18
Nach der Pathologie des Dichters ist der ungläubige Astronom verrückt.
A. E. Waite
Eykor, der ein unordentlich zusammengestoßenes Bündel Papiere bei sich trug, begrüßte Parleau im Flur vor dem Büro des Vorsitzenden. „Einen Augenblick, Herr Vorsitzender. Kann ich Sie kurz sprechen?“
„Sicher, Eykor. Es ist jetzt frei. Kommen Sie mit.“
Parleau ging voraus und an dem Aushilfs-Verwalter vorbei, der teilnahmslos und schweigend dasaß.
Eykor folgte, wobei er das unhandliche Papierbündel trug, als verberge er eine sehr empfindliche Bombe darin. Sobald er in dem Privatbüro war, legte er das Bündel vorsichtig vor Parleaus Sessel auf den Konferenztisch und wandte sich dem Vorsitzenden zu. „Herr Vorsitzender“, begann er aufgeregt, „drüben in der Abteilung haben wir mehrere Aspekte der Vorfälle verfolgt, die sich um dieses Vandalenmädchen häufen. Wir haben weitere lose Enden gefunden. Zu viele. Jetzt sind wir in der peinlichen Lage, daß wir mehr Spuren haben als Verbrecher oder Täter.“
„Weiter.“ Parleau wußte sehr gut, daß für jemanden wie Eykor das Verbrechen überall blühte, selbst in Gedanken. Nie würde er sie alle ausjäten können, aber er würde auch nie damit aufhören, es zu versuchen, ungeachtet des Elends, das er auf diesem Weg verursachte, und der Fehler, die er machte. Nicht der Haß auf das Verbrechen war es, der ihn so machte, sondern eher ein Übermaß an Pflichteifer und ein zu enger Blickwinkel. Solche Typen waren letztendlich für alle gefährlich, wenn man sie nicht unter strenger Kontrolle und mit einer Vielzahl echter krimineller Aktivitäten versorgt hielt, um sie bei der Stange zu halten, ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, da für sie sonst alles und jedes Beweisstück war.
Eykor sagte: „Wir haben Errat gefunden.“
„Genauer, bitte.“
„Errat wurde in einem heruntergekommenen Wohnhaus nahe dem Lagerhausviertel gefunden. Hier, in der Bezirkszentrale. Für den Sicherheitsdienst der Nachbarschaft war es ein Routinefall, bis ein aufmerksamer Wachtmann die Berichte erwähnte. Dann kam unsere Abteilung ins Spiel.“
„Aha. Weiter.“
„Bis wir ankamen, war der Körper entfernt, aber der Raum war nicht zu sehr in Unordnung gebracht, so daß sich der Gerichtspathologe mikroskopisch genau darum kümmern konnte. Nachdem wir den Körper des Toten hatten, machten wir dasselbe mit ihm. Errat wurde mit einem scharfen, spitzen Gegenstand, der ihm in den oberen, linken Rücken drang, erledigt. Der Tod trat sofort ein. Anzeichen eines Kampfes gab es nicht. Wir nehmen an, daß er überrascht wurde.“
„Jemanden zu erstechen – das ist ein ziemlich gewöhnlicher Mord.“
„Hier war es anders; Es wurde ohne sonderliche Kraftanstrengung getan, ohne jede Seitenbewegung. Wir waren in der Lage, die Form der Waffe zu rekonstruieren.“
„Errat schien freier Agent für einige Unbekannte gewesen zu sein. Dies würde erklären, daß jemand so nahe an ihn herankam und Zeit genug hatte, sorgfältig zu zielen.“
„Genau. Und es war eine außergewöhnliche Waffe: gerade, doppelschneidig, etwa zwei Handspannen lang, im Vergleich zu den Messerarten, mit denen wir vertraut sind, ziemlich dick. Die Waffe bestand nicht aus Metall, sondern aus Holz, aus einem sehr harten Holz, das mit einer ehemals ätherischen Substanz eingerieben worden war, die viele Verunreinigungen enthielt.“
„Ein solches Werkzeug ist mir unbekannt.“
„Uns bisher auch. Wenigstens in unserem Bezirk. Aber bei den Neuen Menschen sind solche Messer allgemein üblich. Sie werden zum Schneidern benutzt und zum Beilegen von Fehden. Außerdem wurde dieser angenommene Schluß durch andere Spuren bestätigt, die wir anhand der Gegenstände im Raum gewannen. Wissen Sie, die Brechungen, die chemischen Spuren, die sie und wir hinterlassen, sind unterschiedlich. Die Detektor-Leute wurden fast verrückt, bis ihnen einfiel, daß ihre Maschine tatsächlich richtig funktionierte. Ich begab mich mit Klyten in die Archive, und wir rekonstruierten eine Basiszusammenfassung, um die Person beschreiben zu können, die bei Errat im Zimmer war: Es war eine weibliche Ler, wahrscheinlich eine heranwachsende, obwohl es widersprüchliche Hinweise gibt. Die Spuren wurden von einem sehr hohen Wert für Adrenalin-Brechungen und -Rückstände verzerrt sowie von einer weiteren Gruppe Rückstands-Brechungen, für die wir keine Entsprechung haben. Wer auch immer da drinnen war, war mehr oder weniger im Dauerzustand angespannt. Und wir haben uns auch mit der Aufsicht abgestimmt. Die Spuren, die wir gefunden haben, die unbekannten, sind mit denen von der unidentifizierten weiblichen Person identisch, die von den Passanten-Prüfgeräten angezeigt wurden.“
„Guter Gott, Mensch! Was konnten Sie sonst noch herausbekommen – über wen auch immer?“
