Special Forces Frank

„Langsam nimmt die Sache richtig Gestalt an“, meinte Frank begeistert und drehte sich Alf zu. Bäumer nahm genüsslich einen weiteren Schluck eisgekühlter Limonade zu sich, stimmte wortlos zu und schaute über den Dorfplatz von Ivas.

„Wollte ihr noch eine Baguette?“, hörten sie hinter sich.

„Ja, gerne Steffen“, antwortete Frank.

Die beiden Männer hatten sich im neuen und zugleich einzigen Cafe des Dorfes niedergelassen. Es gehörte Steffen deVries, dem rüstigen Belgier, und war im letzten Monat eröffnet worden. Der leicht dickliche, fröhliche Zeitgenosse hatte einen der alten, leerstehenden Läden im Zentrum des Dorfes zu einem notdürftig eingerichteten Cafe umgewandelt. Daneben befand sich ein anderer Laden, in dem der Flame mit dem rötlichen Bart und den Pausbacken allerlei nützlichen Krimskrams verkaufte.

Steffen reichte Frank einen kleinen Teller mit einem dampfenden Salamibaguette und Kohlhaas riss die Augen erwartungsvoll auf. Dann schlang er das leckere Essen wie eine hungrige Python herunter.

„Bist ‘n richtiger Unternehmer geworden, was?“, gab er laut schmatzend von sich.

„Ja, das mit dem Cafe war ein gut Idee, oder?“, sagte deVries.

„Läuft der Laden denn?“, scherzte Alf.

„Hmmm, die Familie Dreher war heute schon hier. Mit ihre vier Kinder“, gab der Flame zurück und grinste.

„Besser als nichts!“, bemerkte Frank.

„Millionär werde ich nicht, aber ist auch egal“, fügte Steffen hinzu und verschwand wieder.

Franks Blick schweifte über den verwahrlosten Dorfplatz. Zwischen dem Kopfsteinpflaster spross das Unkraut aus allen Ritzen. Die alte Kirche, gegenüber dem Cafe, war in den letzten Jahren noch weiter verfallen und der Gedenkstein in der Mitte des Dorfplatzes war schon wieder mit allerlei Gestrüpp überwuchert.

„Wir sollten hier mal ein wenig aufräumen und das Dorf auf Vordermann bringen“, riet Frank seinem Freund.

„Ja, das müsste man Wilden einmal sagen“, erwiderte Alf.

„Schade, dass die Kirche so zerfällt. Sie ist doch eigentlich ein schönes Gebäude. Vielleicht sollten wir sie wieder ein bisschen herrichten“, schlug Kohlhaas vor.

„Kaum einer in Ivas benötigt eine alte Kirche!“

„Dann machen wir daraus einen schönen Versammlungsraum.“

„Das kannst du ja auf der nächsten Dorfversammlung vorschlagen.“

„Werde ich auch. Es tut mir irgendwie weh, wenn alte Gebäude so vor sich hin verrotten. Das hat die Kirche nicht verdient!“

Bäumer schaute verdutzt. „Du wirst wohl auf einmal sentimental, Alter!“

„Nein, aber ich habe Respekt vor alten Bauwerken“, antwortete Frank mürrisch und fühlte sich missverstanden.

„Sieh mal da!“, Alf deutete plötzlich zum anderen Ende des Dorfplatzes hin. Julia und eine andere Person näherten sich.

Wenige Augenblicke später konnte Frank erkennen, wer da die Hand der hübschen Tochter des Dorfchefs hielt und mit ihr über den Platz schlenderte. Es war Viktor, der gutaussehende Russe aus Grodno.

„Was macht der denn wieder hier?“, knurrte Kohlhaas.

„Das siehst du doch. Er scheint sich in Miss Wilden verguckt zu haben“, gab Alf zurück und beobachtete Franks finsteren Gesichtsausdruck.

„Die beiden sind also zusammen oder was?“

„Geh doch hin und frag sie …“

„Ich habe keine Lust, mit der eingebildeten Ziege und ihrem neuen Schwarm zu reden. Juckt mich auch nicht weiter!“

„Du hast Julia in den letzten Monaten ganz schön links liegen lassen. Vielleicht war das ein Fehler“, bemerkte Bäumer und hob seinen Zeigefinger.

