cover ACHT

Ein Heulen riss Diana aus dem ersten Schlummer seit einer ganzen Woche. Große Verzweiflung ergriff sie. Es war etwas Fremdes, eine Flutwelle schwermütiger Gefühle, die sie überspülte. Weil sie so zart war, wurde sie davon emporgehoben und schwamm auf der Welle wie ein Blatt, das von einem stürmischen Wind herumgewirbelt wird. Sie wurde zwar durchgerüttelt, dann aber sicher wieder abgesetzt und vom Großteil der Kraft verschont.

Ihr Kopf wurde klar, nachdem sie die außerirdische Furcht und Verwirrung beiseitegeschoben hatte. Erst da merkte sie, dass sie nicht allein war. Noch etwas befand sich in ihrem Schlafzimmer.

Ihr erster Gedanke war Vorm, der am Ende doch noch gekommen war, um sie zu fressen. Das Wesen hatte dieselbe Größe und sah in der Dunkelheit von den Proportionen her ähnlich aus. Doch dann bemerkte sie, dass es Augen hatte, die Vorm fehlten, und diese Augen waren hellgrüne Kreise.

Sie wirkten hypnotisch, und obwohl sie den Blick abwenden wollte, konnte sie ihnen nicht entkommen. Ihr Körper wurde steif. Sie konnte sich nicht rühren. Sie konnte auch nicht denken. Sie hätte sich zu Tode fürchten müssen, aber diese Augen beraubten sie sogar ihrer Angst. Sie hinterließen lediglich eine hohle Kälte in ihrem Inneren.

»Wer bist du?«, fragte jemand.

Es war sie selbst. Sie hatte eine gewisse Kontrolle über ihren Körper. Sie erkannte ihre Stimme, auch wenn sie nicht spürte, wie sich ihre Lippen bewegten. Aber wenn sie sich konzentrierte, fühlte sie, wie die Luft aus ihren Lungen und durch ihre Kehle glitt.

Die Augen wurden schmal. Das Wesen knurrte.

Es kam auf sie zu. In der sonderbaren Dunkelheit um ihr Bett herum griffen die orange gefleckten Hände des Dings, geformt wie siebenzackige Sterne, nach ihrer Decke und zogen. Sie versuchte, sie festzuhalten. Das Monster schummelte: Man sollte nicht in Gefahr sein, wenn man sich unter der Bettdecke verstecken konnte!

Wenn sie nur die Lampe erreichen könnte, wenn sie sie nur anschalten könnte! Das Licht würde das Wesen vertreiben. Selbst wenn ihre Decke sie nicht schützen konnte, würde das Licht es tun. Noch während sie das dachte, sah sie aus dem Augenwinkel, dass ihr Arm schon nach der Lampe griff. Sie war nicht gelähmt. Nicht im eigentlichen Sinn. Sie war nur so von sich selbst abgeschnitten, dass es, sich zu bewegen, absolute Konzentration erforderte.

Sie konzentrierte sich auf ihren Arm und schaffte es, gerade genug Gefühl zu sammeln, um zu merken, dass die Lampe und der Nachttisch fehlten. Und jetzt, da sie hinsah, erkannte sie auch, dass alles andere im Raum außer dem Bett fort war. Und als sie ihren Blick nach oben zwang, sah sie einen Himmel voller trüber Sterne, die die Dunkelheit nicht im Geringsten erhellten.

Das Ding entriss ihr mit einem Kreischen die Decke und legte eine Hand um ihren Knöchel. Es wollte sie in die Schatten zerren und töten, und sie konnte verdammt noch mal nichts dagegen tun.

Eine Fackel direkt neben ihrem Bett erleuchtete die tintenschwarze Dunkelheit, und ein strenger Blick verscheuchte das Ding. Es verschwand, wenn sein unzufriedenes Geheul auch noch eine Weile widerhallte.

Plötzlich konnte sie sich wieder bewegen.

West, dessen pockennarbiges Gesicht von der Fackel beleuchtet wurde, sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Bist du das, Nummer Fünf?«

Sie bedeckte die Augen. Das Licht war so hell.

»Ja, ich bin’s. Was zum Henker war das?«

»Du solltest nicht wach sein«, sagte West.

Sie würde nicht zulassen, dass er das Thema wechselte. »Was zum Henker war das?«

»Traumfresser. Ich würde mir keine allzu großen Sorgen machen.«

»Keine Sorgen? Er wollte mich umbringen!«

»Er hat sich nur von deinen Albträumen ernährt.«

»Aber ich hatte gar keine Albträume.«

»Natürlich nicht. Er hat sie ja gefressen. Die Traumfresser leisten einen wichtigen Dienst, indem sie Negativität und andere gefährliche Emotionen auffressen, während man schläft. Ohne Traumfresser wäre die ganze menschliche Rasse schon lange verrückt geworden.«

»Warten Sie mal. Wollen Sie mir erzählen, diese Dinger sorgen für unsere geistige Gesundheit?«

»Du hast doch nicht geglaubt, deine zerbrechliche Psyche könnte sich ganz allein zusammenhalten, oder? Etwas muss doch den Ballast wegräumen, das überschüssige Klebezeug wegputzen, das die Räder verstopft.«

»Labroides dimidiatus«, sagte Diana.

