Ivas haben?“

„Trotzdem müssen wir nicht sofort alles ausplaudern“, brummte Alf und Kohlhaas gab ihm Recht.

Sie fuhren weiter durch die Dunkelheit und in den frühen Morgenstunden erreichten sie ihr Heimatdorf. Frank und Alfred schlichen nach Hause und legten sich sofort in ihre Betten. Dieser Tag war erschöpfend gewesen und nun mussten sie erst einmal abwarten wie die Sache weiterging.

Herr Wilden zitierte HOK in den nächsten Tagen ständig zu sich und nutzte seine gut verschlüsselten Telefonverbindungen für lange Gespräche mit Artur Tschistokjow.

Der junge Rebell mit seinen entschlossenen, wachen Augen und dem verblüffenden Weltwissen hatte ihn mehr als fasziniert und während Frank und Alfred sich der Gartenarbeit und der üblichen Dauerrenovierung ihres alten Wohnhauses hingaben, lud der Dorfchef den neuen Bekannten aus Weißrussland, ohne jede Absprache mit den übrigen Dorfbewohnern, in der folgenden Woche nach Ivas ein.

„Was?“, fauchte Frank mit zornerfülltem Blick und Wilden zuckte so sehr zusammen, dass er fast nach hinten umfiel.

„Er kommt hierher? Nach Ivas?“, setzte Alf nach und schlug mit der Faust auf den Küchentisch.

Der Dorfchef winkte ab. „Ach, da passiert nichts. Mein Gefühl sagt mir, dass Artur Tschistokjow reinen Herzens ist. Was hätte er denn davon, wenn er uns hier verraten würde?“

„Was weiß ich denn?“, schrie Kohlhaas und hätte dem älteren Mann am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

„Ivas ist tabu! Du hast doch diese funktionierende Gemeinschaft in jahrelanger Arbeit aufgebaut, Wilden. Und jetzt willst du alles auf’s Spiel setzen, um diesem Russen deine Bücher zu zeigen?“, schimpfte Bäumer.

„Ich übernehme die volle Verantwortung. Er wollte auch noch drei seiner Leute aus Wilna mitbringen. Unter anderem den Leiter der dortigen Gruppe …“, antwortete Wilden und wurde langsam selbst etwas unsicher.

„Die volle Verantwortung? Davon haben wir auch nichts, wenn uns die litauischen Bullen hier ins Visier nehmen“, zischte Frank und verließ den Raum.

„Da hast du uns allen eine schöne Scheiße eingebrockt. Diesen Tschistokjow sucht die halbe Polizei im Verwaltungssektor ‚Europa-Ost’ und sogar die GSA ist schon hinter ihm her“, sagte Alf und bäumte sich drohend vor dem Dorfchef auf.

„So, ich gehe jetzt nach Hause. Macht euch keinen Kopf, das wird schon gut gehen“, knurrte Wilden beleidigt zurück und ging zur Tür heraus.

„Denke mal über deine Verantwortung allen Einwohnern von Ivas gegenüber nach, Thorsten!“, schnaubte Frank ihm aus dem Nebenraum hinterher.

Für den Rest des Tages gaben sich Frank und Alfred einem wütenden Fluchen hin und verwünschten Wildens Leichtsinn und seine ewige Profilierungssucht. Das konnte dor alle den Kopf kosten.

Es ließ sich allerdings nicht verhindern. Artur Tschistokjow kam nach Ivas, mit drei weiteren Männern im Schlepptau. Auch Igor, ein dunkelhaariger, hochgewachsener Mann Mitte dreißig mit einem Vollbart, welcher ihnen als Anführer der Wilnaer Untergruppe vorgestellt wurde, war dabei.

Wilden führte seine Gäste durch den noch immer an vielen Stellen baufälligen Ort und sprach selbstgefällig von „seinem Dorf“. Anschließend verwickelte er Tschistokjow in endlos erscheinende Gespräche, zeigte ihm mit stolz geschwellter Brust einige „seiner Leute“ und sagte schon einmal im Namen aller übrigen Dorfbewohner bezüglich gemeinsamer Aktionen zu.

Frank und Alfred trotteten dem quasselnden, älteren Herr den halben Tag hinterher und brodelten im Inneren wie zwei glühende Kochtöpfe.

