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FÜNF |
Diana verkaufte Mäntel. Oder, um ehrlich zu sein: Sie stand in der Mantelabteilung eines Kaufhauses herum und wartete, dass Leute vorbeikamen und Mäntel aussuchten. Mäntel kaufen war eine dieser Einkaufserfahrungen, bei denen eine Verkäuferin ungefähr demselben Zweck diente wie eine Schaufensterpuppe. Nur dass sie, statt den Mantel zu tragen, den Leuten sagte, wie gut sie in ihrer potenziellen neuen Garderobe aussahen.
Sie log nicht. Wenn jemand in einem Mantel wirklich furchtbar aussah, sagte sie ihm das normalerweise auch (auf sanfte, weiche Verkaufstechnikart). Aber es war ziemlich schwer, in einem Mantel schlecht auszusehen, und es war wirklich nicht schwierig, einen auszusuchen, der einem gefiel und gut am eigenen Körpertyp aussah. Ein Augenkrebs verursachendes, potthässliches Teil in Rot und Orange hatte allerdings schon lange vor ihrer Zeit in der Mantelabteilung gehangen und würde vermutlich immer noch dort warten, wenn sie wieder weg war.
Als Job war es gar nicht so übel. Sie hatte schon schlimmere gehabt. Auch bessere. Sie hatte nicht vor, dort Karriere zu machen, aber für den Moment konnte sie damit ihre Rechnungen bezahlen. Das einzig Schlechte daran war, dass es dröge werden konnte, und wenn sie in der falschen Stimmung war, konnte eine einzige Schicht gefühlte dreißig oder vierzig Stunden dauern.
Heute würde einer dieser Tage werden, hatte sie das Gefühl.
Nachdem sie vier Tage in ihrem Apartment eingesperrt gewesen war, hatte sie keine Lust, sich in einen größeren Raum einsperren zu lassen. Krankmelden wollte sie sich allerdings auch nicht, denn das hätte unvermeidlich zu Fragen geführt. Wo war sie gewesen? Warum hatte sie nicht angerufen? Und so weiter.
Dann wäre es fast einfacher gewesen, zur Arbeit zu gehen und so zu tun, als hätte sie gar nicht erst gefehlt. Das Problem war nur: Selbst wenn sie bereit war, das zu tun, war es sonst sicherlich keiner. Es würde trotzdem zu denselben Fragen führen: Warum folgt Ihnen ein haariges grünes Monster?
O, das ist mir nur auf der Schwelle zwischen zwei Realitäten zugelaufen, würde sie antworten. Darf ich Ihnen einen bestimmten Mantel zeigen?
Wahrscheinlich konnte sie auch einfach blaumachen und nicht anrufen, aber das war nicht ihre Art. Es widerstrebte ihrem Charakter, vier Tage hintereinander bei der Arbeit zu fehlen, ohne jemandem Bescheid zu sagen.
Ein rascher Blick auf den Wecker bestätigte ihr, dass sie noch zwei Minuten hatte, bis sie aufstehen und sich fertig machen musste. Sie lag im Bett herum und wünschte, es gäbe einen Weg, nicht zu fehlen und nicht anzurufen und das ganze Theater zu vermeiden, das auf jedem der möglichen Wege auf sie wartete.
Im Nebenzimmer klingelte das Telefon. Sie brauchte eine Weile, um ranzugehen, denn sie musste erst die Kommode vor ihrer Tür wegschieben. Die Tür hatte kein Schloss, und sie traute Vorm nicht, dass er seinen Appetit unter Kontrolle behielt, wenn sie schlief. Bis sie die Kommode aus dem Weg geräumt hatte, war er schon ans Telefon gegangen.
»Hallo. Ja, ja. Ach, wirklich?« Er hörte zu, machte gelegentliche Ich-höre-zu-Geräusche, um das sowohl ihr als auch der Person am anderen Ende der Leitung zu bestätigen. »Okay. Ich richte es ihr aus. Kein Problem.«
Er legte auf.
»Im Kaufhaus hat es gebrannt«, sagte er.