»Aha.«

»Putzerlippfisch. Er bildet eine symbiotische Beziehung mit einem anderen Fisch, indem er die Hautschuppen frisst, die …«

»Ich weiß, was ein Labroides dimidiatus ist, Nummer Fünf.« Er zog eine zweite Fackel aus seiner Manteltasche und gab sie ihr. »Wir sollten dich von hier wegschaffen, bevor sie zurückkommen. Sie wollen nicht gern gesehen werden. Es macht ihnen Angst, das kann sie gefährlich machen.«

»Aber Sie sagten, sie seien symbiotisch.«

»Symbiotisch und leicht zu erschrecken. Macht allerdings nichts, solange man nicht zu plötzlich aufwacht, so wie du vorhin.«

Die Schreie des Traumfressers wurden von anderen seiner Art erwidert. Von vielen anderen.

»Du solltest mir jetzt wohl besser folgen.«

Sie trug ihren Pyjama, und der Boden unter ihren Füßen fühlte sich warm und matschig an. Wie Sand, der schon fast Matsch war. Jeder Schritt machte ein nasses Ploppgeräusch. Ein paar Schritte, und ihr Bett verschwand in der Leere. Sie sah einige Schemen in der Dunkelheit. Vielleicht Bäume. Vielleicht Felsen. Aber abgesehen davon konnte sie nichts weiter sehen als Wests Fackel, der sie dichtauf folgte.

»Es war dieses Heulen. Das hat mich aufgeweckt.«

Sie konnte es immer noch hören. Leise und traurig. Unmenschlich und erbarmungswürdig.

»Das kann sein«, sagte West. »Du hast wahrscheinlich Fenris’ Schmerz gehört. Du musst eine empathische Seele sein, Nummer Fünf.«

Diana war immer davon ausgegangen, Empathie sei etwas Gutes, aber wenn es bedeutete, dass man in einer fremden Ecke des Universums aufwachte, war sie sich nicht mehr so sicher. Das hatte man davon, wenn man Dinge als gegeben betrachtete.

»Wer ist Fenris?«, fragte sie.

»Der Wolf, der jagt, der Herold von Ragnarök, der gefräßige kleine Gott. Das große grüne Wesen, das auf ewig den Mond jagt.«

»Müsste er dann nicht Managarm heißen? Denn in der nordischen Mythologie …«

»Ich bin mir des Fehlers nur allzu bewusst.«

Sie gingen ein Stück weiter. Die Schreie der Traumfresser schienen abwechselnd von hinten und von vorn zu kommen. Es war unmöglich zu sagen. Abgesehen vom Licht der Fackeln und einem düsteren Schemen hier und da schien die Welt nur aus Schwärze zu bestehen.

»Warum hat Fenris Schmerzen?« Sie stellte die Frage einerseits, um sich davon abzulenken, was gerade passierte, andererseits aber auch, um ihre persönliche Neugier zu befriedigen.

»Er ist gefangen.«

Sie kicherte vor sich hin. »Sind wir das nicht alle? Stell dich hinten an, Junge.«

»Das ist wahr, Nummer Fünf. Aber für ein Wesen wie Fenris ist Gefangenschaft unerträglich. Die meisten Kreaturen sind dazu bestimmt, eine einzelne Existenzsphäre zu bewohnen, aber Fenris ist eines der seltensten Wesen – geschaffen, um die Ozeane der Existenz zu durchschwimmen, genauso wie du von einem Raum in den nächsten gehst. Stell dir vor, du wärst in einem Netz gefangen, aus dem du dich nicht befreien kannst und das sich nur fester zieht, je mehr du zappelst.«

Das klang wirklich ziemlich furchtbar. »Gibt es keine Möglichkeit, ihn zu befreien?«

West sah über die Schulter. Sein Gesicht war nichts als Schatten, bis auf die vier Augen, die im Fackelschein glänzten. »Das Netz ist dein Universum. Oder was du für dein Universum gehalten hast, bevor dir die Augen geöffnet wurden.«

»Oh.«

»Wenn es dir dann besser geht: Dies ist lediglich eine Unbequemlichkeit für Fenris. Seine Bemühungen, sich zu befreien, sind der Hauptgrund, warum es in deiner Realität Tränen gibt. Sein Zappeln reißt am Gefüge deiner Welt. Es hält ihn vielleicht eine Weile fest, aber er ist größer als die Mächte, die ihn binden. Er wird unausweichlich entkommen, selbst wenn er deine Welt dabei auslöschen muss.«

»Aber …«

»Oh, darüber würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen, Nummer Fünf. Jetzt, da du in dem Gebäude wohnst, hängt deine Existenz nicht mehr an so etwas Empfindlichem wie der Realität. Also ist es eigentlich auch nicht dein Problem, oder?«

Sie fand das nicht sehr beruhigend.

