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NEUNUNDZWANZIG |
Fenris, das große Grauen mit den Tentakeln, schlug zu. Ein Peitschen seiner Ranken schlug Vorm weg und radierte ein Dutzend Smorgaz-Klone aus.
Vorm wehrte sich. Seine zahllosen Münder bissen in Fenris’ instabile Gestalt. Grell orangefarbene und blaue Galle spritzte aus den Wunden. Zaps Blitze rissen versengte Stücke aus dem Mondgott. Die Wolke von Smorgaz-Klonen häufte sich auf und begrub alles unter einem wimmelnden lila Haufen.
»Was soll das?«, fragte Greg, obwohl ihm das Sprechen mit diesen Reißzähnen, die aus seinen Kiefern ragten, nicht leicht fiel. »Du störst!«
Diana ignorierte ihn und die verwirrten, verzerrten halben Scheußlichkeiten der Kultmitglieder um sie herum.
»Das kannst du nicht machen«, sagte sie zu Calvin. »Es ist nicht richtig.«
»Du verstehst das nicht«, erwiderte er.
»Ich verstehe es durchaus. Ehrlich, aber …«
»Sei still!«, knurrte Greg. »Du hast kein Recht, mit ihm zu sprechen. Unser Herr spricht nur mit dem Raubtier, nicht mit der Beute.«
»Halt die Klappe, Greg! Wenn er mein Universum zerstören will, denke ich, sollte auch jemand von der benachteiligten Seite etwas dazu sagen.«
Die Kultmitglieder umringten Diana. Die Klappen um Pogos Saugnapfmaul wackelten, als er knurrte. Er war ein ebenso unaufhaltsames und unbegreifliches Wesen wie Fenris, doch der Großteil seiner Macht hielt Diana in Bewegung. Er würde zu nicht viel anderem nütze sein.
»Ihr wollt das doch eigentlich gar nicht«, sagte sie. »Ihr seid irgendwo da drunter immer noch zivilisierte menschliche Wesen. Das kann gar nicht anders sein.«
Ein bösartiges Grinsen wanderte über Gregs Gesicht. »Tötet sie!«
»Ach, Scheiße!«
Die wütenden Kultmitglieder warfen sich auf Diana und begruben sie unter einem Schwarm von Klauen und Zähnen.
Bei diesem Anblick lachte und bellte Greg gleichzeitig.
Calvin starrte die wilde Meute undurchdringlich an. Ihre blutrünstigen Schreie klingelten ihm im Ohr.
Über ihnen schüttelte Fenris seine Gegner ab. Smorgaz-Ableger schossen wie Meteore aus weißem Feuer durch die Atmosphäre. Sie schlugen an der Spitze von Südamerika ein und zerstörten Argentinien. Mit frisch nachgewachsenen Tentakeln schleuderte Fenris Vorm gegen Zap.
Die Kultanhänger wurden haariger, bestialischer. Sharon stöhnte, als sich ihr Körper in Calvins Armen verwandelte.
Er tat nichts. Sah nur zu, wie der Kampf weiterging. Als Fenris dem Mond wieder gefährlich nahekam, begann die Verwandlung seines physischen Körpers erneut. Doch bevor sie sich annähernd vervollständigt hatte, begannen die Kult-Bestien zu winseln, während Diana ihre Angreifer mit einem Wechsel aus Boxhieben und Rückhandschlägen abwarf. Die Klauen und Zähne des Kults erwiesen sich Diana gegenüber als unbrauchbar, doch sie erholten sich selbst auch von den schwersten Verletzungen und warfen sich wieder in die Schlacht. In der Zwischenzeit konnten Dianas Monster nicht viel bleibenden Schaden bei Fenris anrichten, aber sie schafften es immerhin, ihn vom Mond abzudrängen.
So ging es minutenlang. Manchmal kam der Mondgott seinem Ziel näher und der Kult verwandelte sich in fürchterliche vierarmige Bestien und überwältigte Diana. Dann wurde Fenris zurückgedrängt, und sie gewann die Oberhand.
Calvin blieb bei Sharon. Jede ihrer Verwandlungen wirkte mühsamer, noch schmerzvoller als die vorherige. Ihr Körper verlor seinen Zusammenhalt. Die Haare fielen ihr aus. Die oberste Hautschicht verflüssigte sich und bildete zu ihren Füßen eine gräuliche Pfütze.