„Wie meinst du das? Ich laufe der Trulla doch nicht hinterher!“, zischte sein Gegenüber und krallte sich an der Tischdecke fest.

„Hättest du vielleicht tun sollen. Frauen sind …“

Frank fuhr seinem Freund ins Wort: „Was sind Frauen? Bescheuert? Ja, da hast du Recht!“

Julia und Viktor gingen an ihnen vorbei und winkten freundlich. Dann verschwanden sie hinter der alten Kirche. Kohlhaas rief Steffen deVries zu sich und ließ sich den Preis für drei Baguettes und zwei Gläser Limonade von seinem gefälschten Scanchip abbuchen. Alf zahlte jetzt auch und ging seinem eingeschnappten Freund hinterher. Selbst die wohlig warme Augustsonne konnte Frank jetzt nicht mehr aufheitern.

In den nächsten Tagen beschlossen Kohlhaas und Bäumer sich noch stärker in Artur Tschistokjows Freiheitsbewegung zu engagieren. Sie versprachen Wilden, von nun an bei sämtlichen Aktionen und Protestmärschen dabei zu sein.

Weiterhin unterbreitete Frank dem Dorfchef den Vorschlag, die Kirche zu renovieren und aus ihr einen Versammlungsort für die Dorfgemeinschaft zu machen. Der ehemalige Unternehmer stimmte der Idee zu und einige Dutzend Einwohner begannen damit, den Dorfplatz zu säubern und das reichlich vorhandene Gestrüpp zu entfernen, um sich anschließend dem verfallenen Gotteshaus zu widmen.

Sie schafften einen ganzen Berg von Schutt und Gerümpel aus dem Gebäude und dichteten das Dach ab. Bis Ende des Monats hatten sie eine Menge an Renovierungsarbeiten hinter sich gebracht und begannen schließlich damit, die Wände der Kirche zu verputzen und mit Holz zu verkleiden.

Die alten Bilder und Skulpturen reinigten sie liebevoll vom Staub und Frank wurde immer wieder von einem Hauch der Ehrfurcht ergriffen, wenn er sie ansah.

Im September besuchte sie Tschistokjow zusammen mit seinem Freund Peter. Wilden hatte dem Russen in einem langen Gespräch erzählt, dass auch Frank und Alfred jetzt voll und ganz der Freiheitsbewegung zu dienen gedachten. Artur verlangte sie anschließend sofort persönlich zu sprechen.

Überrascht öffnete Kohlhaas die Tür und ließ Tschisto-kjow und seinen bulligen Gefährten ins Haus. Der blonde Russe hatte heute ein Grinsen aufgesetzt, welches sich quer durch sein schmales Gesicht von einem Ohr zum anderen zog. Auch Peter Ulljewski konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Alf erschien im Hausflur und begrüßte die beiden Gäste aus Weißrussland.

„Ihr zwei wollte auch bei uns jetzt richtig aktiv werde?“, fragte Tschistokjow und ließ sich im Wohnzimmer auf der alten Couch nieder.

„Ja, das wollen wir!“, antwortete Frank und schaute Artur, der noch immer sein dämliches Grinsen im Gesicht trug, verwundert an.

„Ihr zwei …“, sagte der Russe und zwinkerte ihnen zu.

„Was ist denn?“, kam von Alf.

„Special Forces Frank und Special Forces Alfred, ha, ha!“, tönte Tschistokjow und schlug sich auf die Schenkel.

„Wie?“

„Wir können euch gut gebrauchen!“, Artur zwinkerte ihnen erneut zu, während Peter ihn mit dem Ellbogen knuffte.

„Special Forces?“

„Ja, ich weiß alles. Ihr habt Wechsler getötet und habt in Okinawa den Aktion gemacht. Großartig!“, bemerkte Tschistokjow mit blanker Begeisterung.