„Sonst nur sehr wenig, Herr Vorsitzender. Aber wenigstens konnten wir diesen Zusammenhang herstellen. Natürlich haben wir alle Bewohner des Gebäudes sehr sorgfältig überprüft. Nichts. Und natürlich konnte sich niemand daran erinnern, eine Ler in der Nachbarschaft gesehen zu haben. Nie eine gesehen. Nur eine Frau, angeblich vom Inspektionsbüro. Der Name, den sie gebrauchte, ist unwichtig; er taucht nirgends auf. Die Streß-Monitoren des entsprechenden Bezirks waren defekt, aber das ist schon seit Jahren so. Wie es scheint, sind sie nie überprüft worden. Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß wir hier die Spur verloren haben.“
„Nichts? Kein Hinweis, keine Spur, keine Beschreibungen?“
„Nichts, was uns nützen könnte. Wir sind der Ansicht, daß – wer immer auch dahinterstecken mag – der Täter verschiedene Identitäten und Maskeraden benutzt hat. Wir wissen, daß es eine Ler ist, gut, aber sie kennt sich gut aus und kann sich dementsprechend ungestraft bewegen.“
„Ein ernüchternder Gedanke, Eykor. Die andere, jene, die wir fangen konnten, hat sich auch jahrelang frei unter uns bewegt. Ich möchte wissen, wie viele andere dasselbe tun.“
„Plattsman führt momentan eine geheime Überprüfung aller Streß-Monitor-Berichte durch. Zwangsläufig behindert das die laufenden Ermittlungen, aber wir müssen Gewißheit haben.“
„Einverstanden. Das müssen wir. Und was ist mit den Reiseerlaubnissen?“
„Alles überprüft. Nichts auf dieser Seite des Reservats. Aber noch etwas anderes … Das Motiv für Errats Ermordung ist uns unbekannt. Wir glauben, daß er zum Schweigen gebracht wurde. Er war nutzlos geworden. Er scheint seinen Wert überschätzt zu haben, denn in Wirklichkeit wird er nur eine deckende Schachfigur gewesen sein, und nachdem er seine Rolle gespielt hatte, entledigte man sich seiner.“
„Hmm. Das ist kaltblütig. Nun, ich stimme zu: Dies verneint weitgehend die früher in Betracht gezogene Möglichkeit, daß er ein freier Agent gewesen sein könnte. Er war an jemanden gebunden. Aber an wen – und warum? Es ist noch jemand darin verwickelt …“
„Ja. Es war eine sehr professionelle Arbeit. Die Beteiligten wußten entweder nichts voneinander und steckten damit in einer Sackgasse oder wurden eliminiert. Wir meinen, Errat hat seinen Kontakt ernstlich unterschätzt. Warum das trotz seiner bekannten Erfahrung in Sachen Untergrundtätigkeit so war, können wir nicht sagen.“
„Das ist merkwürdig.“
„Er war als militanter Ler-Gegner bekannt, und wir glauben nicht, daß er sich willentlich mit ihnen verbündet hätte. Aber das wirft auch weitere Fragen auf: Was für eine Gruppe oder welches Organ der Ler könnte solch einen Vorfall herbeigewünscht haben? Oder ist das eigentliche Vorhaben möglicherweise fehlgeschlagen? Haben sie Errat deshalb ausgeschaltet?“
„Das hört sich immer schlimmer an. Werden wir dieser Sache je auf den Grund kommen?“
„Vielleicht können wir eine befriedigende Antwort finden, Herr Vorsitzender. Erinnern Sie sich an den allerersten Vorfall? Nun, wir hätten sie nicht erwischt, wenn die Patrouillen dieses Sektors nicht auf erhöhte Wachsamkeit eingeschworen worden wären. Und warum? Auf wessen Veranlassung hin geschah dies? Ihr Leiter bekam einen Anruf, angeblich von der Aufsichtszentrale. Aber dort gibt es keine entsprechende Aufzeichnung, und überhaupt kann sich niemand einen Reim darauf machen. Wir nehmen an, daß Errat dieser Anrufer war. Wir haben versuchsweise probiert, seine Stimme von dem Mann identifizieren zu lassen, der den Anruf entgegennahm. Andererseits – wie kam Errat dazu anzurufen? Er muß eine dementsprechende Anweisung erhalten haben. Aber warum?“
„Hören Sie, Eykor, haben Sie auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß dies alles an sich gar nichts mit uns zu tun haben könnte? Das würde erklären, warum alle Spuren ins Nichts zu führen scheinen. Wir sehen es sozusagen aus dem falschen Blickwinkel.“
„Ich habe auch schon daran gedacht … Aber warum sich die ganze Mühe machen, Herr Vorsitzender? Wir haben uns mit Klyten abgesprochen. Die Ler können zu jeder x-beliebigen Zeit eine Fehde haben. Mord ist ihnen nicht verboten. Nur bestimmte Arten von Waffen sind es.“
„Jemand wünscht eine Blutrache, möchte aber nicht, daß es bekannt wird.“
„Das kann es sein, Vorsitzender. Aber ich habe noch etwas, das sie wissen sollten.“
„Noch etwas? Dann lassen Sie es mich hören.“
„Die Geräte, die das Mädchen zerstörte. Wir haben die Forschungsabteilung beauftragt, sie nachzubauen. In der kurzen Zeit waren sie zwar nicht in der Lage, sie originalgetreu zu rekonstruieren, aber ihre Leistung ist dennoch zufriedenstellend: Sie haben Nachbildungen gebaut. Sie sind einfach und empfindlich, und ihnen fehlt die feine Unterscheidungsfähigkeit der Originale, aber sie erzählen uns eine interessante Geschichte. Wir haben sie auf die Probe gestellt und in den Gleitern benutzt.“
„Und die Resultate?“