„Dieser eitle Affe!“, dachte sich Kohlhaas und bohrte seinen Blick in Wildens Rücken. Jener stolzierte weiter voran und führte die weißrussischen Besucher zu seinem Haus.

„Mein Garten! Schön, nicht?“, sagte er und setzte eine zufriedene Miene auf. Frau Wilden und Julia erschienen an der Eingangstür.

„Das ist Artur Tschistokjow und das sind Igor aus Wilna und …“, stockte er.

„Anatoli und Leonid!“, ergänzte der blonde Mann aus Wizebsk, schüttelte Frau Wilden und ihrer Tochter freundlich die Hände und verbeugte sich.

Julia warf Frank einen hilfesuchenden Blick zu und rollte genervt mit den Augen.

„Wenn es dem Esel zu gut geht, läuft er auf’s Glatteis!“, flüsterte Frank ihr im Vorbeigehen zu, sie nickte.

Offensichtlich waren Wildens Ehegattin und seine Tochter auch nicht sonderlich begeistert von der großzügigen Einladung fremder Leute in ihr Haus.

Aber es war jetzt ohnehin nicht mehr zu ändern. Der frühere Unternehmer aus Westfalen nahm sie alle mit in die Küche, wo bereits eine dampfende Suppe und eine große Sahnetorte auf die Gäste warteten. Sie aßen schweigend. Lediglich Wilden und Artur Tschistokjow redeten munter drauflos und zeigten sich gegenseitig, wie viel politisches Hintergrundwissen sie besaßen.

Später gingen sie, bis auf Frau Wilden und Julia, in die neu eingerichtete Bibliothek, wo der Hausherr dem weißrussischen Rebellenführer seine liebsten Wälzer vorführte.

„Das ist unglaublich. Das sind Bücher, wo man kaum noch erhalten kann!“, staunte Tschistokjow und blätterte in einem alten Schinken herum. „Das habe ich auch, nur auf Russisch.“

Wilden und der Anführer der Rus fachsimpelten noch eine Weile über ihre Literatursammlungen, dann schaltete sich Frank ein und fragte: „Wie stellt ihr euch denn eure Revolution genau vor, Artur?“

Der junge Mann stutzte kurz und suchte nach einer passenden Antwort.

„Wir müssen … äh … one day … einen Streik durch die Arbeiter machen und eine Revolution in Minsk“, gab er zurück.

„Habt ihr für so etwas denn überhaupt Waffen?“, wollte Frank wissen und schaute Tschistokjow ernst an.

„Noch nicht so viele …“, erwiderte der junge Dissident.

„Wenn wir mit euch zusammenarbeiten sollen, dann müssen wir auch einen Plan ausarbeiten, der halbwegs sinnvoll ist“, sagte Kohlhaas und verzog sein Gesicht.

„Ja, ihr könnt uns in Litauen helfen“, kam von Tschistokjow zurück.

„So weit sind wir doch noch gar nicht“, knurrte Wilden, der seinem Gast offenbar noch weitere Bücher vorstellen wollte.

„Doch, natürlich! Sie sind jetzt hier und kennen unser Dorf. Wir werden jetzt zusammenarbeiten und ich will wissen wie!“, zischte ihn Kohlhaas an.

Artur und seine Mitstreiter schauten verwirrt in die Runde, offenbar schlug ihnen die gereizte Atmosphäre auf das Gemüt. Tschistokjow schnaufte verlegen und blickte an die Decke des Raumes.

„Wie ist die Situation in Weißrussland, Artur? Ist es überhaupt realistisch, dass es dort jemals einen Volksaufstand geben wird? Geht es den Leuten so schlecht?“, bohrte Frank nach.

„Ja, geht immer schlechter. Immer weniger Geld haben die Leute“, erwiderte der hagere Mann im Trenchcoat. „In Russland sind noch mehr arme Leute …“

„Die Leute sind mittlerweile überall arm, aber sie machen trotzdem nicht überall mal eben eine Revolution“, sagte Alfred mit hämischer Miene.

„Ihr seid einige hundert Mann, richtig?“, bemerkte Frank. Artur blätterte derweil in seinem Wörterbuch herum.

