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Prozesse sind sinnbestimmt; auch ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß der Reiz, den ein Prozeß auf einen ausübt, zunehmen kann – wogegen es keine automatische Sperre gibt –, bis hinter der Faszination die ursprünglich gewünschten Ergebnisse zurücktreten. Das ist das, was wir am leichtesten bei anderen und am schwierigsten bei uns selbst zu erkennen und zu beeinflussen vermögen. Auf die Besessenheit mit Ergebnissen werden wir noch zurückkommen.
Die Spieltexte
Man identifiziert sein Selbst stets innerhalb einer Matrix des Andersseins, denn man sagt nie einfach „ich bin“, sondern stets schwingt die unausgesprochene Präzisierung mit: „Ich bin in bezug auf alle anderen, die ich kennen kann.“ Und jetzt, da sie so allein war, wie sie es sich von niemand anders je hätte vorstellen können, war sie nur sie selbst. Sie konnte nicht mehr ermessen, wer sie war; konnte sich nur auf etwas, was sie einmal gewesen war, beziehen, etwas, von dem sie befürchtete, daß es entweder nicht mehr gültig war oder daß es sich nun auf verwirrte Erinnerungen stützte. Da war einmal sie selbst, die Erinnerung, die Gesamtheit ihres Lebens und all der Dinge, die sie gesehen und getan hatte. Da war auch die Phantasie, da waren die Projektionen eingebildeter Hoffnungen und Ängste, die Projektionen ihres Geistes in all die Orte und Umstände, an und in denen sie in Wirklichkeit nie sein konnte. Sie schwankte ein wenig zwischen dem, was war, und dem, was hätte sein können. Das unerträgliche Jetzt. Etwas anderes gab es nicht.
Die Gegenwart steht niemals still, sondern bildet eine sich zwischen zwei Punkten bewegende Linie; in der Bewegung liegt Richtung, Ursprung, Ziel. Aber wenn man alle Bezugspunkte entfernt, an denen sich Bewegung messen läßt, schwindet das Gefühl für die bewegliche Brücke in der Zeit, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet. Sie existierten natürlich: Erinnerung und Vorstellungskraft versicherten es ihr; es war nur, daß sie sich nicht mehr vorstellen konnte, wie sie nun zu diesen Größen in Beziehung stand.
Sie konnte sich nur zu leicht einen Überblick über die Umstände verschaffen; in der Tat hatte sie dies bereits zu wiederholten Malen getan, vielleicht mehrere hundert Male hatte sie nach einer Alternative gesucht, einem Fehler, einem Schnitzer, irgendeinem Versehen, weswegen sie sich wenigstens schuldig fühlen oder das sie jemand anders vorwerfen konnte. Aber alles war so undurchdringlich wie eine Panzerplatte, es gab nicht einen Riß in der fürchterlichen Leere. Sie stellte sich vor, daß sie jemand wäre, der genau in dem Moment, in dem alle Sicherheitsapparaturen ausgefallen waren, einen Aufzug betreten hatte: Es passierten schließlich auch Unglücksfälle, an denen tatsächlich nicht das Opfer schuld war. Man hatte sie in der Nähe des Ortes geschnappt, an dem sie ihren Auftrag hatte ausführen sollen. Für den sie sich freiwillig gemeldet hatte. Rückblickend kam es ihr so vor, als sei ihr ganzes Leben eine Reihe sich schließender, sich nicht öffnender Türen, enger werdender Gänge und kleiner werdender Räume gewesen. Und dies hier war die letzte Tür und der letzte Raum. Es gab keinen Gang, durch den man weitergehen konnte. Er endete hier, wo immer dieses Hier war.
In der Nähe des Museums für Alte Technologie, ja. Es gab nichts, was sie mit dem offensichtlichen Fall von Vandalismus in Verbindung bringen konnte, bei dem zwei merkwürdige Instrumente hoffnungslos zerstört wurden, die noch aus dem Zeitalter der Erdölbohrungen übriggeblieben waren, übriggeblieben wie Astrolabien aus einem rauhen Zeitalter, in dem die Schiffe durch den Wind, den sie in ihren Segeln auffingen, angetrieben wurden; zurückgeblieben wie die Muscheln, die die Wellen als Relikte des Lebens an den Strand spülen. Produkte einer geschwundenen Kunst, denn es gab kein Öl mehr, nach dem zu bohren es sich gelohnt hätte. Außerdem war von allen, die dort gewesen sein mochten, dort in der Nähe, nur sie eine Ler gewesen, die über das Reservat hinaus tief in menschliches Gebiet eingedrungen war, und sie hatte nicht einmal vor sich selbst eine überzeugende Erklärung gehabt für das, was sie dort getan hatte. Es war nur natürlich, daß sie sie mit den beschädigten Instrumenten in Verbindung gebracht hatten. Das einzige, was ihr zur Verteidigung blieb, war, ruhig zu bleiben und ziemlich passiv, um ihnen nichts in die Hand zu geben, keinen Namen, keinen Grund.
Sie hatten sie in ihre Zentrale gebracht; andere wiederum hatten sie noch weiter mitgenommen, bis zu einem ausgedehnten städtischen Gebiet, bis zu einem Gebäude, einem Zimmer innerhalb des Gebäudes. Alles schien kaum bemerkenswert, sondern eher friedlich abzulaufen; es war ihr unmöglich gewesen, sich Richtungen oder Zeichen zu merken. Alles war nichtssagend oder jedenfalls so gut wie, so nichtssagend sie es irgend hatten einrichten können. Dann kamen die Vernehmungsbeamten. Sie waren ausdauernd, aber rücksichtsvoll und raffiniert gewesen, Meister ihres Fachs. Sie waren entschlossen gewesen, nicht sonderlich unangenehm, und vor allem hatten sie Überredungskünste beherrscht. Sie hatte nichts gesagt. Nur mit ihrer sanften Stimme wiederholt, daß sie die Shuren-Webe – Wirtsleute neben dem Haupteingang des Reservats, gleich hinter dem Institut – davon benachrichtigen sollten, daß sie ein verirrtes Mädchen mitgenommen hatten. Sie hatten sofort eingewilligt und waren sehr höflich gewesen. Sie wußte, daß sie es nicht getan hatten. Niemand holte sie ab.
Offene Drohungen hatte es keine gegeben, und nie war irgend etwas wie Folter auch nur erwähnt worden. Sie hatte sich nicht täuschen lassen. Sie war auf ihre eigene Art zu schlau, um nicht zu wissen, daß diejenigen, die die Karten in der Hand hielten, alle Stärken und keine Schwächen hatten und daß sie es nicht nötig hatten, Phrasen zu dreschen, zu toben, zu brüllen, auf und ab zu laufen und sich dabei theatralisch zu gebärden, einherzustolzieren, um dann plötzlich einen Schwall von Drohungen von sich zu geben. Oder die Pausen durch einschüchternde Tiraden zu unterbrechen. Nein. Sie hatten es nicht nötig, abschreckend zu wirken: Dies alles sind Handlungen, die den Vernehmungsbeamten kennzeichnen, der mehr daran interessiert ist, die Macht, die er innehat, zu hätscheln, als die Information zu bekommen, für die er bezahlt wird.
Ihre Darstellung war offensichtlich schwach gewesen, aber sie war dennoch dabeigeblieben. Sie hatte sich verirrt, sagte sie, nach einem kleinen Erkundungsgang, und hatte versucht, auf gut Glück zurückzugehen. Sie war nie in dem Museum gewesen. Sie war sicher, daß sie das durchschauten, aber sie blieb dabei, wie geschickt sie sie auch davon abzubringen versuchten. Sie fand, daß es leicht gewesen war, dem sanften, aber beständigen, flutartigen Druck zu widerstehen, verglichen mit anderen Erfahrungen, zu denen sie Parallelen ziehen konnte. Aber unterhalb ihres Selbstvertrauens konnte sie sich vorstellen, daß ihre Besucher bei ihren Artgenossen, den anderen Menschen, den Vorläufern, außerordentlich geschickt waren. Einer, der nicht geschult war, wäre nach wenigen Stunden unter ihnen zusammengebrochen, und das ganz ohne eine einzige ärgerlich erhobene Stimme, einen einzigen Schmerz. Sie konnte nicht genau entscheiden, wie lange es wirklich gedauert hatte. Da waren matte Fensterscheiben gewesen, aber das durchscheinende Licht war grau und änderte sich nie; sie wußte nie, ob sie echtes Licht durchschimmern sah oder irgendein künstliches Licht. Es wurde regelmäßig dunkel hinter diesen Fenstern, und bei ihr in dem Raum waren deutlich sichtbare Uhren gewesen, aber sie befürchtete, daß in einer schwierigen Welt kein Verlaß auf das Offensichtliche war. Sie kannte das Maß der Dinge; das hatte zu ihren Fertigkeiten, zu ihrer Ausbildung gehört, und sie besaß ein Gespür für feine Veränderungen. Aber sie hatten ihr erlaubt zu schlafen, wenn sie müde war, zu essen, wenn sie hungrig war, sich zu waschen, wenn sie das Gefühl hatte, schmutzig zu sein. Sie konnte diesen Erfahrungen nichts entnehmen – die Geräuschebenen waren genau gleich, wo sie auch sein mochte.