»Hat noch keiner einen Weg gefunden, ihn zu befreien, ohne die Welt zu zerstören?«

»Falls es Kräfte gibt, die die Macht haben, das zu erreichen, ist ihnen das Wohlergehen dieses kleinen Universums in hohem Maße gleichgültig.«

»Aber …«

»Es ist noch lange hin«, sagte er. »Es passiert frühestens morgen oder übermorgen.«

Sie blieb stehen. »Was?«

Er ging weiter. »Oder vielleicht in drei Tagen. Oder am Tag danach. Die Ewigkeit bemisst sich immer von einem Augenblick zum anderen.«

Sie nutzte einen dieser Augenblicke, um sich auf das Wichtige zu konzentrieren, nämlich darauf, den Traumfressern zu entkommen. Dann holte sie ihn wieder ein.

»Wo sind wir?«

»Weißt du, wohin du gehst, wenn du schläfst? Wenn du die Augen schließt und niemand dich ansieht, nicht einmal du selbst?«

»Hierher?«

»Manchmal hierher«, sagte West. »Manchmal auch an andere Orte.«

»Willst du mir sagen, dass mein Körper, wenn ich schlafen gehe, an einen Ort wie diesen transportiert wird?«

»Mehr oder weniger. Es sei denn, jemand beobachtet dich.«

Sie kamen an einem anderen Bett vorbei, in dem ein älteres Paar schlummerte. Zwei von diesen Wesen schlichen um sie herum.

»Sollten wir nicht etwas tun?«, fragte sie.

»Was denn tun? Solange sie schlafen, ist alles gut. Glaub mir, sie aufzuwecken, würde nur Probleme machen.«

»Wie oft passiert das?«

»Ich habe es dir doch schon erklärt«, sagte er. »Jedes Mal, wenn dich keiner sieht.«

»Das hab ich kapiert, auch wenn ich die naheliegenden Fragen nicht stellen werde, zum Beispiel, wie das bei den Blinden läuft, weil ... na ja ... weil es wahrscheinlich sinnlos ist. Aber wie oft wachen Leute zu früh auf? Und was passiert mit ihnen, wenn diese Dinger sie erwischen?«

»Es passiert unregelmäßig, und du willst gar nicht wissen, was passiert. Jetzt sind wir fast da. Ah, da sind wir.«

West legte einen Schalter um und vertrieb damit die Dunkelheit. Die Traumwelt verschwand, und plötzlich war ihr Schlafzimmer wieder da. Alles schien normal. West und die Traumfresser waren weg. Sie hätte sich eingeredet, es sei alles ein lebhafter Traum gewesen, wenn sie nicht immer noch die Fackel in der Hand gehalten hätte.

Sie stieg in ihre Hausschuhe, schob die Kommode beiseite, verließ das Apartment und stapfte nach unten. Sie hämmerte an Wests Tür. Sie erwartete nicht, dass er sofort öffnete, aber sie beschloss hierzubleiben, bis er es tat. Als sie gerade zum zweiten Mal klopfte, ging die Tür auf.

»Wie um alles in der Welt soll ich jetzt schlafen?«, fragte sie.

West lehnte sich an den Türrahmen und seufzte. »Wenn du nicht schläfst, wie können die Traumfresser dann deine Gedanken säubern?«

»Und wenn ich weiß, dass da draußen Traumfresser herumlungern und meine Welt dazu verdammt ist, von einem kosmischen Monster zerstört zu werden, wie soll ich dann einschlafen können?«

»Du musst nur die Augen schließen«, sagte er. »Die Fresser kümmern sich um den Rest. Jetzt, da du sie beinahe gesehen hast, werden sie von dir angezogen werden. Du wirst wahrscheinlich besser schlafen, als du dir je vorstellen konntest. Alle Mieter, die am längsten überlebt haben, sind in ihren ersten paar Monaten hier im Haus mindestens ein- oder zweimal zu früh aufgewacht. Das ist ein gutes Zeichen.«

»Aber wenn ich die Augen schließe, sehe ich nur …«

»Du wirst gar nichts sehen. Die Fresser werden dir gnädiges Vergessen schenken und dich von der Bürde wirrer Gedanken und überhitzter Erinnerungen befreien. Sie werden dir die Zuflucht zu einer reinen, ungestörten Besinnungslosigkeit ermöglichen, und zwar acht Stunden am Stück. Wenn ich du wäre, wäre ich dankbar für jeden Augenblick des Friedens in diesem hektischen Universum.«

Er schloss die Tür.

Diana trottete in ihr Schlafzimmer zurück. Er war verrückt, wenn er glaubte, sie könne mit dem Wissen, das sie jetzt besaß, wieder einschlafen. Sie öffnete ein Buch und las, um wach zu bleiben. Irgendwann schlief sie ein.

Es war die erholsamste Nacht ihres ganzen bisherigen Lebens.