„Sind ausnahmslos im Bericht samt Anlagen enthalten. Hier das Wichtigste: Wir haben eine sehr eigenartige Besonderheit entdeckt.“ Eykor wandte sich dem Papierstapel zu und blätterte darin, bis er ein großes Halbtransparent fand, das mit Konturlinien bedeckt war. Dieses breitete er auf dem Tisch vor Parleau aus. „Dies hier ist zum Vergleich das Mittel aus sämtlichen Messungen. Darauf ist die Schwerkraft-Feldstärke der gesamten Reservat-Fläche dargestellt. Und hier“, sagte er, wobei er ein zweites Blatt von ähnlicher Größe aus dem Bündel zog, „hier zum Vergleich eine Karte des Reservats im selben Maßstab. Man sollte annehmen dürfen, einen allgemeinen Zusammenhang und Lageübereinstimmung von Gebieten höherer Schwerkraftdichte mit Gegenden von Hügeln, Kammlinien und so weiter feststellen zu können. Und Gebiete geringer Dichte sollten mit Vertiefungen, Tälern und so weiter übereinstimmen.“
Parleau betrachtete die Mengen unbezeichneter Konturlinien. „Ich sehe …“ sagte er. „Aber was soll ich denn eigentlich sehen?“
„Die erwartete Übereinstimmung gibt es tatsächlich im gesamten Reservatsbereich und auch der umliegenden Gegend … Nur an diesem einen Punkt hier – nicht!“ Er deutete auf eine Stelle der Karte mit Dichte-Messungen. „Im Nordwesten machten wir einen Bereich ausfindig, der eine eindeutig negative Übereinstimmung zeigt.“
„Sie sind sicher, daß kein Instrumentenirrtum vorliegt?“
„Absolut. Deshalb dauerte es so lange, so viele Tage, bis es Ihnen vorgelegt werden konnte. Wir wollten es komplett haben. Es gab ein paar Anomalitäten, aber diese kommen überall vor, und sie verschieben sich zeitlich und örtlich, wie man es von vorübergehenden Funktionsstörungen erwartet. Das gilt jedoch nicht für diese eine Stelle. Sie präsentiert sich jedesmal vollkommen kreisförmig. Und als wir den Detektor für magnetische Anomalien einsetzten, bekamen wir dasselbe Resultat an genau derselben Stelle; ein kreisförmiges Gebiet mit weitgehend verminderter Feldstärke.“
„Und Sie und Ihre Männer sind sich sicher, daß es an diesen Werten keinen Zweifel gibt?“
„Absolut sicher. Es steht alles dort im Bericht. Ein schönes Stück Arbeit der jüngeren Aufsichtsbeamten, muß ich sagen.“
„Worauf führen Sie das zurück?“
„Das ist noch unklar. Wir haben die phänomenologische Beschreibung herumgeschickt, aber niemand konnte mit einer wahrscheinlicheren Ursache aufwarten. Wir dachten an eine ausgebaute Höhle, aber die Werte auf den Schwerkraftsuchern sind viel zu niedrig dafür, und eine Höhle würde wohl kaum auf das Magnetfeld einwirken; und wenn, dann nur sehr geringfügig. Weiterhin müßte es einen Höhleneingang geben, aber die Fotoaufklärer haben nicht die geringste Spur gefunden. Mit anderen Worten: Hier fehlt nicht einfach nur Materie.“
Eykor war noch nicht fertig. Er drehte sich um und zog eine weitere Karte aus dem jetzt unordentlich auf dem Tisch ausgebreiteten Stapel. „Da ist noch etwas. Hier. Diese Karte, im gleichen Maßstab wie die beiden anderen, ist die Wiedergabe der soziologischen Karte, die vor zwanzig Jahren für Vance und Klyten angefertigt wurde. Sie weist den Wohnsitz einer jeden Familiengruppe und Ältestengemeinschaft samt ihren Verbindungen aus. Wie das Marktdiagramm einer primitiven Gesellschaft. Betrachtet man eine Weile die Farben, so enthüllen sie eine gewisse Hierarchie. Bis dato lag dies bei den Akten und verstaubte, eine akademische Kuriosität, nichts weiter. Aber wenn man sie in den richtigen Maßstab überträgt und dann über die anderen, bereits vorhandenen Karten legt …“
Eykor breitete die Karten aus und richtete sie nach kleinen Vermerkzeichen an den Rändern aus, so daß sie genau übereinander lagen. Dann zeigte er mit seiner freien Hand darauf: „Hier ist also der Berg, in dem wir die Anomalität lokalisiert haben. Hier, auf dieser Gratlinie, die vom Fluß her nordöstlich verläuft. Und hier, auf der Nordseite, lebt die Zweit-Spieler-Familiengruppe, während genau gegenüber, im Süden des Bergrückens, die Erst-Spieler leben. Im Osten und Norden – und hier, wieder im Norden – finden wir die Ältestengemeinschaft, die Libellenhütte, und genau gegenüber, im Süden, das Haus der regierenden Dynastie, der Revens oder Richter. Diese Positionen bilden ein perfektes Quadrat, in dessen exakter Mitte die Anomalität steht. Im Bezug zur Anomalität liegen die Positionen auch an den vier Hauptpunkten der Windrose. Wir haben von dieser letzten Karte eine Fourier-Analyse machen lassen, und wir haben das komplizierteste Programm verwendet, das wir uns ausdenken konnten, dazu ausgebildete Rekon-Übersetzer eingesetzt. Das Ergebnis: Nirgendwo sonst existiert hinsichtlich eines Charakteristikums eine so geartete Struktur, weder natürlichen noch künstlichen Ursprungs. Der Rest ist entweder wahllos placiert oder befindet sich in der Nähe eindeutiger wirtschaftlicher Knotenpunkte oder Kreuzungen. Es gibt nur eine Interpretation: Die vier Gruppen haben Zugang zu der Anomalität!“