Sie wahrte ihr Schweigen und blieb bei ihrem ausweichenden Verhalten, so lange sie konnte. Immerhin hatten sie ihr noch einige andere bohrende Fragen gestellt, und immer bevor sie sich durch einen Bluff aus der Affäre hätte ziehen können. Aber vielleicht trieben diejenigen, die nicht so geschickt wie diese gewesen waren, die tiefere Geheimnisse in ihrem Schweigen gespürt hatten, die sie ärgerten, sie dazu an. Trotz ihres lockeren Auftretens, den beinahe angenehmen Sitzungen, den lockeren, entspannten Befragungen witterten sie also ein Geheimnis. Sie wußten nicht, ob es etwas mit dem ursprünglichen Fall zu tun hatte oder nicht – so scharfsinnig, das merkte sie, so scharfsinnig waren sie nun doch nicht. Das spielte jetzt auch keine Rolle mehr … Das Mädchen hat etwas zu verbergen und will nicht reden: Holt es aus ihr heraus, und wir werden weiter sehen.
Es erschreckte sie, wie nahe sie an die Wahrheit herangekommen waren, ihr Wissen um die Grundbedürfnisse hinsichtlich des Kontaktes zu anderen sowohl bei den Ler als auch bei den Menschen (schließlich waren sie nicht allzu verschieden voneinander) erschütterte sie bis ins Mark, und ihre physische Präsenz überwältigte sie. In ihren Augen waren die Menschen, ganz gleich wie oft sie welche gesehen hatte, grobe, eckige, behaarte Wesen, deren Launen bestenfalls ungewiß waren. Sie selbst hatte fast ihre volle Körpergröße erreicht, aber sie waren alle größer als sie, hochgewachsener, schwerer. Sie bildete sich ein, daß die größeren fast dreißig Pfund wiegen müßten. Sie waren wilde, primitive Geschöpfe, die ihres Erachtens noch nicht gezähmt waren, obwohl der logische, nüchtern denkende Teil ihres Verstandes ganz gut wußte, daß die meisten von ihnen sich selbst eher für verbraucht und überzivilisiert hielten. Und jetzt war sie mitten unter ihnen, vollkommen in ihrer Gewalt, getrennt von ihrer eigenen komplizierten und sorgfältig gegliederten Umwelt. Einen Schritt näher an der alten und unversöhnlichen Wüste, am ursprünglichen Chaos, an der vor langer Zeit verlassenen Welt des Zahns und der Kralle, der Sehne und der Kraft.
Hier in der Stadt war der Zahn verborgen, und die Kralle war eingezogen, aber weder war eines von beiden entfernt worden noch der Wille, der sie angetrieben hatte. Daher waren sie schließlich ihrer und des kleinen Spieles überdrüssig geworden und hatten höflich, höflich waren sie ja immer, vorgeschlagen, daß sie sich ein wenig im Kasten ausruhen, daß sie sich erfrischen sollte. Der Kasten! Alles, was sie in ihrer Welt taten, drehte sich um einen Kasten, wie sie das mit einem gängigen Modewort nannten. Der Kasten war ein Simulator. Ein Versuchsgerät mit durch Steuerung veränderbarer Umgebung. Manche waren grob und einfach. Andere wieder waren so furchtbar kompliziert, daß sie absolut in der Lage waren, das zu dementieren, was einem die Sinne ganz klar sagten. Hatte man also einen Beruf zu erlernen? Ab in den Kasten! Schlechte Gewohnheiten und unsoziale Eigenschaften? Ab in den Kasten. Kriminelle? Eliminiere sie, oder steck sie in den Kasten. Und desgleichen bei komischen Verdachtspersonen, die offensichtlich etwas zu verbergen suchten, die sich tagelang weigerten, auch nur die simpelsten Fragen zu beantworten. Ab in den Kasten. Verhalten ließ sich durch die klassische Methodologie des Kults der Verhaltensforschung, so orthodox wie der Tagesanbruch, ändern. Sie fragten nie nach dem Zweck, und warum hätten sie dies auch tun sollen, wo sie doch ein Mittel besaßen, das so gut und so zuverlässig funktionierte? Ab in den Kasten. Durch ihre Simulatorenalchimie konnten sie einen Misanthropen in einen Philanthropen verwandeln, einen Künstler in einen Handlungsreisenden mit Prämiengewinnen, einen Satyr oder eine Nymphomanin in einen unverheirateten Philosophen und ein autistisches Kind in einen Gesundbeter. Die, die nie hatten mithalten können, wurden in wahre Muster an Leistungsfähigkeit verwandelt. Und für die, die weiterschwiegen, gab es das Mittel der totalen Isolierung.
Sie schossen von hinten einen Pfeil auf sie ab; das allein erfüllte sie schon mit einem Gefühl des Bösen: Sie benutzten eine Waffe, die die Hand verließ! Der Pfeil enthielt eine Droge, die sie lähmte, aber ihr nicht das Bewußtsein nahm. Sie spürte den Stachel einer Biene im Nacken. Dann nichts mehr. Sie konnte sich weder bewegen noch etwas fühlen. Dieser Teil ihres Gedächtnisses war klar und deutlich. Dann hatten sie sie auf einen kleinen fahrbaren Wagen gelegt und sie durch einen Flur in einen anderen Raum gerollt, einen größeren, obwohl sie wenig an Einzelheiten erkennen konnte. Ihre Augen konnten nur starr geradeaus sehen. Sie hatte sich zwar, genau wie die anderen ihrer Zunft, in der peripheren Vision geübt, aber vor dem matten Hintergrund konnte sie selbst dadurch wenig erkennen. Die Meßinstrumente, Zifferblätter, Geräte und Schalttafeln fühlte sie mehr, als daß sie sie sah. Der Raum hatte einen anderen Geruch, einen, der auf Maschinen, Elektrizität, nicht auf Menschen hindeutete. Dann hatten sie sie ausgezogen und sich ihren Körper angesehen, der ihnen, nach ihren Äußerungen zu urteilen, sexuell unterentwickelt zu sein schien; glatt und zart gebaut, unbehaart außer einem beinahe unsichtbaren feinen Flaum überall, unbestreitbar weiblich. In den Augen des einen sah sie die verzerrten Sehnsüchte des Kindesverführers, aber die unausgesprochenen Angriffe in den Gedanken der anderen störten sie nicht. Sie hatte nichts gegen Nacktheit als solche, und was die besagten Sehnsüchte betraf, so hatte sie im Geiste einfach gespielt tapfer mit den Achseln gezuckt: Sie hatte schon mehr preisgegeben, als die anderen alle zusammen aufnehmen konnten.
Und danach, nachdem sie sie lange genug angesehen hatten, hatten sie sie vorsichtig und sanft in einen abgeschlossenen Raum gelegt; wegen des Geruchs hielt sie ihn für eine Maschine, die aber auch einen Anflug menschlicher Angst an sich hatte, ein dunkler Ort, der sie beunruhigte. Sie hörte sie darüber als von einem Apparat zur Reduzierung der sinnlichen Wahrnehmung sprechen. Sie hörte noch mehr darüber, als sie die Maschine anstellten und sie selbst in ihr Inneres einpaßten, so daß sie folgern konnte, was das für eine Maschine war. Der Apparat war ein lebenserhaltendes System, in dem die Temperatur konstant gehalten wurde und das alles, was in den Körper ein- und von ihm abgeführt wurde, steuerte. Und noch einiges mehr: Er bewirkte die totale Anästhesie des Sinnes- und Bewegungsapparats, und die Funktionen, die er nicht steuerte, hatte er unter Kontrolle. Er konnte ihren Puls beschleunigen oder verlangsamen. Er schuf ein Milieu, dessen sinnlicher Wahrnehmungswert haargenau bei Null lag.
Jetzt ihr Universum. Dunkel, geruchlos, schwerelos, empfindungslos. Sie fühlte nichts, war ein Geist ohne Körper. Wenn man das Fehlen von Unbequemlichkeiten bequem nennen konnte, dann war es bequem. Sie hatte nicht die geringste Empfindung. Sie konnte sich zwar daran erinnern, wie sie hineingelegt worden war, aber später war es dunkel und still geworden. Eine unbestimmt lange Zeitspanne war seitdem vergangen. Manchmal dachte sie, daß es erst Minuten her sei oder höchstens etwa eine Stunde. Dann wieder war sie müde und dachte, daß sie Jahre in dem Kasten zubringen, in ihm alt werden, eine Älteste werden würde, oder auch daß sie für immer in der Reifezeit steckenbleiben, also eine unfruchtbare Ler bleiben müßte, da die kontrollierenden Sensoren die hormonelle Zusammensetzung ihres Reproduktionssystems entweder nicht beachteten oder unterdrückten. Sie selbst wußte, daß es bei ihr anders war als beim Menschen. Sie vermutete, daß die Maschine bei ihr an eine Störung glaubte und versuchen wollte, sie zu heilen! Aber die Zeit. Minuten oder Jahre. Sie kannte den Unterschied nicht mehr. Die Wirklichkeit des Jetzt dehnte sich über enorme Entfernungen aus, über Schluchten, deren Ausmaß sie sich nicht vorstellen konnte.