„Ja, Hunderte Mann. Auch in Russland, in Ukraine und baltische Länder gibt es Mitglieder der Gruppe“, erklärte Tschistokjow und war sich wohl selbst darüber im Klaren, dass seine Ausführungen nicht gerade auf eine schlagkräftige Revolutionsbewegung schließen ließen.

„Du willst die Macht in Weißrussland bekommen? Mit ein paar hundert Männern?“, scherzte Kohlhaas und grinste. Artur Tschistokjow wirkte jetzt verärgert und warf ihm einen stechenden Blick aus seinen blauen Augen zu.

„Ja, maybe … eines Tages … Ich weiß auch nicht, was in Zukunft ist“, sagte er zerknirscht und schüttelte den Kopf.

„Habt ihr Anhänger bei der weißrussischen Polizei, bei der Armee, bei den Beamten?“

„Ja, aber nur wenig.“

Wilden fuhr dazwischen: „Das hier ist ein erstes Treffen. Politische Pläne machen wir bei einer anderen Zusammenkunft.“

„Du hast sie ohne Absprache mit irgendeinem anderen Dorfbewohner hier nach Ivas geholt. Das war eine Todsünde! Du selbst hast uns alle immer wieder darauf hingewiesen, so etwas niemals zu machen und unser Dorf immer geheim zu halten. Jetzt hast du selbst diese eiserne Regel gebrochen, Thorsten!“, schimpfte Bäumer.

„Wenn du schon die Russen hier hin holst, dann wollen wir auch wissen, was wir von dieser Freiheitstruppe zu halten haben. Ich will jetzt Fakten wissen. Und Perspektiven will ich haben!“, fügte Frank wütend hinzu.

Wilden wich ein wenig zurück, scheinbar fühlte er sich auf den Schlips getreten. Die Gäste schwiegen und schauten verlegen umher.

„Gut, dann wollen wir Pläne für politische Arbeit machen“, warf Tschistokjow in die Runde. „Wenn ihr uns helfen, dann bin ich sehr froh“.

„Schon gut! Wir gehen in mein Büro nach oben“, schnaubte der Dorfchef und winkte den Rest zu sich. Sie gingen ins obere Stockwerk und setzten sich in Wildens Arbeitsraum. Sofort begann Frank dem blonden Rebellenführer aus Wizebsk weitere Fragen zu stellen. Sie berieten bis in die Nacht hinein und erst in den frühen Morgenstunden machten sich die Gäste wieder auf den Nachhauseweg.

Frank Kohlhaas konnte für den Rest der Nacht kaum schlafen. Zu sehr bohrten die Fragen und Gedanken in seinem Geist. Wilden hatte sich sehr unvorsichtig verhalten und die gesamte Dorfgemeinschaft in Gefahr gebracht. Aber ein ausgesprochenes Geheimnis konnte man nicht mehr einfangen und wieder in einem finsteren Kämmerchen verschließen. Das war nun einmal so.

Wilden hatte sich bereit erklärt, die kleine Zeitung von Tschistokjows politischer Organisation finanziell zu unterstützen, damit sie ihre Auflage erhöhen konnte. Frank hatte den Russen dazu gedrängt, mit dem Aufbau einer bewaffneten Gruppe zu beginnen und Leute gezielt in Betriebe und Produktionsstätten einzuschleusen, um eines Tages groß angelegte Streiks durchführen zu können.

Für die nächsten Wochen waren Verteilaktionen von Flugblättern und Zeitungen in den Großstädten Weißrusslands und in Wilna geplant. Hier sollten vor allem die noch jungen Mitglieder der Organisation tätig werden. Frank und Alfred, die bereits im japanischen Krieg gekämpft und zuvor bei einem Attentat den Gouverneur von „Europa-Mitte“ in die Luft gejagt hatten, hielten sich jedoch aus solchen Sachen heraus.

Zu groß war das Risiko, bei solchen, in ihren Augen eher unwichtigen Aktionen, von der Polizei geschnappt zu werden.

Wilden versprach hingegen, einige junge Leute aus Ivas für derartige Dinge zu rekrutieren. Zudem unternahm er in den folgenden Tagen große Anstrengungen, um wieder alte Kontakte zu einigen gleichgesinnten Geschäftspartnern und Mitstreitern aus seiner früheren Zeit als Unternehmer herzustellen. Sie sollten ihn bei seinen Vorhaben vor allem mit Spenden unter die Arme greifen. Die Resultate seiner Bemühungen waren beeindruckend, mehrere tausend Globes bekam er nach nur kurzer Zeit zusammen. Frank, Alfred und Tschistokjow waren verblüfft.

