Während Ivas von schweren Regenschauern heimgesucht wurde und sich Frank und Alf sogar mit einem überfluteten Kelleraum herumschlagen mussten, spitzte sich die Situation im fernen Osten immer weiter zu.
Die beiden Männer schauten schon gar keine Nachrichten mehr, denn die übliche Hetze ging ihnen gehörig auf die Nerven. Gestern war Bäumer mit John Thorphys Auto nach Kedainiai gefahren und hatte einige Eimer Wandfarbe gekauft. Für heute hatten sie sich vorgenommen, den Hausflur der unteren Etage mit schöner orange-bräunlicher Farbe zu streichen. Kohlhaas hatte allerdings wieder eine sehr unruhige Nacht hinter sich gebracht und war zweimal aufgeschreckt. Vermutlich waren es wieder Alpträume oder böse Vorahnungen gewesen, die ihn in seinem dunklen Schlafraum heimgesucht hatten – erinnern konnte er sich aber am nächsten Morgen an nichts mehr.
Die Idee, heute zu streichen, behagte ihm jedenfalls gar nicht, denn er fühlte sich matt und erschöpft, doch sein Mitbewohner drängelte und hatte nicht zuletzt Recht, denn sie mussten langsam mit dem Renovieren ihres noch immer schäbigen Hauses vorankommen.
So begannen sie am Vormittag mit ihrem Werk und als die Farbe die vorher grauen und hässlichen Wände erhellte, fand auch Frank nach einer Weile Gefallen an seiner Arbeit. Zu einer heilenden Seele passte auch eine schönere Umgebung, das war Fakt.
Auch die übrigen, an Anzahl langsam zunehmenden Einwohner von Ivas, begannen in diesem Jahr mit immensen Aufräum- und Restaurierungsarbeiten. Steffen deVries hatte sogar eines der alten Ladengeschäfte, das seit Jahren vor sich hin verrottete, übernommen und verkaufte dort jetzt diversen Krempel und Haushaltswaren. Das Dorf hatte damit seinen ersten offiziellen kleinen Laden wiederbekommen und manche Dinge, die der Flame dort hortete, konnte man durchaus gebrauchen.
Etwa 30 neue Einwohner waren in diesem Frühling ins Dorf gekommen und hatten ein paar der verfallenen Häuser bezogen. Wilden ließ jeden einzelnen von ihnen sorgfältig von HOK überprüfen und erklärte, dass jetzt erst einmal niemand mehr aufgenommen würde.
Unter den neuen Nachbarn befanden sich eine holländische Familie aus Amsterdam, eine Familie aus Frankreich und ein Engländer, der aus einer Haftanstalt entflohen war. Frank kannte sie noch kaum, nur mit Ives, dem Franzosen, hatte er sich bei einem Rundgang durchs Dorf einmal länger auf Englisch unterhalten. Er schien nett zu sein und hatte ihm erzählt, dass er wegen illegaler politischen Aktivitäten seine Heimat über Nacht hatte verlassen müssen. Die restlichen Neuen waren aus Deutschland und Österreich, wo die Verfolgung von unliebsamen Personen weiter zugenommen hatte.
Am Nachmittag machte sich Frank auf den Weg zum urigen Laden des Belgiers, um eine weitere Farbrolle zu kaufen. Alf und er hatten jetzt schon einiges geschafft und die grauen Wände im Bereich der Eingangstür ihres Hauses vorbildlich verschönert. Steffen deVries schaute gelangweilt aus dem ungeputzten Schaufenster seines Lädchens, vermutlich hielt sich der Ansturm kaufwilliger Kunden heute einmal mehr in Grenzen. Als er den jungen Mann vom Dorfplatz aus herkommen sah, lächelte er freundlich und winkte ihm zu.
„Hallo Steffen!“, begrüßte ihn Frank. „Na, was macht das Geschäft?“
„Ach, vergiss es. Aber ein paar Globes bringt es doch ein.
Ich kann die Räumlichkeit ja umsonst haben, hat Wilden gesagt. Gestern habe ich ein Überbrückungskabel an einen der Neuen verkauft. Das war vielleicht ein sturer Kopf. Richard heißt er, sagte kaum ein Wort“, erzählte der frisch gebackene Einzelhändler.
„Hast du eine Farbrolle?“, fragte ihn Frank und schaute sich die Kisten und Regale an, welche mit allerlei nützlichem Gerümpel vollgestopft waren.
„Äh, ich glaube nicht …“ Steffen deVries verschwand im Nebenraum und man hörte ihn kramen.
„Verdammt! Wir streichen gerade den Hausflur und ich habe nur noch so eine halbverklebte, alte Rolle. Die ist kaum noch zu gebrauchen“, erläuterte Kohlhaas.