Und jetzt konnte sie sich nicht der Erkenntnis entziehen, daß es am Ende keine Rolle gespielt hatte, wie wirksam oder unwirksam ihr passiver Widerstand gewesen war. Sie war zuerst zuversichtlich gewesen, obwohl sie sich einiges an Angst und Schrecken hatte eingestehen müssen; doch mußte sie der Tatsache ins Auge sehen, daß sie im Moment dabei war, auch das zu verlieren, und daß sie am Anfang eines Weges stand, der nur in einer Richtung gangbar war, der keinen Ausgang hatte und keine Stelle, an der eine Umkehr möglich war.
Zuerst war es in dem Kasten erträglich, beinahe angenehm gewesen. Sie konnte nicht glauben, daß er eine Gefahr darstellen sollte: Immerhin geschah in ihm nichts weiter, als daß sie faul sein und mit offenen Augen träumen durfte, also etwas, das die Leute ohnehin wollten, aber wozu sie irgendwie nie so recht die Zeit fanden. Sie kannte eine Reihe von Übungen, die in erster Linie Denksportübungen waren und die hier, in dem Kasten, hervorragende Dienste taten. So erneuerte sie zunächst ihre Widerstandskraft; sie hatte ihr gute Dienste getan, bevor sie gefangen worden war, und so würde sie ihr auch jetzt gute Dienste tun. Nachdem sie sich etwas an die neue Umgebung angepaßt hatte, begann sie, ihre wache Zeit damit zu verbringen, das Zan-Spiel zu spielen, ein Spiel mit breitangelegten Möglichkeiten und allen Raffinessen. Zuerst überließ sie sich selbst, ihrer eigenen Seite, die kunstfertigsten Züge, aber später erschien ihr dies als zu leicht, wie kompliziert sie auch das Spiel gestaltete, so daß sie die gegnerische Seite ebenfalls zu entwickeln begann und auf beiden Seiten gleichzeitig spielte. Dies hatte ihr einiges abverlangt, denn sie hatte zuvor in erster Linie in der Protagonistenmannschaft gespielt; auf jeden Fall hatte sie dadurch eine Beschäftigung.
Auch versuchte sie sich mit dem Drama, indem sie Geschichten erfand oder sich solche, die sie schon einmal gehört hatte, wieder ins Gedächtnis rief. Dies war eine noch größere Herausforderung, da die Ler die Stücke nicht auf der Bühne aufführten, sondern sie entweder lasen oder einem Geschichtenerzähler lauschten – das Erzählen von Geschichten galt bei den Ler als Teil guter Umgangsformen. Sie gab zu, daß es ihr, was das Erzählen betraf, an Fähigkeit mangelte, aber sie hatte immer gut zugehört, und jetzt tat ihr diese Gewohnheit zunächst einen guten Dienst. Die Ler bevorzugten die Tragödie, borgten ungehemmt von menschlichen Quellen und boten sie dar, so wie sie waren oder änderten die Namen sämtlicher Charaktere in Ler-Namen um und fuhren von da aus fort; auch erfanden sie nach einer komplizierten Menge von Regeln, die das Erzählen von Geschichten betrafen, eigene Dramen, und diese konnten in verschiedenen kulturellen Milieus spielen. So erfand und erinnerte sie sich also und vervollkommnete ihre Fähigkeiten der Visualisierung. Sie erinnerte sich an große Dramen, bei denen offen zugegeben wurde, daß ihre Wurzeln bei den Vorläufern lagen: Irephetas und Casilda, im wesentlichen eine Geschichte der Wollust, die durch strenge gesellschaftliche Konventionen unterdrückt wird. Sie mochte dieses Stück, denn es erinnerte sie entfernt an eine Situation, die irgendwie auf sie selbst paßte. Sie erinnerte sich auch an Thurso mit seiner violettäugigen Antagonistin, die jedem Ler-Publikum regelmäßig vor Entsetzen den Atem verschlug; Ler-Augen waren ausnahmslos zart getönt, starke Farben sah man fast nie, und wenn, dann deuteten solche Merkmale auf eine Willenskraft hin, die nicht ohne tragische Folgen für alle im Umkreis ihres Besitzers sein konnte. Tamar Cauldwell und Die Frauen von Point Sur gefielen ihr wegen ihrer gewollten Komplikationen und atemberaubenden Gefühlsaufwallungen. Es gab da eine berühmte Ler-Version von Tamar, die in den Einzelheiten etwas verändert worden war und Tamvardir, der Innenverwandte hieß, welche in mancher Hinsicht besser als das Original war.
Sie ging von realistischen, wenn auch hochemotionalen Tragödien zu mehr phantastischen Dramen über, zu Ericord dem Großen, der schaurigen Belagerung von Kark und dem schrecklich-schönen Tyrannen von Shent. Und dann die reinen Ler-Dramen, von denen einige Bearbeitungen von menschlichen Legenden und Erzählungen waren: Die Rache des Hifzer Vlandimlar, Hunsimber, der Brutale, Schaf Meth Vor, vielleicht besser als Wissenschaft und Revolution bekannt, und Damvidhlan, Baethshevban und Hurthayyan, wobei sie bei letzterem einen leichten Schauder spürte, da sie nun dazu neigte, sich selbst mit dem Opfer Hurthayyan zu identifizieren.
Als eine der Ler besaß sie ein fast totales Gedächtnis; daher konnte sie auch angenehme Erfahrungen, Augenblicke, die in ihrem vergangenen Leben besonders schön gewesen waren, nach Belieben noch einmal zurückrufen. Sie konnte auch Wachträume, Szenen mit sich selbst, die sie sich vorstellte und die sie sich wünschte, in die Zukunft oder Vergangenheit projizieren. Mit dem Gedächtnis konnte sie sich weit zurückerinnern, praktisch bis ins Säuglingsalter zurück, aber dahinter lag eine Region, die sie fürchtete, in der sich die ruhig kreisenden Linien der Erinnerung ineinander verstrickten und undeutlich wurden, und weiter hinten knoteten sie sich zusammen, und noch etwas weiter hinten verschwammen sie. Der Säugling erinnerte sich nicht an den Mutterleib, weil er ihn nicht bewußt erlebt hatte. Jetzt, hier, an diesem dunklen Ort diesem Kasten, diesem Apparat zur Reduzierung der sinnlichen Wahrnehmung – waren die Linien der Zeit abermals undeutlich und verschwommen, und sie spürte, daß ihr ein zweiter Leib auferlegt worden war. Die Linien waren vage. Sie schlief. Sie träumte.
Wie für alle anderen Ler war für sie die Erinnerung immer eine Quelle der Kraft gewesen, eine enge Freundin, eine Bezugsmöglichkeit. Sie wußte, daß, je höher eine Kreatur die Leiter der Evolution emporgeklettert war, um so stärker das Zeitbewußtsein wurde. Die Leute, und zwar sowohl die natürlichen Menschen als auch die durch Einwirkung von außen entstandenen Ler, hatten einen gewaltigen Schritt in diese Richtung bedeutet. Doch hier und da in der unermeßlichen und unergründlichen Zeit des Kastens begann ihre Erinnerung durch die Überbeanspruchung allmählich einer alten Bandaufnahme zu ähneln – voll mit den Geräuschen der Langeweile und des Überdrusses. Knisternd und abgenutzt. Die Genauigkeit der Wiedergabe schwand, und die unerwünschten Zusatzgeräusche überlagerten allmählich die Zusammenhänge. Die Informationstheorie und das Gehirn. Die Erinnerung war bei lebenden Kreaturen kein statisches, an bestimmte Stellen gebundenes Gebilde wie ein mechanischer Computer, sondern eine dynamische, lebendige, bewegliche Größe, eine flüchtige Menge von Abstraktionen, die sich durch die Milliarden von Zellen und Synapsen bewegt wie ein Vogel im Medium der Luft, abhängt von der Bewegung, um in seiner Funktion bestimmt werden zu können. Holistisch.
Aber es war auch noch in folgender Hinsicht eine Bandaufnahme: Als sie die guten Stellen so oft wiederholte, hatte sie sich die Gewohnheit gestattet, alles außer den besten Szenen zu überspringen. Das war schon in Ordnung, aber nach so häufigem Gebrauch waren die Szenen, die mehr oder weniger aus dem sinngebenden Bezugsrahmen gerissen waren, nach und nach flacher und schließlich weniger gut geworden. Einige von ihnen wirkten mittlerweile beinahe ermüdend. Sie ertappte sich schon dabei, daß sie beim Ansehen zu sich selber sagte: „Ja schön, und?“
Was die Tagträume, die Vorstellungen, die Phantasien anging, so hatte sie inzwischen erkannt, daß es immer gefährlicher wurde, sich ihnen hinzugeben. Beriethon nannte sie sie in ihrer eigenen Sprache, Paraträume. Ihre Träume und Paraträume wurden stärker und ständig klarer, während die Tatsachen immer schwächer wurden. Während ihre Erinnerungen an eine gewesene Wirklichkeit langsam in einem Sumpf, in einem Morast aus Geräuschen versanken, wurden die Projektionen klarer und sogar vernünftig.