Frank rollte die Augen und stöhnte: „Kann Wilden nicht einmal die Schnauze halten?“

„Ich wusste das vorher nicht, aber ihr seid wahren Helde!“, stieß der Politiker aus.

„Wir haben Wilden gesagt, er soll niemandem etwas sagen. Warum kann er nicht einmal schweigen?“, ärgerte sich Bäumer.

„Mir könnte ihr … trust!“

„Vertrauen!“, ergänzte Frank genervt.

„Ja, ja, ihr könnte mir vertrauen!“, betonte Artur.

„Ich weiß, aber trotzdem hatten wir Wilden gebeten, diese Sachen nicht überall herum zu erzählen“, schnaubte Kohlhaas.

„Nun, ich habe ihn nach euch gefragt und er hat mir gesagt. Ihr seid Helde für uns alle! Helde!“, posaunte Tschistokjow ehrfurchtsvoll hinaus, stand auf und klopfte Frank und Alf auf die Schultern.

Die beiden „Helden“ reagierten etwas verlegen und Frank grinste stolz in sich hinein.

„Ihr könnte meine Leute mit Waffen befehlen, okay?“, schlug Tschistokjow vor. „Das ist richtige Aufgabe für euch!“

„Wir überlegen es uns erst einmal. Aber Danke für das Angebot!“, bemerkte Alf.

Der blonde Politiker ließ nicht locker und redete bald ebenso ununterbrochen auf sie ein, wie Herr Wilden, wenn er in Höchstform war. Schließlich stimmten Frank und Alfred, innerlich doch recht geschmeichelt von diesem Angebot, zu. Dann ließen sie sich von Tschistokjow weitere Einzelheiten erläutern.

Sie staunten dabei nicht schlecht, als ihnen der Russe darlegte, dass er bereits eine landsweit organisierte Truppe aus Ordnern und Sicherheitsleuten aufgebaut hatte.

Für Ende des Monats war eine großangelegte Demons-tration in Baranovichi geplant. Hier rechnete Tschistokjow mit etwa 6000 Anhängern. Zusammenstöße mit der Polizei waren allerdings zu erwarten, denn Baranovichi war keine Kleinstadt im Hinterland mehr, sondern lag südlich von Minsk im Zentrum Weißrusslands.

Auch in dieser Stadt standen viele der dort noch ansässigen Maschinenfabriken kurz vor ihrer Schließung und dem entsprechend war ein großes Potential an unzufriedener Bürger vorhanden.

Die Massenveranstaltung sollte eine ähnliche Machtdemonstration werden wie die damalige Kundgebung in Nowopolozk. Tschistokjow machte sich nicht einmal mehr die Mühe, die Veranstaltung geheim zu halten und rief die Bürger der Stadt in Flugblättern dazu auf, sich am 28.09.2034 um 15.00 Uhr auf dem Marktplatz von Baranovichi einzufinden. Selbst Wilden hatte bei einer derartigen Provokation der Behörden kein gutes Gefühl.

Die Medien griffen die Sache jedenfalls auf und verkündeten die Nachricht vom geplanten Protestmarsch der Freiheitsbewegung bis in den letzten Winkel des Verwaltungssektors „Europa-Ost“. Artur rechnete mit einem gewaltigen Polizeiaufgebot und seine Anhänger sollten sich bewaffnen und auf blutige Straßenkämpfe, ja bürgerkriegsähnliche Zustände, vorbereiten. Er verkündete sogar, dass die Zeit reif für den Sturm auf Minsk sei. Letztendlich kam aber alles anders als erwartet.

Schon um 13.00 Uhr hatten sich fast 5.000 Demonstranten in der Innenstadt von Baranovichi versammelt, davon trugen einige Hundert Mann Pistolen und sogar Sturmgewehre. Ein Meer von Drachenkopffahnen hatte sich im Zentrum der Stadt gebildet und im Minutentakt stießen neue Besucher aus den Nebenstraßen hinzu.

Frank, Alfred, Wilden und die anderen aus Ivas hatten sich an diesem Tag bereits früher auf den Weg gemacht, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. In der Stadt hatten sie bisher kaum Polizisten zu Gesicht bekommen.

