cover NEUNZEHN

Jedes Apartment hatte seinen Preis. West wohnte in Nummer eins und war der Bewahrer der vielen Geheimnisse des Hauses. Er war nicht nur dafür verantwortlich, dass das Gebäude zufrieden war, sondern auch dafür, die Realität vor allen möglichen absonderlichen, unverständlichen Gefahren zu schützen. Nur sehr wenige dieser Bedrohungen gehörten zur Kategorie »Ende der Welt«. Das wäre viel zu einfach gewesen.

Die Realität war ein flexibles Ding, zwar leicht zu verbiegen, aber nicht leicht zu brechen. Sie hatte ihre eigene Art, sich vor so gewöhnlichen Gefahren wie Apokalypsen zu schützen. Dass die menschliche Rasse aber jeden Tag aufwachte und feststellte, dass die Dinosaurier immer noch ausgestorben waren, die Lichtgeschwindigkeit sich nicht auf dreißig Kilometer pro Stunde verlangsamt hatte und die Kontinente tatsächlich noch dort lagen, wo sie sie gelassen hatten, bevor sie schlafen gegangen waren, das war – in kleinem Umfang – einem finsteren haarigen Vermieter zu verdanken, der eigentlich nie einen Fuß in das Universum gesetzt hatte, das er am Laufen hielt.

Wenn Vorm die Inkarnation der Zerstörung war und Smorgaz die personifizierte Schöpfung, dann stellte West die Ordnung in ihrer ultimativen zwangsneurotischen Form dar. Es war kein leichter Job. Er war nicht perfekt. Und noch immer hatte er nicht die Zeit gefunden, das verwirrende Durcheinander zu entwirren, das die Menschen törichterweise als Quantenphysik bezeichneten. Einmal, als er einen schlechten Hot Dog gegessen und eine Woche krank im Bett gelegen hatte, war das Ergebnis die Absurdität der Superstringtheorie gewesen. Ein paar zusätzliche Dimensionen leckten zur falschen Zeit hier und da durch, und die menschliche Rasse konnte es einfach nicht auf sich beruhen lassen.

Er hatte nie die Zeit gefunden, den Fehler zu korrigieren. Und am Ende würde wahrscheinlich auch alles gut werden. Wie damals, als er aus Versehen zugelassen hatte, dass sich die Raumzeit krümmte. Am Anfang hatte es ihn gestört, aber jetzt bemerkte er es kaum noch. Und die Menschen schienen großen Spaß daran zu haben.

Es klopfte an seiner Tür. Er war überrascht. Über die Verpflichtungen hinaus, die die Apartments ihren Bewohnern auferlegten, gab es keine Miete, und nichts ging je kaputt. Die Mieter hatten selten miteinander zu tun. Abgesehen von dem Paar in Nummer drei. Sie backten Kuchen und verteilten ihn nach einem bestimmten Plan. Er war irgendwann nächste Woche mit Boysenbeere dran, wenn er sich recht erinnerte.

Es war Nummer Fünf.

»Hallo.« Diana hielt eine Tüte hoch. »Ich habe das hier für Sie geholt. Es ist ein Hamburger.« Sie zögerte. »Sie essen doch Hamburger, oder?«

Hinter ihr meldete sich Vorm zu Wort: »Wenn er ihn nicht will, nehme ich ihn.«

»Doch, ich esse Hamburger«, sagte West. »Aber ich nehme nicht an, dass du auch einen Shake mitgebracht hast, oder?«

»Ich hatte einen, aber jemand hat ihn in die Finger bekommen.«

»Wenn es ein Trost ist«, sagte Vorm, »er war ein bisschen wässrig.«

West nahm den Burger. »Danke, Nummer Fünf.«

Er wollte die Tür schließen, aber Diana fragte: »Darf ich Sie eine Sekunde sprechen?«

»Ich kann dich nicht aus dem Apartment holen«, sagte er.

»Das wollte ich gar nicht fragen. Davon bin ich irgendwie ausgegangen. Nein, ich wollte etwas wegen Chuck wissen.«

»Wer?«

»Der Typ in Apartment zwei. Der mit dem ... Hund.«

»Nummer Zwei? Was ist mit ihm?«

»Was ist sein Ding?«

»Er wohnt in Apartment zwei.«

Er wickelte den Burger aus und nahm einen Bissen. Sie wartete, bis er fertig gekaut hatte, aber er war ein quälend langsamer Kauer. Und ein noch langsamerer Schlucker. Er kratzte sich den Bart. Dann zog er die buschigen Augenbrauen hoch.