„Tut mir leid. Eine Rolle habe ich nicht. Nur einen großen Pinsel. Ist noch ganz neu“, schallte es aus dem Nebenraum. Der dickliche Belgier kam zurück und schüttelte den Kopf.
„Was soll’s …“, stöhnte Frank, „Den Rest streiche ich dann doch mit meiner alten Rolle fertig. Halb so schlimm!“
Der Belgier bot seinem potentiellen Kunden einen Tee an und kramte seine Zigaretten hervor. Dann kratzte er sich an seinem rötlichen Dreitagebart und ließ seine breiten Backen darunter erzittern. Es sah irgendwie lustig aus und Frank musste sich das Lachen verkneifen.
„Und? Willst du auch nach Japan in den Krieg ziehen, Junge?“, warf der Belgier in den Raum.
„Wie meinst du das?“, erkundigte sich Frank verdutzt.
„Ja, hast du es denn noch nicht gehört? Sven und die anderen Jungspunde hier im Dorf wollen sich bei den ausländischen Freiwilligenverbänden melden und den Japanern helfen, wenn die GCF das Land angreift“, erklärte er erstaunt.
„Äh, hatte ich erst einmal nicht vor …“, brachte Kohlhaas nur heraus.
„Einen wie dich könnten die dort brauchen. Die haben auch schon gefragt, ob Alf und mit dabei sind“, sagte deVries.
„Davon weiß ich noch gar nichts“, erhielt er als Antwort. „Was für ausländische Freiwillige?“
„Wilden war vorgestern hier und hat mir erzählt, dass sich bereits über zehntausend Freiwillige aus aller Herren Länder bei der japanischen Armee gemeldet haben und teilweise auch schon in Japan sind. Europäische Rebellen, Männer aus dem Irak und den anderen arabischen Ländern, Asiaten und was weiß ich noch alles“, schilderte der Flame.
„So viele?“, rutschte es Frank heraus.
„Ja, und es werden wohl in den folgenden Monaten noch Tausende kommen. Da braut sich etwas zusammen, da hinten. Das japanische Oberkommando will diese ausländischen Helfer in eigenen Divisionen zusammenfassen. Ich selbst hatte auch überlegt, nach Japan zu gehen, aber ich bin wohl schon zu alt dafür und außerdem habe ich Familie“, sagte der Mann aus Flandern und steckte sich noch eine Zigarette an.
„Aha, Sven und die anderen…“, brummte Frank.
Sven war ein hochgewachsener, blonder Heißsporn und brannte scheinbar darauf, den japanischen Befreiungskampf gegen die Armeen der Weltregierung zu unterstützen. Er lebte mit seinen Eltern hier in Ivas. Ihm hatten sich vermutlich schon weitere junge Männer angeschlossen.
„Na, du kennst Sven ja. Er redet seit Tagen von nichts anderem mehr, als so schnell wie möglich, in den Krieg zu ziehen. Ich bin davon nicht ganz so begeistert, aber dem Jungen fehlt halt noch die Lebenserfahrung. Ich habe ihm schon gesagt, dass das sicherlich kein Abenteuerurlaub wird und er es sich vorher gut überlegen sollte, aber er scheint fest entschlossen zu sein, zu gehen. Du bist wahrscheinlich sein großes Vorbild, Frank. Deine Aktion in Paris hat ihn …“, sprach Steffen deVries, dann fiel ihm Frank ins Wort.
„Ich? Sein Vorbild? Wenn er sich da mal nicht täuscht!“, fuhr Kohlhaas dazwischen und wirkte verdutzt.
„Ja, er verehrt dich!“, sagte der Flame.
„Ich dachte erst, dass er nichts von mir hält. Zumindest als ich hier hingekommen bin. Nach Paris musste ich ihm allerdings alles genau im Detail erzählen und er war einige Tage fast jeden Mittag bei uns“, kam es von Frank.
Steffen deVries blickte sein Gegenüber grinsend an und erklärte: „Der Junge ist dein Fan, Frank. Und auch Alf hält er für einen echten Helden. Bei mir schwärmt er ständig von euch. Für ihn seid ihr wahre Rebellen.
Er kennt fünf oder sechs weitere junge Männer, die ihn begleiten wollen. Auch Rolf, der Sohn von Kai Hugenthal, ist ganz Feuer und Flamme für Japan.“
Frank Kohlhaas wusste nicht so recht, was er von der Sache halten sollte. Es machte ihn innerlich zwar stolz, dass ihn die noch jüngeren Männer scheinbar für einen Helden hielten, doch konnte er sich ausmalen, worauf sie sich in Japan einließen.