Parleau trat vom Schreibtisch zurück und starrte auf die Karten hinunter. „Einleuchtend, wirklich einleuchtend.“
„Wir können nicht ausschließen, daß es sich um eine Waffe handelt. Es ist zweifellos kein natürliches Objekt; natürliche Objekte sind weder masselos, noch schwächen sie ein Magnetfeld.“
Parleau überlegte halblaut. „Einverstanden. Wir können nicht annehmen, daß es neutral oder gutartig ist … Es ist offenbar schon seit geraumer Zeit dort, und wäre es für das Allgemeinwohl gedacht, dann könnte ich mir vorstellen, daß sie es nicht so gut verborgen hätten. Und natürlich ist klar, daß diese Gruppen von Anfang an damit zu tun hatten.“
Eykor fuhr fort: „Ja. Und dies erklärt endlich, warum es jenes Mädchen, von Hause aus eine Erst-Spielerin, vorzog, ihren Verstand zu verlieren, anstatt das Risiko einzugehen, auch nur eine unschuldige Assoziation zu enthüllen, die uns auf das hier hätte aufmerksam machen können. Aber wir wissen noch immer nicht, warum sie es getan hat. Ich meine, es war schließlich dumm, denn es hat unsere Aufmerksamkeit erst recht darauf konzentriert.“
„Vielleicht erwartete sie ein anlaufendes Projekt, in dessen Verlauf die Geräte benutzt worden wären?“
„Auch daran haben wir gedacht und die Unterlagen überprüft. Ein solches Projekt war nicht einmal in Sicht. Die Geräte hätten noch weitere tausend Jahre dort gelegen, soviel ich weiß.“
„Ach, kommen Sie! Sind Sie ganz sicher, Eykor?“
„Völlig, Herr Vorsitzender. Die Aufsicht hat ihre Computer heißlaufen lassen und das Forschungszentrum ebenfalls. Es gab keinen Plan, der vorsah, die Geräte in irgendeiner Form zu gebrauchen.“
„Dann war es umsonst, was sie getan hat. Oder doch nicht? Ist es hier wie beim Fall Errat, daß wir die wahre Intention nicht sehen, weil sie nicht gegen uns gerichtet ist? Aber wenn wir sie nicht gefaßt hätten, dann hätten wir diese Verbindung nie hergestellt.“
„Vielleicht wären wir durch Zufall darauf gestoßen?“
„Unwahrscheinlich. Wir könnten die ganze Welt verdächtigen.“
„Ich bin davon überzeugt, Herr Vorsitzender, wir stimmen darin überein, daß Errat für jemanden gearbeitet, Anweisungen befolgt hat. Für jemanden, den er nicht kannte. Er rief die Patrouille auf den Plan, und das Mädchen wurde gefangengenommen … Was, wenn sie gefangengenommen werden sollte?“
„Gott, Sie sind ein noch schlechterer Theoretiker als Plattsman. Was sollte das Ganze für einen Sinn haben?“
„Ich kann mir unzählige Möglichkeiten vorstellen. Es ist kostspielig – aber haben Sie schon von Agents provocateurs gehört? Wir setzen sie ebenfalls ein. Das könnte hier auch der Fall sein, nur mit einem Ereignis als Köder. Um uns zu einer überstürzten Handlung zu verleiten. Außerdem war Errat auslösendes Moment jenes Vorfalls, in dem das Mädchen verwundet oder getötet wurde.“
„Aha! Einmal war nicht genug, deshalb haben sie den Köder gleich ein zweites Mal vor uns ausgelegt, was?“
„So in der Art … Sie scheinen uns zu einem ersten Schlag provozieren zu wollen. Aber Leute, die dazu einladen, tun dies für gewöhnlich in der sicheren Gewißheit, ihn zu überstehen und ihrerseits etwas Schlimmeres anzuwenden. Sie wollen eine Rechtfertigung, es zu gebrauchen. Und was? Jenes Ding, das die Anomalität hervorruft!“
„Hmm. Eine Übung in spitzfindiger Moral … Aber all dies paßt weder sehr gut zu ihrer hohen Achtung vor dem Leben noch zu ihrem Wunsch, mit uns so wenig wie möglich in Interaktionen zu treten.“
„Jemand war Errat gegenüber auch nicht gerade gewaltlos. Jemand forderte – wahrscheinlich beabsichtigt – ein absolut nicht gewaltloses Verhalten gegenüber dem Mädchen. Darin liegt keine sehr hohe Achtung vor dem Leben, weder vor unserem noch ihrem. Aber sie verfolgen größere Ziele, würde ich sagen … Deshalb ist es ihnen egal, wie sie unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken.“
„An dem, was Sie sagen, ist schon etwas dran … Kennt Klyten diese Schlußfolgerungen?“
„Nein. Er sah unsere Fragen, nicht jedoch das Endergebnis.“
Parleau drückte eine Ruf-Taste und verlangte, von dem Verwalter, Mandor Klyten herbeirufen zu lassen. Nach einer kurzen Wartezeit – Klyten verbrachte beträchtliche Zeit in genau diesem Gebäude und war zufällig da – trat der Akademiker mit leicht gerötetem Gesicht in Parleaus Büro. Parleau gab ihm eine knappe Zusammenfassung des Falles, soweit Eykor ihn dargestellt hatte, wobei er abschließend ihre Meinungen zusammenfaßte. Dann fragte er: „Das ist der augenblickliche Stand der Dinge, aber uns fehlt eine gewisse Sachkenntnis, um darauf resultierende Absichten analysieren zu können. Ich würde gerne Ihre Ansicht zu dieser Entwicklung der Dinge hören.“
Klyten zögerte, sein Blick irrte unstet im Raum umher, als versuche er auf diese Art und Weise ein Bild vor seinem inneren Auge aufzubauen, das dem entsprach, was er gehört hatte. Er schüttelte den Kopf.