»’s gut.«

»Finden Sie nicht, dass zu viel Mayo drauf ist?«, fragte Vorm. »Ich fand, sie haben es mit der Mayo etwas übertrieben.«

»Hast du deshalb auf der Fahrt hierher nur fünf gegessen?«, fragte Smorgaz.

»Jungs, tut ihr mir bitte einen Gefallen und geht zurück in die Wohnung?«

Grummelnd zogen die Monster ab.

»Chuck ... Nummer Zwei – wie gefährlich ist dieser Hund?«, fragte sie.

West nahm noch einen Bissen, kaute und schluckte in der Zeit, die ein normaler Mensch brauchte, um den ganzen Burger zu essen.

Sie seufzte.

»Ich sorge mich nur um Chuck.«

Er machte schmale Augen.

»Chuck. Nummer Zwei.«

»Aha«, sagte West neutral.

»Kann ich mich irgendwie mit ihm anfreunden?«, fragte sie. »Mit dem Hund vor Apartment zwei? Wenn ich ihm einen Burger gebe, würde er Chuck dann öfter rauslassen?«

»Hmm?«

»Nummer Zwei, würde der Hund ihn öfter rauslassen, wenn ich ihm etwas zu fressen gäbe?«

Wests bereits blasse Haut wurde noch fahler. »Füttere ihn nicht. Was auch immer du tust, Nummer Fünf, tu das nicht!«

»Weil …?«

»Weil es ganz, ganz schlecht wäre.«

»Warum schlecht?«

West legte die Stirn in Falten. »Du stellst eine Menge Fragen, Nummer Fünf.«

»Wie soll ich irgendetwas verstehen, wenn ich das nicht tue?«

»Es gibt Dinge, für die der menschliche Verstand nicht angelegt ist. Und Dinge, die der unmenschliche Verstand nie erfassen wird. Unverständliche Dinge.«

Sie nickte. »Aha. Ja, das ist sehr eindeutig. Danke.«

Das Gebäude bebte so heftig, dass sie beide beinahe den Halt verloren hätten.

»Was war das?«

»Insekten«, sagte West. »Wegen eines Bebens muss man sich keine Sorgen machen.«

Ein zweites Beben erschütterte das Gebäude.

»Zwei ist akzeptabel. Es wird erst dringend, wenn …«

Ein drittes Beben, weniger stark, aber dreimal so lang, erschütterte die Wände.

»Ach, verdammt. Immer ist irgendwas!«

Er ging an Diana vorbei und öffnete die Haustür. Die Stadt war weg. Ein leuchtend grünes Brachland hatte sie ersetzt. Ein Moskito von der Größe eines Kampfjets flog über sie hinweg und wirbelte radioaktiven Staub auf.

West schloss die Tür und schlurfte in sein Apartment zurück. Er holte seine alte grüne Werkzeugkiste. Diana stand in der Tür und hielt ihn auf.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Die Welt hat sich verändert«, erwiderte er. »Das kommt vor. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss den Boiler reparieren.«

Sie trat beiseite, folgte ihm aber den Flur entlang.

»So endet es also?«

»Sie hat nicht geendet«, sagte er. »Sie hat gewechselt. Ende impliziert, dass es vorbei ist, aber es ist einfach nur anders als vorher. Das ist es aber immer. Normalerweise ist es nur nicht so offensichtlich. Oder du merkst es nicht. Der einzige Grund, dass du es diesmal bemerkt hast, ist der, dass du hier warst, als es passiert ist. Ansonsten hättest du dich mit verändert.

Bei der letzten Zählung waren es vierzehn machbare radikale Wandlungen, die im Moment stattfinden sollen. Es variiert natürlich. Das ist keine exakte Wissenschaft.« Er blieb vor einer staubigen Tür neben dem Treppenhaus stehen und hantierte mit einem riesigen Schlüsselbund.

»Aber einfach so?«, fragte Diana. »In der einen Sekunde ist sie noch da, und in der nächsten hat sich alles verändert?«

Er bemerkte, dass Sorge in ihrer Stimme lag, aber keine überwältigende Verwirrung. Er lächelte vor sich hin. Im Allgemeinen lernte er nicht viele von den Mietern kennen. Die Apartments verschlangen die meisten Seelen innerhalb von ein paar Tagen. Manche hielten länger durch. Aber nur ein paar wenige besaßen die richtige Kombination aus Neugier, Vernunft und Temperament, um ein ganzes Jahr durchzuhalten.