„Irgendetwas stimmt hier nicht“, sagte Wilden und blickte auf die zerbröckelnden, alten Gebäude um ihn herum.

„Hauptsache, es gibt nicht schon wieder Krawalle“, erwiderte Kohlhaas und verließ seine Freunde aus Ivas, um Artur zu suchen. Bäumer folgte ihm. Nach einigen Minuten hatten sie sich durch die Masse der vielfach vermummten Menschen gekämpft und kamen zum Anführer der Rus.

„Ah, Frank und Alfred! Ihr lauft ganz vorne mit“, bemerkte Tschistokjow. „Gut seht ihr aus!“

Artur musterte die beiden. Sie hatten ihre Sturmgewehre geschultert und waren ganz nach Kleiderordnung angezogen, graues Hemd und schwarze Hose, so wie es sich für die Anhänger der Freiheitsbewegung gehörte.

„Das ist Olaf, er ist Chef der Gruppe von Baranovichi“, erklärte der Rebellenführer und zeigte auf den Mann neben sich.

„Hello, I’m Frank!“

„Olaf!”, brummte der Russe nur und schaute weiter starr geradeaus.

„Warum ist so wenig Polizei hier?“, fragte Bäumer und zuckte verwundert mit den Schultern.

„Ich weiß nicht, vielleicht sie haben Angst“, gab Tschistokjow grinsend zurück und strich sich durch seine verschwitzten, blonden Haare. Dann rief er einigen jungen Männern Anweisungen zu und verschwand wieder in der Menge.

Um 15.00 Uhr setzte sich der Demonstrationszug mit lautem Gebrüll in Bewegung. Große Transparente mit der Aufschrift „Artur Tschistokjow – Jetzt!“ oder „Arbeit und Freiheit für alle Russen!“ wurden von den Männern in der ersten Reihe getragen.

Thorsten Wilden und der Rest aus Ivas blieben relativ weit hinten. Sven und einige andere junge Männer aus Ivas flankierten den Demonstrationszug mit gezückten Waffen.

Frank, der ganz vorne fast direkt neben Artur Tschistokjow herlief, versuchte einzuschätzen, wie viele Leute heute gekommen waren. Vielleicht 6000 Menschen, vielleicht aber auch 8000 oder mehr. Es war ein langer Menschenwurm, welcher hier durch die Straßen von Baranovichi kroch.

Neben Kohlhaas schrieen die anderen ihre Parolen aus voller Kehle heraus, Artur hingegen schwieg, denn er musste seine Stimme für die später folgende Rede schonen. Auch Frank und Bäumer, die sich immer wieder leicht verunsichert ansahen, verhielten sich ruhig und suchten die Umgebung nach Gefahren ab.

„Kein Bulle zu sehen. Das ist doch nicht normal. Halb Weißrussland weiß, dass wir hier sind“, grübelte Kohlhaas und reckte seinen Kopf nach oben.

Sie marschierten etwa drei Kilometer durch die Innenstadt, vorbei an jubelnden Bürgern und heruntergekommenen Häusern. Jedoch nicht jeder Einwohner der Stadt war ihnen heute gut gesonnen. Manche brüllten auch „Mörder! Mörder!“ aus den Fenstern und meinten damit Tschistokjow. An einer Straßenecke warfen einige Dutzend tadschikische Jugendliche Steine auf die Demonstranten und flüchteten, als die Masse näher kam.

Offenbar hatte die Medienhetze gegen die Freiheitsbewegung der Rus doch bei einem Teil der Bevölkerung gefruchtet.

Die letzten Demonstrationen, welche ausschließlich in ländlich geprägten Regionen und verschlafenen Kleinstädten durchgeführt worden waren, waren sehr ruhig verlaufen. Hier in Baranovichi war die Atmosphäre unangenehmer. In den Großstädten des Landes, vor allem in Minsk, musste man nicht nur Zusammenstöße mit der Polizei einkalkulieren, sondern sah sich auch einigen aufgehetzten Landsleuten oder feindseligen Fremden gegenüber.