„Ich stimme mit Eykor völlig darin überein, daß da irgend etwas ist und daß es nichts Natürliches sein kann … Aber wir können nicht sagen, was es ist, nur weil wir wissen, was es nicht ist. Wir können es negativ nachweisen, bis die Welt untergeht, und wären doch keinen einzigen Schritt weitergekommen; die Negierungsreichweite ist unendlich. Aber ich zögere, einfach zu dem Schluß zu kommen, es sei eine Waffe, nur weil es nichts Natürliches ist. Sie haben tatsächlich ein hochentwickeltes ethisches System, das den Angreifer einlädt, den ersten Zug zu machen, und in ihre Kultur sind komplizierte Strukturen verwoben, um das ohnehin niedere Aggressionsniveau noch weiter zu reduzieren und zu verlagern. Allerdings wissen sie um die Dinge, die wir gegen sie einsetzen können. Wir haben noch immer die alten Kernwaffen gelagert, und wir haben auch genügend viele Menschen. Zum Teufel, wir könnten eine Armee von einer Million Mann da hineinschicken, jeder einzelne Mann mit einer Rute bewaffnet, was das betrifft. Die Logik, die ein derartiges Risiko heraufbeschwört, kann ich nicht verstehen. Das ist zuviel. Deshalb sage ich: Wenn da eine Waffe im Spiel ist, dann ist das noch nicht alles.“
„Nicht nur eine Waffe …“ überlegte Parleau. „Dann ein Prinzip, eine Erfindung … ein Gerät, etwas, das vielfach verwendbar ist. Was könnte der Sinn und Zweck sein?“
„Verdammt noch mal! Es liegt ganz offen vor uns. Lassen Sie Ihre Phantasie spielen. Niemand versteckt über Generationen hinweg Dinge oder deren Behälter, wenn es sich nicht um etwas ganz Besonderes, einen grundsätzlichen Durchbruch handelt. Demgemäß können wir also kleine, lumpige Sachen wie ein neues Flugzeug, ein neues Geschützvisier oder eine wirksame Energiequelle außer acht lassen. Dieses Zeug entwickeln sie im Institut jeden Tag, und es ist ihnen egal, wer davon erfährt. Denken Sie abenteuerlicher: Materieübertragung. Ein Antriebssystem für Überlichtgeschwindigkeit. Kraftfelder. Höllenglocken. Oder vielleicht sogar eine Zeitmaschine. Wer weiß?“
„Es ist also in der Tat ein Etwas. Wollen wir dieses unbekannte Etwas haben?“
„Wollen? Natürlich wollen wir es. Herr Vorsitzender! Wir wollen es ganz und gar, wie man so sagt, und auch das Pferd, auf dem es gekommen ist. Die Frage ist: Können wir es verwenden, und, wird es uns nützen?“
„Hmm. Wir holen es uns, und dann kümmern wir uns darum.“
„Nein, nein. Die Technologie ist kein unbegrenzter Segen. Alles hat Folgen. Wir wählen uns die gewünschte Folge aus, und zur Hölle mit dem Rest, wir richten uns nach der vollendeten Tatsache. Für gewöhnlich jedoch halten wir uns nicht damit auf zu fragen, ob die jeweilige Folge nun größer oder kleiner und wie es um alle anderen bestellt ist. Beispielsweise bei Medikamenten. Wir gehen ein Risiko ein, geben einem Menschen ein Gift und hoffen, das es heilt, bevor es tötet. Denken Sie an die schlechten alten Tage zurück, als wir noch die alten, unabhängigen Nationen hatten. Manchen ging es gut, manchen sehr schlecht. Eine entschließt sich, sagen wir, Geld für den Bau einer Kernwaffe auszugeben, obwohl sie das Geld besser in das sorgfältigst strukturierte Management-System investiert hätte. Jetzt hat man also eine Bombe. Nicht genug damit, daß man Geld für nichts und wieder nichts verpißt hat – man hat auch verhindert, daß es für etwas Nützlicheres verwendet wird. Und auch damit nicht genug: Der Einfluß der Bombe macht es möglich, daß dieser Staat seine Inkompetenz auf benachbarte Gebiete ausdehnt, um schließlich die gesamte Region schädlich zu beeinflussen. Einen solchen Fall gab es. Der ganze Komplex brach einfach in sich zusammen und riß eine Milliarde Lebewesen, ein halbes Dutzend Kulturen und etwa zehn größere Sprachen mit sich ins Verderben. Das ist zum Beispiel eine Folge, die wir nicht wollen“, sagte Klyten.
„Es ist nicht die Technologie – sondern der Nutzen, den man daraus zieht“, meinte Parleau.
„Ja. Aber im genannten Fall wußten sie zumindest, was sie bauten. Wir wissen nicht einmal das. Vielleicht müssen wir sogar einen Bedarf dafür erfinden. Erinnern sich die Herren noch an die Laser? Inzwischen Geschichte. Sie wurden erfunden, und dann hat man sich abgeschuftet, um einen Nutzen dafür zu finden. Oder Edelgas-Chemie, genau dasselbe. Für ein Zeug wie Xenon-Tetrafluorid gab es überhaupt keinen Nutzen, und so ist es bis heute geblieben. Allein der Versuch, es anzuwenden, könnte für uns sehr gefährlich sein.“
„Wir haben durch das Institut seit dreihundert Jahren mit ihnen zu tun. Und für beinahe alles, was sich bot, haben wir Institutsanwendungen gefunden. Bisher hat uns das alles sehr geholfen – um am Leben zu bleiben, um präzise zu sein.“
„Das stimmt, Herr Vorsitzender. Aber sie unterschlagen eine Facette dieser Beziehung: Das Institut arbeitet stets auf der Basis von strikt eingehaltenem Frage-und-Antwort-Spiel. Problemlösungsdenken. Sehr spezifisch.“
„Erklären Sie das, bitte.“
„Sie akzeptieren kein Problem, um daran zu arbeiten, solange wir keine entsprechende Frage stellen.“
„Was ist daran so schwierig?“
„Das Institut arbeitet nicht an Forschungen mit offenem Ende für eine Menschengruppe dieses Planeten oder sonst jemanden, was das betrifft. Das Institut arbeitet lediglich an Begriffsproblemen, die den Prioritäten-Ausschuß passiert haben; begrenztes Zeug, das ist alles. Stellt zuerst die Fragen. Beispielsweise Columbus. Er hätte gefragt: ‚Wo geht’s lang nach Amerika?’ Sie hätten geantwortet: ‚Wir sagen dir, wo es liegt.’ Aber er wußte nicht, daß es existierte. Jetzt fragt er: ‚Gibt es ein Amerika?’, und sie sagen ihm, daß es nicht zu Indien gehört. Es war nicht die richtige Frage. Nun betreiben sie in manchen Sektoren reine Forschung, wissen Sie, echte, offene Spekulation, nur um zu sehen, wo diese Wurzeln hinführen. Die Nebenprodukte hiervon werden nie zur Verfügung gestellt, nicht einmal ihrem eigenen Volk. Und was uns betrifft: Uns würden diese Leute nicht einmal die Tageszeit sagen.“
„Dann werden wir also die ganze Zeit über zum Narren gehalten!“ rief Parleau aus.