Zuerst waren die projizierten Paraträume wie Träume gewesen; die einzelnen Szenen hatten unzählige Details enthalten, aber die Szenen hatten sich ohne Rücksicht auf die Gesetze von Ursache und Wirkung miteinander vertauscht. Das vor allem war es, was sie von realen Begebenheiten unterschied. Jetzt aber, in dem Kasten, waren es die Erinnerungen an das Reale, die zu den antikausalen Trugbildern mit den unlogischen Verschiebungen geworden waren, während die Projektionen logisch, kraftvoll und elektrisierend wirkten. Die Wirklichkeit war nunmehr blaß und bedeutungslos. In der normalen Umgebung waren die Träume die Algorithmen des Geistes, damit Erfahrungen sich ordnen und auf planvolle und leicht zugängliche Weise in den flüchtigen holistischen Mustern der Erinnerung unterbringen ließen. Alles gut und schön; aber es war nichts da, was das lebendige Gehirn auf eine auf Null reduzierte Umwelt hätte vorbereiten können. Daher verlief der Prozeß des Registrierens und Ordnens ungehindert weiter, wobei das wiederverwendet wurde, was bereits als willkürliche Eingabe untergebracht war, wobei Bilder eingespeist wurden, die bereits geordnet und eingegeben waren, und wobei erneut geordnet und registriert wurde. Bei jeder Übertragung verloren die Bilder sowohl an Genauigkeit als auch an Deutlichkeit. Bei jeder Übertragung nahm das Rauschen im Verhältnis zum erkennbaren Zusammenhang zu.
Von Anfang an hatte sie Visionen gefördert, die erotischen Inhalts waren; in ihrem eigenen kulturellen Bezugsrahmen, soweit er ihre momentane Entwicklungsphase betraf, die Reifezeit, wurden derartige Aktivitäten, die Erinnerungen an sie und ihre Projektionen weder als tadelnswert noch als unerwünscht angesehen, sondern vielmehr als Teil des Erwachsenwerdens allseits gefördert. Liebschaften, Rendezvous, Verabredungen unterschiedlicher Dauer und Zusammenkünfte, bei denen die Teilnahme nicht auf ein einziges Paar beschränkt war, waren alle Teil eines komplizierten Prozesses, in dessen Verlauf man über die Pflichten gegenüber seinesgleichen, über intime Beziehungen und Rücksichtnahme gegenüber anderen aufgeklärt wurde. Das Wissen kam später an die Reihe; zunächst war es wichtig, daß man lernte, mit anderen auszukommen und andere zu tolerieren angesichts dessen, was die elterliche Entwicklungsphase mit sich bringen würde.
Daher war es ganz natürlich, daß sie an diese Abenteuer dachte; sie waren auf unmittelbare, körperliche Weise angenehm und trugen enorm dazu bei, daß die Zeit verging. Mittlerweile aber waren sie natürlich die schlimmsten, was die Verstöße gegen die Regel der Realität betraf. Sie gingen einfach mit ihr durch. In ihnen war die Verwirrung so groß geworden, daß sie gezwungen war, sich ein kompliziertes mentales Verfahren auszudenken, um das Reale und das Irreale voneinander zu trennen, eine Komplizierung, die noch weitere Wogen hinzufügte, weitere Verwicklungen. Genau wie sich Bedeutung nie ganz ausdefinieren und sich kein letztendlicher Bruch einer transzendenten Zahl darstellen ließ, genauso ließ sich der Prozeß der Komplizierung nicht wirklich begrenzen. Absolut nicht. Und darum befand sie sich jetzt in tiefem Gewässer, wurde sie mit beängstigender und zunehmender Geschwindigkeit durch die Strömung von der Küste weggerissen. Hatte es denn eine Küste gegeben? Hatte es denn überhaupt je eine Küste gegeben? Genau die Projektionen, die ihr zu Beginn ihrer dunklen Reise geholfen hatten, nicht den Verstand zu verlieren, wo ein unbedeutender zerrüttet worden wäre, stellten jetzt die Kräfte dar, die ihn infizierten.
Die Vorläufer, die sie an diesem Ort und in diesem Kasten in Haft hielten, wußten wenig oder nichts. Sie wußten mit Sicherheit nicht, wer sie war, denn sonst wären sie, wie sie vermutete, nicht so höflich gewesen. In dem Falle hätten sie nicht gewartet, bis der Kasten seinen furchtbaren Zauber auf sie ausgeübt hätte. Nein, direktere Methoden wären angewendet worden. Aber ihre Fragen hatten sie beruhigt, was das anging; beruhigt, daß sie nichts wußten. Sie kannten nicht die richtigen Fragen, die sie ihr stellen mußten. Aber sie hatten einen Verdacht, und der erstreckte sich auf mehr als lediglich den Vorfall im Museum. Irgendwo waren da noch andere Dinge, über die sie sich Gedanken machten; in der Nacht hatten sie Geräusche gehört, und sie wußten nicht, woher sie kamen oder was sie bedeuteten. Oder war es nur das Absacken des Hauses gewesen, der Wind in den Bäumen, ein natürliches Ereignis? Offensichtlich hatte sie irgend etwas mit dem Fall von Vandalismus in dem Museum zu tun; zumindest schien sie ihre einzige Tatverdächtige zu sein. Und warum gerade diese Geräte? Aber diese Fragen machten ihr nichts aus; sie hatte sie erwartet. An einem anderen Punkt waren sie auf andere Themen zu sprechen gekommen. Zum Beispiel hatten sie ganz beiläufig gefragt, wer bei den Ler die Spieler des Zan-Spiels seien. Was die Bedeutung des Spiels sei, ob die Spieler frei von anderen Verpflichtungen, außer der eigenen Versorgung, seien. Anscheinend verfügten sie über mehrere Untersuchungsmethoden, und da sie schon einmal da war, hatten sie gleich mehrere ausprobiert. Sie hatte bei diesen Fragen eine eisige Furcht empfunden, und sie hatte gehofft, daß ihre vorgegebene Unwissenheit überzeugt hatte. O ja, in ihr war in der Tat eine reiche Grube, in der sie fündig werden konnten. Sie waren näher daran, als sie ahnten; und was das war, das hatte wahrhaftig nichts mit der Aufklärung von so nebensächlichen Dingen wie Vandalismus zu tun. Es war zum Teil Glück, daß sie in dieser Beziehung keinen Druck auf sie ausübten. Aber es beunruhigte sie doch, sogar jetzt noch. Die anderen Spieler mußten diese Untersuchungsmethoden ebenfalls kennenlernen, der Schatten mußte sie kennenlernen … und sie hatte keine Möglichkeit, irgend jemandem etwas zu erzählen. Denn wenn sie erst einmal in Gang gekommen waren, machten die Vorläufer bei einem Problem erst dann halt, wenn sie jede Methode versucht hatten. Ja, sie waren große Vollender, aber schließlich bedeutete dies auch die wahre Intelligenz: eine Sache bis zum Ende durchziehen. Sie war eine Ler, aber sie verachtete die Menschen nicht. Im Gegenteil.
Sie ließ ihren Geist schweifen. In gewisser Weise waren sie noch einigermaßen nett zu ihr gewesen. Sie glaubten nicht, daß sie ihr besonderes Leid zufügen würden, wenn sie sie in diesen Apparat zur Reduzierung der sinnlichen Wahrnehmung legten. Fast wie nebenbei hatten sie das getan, und doch hatten sie keine Ahnung von den Folgen, die es auf sie haben konnte. Vielleicht waren sie unter ihresgleichen sogar ganz nett. Zu Hause oder in einer gemütlichen Kneipe, zusammen mit Freunden oder Liebhabern. Sie hatte gehört, daß sie keine Liebhaber besaßen, zumindest nicht öffentlich. Und besaßen sie überhaupt Kneipen? Ihr wurde jetzt bewußt, daß sie trotz all der vorhergegangenen Ausflüge, die sie nach draußen unternommen hatte, in Wirklichkeit sehr wenig darüber wußte, wie sie lebten, wie ihre Träume aussahen.