»Ach, du meine Güte ... wurde jemand verletzt?«
Vorm zuckte die Achseln. »Hat er nicht gesagt. Nur, dass du heute nicht kommen musst.«
Sie lehnte sich an die Wand und verdaute die Nachricht. Das Gute war, dass ihr Arbeitsproblem damit gelöst war.
»Warte. Ich bin gerade eingezogen und habe noch mit keinem gesprochen. Woher haben die diese Nummer? Ich weiß sie ja selbst noch nicht einmal!«
Vorm zuckte wieder die Achseln, doch ihr war klar, dass er ihr etwas verheimlichte. Auch wenn er keine Augen hatte, schürzten sich seine diversen Lippen verdächtig. Sie spürte, dass er sie anlog. Wahrscheinlich gehörte das zu dem psychischen Band, das sie teilten.
Er wand sich unter ihrem Blick.
»Du würdest es vermutlich Magie nennen. Oder Hexerei. Oder Zauberei. Oder majik mit j und k und Betonung auf dem i. Obwohl ich das immer hochgestochen und unnötig fand.«
»Okay, jetzt willst du mir also weismachen, ich hätte magische Kräfte.«
»Es ist nur ein Nebeneffekt, wenn man auf verschiedenen Realitätsebenen gleichzeitig steht. Jedes intelligente Wesen kann das, vorausgesetzt es hat den Wunsch und den Willen dazu. Außerdem braucht man einen Kanal, um die dazugehörige metaphysische Ladung zu sammeln und …«
»Hör auf.«
»Was? Schon wieder zu technisch?«
»Ich bin mir sicher, du könntest mir eine großartige metaphorische Erklärung liefern, aber es wäre doch nur wieder Kauderwelsch, das ich in Wirklichkeit nicht verstehe.«
»Du hast dir gewünscht, nicht zur Arbeit zu müssen. Die Magie hat sich für dich darum gekümmert.«
»Ich habe mir kein Feuer gewünscht!«
»Aber du hast dir auch nicht ausdrücklich kein Feuer gewünscht.«
»Was zum Geier soll das heißen?«
»Ungesteuerte Realitätsmanipulationen nehmen immer den Weg des geringsten Widerstands. Da du die Einzelheiten nicht spezifiziert hast, wirst du dich wohl kaum über die Ergebnisse aufregen dürfen.«
Sie streifte sich hastig irgendetwas über, das Duschen ließ sie ausfallen.
»Wo willst du hin?«, fragte Vorm.
»Zum Kaufhaus«, sagte sie.
»Ich dachte, du wolltest nicht ins Kaufhaus.«
»Wollte ich auch nicht, aber wenn ich ein magisches Feuer gelegt habe, das jemanden getötet hat, dann muss ich es wissen.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum musst du das wissen?«, fragte Vorm.
»Weil es wichtig ist.«
»Es ist wichtig zu wissen, ob du jemanden getötet hast?«
»Ja.«
»Und warum das?«
»Weil ich nicht damit leben könnte, wenn es so wäre.«
Vorm nickte. »Warum willst du es dann wissen?«
Diana sagte: »Das verstehst du nicht.«
»Oh, ich verstehe es durchaus. Du hast vielleicht aus Versehen jemanden umgebracht, und jetzt glaubst du, es mache die Sache besser, wenn du dich selbst deswegen quälst. Nur weil ich nicht deiner Meinung bin, heißt das nicht, dass ich sie nicht verstehe.«
»Wir können nicht alle amoralische Monster mit vollkommener Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben sein.«
»Mir ist das menschliche Leben als Ganzes nicht gleichgültig«, sagte er. »Nur Individuen.«
»Mein Fehler. Ich gehe. Du bleibst hier.«
Vorm knurrte. »Ich bin eine kosmische Wesenheit, kein Hündchen!«
»Tu mir einfach einen Gefallen«, sagte sie. »Kau nicht auf den Möbeln herum.«
Er grinste. »Ich verspreche gar nichts.«
Diana eilte zum Kaufhaus und hielt unterwegs nur an, um sich einen Kaffee und einen Bagel zu holen. Als sie fast dort war, wurde ihr klar, dass das Feuer zu sehen keine Fragen beantworten würde. Inzwischen machte sie sich weniger Sorgen über die Zahl der Todesopfer, sondern wollte nur sehen, was das Ergebnis ihres sorglosen Wunsches war. Sie stellte sich vor, dass das komplette Kaufhaus bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Dann machte sie sich Sorgen, dass, sich so etwas vorzustellen, es vielleicht wahr werden lassen könnte, deshalb tat sie ihr Bestes, das Bild aus ihrem Kopf zu verbannen. Aber es war genauso, wie von sich selbst zu verlangen, nicht an einen rosa Dinosaurier zu denken. Wenn man die Vorstellung einmal im Kopf hatte, wurde man sie nicht mehr los.
