Hin und wieder zurück

In den nächsten Stunden versteckten sich die sieben Männer immer wieder, wenn die Stimmen von GCF-Suchtrupps in der Ferne zu hören waren. Auch der eine oder andere Hubschrauber flog in der Nähe herum und versuchte, sie im Dschungel zu entdecken.

Der Japaner blutete immer noch und war langsam leichenblass, er hieß Ito und war aus Osaka. In schlechtem Englisch oder auch mit Händen und Füßen verständigten sich die beiden Freiwilligen aus Ivas mit ihren japanischen Kameraden, welche ihnen erklärten, dass sie am besten in der Nähe der Ostküste Okinawas nach Norden marschieren sollten, um Arume zu erreichen.

Alfred hatte sich mittlerweile einen dicken Ast von einem Baum abgerissen und benutzte ihn als Krücke, sein Gesicht war schmerzverzerrt und er fluchte vor sich hin. Frank fütterte seinen Geist mit Durchhalteparolen und versuchte seinen Freund mit der Vorstellung, bald wieder in Ivas zu sein, aufzumuntern.

„What is with the officiers of the units?”, fragte Frank die Japaner.

„I think they are all dead”, erwiderten sie und schienen sich sicher zu sein.

„Wir sollten beten, dass die U-Boote morgen in Arume auf uns warten. Das ist unsere einzige Möglichkeit, von diesem Scheiß Dschungeleiland weg zu kommen“, fluchte Frank und Alf nickte.

Sie wateten durch einen kleinen Fluss und kamen langsam wieder in den dichten Dschungel des zentralen Teils von Okinawa. Hier fühlten sie sich sicherer. Der verwundete Japaner fiel derweil immer mehr zurück und hatte einiges an Blut verloren. Vor Schmerz biss er auf ein Holzstück und jammerte vor sich hin. Die anderen hatten seine Schulter so gut es ging mit Stofffetzen verbunden. Irgendwann hatten sie die Küste erreicht und besaßen nun zumindest eine grobe Orientierung.

Langsam wurde es wieder dunkel, doch sie konnten sich keine Zeitverzögerung mehr leisten. Wenn sie zu dem vorher in der Einsatzbesprechung im Lager festgelegten Zeitpunkt nicht an besagter Stelle waren, saßen sie hier auf Okinawa fest und dann war guter Rat teuer.

So stapften sie fast die gesamte Nacht bis zur völligen Erschöpfung in Küstennähe durch den Dschungel. Irgendwann brach der verwundete Japaner zusammen und ließ sich an einem Baum nieder. Er erklärte seinen Landsleuten, dass sie ihn zurücklassen sollten und winkte ihnen mit gequältem Gesicht ein letztes Mal zu.

Auch Alf wurde immer langsamer und humpelte geschwächt über den schlammigen Boden des Dschungels. Mehrfach musste ihn Frank fast hinter sich herschleifen. Doch das tat der junge Mann gerne, ähnlich hatte sich Alf nämlich damals auch bei ihm verhalten, als ihn die Rebellen aus Ivas aus dem Gefangenentransporter befreit hatten. Kohlhaas war damals so verstört gewesen, dass er die Chance auf Freiheit gar nicht mehr richtig begriffen hatte.

„Eine Hand wäscht die andere!“, sagte er leise zu sich selbst und wuchtete den schweren, hünenhaften Bäumer hoch. Gelegentlich half ihm auch einer der Japaner.

Nach einem kurzen Nickerchen in den Morgenstunden schlugen sie sich schließlich bis in die Nähe der Kleinstadt Arume durch und gelangten in der Abenddämmerung des folgenden Tages endlich zum Treffpunkt. Sie waren gerade noch rechtzeitig und etwa zwei Dutzend Japaner begrüßten sie enthusiastisch. Madsen, der Däne, war allerdings nicht unter den Männern.

„Jetzt hat es den Wikinger doch erwischt“, schnaubte Frank, „und ich hatte noch eine Schachpartie offen.“

„Und ich noch mehrere“, ergänzte Alf und blickte über das Meer.

Einige kleinere Boote warteten auf sie in einem von Dschungelpflanzen überwucherten Versteck an der Küste. Es waren viel mehr als nötig, denn es hatten nur etwa 30 Mann die Operation überlebt.

„Das war alles umsonst. Vielleicht haben wir diesen General Williams gar nicht erwischt und für nichts und wider nichts unser Blut vergossen“, jammerte Bäumer und hielt sich sein blutverschmiertes Bein.

„Scheiß drauf …“, zischte Frank nur, er hatte die Nase vom japanischen Krieg gestrichen voll.

„Ich will nur noch nach Hause. Keinen Finger mache ich mehr für die Japsenarmee oder die Freiheit der Welt oder sonst was krumm“, brummelte er resigniert.