Die beeindruckend wirkende Menge aus weitgehend gleich gekleideten Männern und Frauen, welche vielfach ihre Gesichter verdeckt hatten, schritt durch die schmutzigen Straßen bis zu einem größeren Platz, auf welchem Artur Tschistokjow seine Rede halten wollte.

Hässliche Wohnblöcke und heruntergekommene Kaufhäuser umringten sie. Mehrere tausend Passanten strömten jetzt aus den Nebenstraßen zu den Demonstranten und reihten sich ein. Sie waren recht gespannt darauf, einmal den berühmt, berüchtigten Dissidenten mit eigenen Ohren zu hören.

„Sag mal, irgendetwas stimmt doch nicht. Warum sind hier so gut wie keine Polizeiaufgebote?“ Frank schielte zu Bäumer herüber und die beiden stellten sich einige Meter von Tschistokjow weg.

„Du hast Recht. Das ist absolut seltsam. Ich hatte damit gerechnet, dass heute Tausende von Bullen mit dem vollen Programm anrücken und es richtig knallt“, antwortete Alf und wirkte unruhig.

„Ich fangen jetzt an!“, ließ Tschistokjow verlauten und die Menge bildete so gut es ging einen Kreis um ihn, so dass bald der gesamte Platz, einschließlich der Nebenstraßen, komplett mit Menschen überfüllt war.

„Verdammt, mir ist nicht wohl zu Mute, Alf“, flüsterte Frank und wurde von einer Woge der Nervosität ergriffen.

„Was soll schon passieren? Jetzt werden die Bullen hier nicht mehr so einfach ankommen. Sieh doch, wie viele wir sind!“, beruhigte ihn Bäumer.

Tschistokjow ließ seine bebende Stimme ertönen, ein Raunen ging durch die Masse und freudig schwangen seine Anhänger Fahnen und Banner. Der hagere Mann, der diesmal einen dunklen Mantel trug, schrie seine ganze politische Leidenschaft und aufgestaute Wut in das Mikrofon und begann mit den üblichen Anklagen gegen die Weltregierung und ihre politischen Vertreter.

Mit der Witterung eines Jägers suchte Frank derweil die Umgebung nach möglichen Hinweisen auf drohende Gefahren ab. Viel konnte er jedoch nicht sehen, da ihn eine riesige Menschenmasse umgab. So blieb ihm nur der Blick nach oben.

Zum einen war das ständige Spähen seine Aufgabe als bewaffneter Ordner und zudem sagte ihm sein Instinkt, dass heute noch etwas Unvorhergesehenes geschehen würde.

Der junge Rebell aus Ivas kniff die Augen zusammen und richtete seinen scharfen Blick auf die den Platz umgebenden Häuser, deren obere Etagen und Dächer er sehen konnte. Wieder und wieder drehte er sich um, obwohl er nicht so recht wusste, wonach er eigentlich suchte.

„Was verdrehst du denn den Hals so?“, fragte ihn Bäumer und schüttelte den Kopf.

„Ach, schaue mich nur um …“

„Glaubst du jetzt kommen gleich Skydragons?“

„Könnte doch sein?“

„Glaube ich kaum“, bemerkte Alf mit hämischer Miene.

Tschistokjow hatte sich mittlerweile warm geredet und hämmerte seine politischen Forderungen in die Köpfe der Zuhörer. Frank konnte relativ viel verstehen. Seine kontinuierlichen Russischstunden bei Wilden hatten sich ohne Zweifel ausgezahlt.

Er richtete seinen Blick wieder auf die den Platz umringenden Häuser, irgendeine böse Vorahnung rumorte in seinen Eingeweiden. Frank war sich sicher, dass etwas nicht stimmte.

„Die haben uns eine Falle gestellt. Das fühle ich …“, flüsterte er vor sich hin.

„Was?“, dröhnte ihm Alf ins Ohr.

„Nichts, vergiss es!“

Irgendwann war Tschistokjow mit seiner flammenden Rede zum Ende gekommen und ein Schreien und Klatschen erfüllte den Platz. Der Anführer der Rus stimmte nun traditionell das Lied „Mein Russland“, welches seit Monaten immer am Ende seiner Reden gesungen wurde, an.