Er rammte den Schlüssel ins Schloss und nestelte mehrere Sekunden damit herum. Dann gab er der Tür ein paar Tritte und warf sich mit der Schulter dagegen.

»Sind Sie sicher, dass Sie aufgeschlossen haben?«, fragte sie.

»Oh, sie ist aufgeschlossen.« Er nahm sich einen Moment Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. »Wahrscheinlich hat sie der Schwarm blockiert.«

»Was ist der Schwarm?«

Er machte eine Geste in Richtung Tür, um ihr zu bedeuten, sie solle ihm helfen. Zusammen stemmten sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür.

»Morgen wird eine mutagene Strahlung alle Insekten des Planeten auf eine immense Größe anwachsen lassen. Innerhalb eines Jahres werden sie dann alles andere Leben auf der Erde fressen. Innerhalb von neunzig Jahren werden sie ein interplanetares Volk aufbauen, das die Hälfte der Milchstraße bevölkern wird. Ich nenne es den Schwarm. Auch wenn es sich selbst wahrscheinlich irgendwie anders nennt. Oder vielleicht halten sie sich auch gar nicht mit Worten auf. Vielleicht verfügen sie nicht einmal über Sprache. Habe nie versucht, ein Gespräch mit den verdammten Biestern zu führen.«

Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter weit. Eine klebrige Substanz sickerte durch den Spalt.

»Achte darauf, dass du den Schleim nicht in die Augen bekommst, es sei denn, du willst sehen, wie du stirbst«, warnte er.

Mit ein bisschen mehr Arbeit schafften sie es, die Tür halb zu öffnen, was genügte, damit West sich durchquetschen konnte. Er stieg ein paar Stufen hinunter, blieb stehen und sagte, ohne sich umzusehen: »Kommst du, Nummer Fünf?«

Sie streckte den Kopf in das düstere Treppenhaus. »Ist es gefährlich?«

»Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist der Tod.«

»Oh, ist das alles?«

Von den meisten Leuten wäre das ironisch gemeint gewesen, aber Diana verstand ebenso wie West, dass es in diesem Universum wesentlich Schlimmeres gab als den Tod.

Diana folgte ihm in die Dunkelheit. Er kramte einen Tischlerhammer aus seiner Werkzeugkiste und gab ihn ihr. »Den kannst du vielleicht gebrauchen. Deine Kräfte richten hier unten nichts aus.«

»Wenn Sie wissen, dass es passieren wird, können Sie es dann nicht aufhalten, bevor es passiert?«

»So läuft das nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil die Strahlung immer morgen einsetzt. Wenn wir das Problem lösen, wird es einfach übermorgen passieren. Und wenn wir das aufhalten …«

»Hab’s kapiert.«

»Soweit ich es verstanden habe, funktioniert der Schwarm auf einer umgekehrten Zeitachse. Nicht ganz hundertachtzig Grad von der, die das restliche Leben auf der Erde benutzt. Vielleicht hundertdreiundsiebzig Grad. Vielleicht hundertvierundsiebzig.«

Sie wagten sich weiter in die Tiefen vor. Am Fuß der Treppe ging ein schwaches Glühen von den Wänden aus, die voll von dem klebrigen Zeug waren.

»Die Zukunft des Schwarms drückt gegen unsere Vergangenheit. Wenn der Schwarm es schafft, weiter vorwärts zu drängen – oder rückwärts, falls das einfacher zu verstehen ist –, wird er irgendwann die ganze Geschichte umschreiben und dabei die komplette menschliche Zivilisation auslöschen.«

»Das ist Mist.«

»Eigentlich nicht. Ist schon drei Mal passiert. Vier Mal, wenn man den Fall der Neandertaler mitzählt. Und das sollte man eigentlich, denn sie waren eine feine Primatenkultur, der Menschheit in mancher Hinsicht weit überlegen. Die Neandertaler haben den Telegrafen eine ganze Woche vor dem Homo sapiens erfunden. Und sie hatten höllisch gute Hühnchensandwiches.«

»Wenn es also die Zukunft ist und wir sie nicht aufhalten können, was tun wir dann hier unten?«