Etwa ein Dutzend junger Männer aus Ivas konnte dank der überragenden Überredungskunst des Dorfchefs der Freiheitsbewegung der Rus zur Verfügung gestellt werden. Sven, der junge Kriegsfreiwillige, der mit schweren Verstümmlungen im letzten Jahr aus Japan zurückgekehrt war, leitete die Gruppe und schien froh zu sein, wieder eine Aufgabe zu haben, welche ihn seine ständigen Depressionen vergessen ließ.

Die jungen Aktivisten waren in den folgenden Wochen hauptsächlich im Norden Weißrusslands unterwegs, wo sie bei Nacht und Nebel, zusammen mit den Gefolgsleuten Tschistokjows, gewaltige Mengen von Werbematerial unter das Volk brachten und zuerst einmal in den ländlichen Regionen für Aufsehen sorgten.

Die stark unterbesetzte Polizei in diesen Gebieten ließ sich nachts in den verschlafenen Dörfern und Kleinstädten kaum sehen und so gab es wenig unangenehme Zwischenfälle.

Diese erste Aktion dauerte bis Anfang Juli des Jahre 2033, danach stattete Tschistokjow, der mittlerweile Vertrauen zu Wilden und den anderen gewonnen hatte, dem Dorfchef erneut einen Besuch ab. Diesmal hatte er seinen besten Freund und längsten Weggefährten, den bulligen Peter Ulljewski, dabei.

„Wir planen ein Demonstration am 25. Juli mit etwa 1000 Mann“, erklärte Artur Tschistokjow. „In Nowopolozk, vor eine Fabrik! Wir bereiten seit eine Woche das vor!“

Wilden räusperte sich. „Eine öffentliche Demonstration? Bist du verrückt?“

„Verrückt?“, fragte Tschistokjow und kratzte sich am Kopf.

„Insane! Crazy!“, gab ihm Alf zu verstehen und schaute vielsagend zu dem jungen Mann herüber.

„Ah, ja … Nein, ich bin nicht crazy. In Nowopolozk haben wir sehr viele Mitglieder und die Bürger dort sind sehr böse auf Regierung. Dort sind viele Fabrike, die machen Maschinen, und Chemiefabrike und andere Fabrike. Die meisten Fabrike sollen an Ende des Jahres geschlossen machen und viele Bürger werden die Arbeit nicht mehr haben. Die Fabrike gehen nach Afrika, dort sind Arbeiter billiger zu bezahlen, versteht ihr?“

„Ich kenne diese Stadt nicht sehr gut. Allerdings habe ich gehört, dass sie eines der größten Industriezentren in ganz Weißrussland ist“, bemerkte Wilden und schaute zu den anderen jungen Männern aus Ivas herüber, welche sich in seinem Wohnzimmer versammelt hatten.

„In Nowopolozk alle Einwohner sind wütend und sind sehr arm. Wenn die Fabrike sind geschlossen, viele Leute haben keine Globes mehr in der Tasche zu leben“, erläuterte der Gast. Sein Freund Peter nickte und starrte weiter vor sich hin.

„Aber ihr könnt dort doch nicht einfach durch die Straßen marschieren. Was ist mit der Polizei?“, fragte Frank ungläubig.

„Polizei hat nur ein Station in der Stadt. Es sind nicht viele Polizisten in Nowopolozk!“

Sven schaltete sich ein und riet energisch von Arturs verrücktem Plan ab, doch dieser bekräftigte sein Vorhaben, blickte ihn entschlossen an und versuchte, die anderen zu beruhigen.

„Wenn wir machen die Demonstration, das Fernsehen und die Zeitung werden Report über uns machen. Bis nach Russland wird es in Fernsehen sein!“

Frank lachte verächtlich. „So etwas ist kompletter Irrsinn! Das gibt eine Katastrophe!“

Wildens Augen glänzten hingegen schon wieder erwartungsvoll. Scheinbar war er nach Arturs Ausführungen ein wenig im Banne des jungen Rebellen.