Eine Bestie erfasste Dianas Arm mit dem Maul, und sie schrie auf. Sie hatte es gespürt. Ihre Monster, die Quelle ihrer Unverwundbarkeit, verloren gegen Fenris. Sie boxte den Kultanhänger und warf ihn quer durch den Garten, als weitere gegen sie vorrückten.
»Was tue ich da eigentlich?«
Ihre Kräfte waren im Augenblick beinahe grenzenlos, aber sie war immer noch zu sterblich, um sie auch effektiv einzusetzen, zu sehr an Ursache und Wirkung gebunden. Doch sie war auch mit dem Unendlichen Smorgaz verbunden, und es gab keinen Grund, warum sie allein gegen diese Horde kämpfen sollte.
Zwei Dutzend Diana-Klone materialisierten sich. Sie waren nackt und lila, und ihre hastige Montage bedeutete, dass sie sicherlich keine besonders guten Gesprächspartnerinnen waren, aber für ihre Zwecke genügten sie voll und ganz. Ihre persönliche Armee griff die Kultanhänger an und beschäftigte sie, während sie sich Calvin näherte.
Diana wandte sich an Calvin: »Du musst das beenden.«
Er zögerte. »Ich kann nicht.«
»Mir ist klar, dass du ziemlich viel Mist durchgemacht hast, ich weiß nicht, wie viele Äonen du hier gefangen verbracht und auf das hier gewartet hast. Aber du musst es nicht auf diese Art tun.«
»Du verstehst das nicht. Ich kann es nicht aufhalten. Es ist nicht meine Entscheidung.«
»Wessen dann?«
Calvin deutete auf Fenris. »Seine.«
Das Tentakelmonster hatte beschlossen, Dianas Monster zu ignorieren. Sie taten zwar ihr Bestes, um sich ihm in den Weg zu stellen, aber er schob sich immer näher an den Mond heran.
»Man kann nicht mit ihm diskutieren«, sagte Calvin. »Er hat doch nicht einmal einen Verstand. Das ist irgendwie meine Aufgabe.«
Die Monster im Himmel tobten. Die Nacht brach entzwei, und hinter der Kluft rührten sich absonderliche Dinge und krallten sich in das Universum.
»Leben stehen auf dem Spiel«, sagte Diana. »Milliarden Leben.«
»Was ist mit mir?«, fragte er. »Ich habe auch nicht darum gebeten. Es ist einfach passiert. Habe ich nicht das Recht, endlich frei zu sein? Wenn du in einen Ameisenhügel trittst, und jemand sagt dir, du sollst deinen Fuß nicht bewegen, aus Angst, auf noch mehr Ameisen zu treten, was würdest du in diesem Fall tun?«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Nicht? Für dich ist Fenris ein Monster, ein unverständlicher Gigant, vor dem du Angst haben musst. Für ihn bist du aber nur ein winziger Fleck am Horizont, der nicht einmal der Beachtung wert ist. Warum ist dein Komfort eine Million Ameisen wert, meiner aber keine Million Menschen?«
»Du zerstörst mein Universum!«
Lächelnd schüttelte Calvin den Kopf. »Du kapierst es wirklich nicht, oder? Ich bin nicht der Zerstörer. Du bist es.«
Während die Auserwählten mit ihren Klonen kämpften, brachen ihre morschen Gliedmaßen ab. Mit jedem keuchenden Atemzug atmeten sie in grauen Wolken ihre eigenen verdampfenden Organe aus. Der Kampfgeist verließ sie. Diana ließ ihre Klone per Willenskraft verschwinden, sie brauchte sie nicht mehr. Die Kultanhänger lagen sterbend am Boden, zusammen mit dem üppigen Gras unter ihnen. Selbst die Marmorstufen schienen zu Staub zu zerfallen.
»Ich sollte nicht hier sein. Deine Realität kann meine Anwesenheit nicht länger dulden. Wenn du mich jetzt nicht gehen lässt, wird sich dein Universum nicht nur verändern. Es wird sich mit der wütenden Raserei von Fenris selbst auflösen. Auf die eine oder andere Art werde ich diese Welt hinter mir lassen. Die einzige Frage ist: Was bleibt nach mir?«
Diana strengte ihre Sinne an. Flüchtig konnte sie bis zum Zerreißen ausgefranste Fäden der Schöpfung sehen. Geringere Schrecken wie Vorm und seinesgleichen stellten in dem geordneten Chaos, das alles um sie herum ausmachte, lediglich Störfaktoren dar. Sie mochten hier und da verrückte Situationen schaffen, einige Dinge aus dem Gleichgewicht bringen, aber sie waren erträgliche Ärgernisse.