Dann stiegen sie in die Boote und fuhren einige hundert Meter auf das Meer hinaus. Eine halbe Stunde warteten sie und bangten. Mittlerweile war es wieder dunkel geworden und das Meer unter ihnen wirkte wie ein finsterer, undurchdringlicher Abgrund.

„Wie lange sollen wir noch auf dem offenen Meer wie eine Zielscheibe herumschwimmen?“, fauchte Bäumer.

„Das hier sind Fischerboote, sie werden wohl nicht auffallen. Bleibt jedenfalls zu hoffen, dass hier nicht gleich GCF-Hubschrauber auftauchen“, antwortete Frank besorgt.

Plötzlich sahen sie Lichter neben sich in der Tiefe aufblitzen. Sie atmeten auf, es war ein U-Boot. Es stieg langsam nach oben auf und erhob sich mit einem lauten Brausen aus dem Wasser. Die Japaner jubelten.

Kurz darauf tauchten noch zwei weitere Unterseeboote in einiger Entfernung auf. Die Soldaten stiegen in die eisernen Schiffe und selbst Frank fühlte sich diesmal erstaunlich wohl. Für klaustrophobische Anfälle war er ohnehin viel zu erschöpft.

Er schlief nach kurzer Zeit ein, nachdem er ein Stoßgebet gen Himmel gesandt hatte. Ein japanischer Arzt kümmerte sich derweil um Alfs verletztes Bein und gab ihm endlich Schmerzmittel. Vielleicht war die ganze Mission ein Reinfall gewesen, aber sie lebten noch und das war die Hauptsache.

Die anderen beiden Unterseeboote verschwanden in den Tiefen des Pazifiks, ohne jemanden der Elitesoldaten an Bord nehmen zu müssen. Ein U-Boot reichte vollkommen aus, um den kläglichen Rest der kampfesmutigen Hukushuu-Einheit nach Japan zu befördern. Die stundenlange Fahrt verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Das U-Boot tauchte wieder in größere Tiefen hinab und umging die feindlichen Kriegsschiffe, welche in den letzten Tagen Tokio und die anderen Großstädte im Zentrum Japans mit massiven Raketenangriffen geplagt hatten.

Frank ließ einfach die Zeit verstreichen und immer wieder fielen ihm wieder die Augen vor lauter Müdigkeit zu. Dann erreichten sie endlich den Hafen von Toyohashi und wurden anschließend weiter nach Tokio gebracht.

Zwei Tage später ging ein Jubelschrei durch die Räume des japanischen Oberkommandos. Die internationalen Medien hatten gemeldet, dass General David Williams einem Terroranschlag zum Opfer gefallen war.

Matsumotos Propaganda berichtete Tag und Nacht von dem „heldenhaften Angriff auf die Basis des Völkermörders David Williams“ und posaunte es in ohrenbetäubender Lautstärke heraus, dass der Krieg an einem Wendepunkt angelangt sei. „Jetzt erst sieht die Welt den wahren Heldenmut Japans und nun wird sich das gesamte Volk erheben, um die Mörderhorden der Weltregierung ins Meer zu treiben!“, hieß es.

Die gewaltige Kampagne hatte Erfolg, die meisten Japaner glaubten nun tatsächlich, dass ein Sieg möglich geworden war. Nach der Hukushuu-Einheit wurden später Schulen und sogar Universitäten benannt. Die Propaganda Matsumotos kannte nun keine Grenzen mehr und sie war, das konnte niemand bezweifeln, sehr erfolgreich.

Frank und Alfred waren wieder zu den Taishis gebracht worden, um sich auszuruhen. Es war so eine Art Fronturlaub, denn nach einem Monat sollten sie sich wieder bei der japanischen Armee melden, um als Soldaten bei der Gegenoffensive im Süden des Inselstaates mitzukämpfen.

Die japanische Familie war stolz auf sie, doch der Schleier der Trauer um ihren Sohn ließ sie nach wie vor depressiv erscheinen. Bäumers Bein ging es nach einigen Besuchen im Zentralkrankenhaus von Tokio bald auch wieder besser.

„Die können mich mal!“ Frank lag auf seinem Bett in der oberen Etage im Hause der Taishis und schlürfte ein kaltes Bier.

Alf grinste. „Morgen verschwinden wir von hier. Für immer. Mich sieht keine Süd- oder Nordfront so schnell wieder!“

„Wir haben unsere Mission erfüllt. Es war also doch nicht umsonst. Und ich bin mir sicher, dass ich Williams erwischt habe“, erklärte Kohlhaas mit stolz geschwellter Brust.

„Vielleicht war es aber auch der Japaner, von dem du mir erzählt hast. Er hat doch auch auf die Gruppe der flüchtenden Offiziere gefeuert, oder?“, neckte ihn Alf.