Tschistokjow fuhr mit weiteren Einzelheiten seines Planes fort. Die Kundgebung sollte nur eine Stunde dauern, dann sollte sich seine Anhängerschaft verflüchtigen und auf eigene Faust verschwinden. Peter Ulljewski erklärte, dass sie einen Haufen bewaffneter Männer dabei hatten, falls doch mehr Polizisten als erwartet auftauchten. Es klang wie eine politische Raserei.

Nach etwa zwei Stunden verließen Frank und Alfred kopfschüttelnd den Raum und ließen Tschistokjow mit dem Dorfchef und den anderen allein. Sie hatten genug von den wahnwitzigen Ideen des Russen und versprachen sich gegenseitig auf keinen Fall bei der Aktion mitzumachen.

„Du glaubst doch nicht, dass die Bullen Artur und seine Leute einfach so durch die Stadt laufen lassen“, bemerkte Kohlhaas auf dem Rückweg.

„Ja, sicherlich ist in dieser Stadt im Norden Weißrusslands nicht die halbe Staatsgewalt versammelt, aber man sollte nicht glauben, dass sich unsere Feinde so einfach vorführen lassen. Das gibt auf jeden Fall Tote und Verletzte. Das ist Tschistokjow hoffentlich klar …“, sagte Alf und rieb sich grübelnd seinen dunklen Bart.

„Ja, das ist ihm klar. Aber er will um jeden Preis Aufsehen erregen und ins Fernsehen kommen. Sein eigenes Leben scheint ihm egal zu sein und das seiner Anhänger wohl auch. Gut, ich will nichts sagen. Ich habe vor einiger Zeit auch nicht viel anders gedacht“, antwortete Kohlhaas.

„Auf jeden Fall ist der Russe ein echter Fanatiker. Genau wie du, Frank!“, bemerkte Alf und trottete weiter in Richtung des Hauses.

„Wenn du das sagst, Alter! Aber ich halte mich auf jeden Fall da raus – und du solltest das auch tun!“

„Ich habe nicht vor, mich an dieser Sache zu beteiligen. Arturs Freiheitsbewegung ist noch viel zu schwach für eine solch provokante Machtdemonstration.“

Die beiden Männer gingen ins Haus und diskutierten beim Essen weiter. Kohlhaas ereiferte sich einmal mehr über Wildens Unvorsichtigkeit und Alf musste ihm Recht geben. Der Dorfchef sollte ihnen in den nächsten Tagen noch gehörig auf die Nerven gehen.

Herr Wilden rief zwei Tage später eine Vollversammlung aller Dorfbewohner in einer großen, alten Scheune zusammen, zu der einige aus Wut über ihn erst gar nicht erschienen. Hier verkündete er, dass die jungen Männer aus Ivas geschlossen zur Demonstration nach Nowopolozk fahren sollten. Er habe sich mit Artur Tschistokjow darauf geeinigt, erläuterte er barsch und verlangte, dass man seine Vorgaben widerspruchslos erfüllte. Daraufhin brach fast ein Tumult unter den Versammelten aus.

„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, Herr Wilden? Dass sie einfach Fremde hier nach Ivas eingeladen haben, war mehr als unvorsichtig!“, schrie eine ältere Frau in die Runde.

„Sie hat Recht! Ehe wir uns versehen, laufen hier unbekannte Gesichter durch unser Dorf. Haben sie den Verstand verloren?“, fügte ein bärtiger Mann hinzu.

Der Ire, John Thorphy, kochte ebenfalls vor Wut und wäre Wilden am liebsten an die Gurgel gesprungen. „Du hast gesagt, niemand darf über Ivas etwas wissen. Und nun machst du so ein verdammte Scheiße!“

Frank und Alfred nickten, um sie herum murmelten und raunten die anderen Dorfbewohner. Der Anführer und Gründer der Gemeinschaft von Ivas sah sich überwiegend dem Unmut seiner Getreuen gegenüber und wurde zunehmend unsicherer. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Erst schicken Sie meinen Sohn in den Krieg nach Japan, jetzt holen Sie diese Russen hier hin!“, keifte ihn eine korpulente Frau von der Seite an.

„Ich habe Ihren Sohn nicht in den Krieg geschickt! Er hat sich freiwillig gemeldet, Frau Müller!“, herrschte sie Wilden erbost an.