So hatte sie, noch während das Verhör weiterlief, begonnen, die im Grunde oberflächliche Sanftheit ihrer Ausfrager zu durchschauen, gerade wie sich unter einer klaren Wasseroberfläche ein tiefes Flußbett verbirgt; da war etwas, was sie wissen wollten, sie hatten sie in ihrer Gewalt, und sie wußte von diesem Etwas. Und wie sie es wußte. Und sie wußte auch, daß, ganz gleich, was es sie kosten würde, nicht ein Wort davon ausgesprochen werden durfte. Der Preis war einfach zu hoch: Es war sicher perzhan{1} wert, einhundertsechsundneunzigmal ihr Leben. Tatsächlich war es nicht einmal wert, darüber zu streiten, nicht einmal mit sich selbst, nicht einmal hier im Kasten. Wie auch immer. Sie dachte mit einer gewissen Ironie, daß die Leute, die am meisten von Opfern redeten, immer jene waren, die wußten, daß sie die Entscheidung nie zu treffen haben würden. Sie machte sich keine sonderlichen Gedanken über Schmerzen, denn sie wußte von dem Kasten her, daß sie über raffiniertere Methoden verfügten, wenn sie erst einmal eine Ahnung davon hatten, wer sie war. Das war wichtiger als diese Angelegenheit bei dem Museum. Und wenn sie erst einmal angewendet würden, davon war sie überzeugt, dann würden diese Methoden im übertragenen Sinne mehr bleibende Narben auf ihr zurücklassen, als das Fleisch fassen könnte: Sie würden im Inneren sein. Darum bewahrte sie ihr Schweigen.
In solchen Momenten, wenn sie sich selbst gewisser grundlegender Größen versichern mußte, erlaubte sie sich den Luxus, sich das Geheimnis, wie sie es mittlerweile nannte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Es war die einzige ihr noch verbliebene Quelle des Trostes, aber sie erlaubte sich nur dann, es sich ins Gedächtnis zu rufen, wenn sie ganz klar im Kopf war, denn sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, ob sie sprach oder nicht. Sie schöpfte großen Trost aus der Vorstellung, wie erfolgreich es einst sein würde, jetzt, da es fast fertig war, wieviel es für all die Leute bedeutete. Nur noch ein paar Jahre. Sie erkannte die Rolle, die sie darin gespielt hatte, eine kleinere, als sie hätte sein sollen, aber wer hätte schließlich die genauen Umstände, lächerlich wie sie waren, voraussehen können, und wer konnte auf intelligente Weise gegen die Große Regel Einwände erheben, auch wenn er durch sie ein wenig benachteiligt war? Aber was soll’s. Sie hatte selbst schon die Traditionen auf das Problem anzuwenden versucht und war, unterstützt durch einen seltenen Glücksfall, nahe daran gewesen, ihre Stellung wiederzugewinnen, die von Rechts wegen ganz unbestritten ihre hätte sein sollen. Sie hatte es fast bis dahin geschafft … Und jetzt, in dem Kasten und in einer fremden Stadt, schmerzte es sie zu wissen, wie sie die ganze Zeit gewußt hatte, daß sie den Beitrag, von dem sie wußte, daß sie dazu fähig war, nicht leisten würde. Sie hatten alles aufs genaueste geplant, die Ältesten, die alles von Anfang an gelenkt hatten, aber die Wirklichkeit hatte ihnen einen grausamen Streich gespielt. Aber diese Situation mit ihren an den falschen Stellen sitzenden Ironien hätten sie nicht vorhersehen können. Sie dachte tapfer: Aber ich habe mein Wort gehalten, obwohl niemand je so versucht wurde. Natürlich war das kein Trost. Sie erinnerte sich abermals an das Drama Damvidhlan, Baethshevban und Hurthayyan.{2} Ja, sie war davon überzeugt; das traurige Schicksal Hurthayyans war ihr in der Tat ebenso auferlegt worden, und gleichzeitig war sie der Persönlichkeit des Hofklandor Damvidhlan ebenbürtig. Aber wem oder was ähnelte Baethshevban? Sie konnte sich da nicht völlig sicher sein, denn es entsprach nicht einer Person, sondern eher einem diffusen Etwas, einem von vielen auf einen einzigen gerichteten Gefühl. Einer, der begehrt und nun gefangengenommen worden war. Zakhvathelosi.
Sie konnte sich leicht das Bild des menschlichen Vernehmungsbeamten ins Gedächtnis zurückrufen, und das seines Vorgesetzten auch. Der Vernehmungsbeamte hatte genauso uninteressant und nichtssagend ausgesehen wie seine Umgebung, eindeutig nicht von Bedeutung, aber bei dem Vorgesetzten war es etwas anderes; er war groß und ziemlich knochig gewesen, und sein Gesicht war eckig genug, um ohne weitere Erklärungen die Bezeichnung „scharfgeschnitten“ zu verdienen. Die Ohren standen ab wie Topfhenkel, und die Mundpartie war lang und erinnerte an ein Pferd. Das Haar war rötlichblond und bürstenartig kurz geschnitten und sprang in sonderbaren kleinen Büscheln an unvermuteten Stellen vor. In ihren Augen, die mehr an die glatteren und weicheren Züge des Lergesichts gewöhnt waren (welches innerhalb des menschlichen Bezugsfeldes entsprechend kindlich erschien), war er primitiv, roh, grobgeschnitten gewesen. Aber sie erinnerte sich mit Angst und Schrecken an ihn, so harmlos er ihr auch erschienen war, denn sie wußte, daß, wenn sie sie wieder holen kommen würden, sobald sie zu der Meinung gelangt wären, daß sie genug Zeit in dem Kasten zugebracht hätte, er mit ihnen kommen und sie mit ihm wie mit einem Vertrauten sprechen würde, nur um mit irgend jemandem Kontakt, irgendeinen Stimulus zu haben. Bürger Eykor, so hatten sie ihn genannt. Sie würde anfangen zu reden, und sie würde nicht mehr aufhören können. Irgend etwas würde ihr in ihrer Erleichterung entschlüpfen, und sie würde mit der Geschichte anfangen, und es würde kein Ende abzusehen sein. Sie vermutete, daß sie den Kasten nicht überleben würde; sie wußte, daß sie ihr Schweigen nicht bewahren konnte, wenn sie sie herausholten und wieder anfingen, sie zu verhören. Eine krampfartige Angst durchfuhr sie, hielt sie für einen Augenblick fest; vielleicht würde sie ihn lieben, nur weil er gleich nach dem Kasten mit ihr redete. Ja, das war möglich. Er würde sie beruhigen, wahrscheinlich die Hand ausstrecken, um sie an der Schulter zu berühren, ohne zu wissen, daß die Bewegung für sie offen sexuelle Konnotationen hatte … und das konnte nicht sein, durfte nicht sein; es durfte nicht einmal annähernd zu so etwas kommen. Es gab nichts, was sie mit dem Bürger Eykor teilen konnte, und das, was ihr mit ihm zu reden erlaubt war, war noch weniger.
Sie durften nichts erfahren, nicht ein Wort davon, dachte sie. Die Woge hatte unter sich die ersten Andeutungen des Bodens gespürt und wurde langsam höher, nachdem sie Meilen und Jahre zurückgelegt hatte. Eigentlich Jahrhunderte, so lange war sie in Bewegung gewesen. Ja. Laß alles zu seiner Zeit geschehen. Dann wird es nicht mehr darauf ankommen, was sie wissen; eigentlich könnten wir ihnen sogar eine Abschrift der geschichtlichen Abhandlungen hinunterwerfen; sollen sie doch versuchen, sie zu kopieren und ihnen in die Nacht hinaus folgen. Dann wird es nicht mehr darauf ankommen. Aber jetzt? Es wäre weder passend, noch würde es genügen, wenn sie jetzt, zusammengebrochen, zum Berg des Wahnsinns, zu dem Heiligen Ort zurückginge und dem Schatten sagte: „Ich habe ausgehalten, so lange ich konnte, aber am Schluß ging es nicht mehr. Ja, ich habe darüber gesprochen, und sie wissen davon. Sie werden morgen oder übermorgen kommen, sie werden es für sich selbst nehmen, und für uns wird es für immer verloren sein.“ Und bei unserer niedrigen Geburtenrate und unseren labilen Genen werden wir für immer die Mündel der Vorläufer bleiben und mit ihnen an die alte Erde gefesselt sein. Unerträglich.