Fenris war anders. Allein seine Existenz war auf lange Sicht unerträglich. Bisher hatte ihn das Universum davon abgehalten, alles zu zerstören, doch jetzt war das Ende des Weges gekommen.
Ihre Monster schafften es, Fenris ins Stocken zu bringen. Mit jedem Fitzelchen ihrer titanischen Kraft hielten sie den Mondgott im Zaum. Fenris’ Tentakel peitschten verzweifelt nach dem silbernen Himmelskörper, der sich knapp außerhalb seiner Reichweite befand. Wäre er nur ein wenig schlauer gewesen, er hätte diese Tentakel gegen seine Gegner einsetzen können, die es kaum fertigbrachten, ihn festzuhalten. Aber seine zwanghafte Verfolgung des Mondes vertrieb alle derartigen Strategien aus seinem fehlenden Geist.
Diana konnte nur Schmerz und Verwirrung in Fenris’ hundert Augen sehen. Er war nicht mehr als ein Tier, das der Falle zu entkommen suchte und den Heimweg finden wollte.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre zerbrechliche Welt schien dem Untergang geweiht. Entweder sie würde zu etwas nicht Wiedererkennbarem transformiert oder komplett zerstört werden.
Sie setzte sich auf die bröckelnden Marmorstufen. Es war keine leichte Entscheidung.
Calvin und Sharon setzten sich neben sie. Sharons Körper hielt einigermaßen zusammen, auch wenn ihre Haut blass und ihre Gestalt dünn und gebrechlich war.
Falls sich Diana mit dem Universum hätte verändern und ihr eigener genetischer Code hätte umgeschrieben werden können, um wieder zu der neuen Welt zu passen, hätte sie darin einen gewissen Trost gefunden. Aber welche neue Realität auch immer wartete, sie würde nach wie vor sie selbst sein: ein Alien in einem verzerrten unbekannten Reich.
»Verdammt«, sagte sie. »Das ist doch Scheiße!«
»Frag mich mal«, stimmte ihr Calvin zu. »Ich weiß nicht einmal, was dort draußen auf mich wartet. Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Aber das ist alles eine Frage des Maßstabs, nicht wahr? Fenris mag auf dieser Existenzebene eine unzerstörbare Kraft sein, aber soweit ich weiß, bin ich nur ein kleiner Fisch in einem unendlich viel größeren Teich. Ich schwimme dann vielleicht frei von dieser Realität, aber nur, um von etwas noch Größerem verschlungen zu werden.«
»Alles ist bloß ein endloser Strang an Rätseln und Fragen, oder?«
»Vielleicht ist so einfach das Leben«, sagte er.
»Ach, Mist. Das ist doch unbefriedigend.«
Plötzlich brach das Herrenhaus in sich zusammen. Niemand sagte etwas dazu.
»Ich kann dir wirklich nicht raten, was hier zu tun ist, Diana«, sagte er. »Es ist deine Entscheidung.«
Sie schloss die Augen und befahl ihren Monstern durch Willenskraft, den Kampf aufzugeben. Sie ließen Fenris los. Ihre Mitbewohner materialisierten sich neben ihr. Deren Empfindungsvermögen wiederherzustellen fand sie leichter, als sie gedacht hatte. Die Wesen schrumpften auf ihre normalen Ausmaße zurück, jetzt wieder ohne die Masse ihrer unglaublichen Macht.
Sie sahen nicht gut aus. Als wären sie gerade mit einem fürchterlichen Kater aufgewacht.
»Haben wir es geschafft?«, fragte Vorm. »Haben wir das Universum gerettet?«
Diana zuckte die Achseln. Sie hatte keine gute Antwort darauf.
Fenris quiekte entzückt, als er seine vielen Tentakel um den Mond schlang.
Calvins Haut fiel ab. Seine ebenholzschwarze ätherische Gestalt stieg in die Luft auf. Das Universum stoppte seinen Zerfall. Die Auserwählten erhoben sich – gefangen in ihren tierischen Gestalten, aber am Leben und wiederhergestellt. Sie griffen nicht an, sondern schlichen unterwürfig zu ihrem Meister.