„Nein, nein, das kann man nicht sagen; sie haben sich da bemüht, etwas Eigenes auf die Füße zu stellen, und sie haben gute Arbeit geleistet. Sie produzieren Lösungen, Werkzeuge, Hilfsmittel, Programme, Pläne, und stets sind es Produkte von hoher Qualität, erster Klasse. Nun, und das Modell der lose föderierten Weltregierung, die wir heute haben, wurde dort entwickelt. Ich kann eine Menge anderer Dinge nennen, die wir bereits ebenfalls als selbstverständlich akzeptieren. Die Schicht-Gesellschaft zum Beispiel. Sie haben immer ihr Bestes gegeben.“
Übergangslos wechselte Parleau das Thema und wandte sich einem anderen Gedankengang zu, der ihn beunruhigte. „Sie sagen, die Ältesten beschäftigen sich mit Grundlagenforschung?“
„Manche von ihnen, einige Gemeinschaften. Diejenigen, die es tun, neigen dazu, sich in der einen oder anderen Richtung zu spezialisieren. Eine befaßt sich zum Beispiel mit Genetik, eine andere mit Naturwissenschaft, eine weitere mit Höherer Mathematik. Und natürlich ziehen es bestimmte Weben vor, sich in gewisse Hütten einzumischen, die ein wenig beschränkt sind, während andere Hütten nicht mehr sind, als sie zu sein scheinen – einfache Gemeinschaften, die den Klostergemeinschaften in unserer Geschichte ähneln. Wie ich hörte, gibt es sogar eine Entsprechung für die Trappisten: Schweigen, Meditation, Hingabe, Armut, Demut. Ihr Produkt ist ein erleuchteter, frommer Text – das und Gemälde. Nach dem, was ich gesehen habe, scheinen sie für die holländischen Panoramenmaler zu schwärmen – Holbein, Bosch und dergleichen.“
„Kennen Sie die Libellenhütte?“
„Kaum, das heißt nur dem Namen nach. Sie arbeiten am Spiel; und sie sind bei weitem die Geheimnisvollsten … Oh, ich verstehe. Ja, natürlich. Das Mädchen war eine Spielerin.“
„Sie haben nicht einmal die Hälfte begriffen, Klyten. Ich stimme Ihnen zu, sie sind Heimlichtuer, seit es so aussieht, als hätten sie etwas zu verbergen. Eykor brachte diese Hütte sowohl mit den Spieler-Weben als auch mit der regierenden Webe in Verbindung und verknüpfte dies mit dem ursprünglichen Vorfall. Mit dem Mädchen. Hinzu kommt eine ungewöhnliche Anomalie, die ebenfalls damit zu tun hat … Und höchstwahrscheinlich auch die Sache mit Errat.“
Klyten war ein wenig überrascht, behielt jedoch seine Fassung. Parleaus Zusammenfassung vorhin war ihm oberflächlich, bedeutungslos vorgekommen. Jetzt hatte sich das Puzzle zusammengefügt. Er erwiderte unverbindlich: „Ich kenne sie sozusagen nur dem Namen nach.“
Eykor sah seine Gelegenheit, etwas hervorzuheben. „Stimmt es, daß die Ex-Eltern, nachdem sie ihr Haus der nächsten Generation übergeben haben, in verschiedene Ältestenhütten ziehen?“ fragte er scharf.
„Nun“, antwortete Klyten abwesend, „das stimmt so nicht ganz. Nur allgemein. Manche gehen allein weg, andere …“
„Aber die meisten begeben sich zu den Hütten?“
„Ja, das könnte man sagen, aber …“
„Und wie steht es mit den Weben? Können sie gehen, wohin sie wollen, oder gibt es Trends, feststehende Verbindungen?“
„Oh, bestimmt gibt es Trends und Verbindungen. Die Weben sind im Allgemeinen traditionell an gewisse Hütten gebunden. Nicht exakt auf einer Eins-zu-eins-Basis, verstehen Sie. Es gibt da eine Art Mischung. Hierbei muß man verstehen, daß sie eine Wahl nie als Aristotelisches Dilemma – also mit zwei Entscheidungsmöglichkeiten – sehen, ich müßte Quadrilemma sagen, wenn es überhaupt paßt. Sie würden eine solche Auswahlsituation die Betrachtung des Feuerpfades, des Luftpfades, des Erdpfades und des Wasserpfades nennen. Tradition und Gewohnheit und Vorhergegangenes spielen ebenfalls eine Rolle; beispielsweise, was die Altersgenossen von ihnen erwarten …“
Eykor unterbrach die Abhandlung. „Wohin gehen beispielsweise die Mitglieder der Spieler-Weben, wenn sie den Ältesten-Status erreicht haben?“
Klyten wußte, daß er in eine ganz bestimmte Gedankenrichtung geführt wurde, aber er war machtlos, sich dagegen zu wehren. „Warten Sie einen Moment, lassen Sie mich nachdenken. Ich studiere die Ler, eifere nicht ihren geistigen Prozessen nach, sondern lediglich denen des totalen Erinnerns … Es scheint mir aber, als wüßte ich etwas davon … Ja, natürlich. Sie gehen zur Libellenhütte. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie haben die höchste Korrelation zwischen Berufs- und Ältestenhütten.“
„Korrelation?“ fragte Parleau.