Sie hätte sich die Zeit nehmen sollen, sich Vorms Erklärung anzuhören. Wenn sie jetzt tatsächlich magische Kräfte hatte, war es wahrscheinlich klug, dass sie sie verstand.
Das Kaufhaus war keineswegs zerstört. Geschlossen aufgrund von Reparaturarbeiten stand auf einem Schild an der Tür. Sie spähte durch die Fenster, und auch wenn sie die Mantelabteilung von außen nicht sehen konnte, erkannte sie doch, dass der größte Teil des sichtbaren Rauchschadens ungefähr in dieser Richtung lag. Das Kaufhaus stand noch, und es sah nicht aus, als hätte die Feuerwehr das ganze Gebäude unter Wasser setzen müssen, damit sich das Feuer nicht ausbreitete.
»Ziemlich schlimm, was?«, fragte Wendall hinter ihr.
Sie drehte sich zu ihm um. Er arbeitete bei den Haushaltswaren. Wendall war klein, ein bisschen rundlich, hatte Locken und lächelte pausenlos. War immer fröhlich. Manchmal zu sehr. Sie hatten sich nie groß unterhalten, aber sie mochte ihn auf eine Art, wie man einen angenehmen entfernten Bekannten mochte.
»Musstest wohl kommen und es selbst sehen, was?« Er stellte sich zu ihr ans Fenster. »Ich auch.«
»Weiß man, wie es passiert ist?«, fragte sie.
»Es heißt, es sei ein Kurzschluss gewesen. Du weißt, wie alt die Leitungen hier sind. Gott sei Dank wurde niemand verletzt.«
Innerlich atmete sie erleichtert auf.
»Sie meinen, es dauere wahrscheinlich ein oder zwei Wochen, bis der Schaden repariert ist«, sagte er. »Sag mal, willst du einen Kaffee trinken gehen oder so?«
»Eigentlich habe ich gerade einen Kaffee getrunken«, antwortete sie.
»Es gibt da einen tollen kleinen Bagel-Laden gleich um die Ecke«, sagte er.
»Äh, ich hatte gerade …«
»Ich lade dich ein.«
Wendall grinste sie an. Er stand auf sie. Vielleicht. Es war nicht so leicht zu sagen, denn er war immer so freundlich, aber er war diese spezielle Marke netter Kerl, die so daran gewöhnt ist, übersehen zu werden, dass jede Frau, die seine Existenz doch bemerkte, automatisch attraktiv wurde. Oder vielleicht bildete sie sich auch nur etwas ein. Vielleicht war er nur so freundlich wie immer.
»Ja, klar.«
Sie dachte sich, es könne nicht schaden, ein bisschen Zeit mit einem normalen Menschen zu verbringen, der keine Welten verschlang, und Wendall war so normal, wie es in dieser Realität überhaupt ging.
Der »tolle kleine Bagel-Laden gleich um die Ecke« war in Wirklichkeit der »annehmbare kleine Bagel-Laden gleich um die Ecke, wo sie zwei- oder dreimal die Woche zu Mittag aß«. Aber sie fand die Vertrautheit beruhigend. Etwas wie eine Mischung aus Katze und Hase hoppelte, unbemerkt von allen anderen, unter einem der Tische herum, aber sie ignorierte es entschlossen.
Wendall übernahm den Hauptteil des Gesprächs. Er war kein Plappermaul, aber wenn einem nicht nach Reden war, machte es ihm nichts aus, die Stille selbst zu füllen. Er sprach über nichts Wichtiges. Sie nahm es ihm nicht übel, denn das meiste, was geredet wurde, war ohnehin nicht wichtig. Sie hatte selbst auch nichts Wertvolles beizutragen, abgesehen von ihrer aktuellen Einweihung in die Welt des Übernatürlichen, und das war das Letzte, worüber sie sprechen wollte. Aber sie konnte auch nicht ewig über verschiedene Variationen von »Verrücktes Wetter haben wir in letzter Zeit« und auch nicht ewig über die Arbeit reden, bevor ihre Aufmerksamkeit abdriftete.