»Dass es die Zukunft ist, heißt noch nicht, dass es morgen passiert. Der Schwarm drückt gegen unsere Vergangenheit. Und unsere Vergangenheit drückt gegen die Zukunft, die die Vergangenheit des Schwarms ist. Es ist durchaus möglich, dass die Zukunft des Schwarms immer morgen und immer da draußen stattfindet.« Vage wedelte er mit seiner Rohrzange herum, als deute er auf einen Punkt an einem fernen Horizont. »Irgendwo anders, aber nie ganz hier.«

»Ah«, sagte sie. »Klingt logisch.«

»Ja?«

»Es ist wie die Zukunft, aber nicht unbedingt die Zukunft, die jemals kommt.«

»Nein, es ist ganz anders, aber egal. Wenn es als Erklärung plausibel klingt, belassen wir es dabei. Ich denke mir diesen Mist meistens spontan aus, also ist es keineswegs so, als würde ich mehr davon verstehen. Theorien und Erklärungen sind nur Werkzeuge, die man benutzt und wieder weglegt, je nachdem, wie man sie in diesem Job braucht, Nummer Fünf.«

Ein Sack Eier brach auf, und welpengroße Maden krochen den Flur entlang.

»Lass dich nicht von ihnen stören«, sagte West. »Sie werden als Nahrung gezüchtet, die sind völlig harmlos.«

Ein Trio Ameisen erschien, jede davon einen Meter zwanzig groß, sammelte die Maden ein und legte sie in Körbe.

»Drohnen«, sagte West. »Auch harmlos.

»Und wie halten wir die Insekten-Apokalypse noch einen Tag auf?«, fragte sie.

»Wir reparieren den Boiler.«

Tief im Inneren bestand der Keller aus gehärteten Schleimkatakomben mit Arbeitsdrohnen. Nach ein paar Minuten verschwand jede Spur einer von Menschen gemachten Welt.

Er blieb an einer Kreuzung von acht Tunneln stehen.

»Ist schon eine Weile her, seit ich es so schlimm gesehen habe.« Er öffnete seine Werkzeugkiste und zog eine Karte heraus. »Hm-hm. Laut Karte geht es zum Boiler entweder da lang oder da lang.«

»Ist er nicht eingezeichnet?«

»An dem Punkt, wo sich zwei Geschichtsschreibungen treffen, wird Sicherheit durch Wahrscheinlichkeit ersetzt.« Er faltete die Karte zusammen. »Ich gehe da lang. Du gehst dort lang. Einer von uns muss ihn finden.«

Bevor sie widersprechen konnte, war er schon auf halbem Wege seinen gewählten Korridor entlang und verschwand in dem matten Schein des Nests.

»Warten Sie! Falls ich den Boiler finde, wie repariere ich ihn?«, rief sie aus.

»Benutz deinen Hammer!«, rief er zurück. Seine Stimme hallte mehrere Sekunden lang von den Wänden wider. Dann war da nur noch Stille, und sie war allein in dem trüben Leuchten.

Sie fragte sich, warum sie keine Angst hatte, aber vielleicht wurde das alles einfach zu sehr zur Gewohnheit. Sie konnte sich nicht erinnern, welchen Tunnel West gemeint hatte. Statt zu viel darüber nachzudenken, nahm sie wahllos irgendeinen.

Ohne Eile ging sie durch das Nest. Sie ignorierte die Larven und Drohnen, und sie gewährten ihr dieselbe Höflichkeit. Einmal umschwirrten sie Fliegen von der Größe kleiner Vögel. Eine landete auf ihrer Schulter und blieb dort wie ein haariger schnappender Papagei sitzen. Diana versuchte zwar, sie zu verscheuchen, doch sie kam immer wieder, und nach einer Weile gab sie auf und ließ sie sitzen. Immer, wenn sie an eine Weggabelung kam, wandte sie sich ziellos in irgendeine Richtung.

Sie hatte sich verlaufen und stellte sich vor, dass sie auf ewig durch eine Zukunft wanderte, die nie eintreten würde. Aber sie fand es weniger beängstigend als vielmehr ärgerlich. Auf sie warteten viel zu viele andere mögliche Schicksale, die meisten davon schlimmer als dieses hier. Also musste sie sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Diana betrat eine Nische. Neben den bioluminiszenten Wänden baumelte hier eine einzelne Glühbirne an einem Kabel von der Decke. Mehrere Kisten waren an einer Seite gestapelt. Mitten im Raum stand ein rostiger Boiler.