Lauter Gesang ertönte aus den Kehlen Tausender ergriffener Menschen. Die Masse schwamm auf einer Welle der Emotionen und selbst die meisten bewaffneten Ordner gaben sich gedankenverloren ganz dem Singen des schönen, alten Volksliedes hin.

Lediglich Frank schien sich zu sorgen und ließ seinen Blick weiter rastlos umherschweifen. Plötzlich entdeckte er im Augenwinkel etwas Seltsames. Ein kleiner, dunkler Punkt hatte sich auf einem Häuserdach bewegt und war hinter einen Schornstein gehuscht.

Kohlhaas zog seine Augen zu einem dünnen Schlitz zusammen und fixierte das Dach. Er konnte nicht viel erkennen, aber ein langer, schmaler Strich schaute hinter dem Schornstein hervor.

„Ein Gewehrlauf!“, schoss es ihm durch den Kopf.

Jetzt bewegte sich der dunkle Punkt. Es war ein Mensch, der da auf dem Dach lauerte. Das Adrenalin brauste durch Franks Körper und instinktiv wusste er, was zu tun war.

Mit einem gewaltigen Hechtsprung stürzte er sich auf Tschistokjow und stieß ihn zur Seite. Eine Kugel zischte nur wenige Zentimeter am Kopf des Russen vorbei. Der hochgewachsene, aber recht hagere Mann, wurde durch Franks wuchtigen Stoß fast einen Meter weit geschleudert und landete flach auf dem Bauch.

Zwei weitere Kugeln folgten und schlugen irgendwo im Asphalt neben ihm ein. Eine dritte traf Frank in der linken Wade und dieser schrie vor Schmerzen auf. Mit verzerrtem Gesicht kroch er hinter der Menschenwand in Deckung. Die Leute um ihn herum stutzten.

„Da ist ein Scharfschütze! Sniper! Sniper!“, schrie Frank.

Einige Ordner hatten den Mann auf dem Dach jetzt auch bemerkt und schossen mit ihren Sturmgewehren in Richtung des Hauses.

Doch der Scharfschütze verschwand blitzartig und bald war er zu weit weg, um ihn effektiv verfolgen zu können. Bäumer hastete zu Frank: „Was ist passiert?“

„Schon gut, ich wurde in die Wade getroffen. Geht schon“, stöhnte dieser.

Tschistokjow richtete sich langsam wieder auf. Er sah aus wie vom Blitz getroffen und war vor Entsetzen vollkommen sprachlos. Soeben war er dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.

Wilden, Sven, Peter Ulljewski und die anderen Vertrauten des Politikers bahnten sich ihren Weg durch die Menge und schrieen wild durcheinander. Artur Tschistokjow hatte dank Franks Vorsicht soeben einen Mordanschlag überlebt.

Es war nicht so, dass der Rebellenführer ein solches Ereignis nicht einkalkuliert hatte, aber als es dann eintraf, war er vollkommen fassungslos, wie er später offen zugab. Es war der schlimmste Schock seines bisherigen Lebens gewesen.

Im Verlauf des weiteren Tages kam es in Baranovichi noch zu schweren Ausschreitungen. Einige hundert junge Weißrussen glaubten, den Mordversuch an ihrem Anführer rächen zu müssen. Sie veranstalteten eine regelrechte Hetzjagd auf die wenigen Polizisten in der Stadt, töteten zwei von ihnen und warfen Molotow-Cocktails in ein Verwaltungsgebäude.

Die Veranstaltungsteilnehmer aus Ivas suchten nach dem Anschlag so schnell es ging das Weite und erreichten ihr Heimatdorf unbeschadet – abgesehen von Frank, dem die Kugel des Scharfschützengewehrs tief in der linken Wade steckte.

Der junge Mann konnte in kein Krankenhaus gebracht werden und musste notdürftig mit primitiven Mitteln behandelt werden. Alf schnitt ihm die Kugel mit einem Messer aus dem Fleisch und desinfizierte die Wunde mit Alkohol.