»Also«, sagte Wendall, »was hältst du davon?«
»Hmmm.«
»Von dem Film?«, fragte er.
Sie brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass er sie irgendwann im Lauf des Gesprächs um eine Verabredung gebeten hatte. Offenbar hatte sie Probleme, sich zu konzentrieren. In der Luft knisterte irgendeine merkwürdige Elektrizität.
Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. Strahlende, eifrige Augen über einem hoffnungsvollen Lächeln.
»Äh, Wendall«, begann sie, »mir geht es im Moment nicht besonders gut.«
Alle Hoffnung schwand aus seinem Gesicht, aber er erholte sich schnell.
»Ich will dich nicht abblitzen lassen«, sagte sie. »Wirklich nicht. Es ist nur ... ich mache gerade so eine irgendwie ... schwierige Sache durch.«
Sie wollte es ihm erklären, aber es war einfach zu unglaublich.
Ein rundes violettes Monster watschelte von außen am Fenster vorbei. Dann blieb es stehen, drückte das Gesicht ans Glas und suchte mit seinen drei Augen das Innere des Bagel-Ladens ab. In einer Welt voller Monster war an diesem hier etwas anders. Dieses hier machte sie nervös. Nervöser als sonst jedenfalls. Und als sein Blick an ihr hängen blieb, war sie nicht überrascht.
Das Wesen sprang durchs Fenster, dass das Glas in alle Richtungen flog. Die anderen Gäste schrien. Einige erstarrten. Andere sprangen in Panik auf. Aber das Monster wackelte mit sturer Entschlossenheit auf Diana zu. Dann machte sich die igelähnliche Kreatur bereit, sich auf sie zu stürzen.
Plötzlich war Vorm da. Er hievte das lila Wesen in die Luft und warf es quer durch den Raum.
»Alles in Ordnung?«, fragte Vorm.
»Ich dachte, du hättest gesagt, du wärst kein Hündchen.«
»Bist du nicht froh, dass ich gelogen habe?«
Brüllend warf sich der Igel auf Vorm.
Diana saß, ebenso wie die Hälfte der Kunden, in der Falle, weil zwei raufende Monster den Weg zum Ausgang versperrten. Sie wusste nicht, was alle anderen sahen, aber sie selbst sah einen riesigen Igel mit dicker gummiartiger Haut mit einer zotteligen grünen Puppe kämpfen. Die Szene erinnerte Diana an eine Folge von Scooby-Doo. Nur dass die Bösen genau das waren, was sie zu sein schienen, und dass dabei Menschen verletzt werden würden.
Vorm biss ein Stück aus seinem Gegner heraus und fügte ihm eine sprudelnde Wunde zu. Ein lila Klecks sprang vom Rücken des Igels und vergrößerte sich zu einer Kopie des Originals. Die neue Kreatur drehte sich um und ging auf Diana los.
Mit einem Aufschrei riss sie die Hände hoch, um sich zu verteidigen. Ein kalter Schauer rann ihre Arme entlang, während unsichtbare Mächte das Monster durch die Decke katapultierten. Von der Anstrengung fühlte sie sich ein wenig benommen. Sie musste diese neuen Supermächte dringend in den Griff bekommen.
Der Igel produzierte zwei weitere Kopien. Alle drei warfen sich auf Vorm.
Wendall nahm sie bei der Hand und zog sie zur Tür hinaus. Vor dem Restaurant blieb sie stehen. Das Gebrüll und Geschrei aus dem Inneren war erschreckend und bizarr. Der Kampf erschütterte die Straße und ließ das Gebäude bersten.
»Wir müssen hier weg«, sagte Wendall.