Sie unterbrach diesen Gedankengang, denn er führte zu schweren Wahlmöglichkeiten. Wahlmöglichkeiten, deren Ausgang nur zu deutlich war. Sie kehrte noch einmal in die Gegenwart zurück. Der Nullpunkt nirgendwo, nirgendwann, ein Universum, in dem sie der einzige Einwohner war. Sie und ihre Erinnerung. Sie war ganz nackt, aber sie konnte nicht mehr das geringste empfinden; das wenige, das der Kasten ihr gelassen hatte, war schnell geschwunden, war wie periodisch wiederkehrende Einzelheiten ohne Bedeutung von ihrem Verstand fallengelassen worden, so wie man aufhört, eine gewohnte Uhr zu hören und anfängt, sich zu fragen, ob sie immer noch läuft. Im Kasten war es so, daß diese Berichte, die man sich selbst erstattet und die selbst unter normalen Umständen schwer zu erfassen sind, einfach verschwanden, ohne an der Stelle, an der sie untergegangen waren, auch nur ein Kräuseln zu hinterlassen. Sie kam wieder auf ihre Nacktheit zurück, versuchte, sie in irgendeiner Weise zu empfinden. Sie konnte es nicht. Es war kein Körper da! Wütend dachte sie: Ich kann ihn jetzt vielleicht nicht fühlen, aber ich kann mich daran erinnern. Das könnt ihr mir nicht nehmen. Es ist mein Körper und mein Geist, ihr Hifzer Dranloons{3}! Sie kam abermals darauf zurück. Nackt, ja, es war angenehm, ohne Kleider zu sein, wenn jemand dabei war, der einen interessierte … mehr als bloß angenehm, erregend. Wenn ein Körper-Freund dabei war, jemand, den man liebte. Noch besser jemand, den man innig liebte. Als heranreifende Ler machte sie keine scharfe Trennung zwischen Freunden und Liebhabern. Sex mit Freunden des anderen Geschlechts gehörte bei einer Beziehung einfach dazu. Sie machte jedoch einen Unterschied zwischen Sex und Liebe. Beide mochten sich bei einer Beziehung vielleicht gegenseitig ergänzen oder sich gegenseitig verstärken, aber was den jeweiligen Grad betraf, so funktionierten sie unabhängig voneinander. Wieso auch nicht? Das eine drückte eine Größe aus, und das andere eine vollkommen andere. Wo es um eine bestimmte Person ging, wurden unterschiedliche Grade des Vertrautseins, der beiden genannten persönlichen Funktionen, die sich durch gewisse Bräuche verstärkt ausbildeten, festgestellt – zum Beispiel der Gebrauch von Teilen des Eigennamens bei Leuten, mit denen man eine solche Beziehung hatte. Die Definitionen waren sowohl komplex als auch dynamisch, da sie gleichzeitig viele Variablen beinhalteten, und so verbrachte man einen großen Teil seiner Reifezeit mit dem Erlernen der Definitionen. Viele wurden nervös und stellten die kunstvollen Unterscheidungen, die Feinheiten, das vorsichtige Abgrenzen in Frage. Aber sie wußte sehr wohl, was das alles bedeutete. Die Beziehungen unter den Ältesten waren sehr komplex, und so besann man sich nach den Webjahren wieder auf die Definitionen der eigenen Reifezeit und verwendete Analogien, um sich in den Ältestenbrauch hineinzuversetzen.
Es war ein breites Farbspektrum, jede Farbe ging in die nächste über, und nirgendwo war eine Linie, von der man sagen konnte, daß durch sie etwas wie eine eindeutige Unterscheidung geschaffen würde. Es war im Grunde ein fließendes Kontinuum, das von kindlichen Spielen im Wald bis zu Paaren reichte, die sich während ihres Zusammenlebens emotional so sehr gegenseitig durchdrangen, daß sie an den Rand des Wahnsinns gerieten. Ich war dort. Ich war an dem Ort, mit ihm, wo sich das Reale vom Irrealen scheidet. Ich habe keinen Respekt vor denen, die meinen, daß die Unterscheidung eine beliebige wäre. Er. War alles; sie hatte schon lange damit aufgehört, an ihn-sie-zuletzt unter einem Namen zu denken. Man ignorierte ihn einfach. Da hatte es auf der Welt zwei Personen gegeben. Sie selbst und ihn. Sie spürte plötzlich, wie sich irgendwo in ihrer Brust etwas zusammenzog; es war wieder verschwunden, bevor sie sich sicher war, daß sie überhaupt etwas gespürt hatte. Der Kasten hatte es wieder verschwinden lassen. Sie glaubte, in ihren Augen, die in der Dunkelheit geöffnet waren, eine Spur von Feuchtigkeit entdecken zu können. Aber das Gefühl war verschwunden. War es überhaupt dagewesen?
Nackt. Ja, das. Sie kehrte wieder zu ihrer Erinnerung zurück, einer Mischung aus vielen Erfahrungen, aus denen sie das besondere Bild, das sie suchte, auswählen konnte. Das erregende Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie aus ihrem leichten Sommerpleth{4} geschlüpft war, es über den Kopf gezogen hatte, damals am Beginn ihrer Beziehung, und sich lächelnd zu ihm umgedreht hatte. Oder als sie sanft in der Nacht erwacht war, warmes Atmen an ihrem Hals spürte, Wärme an ihrer Seite, Schwere … ein Erinnerungsfetzen zog an ihr vorbei; sie waren zusammen zu einem Ort hinuntergegangen, den sie sich tief in den Wäldern des nordöstlichen Reservats geschaffen hatten, zu einem Ort, wo er … was getan hatte? Es war ihr entfallen, war nicht vergessen, aber verlegt, verstrickt in tausend schattenhaften Wahlmöglichkeiten, in wirklichen wie auch unwirklichen, die ihr leerlaufender Verstand aufgewühlt hatte. Sie machte eine Willensanstrengung: ja, dort unten in den Wäldern, tief im Nordosten, in einem Teil des Reservats, in dem sich sonst kaum jemand niederließ. Diese Erinnerung war frisch, vom gerade vergangenen Sommer, vom Beginn der Jahreszeit; die Gefühle kehrten wieder, waren bald intensiv, bald vage und verschwommen und drohten im nächsten Moment zu vergehen. Sie hielt unter einer gewaltigen Willensanstrengung an ihnen fest. Der satte Geruch der feuchten Walderde, von Weinstöcken und grünen Blättern, die warme Luft schwer von Blumenduft; das Sonnenlicht spielte in den Schatten des frischen Laubs, der Wind war in den Kronen der Bäume, und, wenn man ganz genau hinhörte, konnte man das Geräusch von fließendem Wasser vernehmen. Gemeinsam hatten sie ihre leichten Sommerplethe über den Kopf gezogen und waren bei der Berührung mit der kühleren Luft plötzlich einem starken Körpergefühl und einer Gänsehaut ausgesetzt gewesen, die genauso schnell verschwand, wie sie gekommen war. Er hatte gründlich ihren ganzen Körper gemustert und sie den seinen; er war dünn, blaß und glatt und mit einem feinen Netz von Muskeln und Sehnen überzogen. Sie hatten gelacht, und sie hatte ihn dazu gebracht, ihr zwischen den Bäumen und Weinstöcken und dem Pflanzengewirr nachzujagen. Die Luft hatte stark nach Blumen gerochen. Die Erinnerung festigte sich, dauerte an, wurde wahr.
Da war ein kleines Baumhaus mit einer sonnenwarmen Terrasse rundherum, und als sie beide die Strickleiter hochgeklettert waren, die zu der Terrasse hinaufführte, hatte sie sich fangen und gegen das warme Holz pressen lassen; sie berührten und küßten einander leicht, wie Kinder, wie das Drucken mit Blättern im Herbst. Und dann eine plötzliche, heftige Umarmung, und sie hatte sich auf das rauhe Holz sinken lassen, hingerissen mit hämmerndem Herzen … hämmerte es auch jetzt?
Sie konnte nicht sicher sein, denn die Erinnerung entglitt wieder ein wenig. Hatte das Körper-Jetzt auf die Erinnerung reagiert? Hatte das Rückspulen wenigstens ein kleines, mitfühlendes Echo bewirkt? Hatte sich tatsächlich ihr Puls soeben beschleunigt, bevor der Kasten reagieren und ihn wieder drosseln konnte? Sie verlor das Bild augenblicklich. War es wirklich geschehen? Sie ging wieder zurück, indem sie sich stark anspannte, und ergriff den Faden an der Stelle, an der sie ihn aufgegeben hatte, und sie erinnerte sich; geradeso, als ob es jetzt im Augenblick geschähe, spürte sie das wilde Drängen durchgebrannter, freier Emotionen, das Reiben von Haut an Haut, die nassen Schulterküsse, die plötzlichen Wärme- und Hitzewallungen, kleinen Vorfreuden und die erste Berührung an dieser Stelle; dann ein peinlicher Augenblick, gefolgt von Einssein. Im Jetzt hatte sie das Gefühl, mit der Erinnerung zu treiben, dahinzufließen, und in ihr entwickelte sich eine Kraft, die stärker war als der Kasten, und dann verlor sie sie, die Sequenz entglitt ihr wieder und wirbelte mit den Strömungen ihres Geistes wieder davon und verschwamm mit anderen erotischen Bildern, Liebhabern, die sie einst gehabt hatte, und Paraträumen von Liebhabern, die sie gern gehabt hätte. Sie wußte nicht, ob letztere Bilder wirklich oder eingebildet waren. Bald waren sie steinhart und klar, bald unwirklich und veränderlich wie Rauch und verschwammen mit anderem. Auch andere Bilder drängten sich auf; wieder er, danach. Sie hatte ihren Geist leerlaufen lassen und hatte träge die Bewegung eines Blattes über ihr verfolgt, das sie über seiner Schulter sehen konnte, und sie hatte sich darüber gewundert, wie das Auge solch eine zufällige Bewegung überhaupt verfolgen konnte, ein Blatt hoch oben im Sonnenlicht; das starke Licht ließ es halb durchsichtig werden, so daß sich das Muster der Äderung in seinem Inneren abzeichnete.