„Doch! Haben Sie!“

„Ruhig, Leute! Ihr könnt mir vertrauen. Habe ich euch jemals absichtlich in Gefahr gebracht? Artur Tschistokjow ist ein hervorragender Mann. Außerdem wird es Zeit, dass wir auch vor Ort beginnen, Widerstand zu leisten. Wir können hier nicht ewig unser Einsiedlerdasein genießen!“, tönte Wilden verärgert.

Seine Tochter Julia stellte sich neben Frank und schüttelte den Kopf: „Mein Vater spinnt langsam wirklich …“

„Diese Aktion ist vollkommen verrückt. Was ist, wenn einige von uns von der Polizei verhaftet oder gar über den Haufen geschossen werden? Für eine Demonstration in irgendeiner heruntergekommenen, weißrussischen Stadt?“, wollte einer der Dorfbewohner wissen.

„Ich glaube nicht, dass es so schlimm wird. Unsere Freunde haben die Aktion wirklich gut geplant und nach einer Stunde wird alles vorbei sein. Die Polizeipräsenz in Nowopolozk ist minimal.“

„Ach, ja? Woher willst du das denn wissen, Thorsten?“, schimpfte Bäumer.

„Das wird ja kein bewaffneter Sturm auf das Regierungsgebäude, sondern lediglich eine Demonstration, die Aufsehen erregen soll. Jetzt beruhigt euch endlich!“, fauchte der Dorfchef und strich sich durch seine grauen Haare.

„Du hättest uns wenigstens fragen müssen, ob wir das überhaupt alle wollen. Eine Zusammenarbeit mit diesem Tschistokjow und so weiter …“, bemerkte der Belgier Steffen deVries.

„Moment mal! Ich habe dieses verrottete, ehemals verlassene Dörfchen aufgekauft und aufgebaut! Vergesst das nicht! Ohne mich gäbe es diesen Zufluchtsort nicht einmal!“, polterte Wilden.

„Mal sehen, wie lange das noch ein Zufluchtsort bleibt“, hörte Frank Wildens Tochter leise murmeln.

„Aber du hast uns nicht aufgekauft!“, knurrte Frank. „Ein Anführer ist nur dann gut und richtig in seiner Position, wenn er Verantwortung für die von ihm Geführten zeigt. Das hast du in letzter Zeit nicht getan!“

„Außerdem kannst du doch niemanden zwingen, mit nach Nowopolozk zu fahren!“, erklärte eine Frau und fuchtelte mit ihrem Zeigefinger.

„Sie hat Recht, Papa!“, sagte Julia. Ihr Vater sah sie beleidigt an und schob seine dünne Unterlippe nach oben. Für einige Sekunden blieb ihm regelrecht die Spucke weg.

„Langsam reicht es mir mit deinen Eskapaden, Thorsten!“, zischte Wildens Frau Agatha aus dem Hintergrund.

„Ich fahre auf jeden Fall zu der Demonstration. Wer mutig genug ist, eine Stunde durch die Straßen von Nowopolozk zu ziehen, der soll sich bei mir melden. Die anderen können ja weiter in ihrem Garten Unkraut auszupfen oder die Straße vor ihrem Haus fegen!“

Wilden wandte sich von seinen Zuhörern ab und schlich fluchend aus der Scheune. Die Versammlung war beendet.

Wer geglaubt hatte, dass Wilden die Kritik seiner Mitmenschen allzu sehr aus dem Konzept gebracht hatte, der kannte ihn schlecht.

Wieder und wieder redete der ältere Mann auf die Dorfjugend ein und machte auch vor Frank und Alfred nicht halt. Er beschwor die Wichtigkeit eines Widerstandes vor Ort und machte sich für die Freiheitsbewegung der Rus stark. Drei ganze Wochen lang belagerte er Frank und Alfred und schließlich gelang es ihm doch, sie zur Teilnahme an der Demonstration in Nowopolozk zu überreden.

Genervt und des ewigen Diskutierens müde, stimmten die beiden Rebellen zu und kamen am Ende mit. Ihnen folgten weitere junge Männer aus Ivas. Wilden hatte seinen Willen mit rücksichtsloser Hartnäckigkeit durchgesetzt.