Allerdings war es weltpolitisch enorm wichtig, dass sich der Inselstaat gegen die Macht der GCF behaupten konnte, sollte es wirklich zu einem Angriff kommen. Doch stimmte es ihn bedenklich, wenn Sven und die anderen, die teilweise kaum zwanzig Jahre alt waren, sich freiwillig meldeten, um Bäumer und ihm zu imponieren. Menschen zu töten, war keine schöne Angelegenheit und erst recht keine Spaßveranstaltung für gelangweilte, junge Burschen aus Ivas. Und die Wahrscheinlichkeit, selbst nicht mehr lebend davon zu kommen, war sehr groß, wenn die GCF-Streitkräfte Japan wirklich attackierten.
Frank verabschiedete sich und ging mit dem neuen Pinsel, den ihm Steffen deVries zum Abschied freundlicherweise geschenkte hatte, wieder zurück nach Hause und strich den Hausflur weiter. Er wirkte nachdenklich und erledigte die Streicharbeiten bis es Abend wurde, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Später erzählte er Bäumer von seinem Gespräch mit Steffen deVries. Danach wirkte auch dieser verstört.
Herr Wilden lief in seinem Büro auf und ab und gestikulierte herum als sich Frank und Alfred nach Sven und der Sache mit den Freiwilligen erkundigten: „Der Junge nervt mich jetzt seit Tagen. Seit ich ihm erzählt habe, dass sich immer mehr Freiheitskämpfer aus aller Welt nach Japan begeben, um Matsumoto zu unterstützen.
In der letzten Woche sind 5000 Freischärler aus dem Iran auf die Insel gegangen. Hat mir Masaru erzählt. Das war in Japan groß in den Medien, nach dem Motto: ‚Seht ihr, die ganze Welt hilft uns bei unserem Freiheitskampf!’“
„Wie kommen die da alle so einfach hin?“, wollte Alf wissen.
„Sie sickern praktisch in Kleinstgruppen durch die Maschen der Kontrollnetze der Weltregierung und sammeln sich in Japan unter Aufsicht des dortigen Oberkommandos“, erklärte der Dorfchef. „Wer erwischt wird, dass er als Widerstandskämpfer nach Japan geht, den liquidieren sie natürlich sofort. Aber die Freischärler aus dem Iran und viele andere Rebellengruppen haben gute Strukturen aufgebaut und verfügen scheinbar auch über eigene Schiffe und andere Transportmittel.“
„Wie will Sven denn dorthin kommen?“, fragte Frank mit grübelnder Miene.
„Ganz einfach. Per Flugzeug, als Passagier. Er will fünf Mann mitnehmen. Alle reisen einzeln, damit sie nicht als Gruppe auffallen.
Ab dem 01.07.2031 sind sämtliche Passagierflüge nach Japan untersagt, gleiches gilt für Reisen mit dem Schiff –aber noch geht es. Auch von der Insel wird dann niemand mehr wegkommen. Der Staat wird von allen anderen Ländern vollkommen isoliert werden.
Die Japaner selbst werden auch so gut wie keinen Ausländer mehr in ihr Land lassen und kurzen Prozess mit jedem machen, den sie für einen Agenten halten Es gibt nur Ausnahmen für Geschäftsleute mit Sondergenehmigungen. Damit haben wir normalen Leute aber nichts zu tun“, ergänzte Wilden.
„Befürwortest du die Aktion überhaupt?“, fragte Alf dazwischen.
„Nun ja, ich kann es den Jungen nicht verbieten und ich halte es auch für weltpolitisch extrem wichtig, dass Japan mit allen Mitteln durch jeden Mann aus dem Ausland, der dem Weltsystem den Kampf angesagt hat, unterstützt wird. Eigentlich sollten sich noch viel mehr freiwillig melden!“, dozierte der ältere Herr.
„Also erwartest du das von uns auch? Wir sind ja schließlich die Helden von Ivas – zumindest in Svens Augen“, gab Bäumer in die Runde und blickte Wilden ernst an.
„Das ist eure Sache. Ich werde niemanden dazu zwingen. Wenn ich jünger wäre, dann würde ich mich dem japanischen Freiheitskampf anschließen, eben weil er auch für den Rest der Welt so unfassbar wichtig ist. Dieser Staat darf nicht fallen, er muss verteidigt werden!
Allerdings gehe ich bald auf die sechzig zu und wäre wohl keine große Hilfe an der Front. Zudem muss ich Ivas am Laufen halten. Ihr zwei seid gute Kämpfer, das habt ihr in Paris bewiesen. Die besten Leute, die unser Stützpunkt hier hat. Ihr könntet bei der Verteidigung Japans gute Dienste leisten, allerdings sage ich das mit gemischten Gefühlen. Verlieren will ich euch nämlich nicht“, erklärte Wilden und schaute aus seinem Fenster, als ob das ihm das Ganze irgendwie unangenehm wäre.