Es trieb rasch dahin, durch den Ansturm anderer, wirklicher und unwirklicher Bilder davongezogen und -gerissen. Ja, das dort zum Beispiel: einst in einem Obstgarten, einem von einer Mauer umgebenen Garten, dem der Krudhens. Da war eine grobe Mauer, Stein, unverputzt, höher als ihre Köpfe, und sie waren, nachdem jeder mit den Augen den anderen eingeladen hatte, wie nebenbei in den Garten hineingegangen, wo sie sich nicht einmal die Mühe machten, ihre Überhemden auszuziehen, sondern sie bis zur Taille hochzogen und ihre Körper vereinigten, während sie an der rauhen, unebenen Oberfläche der Mauer lehnten. Einige Leute waren in der Zwischenzeit über den Weg draußen vor der Mauer gegangen, aber sie wußten, daß es den Vorbeigehenden nichts ausmachte, selbst wenn sie etwas bemerkt hatten. Es war fraglich, ob sie etwas bemerkt hatten, denn sie waren raffiniert und leise gewesen und hatten sich über die anderen lustig gemacht. Das war nicht er gewesen, sondern ein anderer, früher, als sie noch jünger war und unbekümmerter … Jener verschwand, und ein anderer trat an seine Stelle; dieser Junge jetzt war dunkelhaarig und dunkelhäutig wie sie selbst. Sie waren im Fluß geschwommen, dem trüben Hvarrif, das satte Sommerwasser hinterließ einen süßen Sommerduft auf der Haut, während sie so am Ufer in der Sonne saßen, um sich an der Luft trocknen zu lassen. Er hatte so schüchterne Annäherungsversuche gemacht, er, der jünger gewesen war als sie, wie zufällig ihren Schenkel berührt und sie gestreift. Plötzlich, eine kühle Berührung der Haut, darunter Wärme; der Augenblick füllte sich mit Erwartung, mit Spannung, die äußeren Umstände des Moments überwältigten sie in ihrer Klarheit. Alles war wieder gegenwärtig, die Sonne, die reglose Luft, die Hitze, das Brummen der Julifliegen in den Bäumen, und sie hatte, lächelnd, nach dem jüngeren Knaben gegriffen …
Und es verschwand und hinterließ die bittere, kurze Rückwirkung, die seine, jenes speziellen Bildes wahre Natur offenbarte; es war ein Paratraum gewesen, eine Projektion, eine Hoffnung, eine Phantasie, es war nicht wirklich gewesen. Sie wußte nicht, ob sie es sich vorher schon einmal vorgestellt oder ob sie es in dem Kasten erfunden hatte. Es war auch gleichgültig. Es war ja nicht wirklich. Sie genoß die Erinnerung an eine unwirkliche Erinnerung und lächelte im Geiste zu sich selbst; da sie sich kannte, wußte sie, warum die letzte nicht wirklich gewesen war, obwohl die an der Mauer in dem Obstgarten es gewesen war. Sie war nie so zurückhaltend gewesen und hatte nie andere geneckt, noch waren ihre Körperfreunde und Liebhaber so unschuldig oder schüchtern gewesen. Das war eine Feinheit, die sie im Geiste hinzugefügt hatte, um irgendeine tiefer liegende Wunschvorstellung zu befriedigen. Unwirklich, unwirklich. Sie empfand ein sonderbares Gefühl, das aus wütender Enttäuschung und nachdenklicher Traurigkeit zusammengesetzt war. Es würde keine Umarmungen an der Gartenmauer, keine Baumhäuser, nicht einmal mehr Träume von ruhigen Versuchungen an den Ufern des Hvarrif mehr geben.
Jenes letzte Ereignis zerriß die Kette der emotionalen und erotischen Erinnerungen. Sie fühlte sich so, als habe sie die ganze Zeit angestrengt auf den Zehenspitzen gestanden. Sie versuchte, das Bein zu beugen. Sinnlos. Sie konnte es nicht fühlen. Ganz unabgelenkt begann sie, von dem Gefühl der sexuellen Erwartung, von dem sie sich hatte tragen lassen, wegzutreiben, ziellos, frustriert. Bedauernd. Sie hatte die wenigen Augenblicke der jugendlichen Entwicklungsphase, die sie in ihrem Leben, vor allem in den letzten zehn Jahren, gehabt hatte, sehr genossen. Und sie ertappte sich dabei, daß sie dachte: Und es hätte noch zehn weitere gegeben, wenn das hier nicht gekommen wäre. Für sie hatte es weniger derartige Ereignisse gegeben als für die meisten Mädchen der Ler, denn sie war während der ganzen Zeit mit vielen anderen Dingen beschäftigt, zu ernst gewesen, zu sehr in Anspruch genommen durch das Große Werk. Jetzt, dachte sie. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Entscheidung zu treffen. Die Zeit, sich endgültig festzulegen, die Zeit aufzuhören zu zögern, die Zeit aufzuhören, auf eine Rettung zu warten, die nie kommen wird, weil sie niemals erfahren werden, wo ich bin. Ich werde in meiner eigenen Erinnerung untergehen; sie ist nicht mehr ein Zuhause, sondern ein Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gibt.
Sie näherte sich immer mehr dem Punkt, vor dem sie sich gefürchtet hatte; und jetzt hatte sie ihn erreicht. Früher hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn sie ihm gegenüberstünde: ein geistiges Bild von einer wichtigen Weggabelung, einer außergewöhnlichen Kreuzung, einem einzigartigen Ort, an dem die Wahl mit allen ihren Schrecknissen getroffen werden mußte. Vielleicht würde dieses Bild auch Symbole von höchster Bedeutung enthalten: flammende Lichter, große, leuchtende Schilder. Etwas, das wie die Straßen der Vorläufer aussah. Aber jetzt, da sie tatsächlich an dem Ort angelangt war, sah sie in ihrer Phantasie, daß die Wirklichkeit ganz und gar nicht so war; ihr Geist sorgte für ein symbolisches Bild, das besser paßte: durchaus keine Kreuzung. Das Bild war das einer breiten, glatten Straße zu ebener Erde in nicht weiter bemerkenswerter Gegend. Es gab nicht ein Geländezeichen, nicht einen Orientierungspunkt, nicht einmal einen Pfosten am Straßenrand, der den Punkt markiert hätte. Sie war, wie ihr mit einem Gefühl nachdenklicher Resignation bewußt wurde, schon daran vorbei, und die Wahl war lange getroffen. Die Lösung lag auf der Hand. Und auf halber Strecke endete sowohl die Straße als auch das umliegende Gebiet, aber nicht mit einer Veränderung der Umstände, sondern in einem unbestimmten, doch totalen nebelhaften Nichts. Sie hatte sich lange auf diesem Weg befunden; ihr Leben führte dorthin.
Ich werde nicht davon reden, ich werde nicht mit ihnen darüber sprechen, ich werde nicht einmal abwarten, bis sie mich wieder holen kommen. Ich bin … Sie suchte krampfhaft, suchte den Namen wiederzufinden, den sie verlegt hatte, vergessen unter tausenderlei hoffnungslos verwirrten Daten, wirklichen und unwirklichen. Es gab Hunderte von Namen, und sie konnte sich nicht darüber klarwerden, welcher der ihre war; eine unmögliche Situation. Ja, Äpfel. Irgend etwas mit Äpfeln. Und diese beinahe zustande gekommene Erkenntnis löste eine weitere Erinnerungs- und Assoziationskette aus: Äpfel. Sie konnte deutlich das harte, feste Fleisch eines Apfels fühlen, das Knackige, Frische daran. Beim Hineinbeißen hatte sie das Süßsaure des Saftes auf den Lippen gespürt. Ein herbstlicher Sonnenuntergang, verschleiertes Orange irgendwo, irgendwann … sie war die höchste Spielerin gewesen, das Zentrum, und ihre Mannschaft hatte gewonnen. Und ihr Gegenspieler. Die gegnerische Seite besaß keine Identität, sie war zu einem dunklen Schatten verblaßt, einem Nebel, einer Erscheinung, deren Umrisse keinen Hinweis auf die Identität gaben, aber gleichzeitig wußte sie, daß sie den Vorhang wegreißen und ihren Antagonisten in grausamer Klarheit sehen konnte; sie konnte es, aber sie schreckte davor zurück, denn in Wahrheit kannte sie ihren Gegner besser als sonst irgend jemand, ob es ein Ler oder einer von den Vorläufern war, auf der Erde. An dieser Stelle kam ihr ein merkwürdig freudiger Gedanke, der, fast bevor sie sich seiner bewußt werden konnte, wieder vorüber war: Auf der Erde oder von ihr entfernt. Wieso war das von Bedeutung? Aber bevor sie dem weiter nachgehen konnte, warf ihr wild vorwärtsschreitender Geist ein weiteres Bild aus: Und da war Metall, Holz, künstlich Gemachtes, da war so etwas wie eine Konstruktion rund um sie her, ein Gefühl, als ob sie in irgend etwas sei, in einer großen, starken Maschine, einem Gerät, einem Dämon vielleicht. Und doch weder Maschine noch Dämon, sondern etwas Größeres und von beiden Verschiedenes, etwas, das eher ähnlich wie etwas Lebendiges und weniger wie etwas Mechanisches oder Elektrisches funktionierte. Weg war es, ausgewechselt durch ein anderes: Und einmal hatte sie zu Hause mit dem anderen Innenverwandten Brot gebacken, und die warme Luft war erfüllt gewesen mit dem Geruch von Teig und Hefe. Wieder ein anderes: Ihr erstes sexuelles Erlebnis, die ersten ungeschickten, unbeholfenen Umarmungen (ihr Partner war genauso unerfahren gewesen wie sie selbst); sie waren sich vorgekommen wie kleinere Kinder, die ein kompliziertes Spielzeug zusammenzusetzen versuchen und beide weder wissen, wo sie anfangen sollen, noch sich vorstellen können, was dabei herauskommen soll, aber fest daran glauben, daß, wenn es ihnen irgendwie gelänge, sie es ganz bestimmt ganz wunderbar finden würden. Merkwürdig, lebendig, scharf in ihren Geist eingeätzt. Und so war es in der Tat gewesen. Wir atmeten so schwer, so heftig an der Schulter des anderen. Ein Gefühl, wie wenn man einen immer steiler werdenden Berg erklimmt, der Anstieg immer schwerer wird, dann ganz überraschend über den Gipfel und ein rascher, ballistischer Fall nach unten, bei dem sich alles dreht, der sich schließlich verlangsamt. Der sonderbare salzige Geschmack eines fremden Mundes, der ölig-scharfe Geruch von sonnenwarmer Haut.