„Ja, in dem Zusammenhang habe ich es gelesen. Ein soziologischer Bericht, der vor ein paar Jahren geschrieben wurde. Die Korrelation der Perklarens liegt bei einem Wert von etwa fünfundneunzig Prozent. Bei den Terklarens liegt dieser Wert sogar noch höher; manchmal haben sie während mehrerer Generationen fortlaufend hundert Prozent aufrechterhalten. Die nächste Verbindung mit dieser Hütte war viel niedriger, weniger als fünfzig Prozent, und alle anderen Ältestenhütten zeigen noch niedrigere Korrelationen, normalerweise im Bereich der Zwanzig-Prozent-Marke.“
„Und wer schließt sich sonst noch der Libellenhütte an?“ fragte Parleau.
„Nur noch eine andere Webe: die Revens. Fast ausnahmslos Innenverwandte, keine Außenverwandten. Oder die Nacheltern. Ja, nachträglich fällt mir ein, daß ich mich damals darüber gewundert habe … Diese Verbindung der Revens mit der Libelle. Ich konnte keinen Sinn darin sehen …“
Parleau warf Eykor einen Blick zu und sagte ganz ruhig: „Dann wäre es also einigermaßen richtig, würde man behaupten, daß sich die Libellenhütte größtenteils aus Ex-Spielern und Ex-Richtern zusammensetzt?“
„Ich glaube, daß dies zutreffend ist. Es gibt einige wenige andere Einzelgänger, aber sie sind selten … etwas weniger als fünf Prozent der Mitgliedschaft. Es ist so etwas wie eine geschlossene Gesellschaft.“
„Geschlossene Gesellschaft? Wie das?“
„Es gibt vier Typen von Hütten: offene, geschlossene, männliche, weibliche. Die beiden letztgenannten sind in ihrer Mitgliederwahl eindeutig: Sie werben. Die offenen Hütten nehmen jeden auf. Sie heißen alle willkommen. Geschlossene Logen treffen eine Auswahl; die Nachricht geht um, und nur wenige bewerben sich, die nicht genehm sind.“
„Wieder vier Elemente?“
„Genau. Offene Hütten entsprechen dem Wasseraspekt, männliche und weibliche dem Luft- und Erdaspekt, die geschlossenen Hütten dem Feueraspekt.“
„Was bringen Sie mit dem Feueraspekt in Verbindung?“
„Entschluß, Ordnung, Organisation, Willen, Disziplin. Willenskraft, Planung und dergleichen.“
Erneut wechselte Parleau das Thema. „Und unter welchem Aspekt bedeutet die Wurzel revh ‚Richter’?“
„Unter dem Feueraspekt.“
Eykor begann, gehetzt hin und her zu schreiten. „Jetzt haben wir es“, sagte er. „Bestimmt.“
„Was denn?“ fragte Parleau. „Wir haben wenig mehr als das, was wir von Anfang an hatten. Nur ist es jetzt besser zusammengefügt, die Verbindungen sind gefestigt. Nach wie vor wissen wir nicht, was dieses Gerät vollbringen kann.“
„Aber wir haben die Tatsache erhärtet, Herr Vorsitzender, daß diese Verschwörung nicht erst seit gestern besteht; es gibt sie schon seit Generationen! Diese Weben haben sich vereint, haben eine perfekte Tarnung und Zuflucht geschaffen, eine Ältestenhütte, und errichteten …“
Klyten unterbrach. „Nein, nein. So nicht! Sie haben es falsch aufgefaßt. Nicht die Weben erfanden die Hütten; es war umgekehrt: Die Hütten erfanden die Weben!“
„Was?“ entfuhr es Parleau.
„Das ist grundlegende Ler-Geschichte, Herr Vorsitzender“, meinte Klyten. „Ich erwähnte es vorhin nicht, weil ich annahm, dies sei allgemein bekannt. Die ersten Hütten wurden etwa hundert Jahre vor der ersten, der frühesten Web-Generation eingerichtet.“
„Wer traf dann die Entscheidungen? Wer war der führende Kopf?“
„Von den heute existierenden organisierten Hütten haben weniger als ein Drittel ihre Wurzeln in der Zeit vor den Weben, vor dem Reservat. Anfangs waren sie vollkommen mit uns vermischt. Zu jener Zeit waren die DNS-Umwandlungen noch im Gange. Die Organisation, die jetzt als Libellenhütte bekannt ist, war einfach die am besten organisierte Gruppe. Sie setzte das Ganze in Bewegung.“
„Sie sagten:, … jetzt als Libellenhütte bekannt.’ Was waren sie damals?“
„Hmm. Ich glaube, sie arbeiteten damals an einer großangelegten Synthese all dessen, was auf bestimmten Gebieten bekannt war, wissen Sie, sie sammelten und integrierten es. Mathematik, Raumflug, Energiequellen-Technologie, Nuklearwissenschaft, Quantenmechanik. Sie verehren besonders Max Planck.“
„Planck?“
„Planck, Dirac, Einstein, Fermi. Und noch ein paar andere. Auch von Neumann, Conway. Das waren frühe Spieltheoretiker.“
Parleau wirkte ein wenig abwesend, als betrachte er ein Panorama tief in seinem Inneren. Schließlich sagte er: „Ich hatte schon immer einen diesbezüglichen Verdacht gegen diese kleinen Bastarde. Besonders aber, nachdem mir Eykor die Karten und Aufzeichnungen der Gegend um die Anomalität zeigte. Wir haben immer befürchtet, sie könnten sich eines Tages gegen uns wenden und einen von ihnen entwickelten menschlichen Typus schaffen, dessen Verstand und Fähigkeiten weit über der Norm liegen. Ich habe immer gedacht, daß es genauso kommen müßte. Aber jetzt können wir diese Befürchtung vergessen, glaube ich, denn davor fürchten sie sich mehr als wir. Also, Eykor, ich wünsche, daß Plan Zwei-zwölf ruhig und ohne Aufhebens ausgeführt wird. Sobald wir ihn geziemend in Gang setzen können.“