Es konnte doch nicht so einfach sein, dachte sie.

Ein fetter roter Käfer von der Größe eines Kleinwagens rumpelte in die Kammer. Diana drückte sich in einen der grauen Zwielichtflecken an der Wand. Der Käfer keuchte bei jedem Atemzug. Er sah sich im Raum um, seine hundert glühenden grünen Augen schwenkten von einer Seite zur anderen. Sie war sich sicher, er werde sie sehen, aber sie widerstand dem Drang, davonzulaufen. Selbst wenn sie entkam, bezweifelte sie, dass sie den Boiler wiederfinden würde. Und wenn sie schon von etwas gefressen wurde, das in diesem Nest lauerte, stellte sie sich vor, dass der Käfer sie wenigstens schnell erledigen würde. Höchstens ein oder zwei Bissen.

Die Kreatur würgte und spuckte einen Arm, eine Rohrzange und eine Werkzeugkiste aus.

»Scheiße«, murmelte sie.

Der Käfer schnaubte. Er legte den Kopf schief. Sie hielt den Atem an, blieb regungslos und dachte über ihre Möglichkeiten nach.

West war tot. Damit war nur noch sie in der Lage, das Problem zu lösen. Und sie musste es lösen. Andernfalls würden die Insekten aus der Zukunft die Vergangenheit zerstören, und selbst wenn sie Diana am Ende nicht auslöschten, weil sie in einem Apartmenthaus wohnte, das nicht immer fair mit dem Raum-Zeit-Kontinuum spielte, glaubte sie doch nicht, dass sie in einer Welt voller riesiger Mutanten-Insekten leben wollte. Ihre Welt war schon seltsam genug.

Den Boiler zu reparieren würde die Zukunft in Ordnung bringen. Sie wusste zwar nicht, wie man einen Boiler reparierte, aber vielleicht konnte sie es herausfinden, wenn sie sich nicht auch noch mit dem Käfer im Raum herumschlagen musste. Ihre einzige Waffe war ein alter Tischlerhammer. Wenn der nicht magisch war, würde er nicht viel gegen die Kreatur ausrichten.

Sie umklammerte ihn fester. Er fühlte sich nicht magisch an.

Die Fliege auf ihrer Schulter summte laut auf. Der Käfer wirbelte zu ihr herum.

Diana trat aus dem Schatten. Sie wusste nicht, warum. Die beste Rechtfertigung, die ihr einfiel, war, dass wenn sie sowieso sterben würde, dann wenigstens nicht kampflos. Sollte es ein Walhalla geben, würde sie heute beim Festmahl mit den Wikingern eine höllisch gute Geschichte zu erzählen haben.

Sie blieb ruhig. Früher hätte sie ein Riesenkäfer zu Tode erschreckt, doch jetzt war er nur noch eine von vielen Abartigkeiten, die sie fressen wollten. Ihr Herz schlug schneller. Ihre Muskeln spannten sich. Sie zapfte einen Teil von sich an, der die Szene aus der Distanz beobachten konnte, als spielte sie ein Überlebens-Horror-Videospiel, bei dem sie für jedes Level nur einen Versuch hatte.

Die Kreatur griff nicht an. Sie stand bloß da und musterte sie. Diana überlegte, ob der Käfer von ihrer Tollkühnheit beeindruckt oder von ihrer Dummheit verwirrt war. Sie sah ihm nicht in die Augen. Er hatte so viele, dass es auch unmöglich gewesen wäre. Sie beobachtete seine Beine, seine Körpersprache, versuchte, bereit zu sein, wenn er einen Angriff startete.

Diana machte einen Schritt nach links. Der Käfer schwenkte herum. Sein kratzendes Keuchen wurde schneller.

Sie hielt den Hammer in beiden Händen, richtete ihn auf ihren Gegner und sprach mit leiser Stimme: »Du bist am Zug, Großer.«

Aber das Monster stand nur da.

»Worauf wartest du?«, knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Komm schon, du dummer Käfer. Komm schon!«

Der Käfer machte einen Schritt zurück, und sein Keuchen hörte auf. Sie hatte ihm Angst gemacht.

Es war zwar zum Lachen, aber für einen kurzen Moment hatte sie es geschafft, das verdammte Ding einzuschüchtern.