Es mochte das Klügste sein, aber es fühlte sich falsch an. Sie hatte Vorm zurückgelassen, wo er zerfleischt werden würde. Wenn sie sich auch nicht sicher war, ob er überhaupt sterben konnte. Er war ein sehr altes Wesen, und es war schwer vorstellbar, dass ihn eine wüste Prügelei töten konnte. Aber der Igel war auch eine Art Monster, das war also vielleicht eine Ausnahme.
Sie konnte nichts dagegen tun. Ihre eigenen magischen Kräfte waren so neu und ungewohnt, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie Vorm helfen konnte, auch wenn sie sicher war, dass es das Richtige gewesen wäre.
Ein schreckliches Geheul erschütterte die Erde. Ihr wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Staub vernebelte ihr die Sicht, als Wendalls schattenhafte Gestalt ihr die Hand hinstreckte. Sie nahm sie, und ein scharfer Schmerz schoss ihr durchs Rückgrat.
Es war gar nicht Wendall. Es war der Igel. Sie zog ihre Hand zurück, aber sein Griff blieb unerbittlich. Er schnappte nach ihrer Kehle.
Wendall tauchte aus der Staubwolke auf und führte einen schwachen Schwinger aus, der das Monster an der Schulter traf. Das Monster zuckte nicht mit der Wimper, aber es war ein nobler Versuch gewesen. Sie hatte Wendall zu früh abgeschrieben. Zumindest hatte er es versucht, obwohl er ebensogut hätte weglaufen können. Zu schade, dass sie jetzt trotzdem starb.
Oder auch nicht. Sie konnte zwar nicht atmen, schien es aber auch nicht zu müssen. Das Monster tat ihr nicht weh. Das wollte es scheinbar auch gar nicht. Es warf sie zu Boden, und ein eigentümlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. Es war verwirrt, hatte Angst.
Donner grollte aus dem Restaurant, als ein Igel-Duplikat durch seine Fassade brach, von der Straße abprallte und Diana und ihren Angreifer beinahe traf. Ein zweiter Knall folgte, als ein zweiter Igel nach draußen geschleudert wurde, eine Furche in den Asphalt grub und knapp links von ihr zum Stillstand kam.
Vorm kam durch die zersplitterte Eingangstür aus dem Gebäude. Mit allen Mündern breit grinsend rieb er sich theatralisch die Hände.
»Alles klar bei dir?«
»Ja. Ich glaube schon.« Sie rieb sich die Kehle. Die Haut schien ein bisschen gereizt zu sein, aber es war keine ernste Verletzung.
Der Igel neigte den Kopf in einem merkwürdigen Winkel und kam auf sie zu.
»Es ist gut«, sagte sie mit beruhigender Stimme. »Alles wird gut.«
Das Tier verzog das Gesicht zu einem Zähnefletschen, dann stürzte es sich auf sie. Ihre Grundinstinkte setzten ein. Da ihr die Flucht nichts genützt hatte, entschied sie sich fürs Kämpfen. Diana landete einen Schwinger unter das Kinn des Monsters. Sein Kopf barst in einer Explosion aus Grün und Schwarz auseinander. Der Körper machte ein paar Schritte rückwärts, bevor er zusammenbrach.
»Heilige Scheiße«, sagte sie. »Ich wollte nicht ... das war ein Unfall. Ich wollte ihn nicht …«
»Er ist nicht tot«, sagte Vorm.
Er hob den matschigen lila Leichnam auf und fraß ihn. Es war ein grauenhafter Anblick, wie ein unaussprechliches Wesen innerhalb von einer halben Minute ein anderes verschlang.
Er rülpste.
»Entschuldigung.«
Die Fußgänger blieben stehen – schockiert von dem, dessen Zeugen sie eben geworden waren. Sie waren nicht auf eine Welt voller schrecklicher Monster und explodierender Köpfe vorbereitet gewesen.
Mehrere Igel-Bestien watschelten neben Vorm daher.
»Du hättest mich nicht so fest hauen müssen«, sagte eine.
»Tut mir leid«, antwortete Diana. Nur einen Augenblick später war sie sich schon nicht mehr sicher, wofür sie sich eigentlich entschuldigte.
»Diana, kennst du diese ... Wesen?«, fragte Wendall.
»Ich kann das erklären«, log Diana. »Es ist nicht so verrückt, wie es aussieht.«
Nein, es war viel verrückter. Sie konnte es nur nicht erklären, weil sie selbst nicht viel davon verstand.