„Nein, ich bin mir sicher!“, stieß Frank aus. „Die lagen nach meiner Salve auf der Schnauze …“

„Dann mach dir eine weitere Kerbe auf deinen Gewehrkolben, großer Meister“, stichelte Bäumer weiter.

„Ist ja auch egal. Hauptsache weg von hier …“, erwiderte Kohlhaas und nahm sich noch eine Flasche Bier.

„Wilden hüpft bestimmt jetzt den ganzen Tag vor Freude durch sein Haus – wie ein Känguru!“, sagte Alf und grinste hämisch.

„Er hüpft von Litauen nach Sibirien und zurück“, sagte Frank. „Und ich hüpfe vor Freude, wenn ich endlich Julia wiedersehe“.

Sie packten ihre wenigen Sachen zusammen und vertrieben sich den Rest des Tages mit Fernsehen oder Kartenspielen. Morgen war es soweit. Es ging nach Hause. Die japanische Armee konnte sich jetzt andere Helden suchen.

Während sich die beiden Männer ihre wohlverdiente Ruhe gönnten, brach bei der südlichen GCF-Invasionsarmee nach der Eliminierung des Oberbefehlshabers erst einmal das Chaos aus, ganz so, wie es sich das japanische Oberkommando erhofft hatte.

Die multinationale Armee verfiel für mehrere Tage in Unordnung und sah sich oft widersprüchlichen Befehlen gegenüber, welche ihren bisher so erfolgreichen Vormarsch im Süden Japans lahm legten.

Zudem rief jetzt Präsident Matsumoto zur großen Gegenoffensive auf und Massen von neu ausgehobenen Regimentern marschierten an die südliche Front, um die verwirrten GCF-Truppen zurück zu drängen.

Neue Panzerdivisionen und Flugzeuge unterstützten den gewaltigen Großangriff des Inselvolkes, den die Kriegspropaganda zum „japanischen Erwachen“ hochstilisierte. Innerhalb von nur zwei Wochen war die GCF im Süden der Zentralinsel Honshu aufgerieben und aus den Großstädten hinausgeworfen worden. Jetzt trieben sie die hochmotivierten und wieder selbstbewussten Japaner ins Meer und massakrierten sie in großer Zahl.

Dann erfolgte der Gegenschlag auch auf den beiden südlichen Inseln Kyushu und Shikoku. Mit großen Erfolg, denn die GCF verlor täglich an Boden und musste sich aus vielen eroberten Städten und Ortschaften wieder zurückziehen.

Eine Welle der Euphorie ergriff das japanische Volk und immer mehr junge Männern strömten zur Armee. Sapporo war unterdessen gefallen und die meisten der Verteidiger waren getötet worden oder verhungert, gleiches galt auch für die Zivilbevölkerung. Dennoch blieb die tapfere Metropole, welche die Feinde so lange an ihren Mauern hatte zerschellen lassen, ein nationales Symbol des Widerstandes gegen die Weltregierung und wurde von Matsumotos Propaganda zu einem „Mahnmal des japanischen Heldenmutes“ verklärt.

Schließlich beflügelten die jüngsten Erfolge der japanischen Armee das breite Volk des Inselstaates so sehr, dass auch im Norden ein erfolgreicher Gegenschlag stattfinden konnte, welcher den Vormarsch der GCF zumindest aufhielt.

Auch die folgenden schweren Bombenangriffe auf Tokio und Yokohama, welche große Teile der Metropolen verwüsteten, verhalfen der GCF nicht mehr zum Sieg.

Ende März des Jahres 2032 musste sich die Weltregierung eingestehen, dass die Großoffensive gegen Matsumotos Inselstaat im Großen und Ganzen gescheitert war. Trotzdem sollten sich die Kämpfe in den zerbombten Städten Südjapans und auf der nördlichen Insel Hokkaido noch mehrere Monate lang hinziehen. Sie forderten immer weitere Opfer.

Frank und Alfred erglühten hingegen vor Stolz, sobald die Rede von ihrer Heldentat war. Allerdings sollten jetzt andere kämpfen. Sie waren das endlose Töten und Sterben gründlich leid geworden.

So verabschiedeten sie sich von den Taishis und luden sie für den Sommer dieses Jahres nach Ivas ein. Dann fuhren sie nach Tokio, verließen mit einem ausländischen Handelsschiff die japanischen Inseln und landeten schließlich auf den Philippinen. Von Manila aus flogen sie als harmlose Touristen nach Wilna zurück. John Throphy holte sie am Flughafen ab.

„Zum Teufel“, brachte Frank nur über die Lippen, als er den Iren von weitem erkannte und blickte dankbar nach oben. Sie hatten die beschwerliche Reise hinter sich und waren dem Schrecken im fernen Osten entkommen.