Frank und Alfred warfen sich gegenseitig fragende Blicke zu. Dann erhob sich der hünenhafte Bäumer von der schwarzen Ledercouch in Wildens Büro und sagte: „Wir überlegen uns die ganze Sache noch einmal. Könntest du uns denn, wenn wir auch nach Japan gingen, dort irgendwo unterbringen?“
„Das wäre wohl das geringste Problem. Ich habe mit meinem Bekannten Masaru Taishi aus Tokio schon darüber gesprochen. Er würde euch oder auch den einen oder anderen von unseren Jungs bei sich im Haus aufnehmen“, antwortete Herr Wilden und vermied es, den beiden offen ins Gesicht zu blicken.
„Du hast also alles bereits organisiert! Wir Helden sollen wohl das große Gemetzel auf keinen Fall verpassen, was?“, sagte Kohlhaas hämisch. Wilden schwieg kurz und räusperte sich leise.
„Ich überlasse es euch. Organisieren ist hier nun einmal meine Aufgabe. Wenn ich nicht organisieren könnte, dann gäbe es auch kein Ivas. So einfach ist das!“, erwiderte der ehemalige Unternehmer und schien sich irgendwie ertappt zu fühlen.
„Wir melden uns!“, sagte Alfred und signalisierte seinem Freund, dass es jetzt Zeit war, zu gehen. Die beiden verabschiedeten sich wortkarg und verließen dann Wildens Haus. Julia, seine Tochter, kam ihnen im Flur entgegen und flüsterte eine leise Begrüßung. Alfred nickte, Frank schaute hingegen weg und antwortete ihr nicht.
Als die beiden Rebellen durch ihren frisch gestrichenen Hausflur gingen und sich anschließend am Küchentisch niederließen, schwiegen sie erst einmal. Sie fühlten sich heute überhaupt nicht als Helden und hatten den Eindruck, dass sie der Dorfchef auf eine subtile Weise unter Druck gesetzt hatte.
Einige Tage und Nächte grübelten sie vor sich hin oder besprachen das Für und Wider einer Reise nach Japan. Im Gegensatz zu Sven hatten sie ihre Abenteuerlust vor über einem Jahr in Paris mehr als befriedigen können und konnten sich ausmalen, was der GCF-Angriff für unsagbares Leid über die japanische Bevölkerung und die Soldaten bringen konnte.
Andererseits hatten sie sich für ein Leben als Widerstandskämpfer entschieden und dazu gehörten nun einmal bewaffnete Konflikte mit dem Feind. Das Land Japan war weit entfernt auf der anderen Seite des Erdballs, aber die Schlacht um den einzigen Staat, welcher der Weltregierung offen die Stirn geboten hatte, war für alle anderen Länder entscheidend.
Wenn es der GCF nicht gelingen sollte, die Inselgruppe zu erobern, dann konnte das sehr schlimme Folgen für die als übermächtig und unbesiegbar geltende Weltregierung haben. Insofern war dieser Konflikt von großer Bedeutung.
War es nicht bitter nötig, der rebellischen Nation, auf die sich die Augen der ganzen Menschheit richteten, zum Sieg zu verhelfen? Sollten sie hier weiter in Ivas vor sich hin leben und ab und zu ein Attentat verüben?
Nein, das konnte auf Dauer nicht der Weg sein. Ein Staat musste sich erheben und die Ketten der Sklaverei vor aller Augen zerreißen und dieser Staat durfte nicht nach einer kurzen Lebensdauer wieder zerschlagen werden. In diesem Falle war es nun einmal Japan, das so vielen Millionen insgeheim Hoffnung gab. Es zeigte allen, dass man sich doch erfolgreich gegen die Logenbrüder wehren konnte.
Ein Meilenstein für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte war weniger das Attentat auf Leon-Jack Wechsler gewesen, sondern vielmehr der Freiheitskampf des Präsidenten Matsumoto. Wenn er und sein Volk standhielten, dann zeigte dies die Verwundbarkeit des Weltverbundes, dann verdeutlichte es, dass die Herrschenden keine finsteren Götter mit dem Mal der Unbesiegbarkeit waren, sondern nur besonders skrupellose Machtmenschen.
Tage gingen ins Land und die Gehirne von Frank und Alfred arbeiteten emsig daran, eine sinnvolle Lösung zu finden. Schließlich schnappten sie sich den jungen Sven und sprachen mit ihm über die Vor- und Nachteile seines Vorhabens. Dann willigten sie ein.
Wenn sie jetzt nicht kämpfen würden, wann wollten sie es dann tun? Frank Kohlhaas und Alfred Bäumer beschlossen, sich dem Kampf um Japan anzuschließen.