Eykor war auf seinen Erfolg nicht vorbereitet. „Ihn ausführen, Herr Vorsitzender?“
„Ja, ihn ausführen. Mobilisieren Sie die Sturmtruppen, und sobald die Bereitschaftsphase erreicht ist, dringen Sie vor und nehmen diesen Berg mit allem, was darin ist. Es kann nicht gebrauchsfertig sein, sonst hätten sie es zweifellos schon gegen uns verwendet. Kümmern Sie sich nicht um die Besetzung des Reservats, um diesen Teil des Planes. Wir brauchen nicht das Ganze, nur diesen Berg. Bringen Sie uns dahin – und hinein!“
„Es wird schwer in Gang zu setzen sein, Herr Vorsitzender. Es ist der Zwölftmonat, fast Neujahr. Viele Angehörige der aufzurufenden Truppen sind im Otpusk{45}.“
„Dann holen Sie sie zurück, soweit möglich, und machen sich an die Arbeit. Warten Sie nicht auf mich, forcieren Sie die Angelegenheit - und marschieren Sie los. Und bereiten Sie Ihre Leute auf alles vor. Auf alles. Sie wären Narren, würden sie nicht versuchen, es zu verteidigen, vielleicht sogar zu zerstören. Beschäftigen wir uns nicht mehr mit Kindereien wie dem Tak-Kommando, das hinter dem Mädchen her war. Sie müssen unbarmherzig sein und zupacken, schießen. Wenn wir es erst einmal haben, werden wir uns für das, was wir getan haben, nicht mehr entschuldigen müssen, weder bei ihnen noch bei sonst jemandem.“
Eykor hinkte noch immer ein wenig hinter Parleau her. Er fragte: „Aber was steckt in diesem Berg, Herr Vorsitzender?“ Er sah, wie sich etwas über Parleaus Gesicht ausbreitete, etwas, dessen Spuren unterschwellig, getarnt, verwischt, verborgen schon immer dagewesen waren. Aber mit dem Ultimativen vor sich, vor seinem inneren Auge, paßte Parleau dieses Ultimative an einige seiner eigenen Ultimativen an. Und er antwortete Eykor, wieder lächelnd, zufrieden, daß er jetzt alles wußte, was er wissen mußte: „Es ist entweder die verdammteste Waffe, die es je gegeben hat, der Schlüssel zur absoluten Macht – oder ein Sternenschiff. Nichts anderes wäre ihnen soviel Mühe wert. Vielleicht beides. Jedenfalls bedeutete es Macht. Und egal, was die Leute sagen, wir waren zuerst hier, es ist unser Planet. Ich glaube, daß die Zeit gekommen ist, mit dem Reservat, dem Institut und dem ganzen Quatsch, der damit zusammenhängt, Schluß zu machen. Ihr nützliches Dasein ist beendet, sie haben es abgegeben. Klyten – können Sie das, was Sie in dieser Höhle finden, bedienen?“
„Sie scherzen, Herr Vorsitzender. Natürlich könnte ich das nicht. Und ich bezweifle ernsthaft, ob wir, wenn das, was Sie sagen, stimmt, überhaupt jemanden finden, der es bedient. Freiwillig.“
„Wir werden jemanden bekommen, Klyten. Dessen können Sie sicher sein. Wir werden einen Operator finden, der das Ding bedienen kann, so oder so.“
Klyten schaute weg und tat so, als interessiere er sich plötzlich für den unordentlichen Haufen von Papieren, den Eykor hereingebracht hatte, und er hielt sein Gesicht abgewandt, so daß weder Eykor noch Parleau, die inzwischen ernsthaft in die Erörterung von Plänen, Programmen und Entscheidungen verwickelt waren, die Regungen sehen konnten, die sich darauf abzeichneten. Er sah Parleau klarer als gewöhnlich, jetzt, da er zu wissen glaubte, was für eine Anomalität im Berg versteckt war. Er hatte sich immer im Zaum gehalten, hatte das Spiel mitgespielt und sich an den Regeln orientiert, aber jetzt, mit diesem hoffnungsvollen Hinweis auf die greifbar nahe, rohe Macht, warf er jegliche Zurückhaltung von sich und verwettete alles auf das, was er zu erbeuten und verwenden gedachte. Letzteres machte Klyten besorgt, denn obwohl seine Loyalität außer Frage stand, hatte er den Streit doch von Anfang an – seit der Gefangennahme des Mädchens – mitverfolgt. Und sein Wissen über die Ler ließ ihn schneidende Angst verspüren: Wenn etwas Wahres an den Mutmaßungen des Vorsitzenden war, dann würde es – was immer in diesem Berg versteckt sein mochte – geschützt sein, selbst gegen einen direkten Zugriff. Und Klyten konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob seine eigene Rasse die Mittel hatte, diesen Preis und alle anderen, unvorhergesehenen Rechnungen zu bezahlen. Am besten wäre es, man ließe die Finger von der Sache, aber keiner von ihnen konnte den Vorgang aufhalten, der hier in Schwung kam, sie mit sich riß und zu dem entscheidenden Punkt gelangen ließ, der alle möglichen Folgen haben konnte. Sie sahen sie nicht einmal. Sie wußten nicht einmal, daß solche Dinge existierten. Und natürlich konnte er sehen, daß sie dabei waren, auch seine eigene Position überflüssig zu machen; er würde seine Tage wohl in der Inventar-Verwaltung beenden müssen.
In diesem Gemütszustand fing er einen Bruchteil von Parleaus Rede auf; er sprach nicht im Zorn, nicht einmal in Erregung, sondern ruhig, als bitte man einen Geschäftspartner, anstelle einer bestimmten Ware eine andere abzunehmen.
„… und während Sie sich um diese Angelegenheit kümmern, hole ich diesen Vance ab und bringe ihn hier herauf. Er hatte einen viel zu engen Kontakt mit diesen Leuten. Seine Zeit ist abgelaufen.“