Vielleicht war er nur überrascht. Wenn man so groß war wie ein Auto, war man wahrscheinlich nicht daran gewöhnt, von kleinen Frauen mit noch kleineren Hämmern angeschrien zu werden.

Der Käfer kam auf sie zu. Sie schrie. Da wich er mit einem erschrockenen Kreischen zurück.

Diana holte tief Luft, dann ließ sie das lauteste Gebrüll los, das sie zustande brachte. Es hallte durch die Kammer, und selbst sie war davon überrascht. Der Käfer drehte sich um und stürmte davon, wobei er mit solcher Wucht gegen eine Wand stieß, dass er sich selbst zum Taumeln brachte. Sie stampfte mit den Füßen, sprang auf und ab und kreischte. Die Kreatur kam wieder zu Bewusstsein und flüchtete in einen Tunnel.

Sie lächelte die Fliege an, die immer noch auf ihrer Schulter saß. »Was für ein Feigling.«

Dann sah sie sich den Boiler an.

»Und wie zum Henker reparieren wir jetzt dieses Ding?«

Die Fliege hüpfte von ihrer Schulter und spazierte in kleinen Kreisen auf dem rostigen Boiler herum.

Sie hob den Hammer. »Im Zweifel …«

Ihr Schlag auf den Boiler klang wie ein eigentümlicher Gong, der buchstäblich das Nest erschütterte. Das Beben ließ den Staub von den Wänden rieseln. Sie war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war, aber immerhin war es etwas.

Sie schlug noch einmal zu; das Ergebnis war dasselbe. Diesmal erklang außerdem noch das laute summende Trillern außerirdischer Grillen. Mehrere Drohnen erschienen in der Kammer. Sie taten nichts, sondern beobachteten sie nur und kommunizierten mit Klickgeräuschen untereinander. Das wertete sie als ein positives Zeichen.

»Tut mir leid, Jungs. Ist nichts Persönliches.«

Diana hieb noch ein paarmal auf den Boiler ein. Jeder Schlag schickte Schockwellen durch das Nest und zog die Aufmerksamkeit von immer mehr Bewohnern des Schwarms auf sich. Es kamen auch noch drei der Riesenkäfer, aber keiner machte Anstalten, sie aufzuhalten. Sie hielt die Deckung oben, erwartete jeden Augenblick einen Angriff. Doch der kam nicht. Und nach ein paar Minuten des Einschlagens auf den Boiler wurde alles wieder normal.

Um ehrlich zu sein war es ein bisschen enttäuschend. Sie wusste nicht einmal, wann genau die Wandlung geschehen war. Sie blickte nur auf und bemerkte, dass das Nest und all die Insekten fort waren und sie wieder zurück im normalen Keller.

Der Teil von ihr, der zu viele Horrorfilme gesehen hatte, wusste, dass dies der Moment des falschen Triumphs war. Wenn die Monster aus den Schatten sprangen, war sie vorbereitet. Diana erklomm die Treppe nach oben. Hinter der Tür war kein Insekt. Und als sie die Welt außerhalb des Gebäudes kontrollierte, schien alles normal zu sein. So normal, wie man es erwarten konnte.

»Gute Arbeit, Nummer Fünf!«

Sie drehte sich um. West stand in der Tür zu seiner Wohnung und aß einen Hamburger. Sie war nicht überrascht, ihn lebend zu sehen.

»Dachte, Sie wären gefressen worden«, sagte sie. »Ich habe Ihren Arm und Ihre Werkzeugkiste gesehen.«

»Gibt ’ne Menge Arme da draußen, ’ne Menge Werkzeugkisten«, erwiderte er. »Aber wenn du nicht gesehen hast, wie ich gefressen wurde, hast du eigentlich gar nichts gesehen, oder?«

»Nein, wohl nicht.«

West salutierte zackig, bevor er sich in sein Apartment zurückzog, und Diana, die an solche Dinge gewöhnt war, verschwendete keinen weiteren Gedanken an den Zwischenfall. Nur dass sie froh war, dass die Welt vor ihrem Haus keine höllische Landschaft voller Mutanten-Insekten war. Nur die, die sie kannte, mit einer ordentlichen Dosis kosmischer Monster und unbeschreiblicher Schreckensgestalten hier und da.

Es war zwar nicht viel, aber sie nahm, was sie kriegen konnte.