Sharon führte die Meute an. Sie winselte, und im ganzen Universum war dies das Einzige, was Calvin bemerkte. Er streckte die Hand aus, um ihre Schnauze zu berühren, doch seine immaterielle Hand stieß durch sie hindurch.
Er sagte etwas, aber die Stimme ging hallend sowohl von seiner Gestalt als auch von dem großen kosmischen Monster aus, das den Mond umarmte.
Wir wussten beide, dieser Tag würde kommen. Ich muss jetzt gehen, aber du sollst wissen: Lange nachdem deine Welt zu Staub zerfallen ist, werde ich mich an dich erinnern.
»Das will ich hoffen«, sagte Diana.
Der Mondgott wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu. Sein Blick war eine Hitzewelle, die sie beinahe umgeworfen hätte. Sie stemmte die Absätze in den Boden und zwang ihn, dem unbedeutenden Ding vor sich in die Augen zu sehen, um ihn daran zu erinnern, dass sich all diese winzigen Dinge immer noch da unten befanden.
»Vielleicht liegt es in unserer Natur, dass wir uns keine Sorgen darüber machen, ob wir auf Ameisen treten. Aber wahrscheinlich würden wir anders denken, wenn wir ein paar tausend Jahre unter ihnen gelebt hätten. Tu uns einen Gefallen«, sagte Diana. »Versuch auf deinem Weg nach ... wohin auch immer ... nicht auf zu viele von uns zu treten.«
Er hatte zwar keine Gesichtszüge, aber sie spürte ein Lächeln. Der Druck ließ nach, und sie konnte stehen, ohne das Gefühl zu haben, tausend Welten ruhten auf ihren Schultern.
Fenris verschluckte den Mond. Calvin sauste in einem Wimpernschlag davon, um sich mit den anderen beiden Teilen seines geteilten Selbst zu vereinen. Die große Wesenheit sah zu ihnen herab, und obwohl sie ebenfalls keinen Mund hatte und ihr Körper nichts als eine Ansammlung von Tentakeln und Augen war, meinte Diana, etwas in diesen Augen zu sehen.
Fenris blinzelte ihr zu (oder schloss kurz die Hälfte seiner vielen Augen, was sie als Blinzeln wertete). Vorsichtig riss er mit den Tentakeln eine Spalte in den Himmel. Er nutzte einen Teil seiner grenzenlosen Macht, um die zerteilten Stränge des Universums zusammenzuhalten, damit es nicht ins Chaos fiel. Mit einem freudigen Aufheulen schlüpfte Fenris, der jetzt die Macht hatte, sich selbst zu befreien – zusammen mit dem Intellekt, das auf eine so subtile Art zu tun, wie es sein monströses Drittel nie verstanden hätte – aus dem Universum. Auf dem Weg hinaus knotete er ein paar Stränge wieder zusammen, gab all den Mooshügeln ihre frühere menschliche Gestalt zurück und machte die Schäden wieder gut, die er hinterlassen hatte. Das Universum selbst kümmerte sich um den Rest, stieß das fremde Ökosystem ab und baute alles wieder so auf, wie es einmal gewesen war.
Bis auf den Mond. An seiner Stelle blieb lediglich ein trüber sternenerfüllter Himmel zurück.
Ekstatisch heulte der Kult über die triumphale Abreise seines Gottes. Bis auf Sharon, die einen langen traurigen Klagelaut ausstieß. Mehrere Sekunden, nachdem die anderen Kultanhänger in ihre menschlichen Gestalten zurückgekehrt waren, blieb Sharon noch immer ein Tier, das zögerte, das letzte bisschen Fenris in sich aufzugeben. Doch selbst sie konnte nicht lange daran festhalten.
Diana nahm ihre Hand. »Es ist das Beste so.«
Sharon nickte. »Ich weiß.«
Ein Tentakel tauchte gerade lange genug zurück in die Realität, um an dem himmlischen Riss in Fenris’ Kielwasser entlangzustreichen und ihn wie einen Reißverschluss zu versiegeln. Und dann war er weg – wohin und in welche Zeit auch immer, in Gefilde des Möglichen, die sich Diana nicht einmal auszumalen versuchte.
Von einer verwirrten, unglücklichen Seele zur anderen wünschte sie ihm alles Gute.