Er hastete davon, als wäre sie eine genauso grausige Bestie wie die beiden neben ihr.
Ein Pfeifen lenkte ihre Aufmerksamkeit nach oben. Der Igel, den sie in die Atmosphäre geschleudert hatte, fiel herab. Bevor sie eine Warnung rufen konnte, kehrte er zur Erde zurück, landete direkt auf Wendall und zerquetschte ihn zu einer matschigen Schweinerei. Zumindest nahm sie das an. Sie wandte sich ab, um die blutigen Einzelheiten nicht sehen zu müssen.
Aber sie konnte sich all der Zerstörung, die sie umgab, nicht verschließen. Nur in Comics konnte ein ganzer Häuserblock ohne Todesopfer zerstört werden. Das zehnstöckige Gebäude, in dem der Bagel-Laden untergebracht war, sah aus, als werde es jeden Augenblick einstürzen.
Ihr wurde schlecht.
»Was ist mit ihr?«, fragte das Igel-Tier.
»Sie kennt das noch nicht«, antwortete Vorm.
Vorm und die Igel verblassten. Diana war immer noch dabei, sich an diese seltsame Sicht auf die Realität zu gewöhnen, deshalb bemerkte sie nicht, was gerade geschah. Sie spürte die Wellen, als sich der Kosmos korrigierte, wurde sich dessen aber erst bewusst, als es vorüber war. Sie saß in dem wiederhergestellten Bagel-Laden. Alles war wieder normal, zurückgekehrt in den Zustand kurz vor dem Monster-Angriff.
»Wendall«, rief sie. »Du lebst!«
Er zögerte. Sie fragte sich, ob er sich wohl an etwas erinnerte. Ob sich hier irgendjemand erinnerte. Es herrschte angespannte Stille im Raum – um genau zu sein im ganzen Block –, während die Reste unzumutbarer Erinnerungen verblassten.
Vielleicht hatte sie sich das alles eingebildet. Vielleicht waren Vorm und der Igel nichts als Produkte ihres eigenen verwirrten Geistes. Es schien ihr vernünftiger zu glauben, sie sei verrückt, als dass sie in einem Universum voller Monster lebte, die sonst niemand sah.
Diana musterte Wendall, der vor ihr stand. Sie hätte es nie gedacht, aber er hatte sich tatsächlich als ein guter Kerl erwiesen. Und selbst wenn sie es sich nur einbildete, fand sie trotzdem, dass er eine Chance verdiente, es zu beweisen.
»Wendall, ich würde sehr gerne mit dir ins Kino gehen«, sagte sie.
»Ja ... äh, das«, stammelte er. »Ich habe in den nächsten Wochen ziemlich viel zu tun, aber ich schaue mal in meinen Kalender und melde mich wieder bei dir.«
Sie griff nach seiner Hand, doch er wich zurück.
»Ich muss jetzt los«, sagte er, »aber wir sehen uns sicher später.«
Ohne einen Blick zurück lief er zur Tür hinaus. Er hatte es so eilig, dass er eine alte Dame umrannte.
Er erinnerte sich – und er war nicht der Einzige. Niemand sah sie an. Mehr als das: Sie sahen sie ganz bewusst nicht an. Sie war ebenfalls zu etwas geworden, das man ignorieren musste. Wie die Trümmerbrocken überall auf dem Boden und das Spinnennetz von Rissen im Schaufenster oder der Miniatur-Igel-Klon, der auf dem Boden herumflitzte. Stücke einer nicht ganz wiederhergestellten Realität.
Dianas Kopf schmerzte. Die Welt war gleichzeitig zu hell und nicht hell genug. Alles roch komisch. Ihr Bagel schmeckte auch seltsam. Die Luft, die der Ventilator an der Decke verwirbelte, kratzte auf ihrer Haut. Sie nahm jetzt alles wahr, und alles erschien ihr fremd und unangenehm.
Sie warf ihren Bagel in den Müll, kippte den Kaffee weg, verließ den Laden und trat in ein fremdartiges Universum hinaus, das sie nicht mehr als ihr Zuhause betrachten konnte.