Halt! Sie schrie ins Nichts, in die pelzige, alles umschlingende Dunkelheit, die sie umgab. Sie konnte fast kaum spüren, wie ihre Lippen versuchten, das Wort in ihrer eigenen Sprache zu formulieren: Muduraile! Aber die halbe Empfindung war im Nu vorbei, wie in einem bösen Traum, wenn man versucht, um Hilfe zu rufen oder laut zu schreien, um den Bann des Zeitlupentempos zu brechen, und nichts herauskommt außer unzusammenhängenden, verklumpten, heiseren Lauten. Krächzen und Gurgeln. Sie kehrte wieder zur Dunkelheit zurück. Also gut. Sie bildete Buchstaben aus Feuer in der Dunkelheit, sandte sie aus, die ihre Farben wechselten, während sie in die Nacht hineinflogen. Die Buchstaben verblaßten und hinterließen grüne Nachbilder, die zu schillerndem Violett wurden. Sie machte die dreifache Verneinung: Dheni, dheno, dhena. Nein, mehr nein, am meisten nein. Ihr Geist reagierte langsam auf ihre herkulischen Anstrengungen, die Kontrolle zu gewinnen, gab nach, schleuderte müde ein letztes Bild aus sich heraus: Metall, eine Maschine, gewaltige, sich verlagernde Kraftfelder. Metall, Tuch, Kunststoff, Leder, Holz. Sie war schon ganz nahe daran, sie konnte es bedienen und die Gewalt und die Kraft spüren, es hatte ihr schon fast gehört, war so nahe gewesen … und das Spiel. Und das Spiel war verschwunden.
Sie dachte ganz klar. Sie hatte die ganze Zeit über eine Fluchtmöglichkeit gehabt. Aber es war eine drastische, unwiderrufliche. Mit dem totalen Gedächtnis hatte der Geist eines Ler zum Ausgleich auch die Fähigkeit, total zu vergessen, Daten zu löschen, sich seiner zu entledigen. Das eine glich das andere aus. Es war mehr als das Vergessen in dem herkömmlichen Sinne, in dem die Vorläufer es sahen. Dabei handelte es sich im Grunde nur um ein Verlegen von Daten. Aber das selbsttätige Vergessen bedeutete ein Auslöschen. Es war sehr einfach, den Prozeß in Gang zu bringen – man wußte instinktiv, wie es ging, so wie man weiß, wie man sich etwas vorzustellen hat: Es war so einfach und selbstverständlich, daß man dem heranwachsenden Kind beibringen mußte, besser auf die Realität zu achten. Aber das betraf nur das Ingangbringen des selbsttätigen Vergessens. Den Prozeß zu beenden gelang nur dem Erfahrenen und Gebildeten, es war enorm schwer. Das konnte man erst dann schaffen, wenn man tief in der Ältestenphase war, am Ende der dritten Spanne{5}. Die Ältesten, so hatte sie gehört, konnten teilweise löschen, gewisse Abschnitte ihrer Erinnerung vergessen, zusammenfassen und neu bildlich darstellen und dadurch Platz schaffen für frischere Erfahrungen … aber sie war keine Älteste; sie war eine didhosi, eine Heranreifende, sie hatte im letzten Sommer gerade ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert. Und darum konnte es für sie nur alles oder nichts geben. Sie hatte gehört, daß es leicht, nicht schlimm, daß es schmerzlos sei. So als ob man einschliefe. Daß man sich einfach irgendeinen Punkt in irgendeiner gültigen Erinnerung nahm und dann das Bild auflöste, so wie man einen Faden in einem Gewebe nimmt: Das Ganze trennt sich dann schon von selbst auf.
Und dann würde das Ego, die Persona nicht mehr da sein, würde verschwunden sein, als ob es nie dagewesen wäre, mit Ausnahme der existentiellen Spuren auf dem Leben anderer, auf den fortdauernden körperlichen Gegenständen in der Welt. Ja, das Ego würde nicht mehr da sein, aber der Körper würde, geschützt durch seine autonomen Reaktionen, weiterleben. Das Bewahren von Geheimnissen war nicht der Zweck des selbsttätigen Vergessens, sondern es war eigentlich eine seiner Nebenerscheinungen. Ein endgültiges Bewahren. Und hinterher würden ihre menschlichen Peiniger wieder kommen und feststellen, daß sie nichts als ein kleines Kind in einem zwanzig Jahre alten Körper in ihrer Gewalt hatten. Sie hoffte, daß man sie, da man nicht wissen würde, was man mit so einer anfangen sollte, dann ihrem Volk zurückgäbe, wo man angemessen für sie sorgen würde, sie waschen, füttern und in den nächsten zehn Jahren, die ihr noch blieben, bevor sie fruchtbar, eine Erwachsene werden sollte, sorgfältig zu einer neuen, funktionierenden Persona erziehen würde. So würde sie schließlich wieder zu einer bewußten, funktionierenden, der Fortpflanzung fähigen Person werden, würde sie verwoben werden, um, wie es jedermanns Pflicht war, für den Bestand der nächsten Generation zu sorgen. Sie verspürte inmitten der Angst ein klein wenig Freude. Und trotz des klaren Wissens um das, was sie zu tun hatte, war sie doch auch verwirrt. Sie dachte angestrengt nach, stürzte sich auf diese Verwirrung. Und werde ich auch in diesem Körper weiterleben, diesem süßen Fleisch, das mir und anderen soviel Freude gegeben hat … Ich? Nein, nicht ich, das weiß ich. Nicht ich werde es sein, die in dieser Haut stecken wird. Nein, eine andere, eine, die jetzt noch nicht existiert und die nicht von Tlanh und Srith geboren sein wird. Sie wird einen anderen Namen tragen. Nicht den meinen. Ich nehme meinen Namen dorthin mit, wo immer die Gedächtnislosen hingehen. Ja, eine andere. Sie wird kindisch und zerstreut sein, aber sie wird funktionieren; weil sie wissen, was sie ist, werden die anderen sie lieben und ihr helfen. Wenn dann für die Kinder die Zeit des Verwebens gekommen sein wird, wird sie praktisch vollendet sein.
Im Geiste lachte sie, es war ein schmerzliches Lachen, denn plötzlich sah sie es ganz deutlich und ohne Furcht. Ich, eine Gedächtnislose. Eine, die ihr Gedächtnis aufgegeben hat: Lel Ankrenamosi. Sie hatte bisher nur mit Angst und Schrecken an das freiwillige Vergessen gedacht, weil die Aufgabe des Gedächtnisses für sie etwas Unreines und Erbärmliches an sich hatte. Aber es gab noch Schlimmeres, ein ganzes Universum von noch Schlimmerem. Sie wägte ihren Ekel vor dem Zustand gegen das ab, was sie aus ihrer schwachen Lage heraus enthüllen und dadurch verursachen konnte. Für sie konnte es nur eines geben, das wußte sie genau: Ich werde meinen Schwüren treubleiben! Jetzt!
Ohne zu zögern versenkte sie sich tief in ihren Geist, bis hin zum Grundstein ihres Seins, zu ihrer Klanh-Rolle, dem Angelpunkt all dessen, was sie wußte, was sie erlebt hatte. Sie spannte sich an, während sie sich so versenkte und die Stelle suchte, an der der Auflösungsprozeß beginnen sollte. Inmitten der Gesamtheit des Gedächtnisknäuels fand sie etwas, da war ein Knoten, eine Verknüpfung, sie zog daran und fühlte, wie sie sich lockerte, und sie hakte sie auf. Da war ein scharfer, stechender Schmerz, ein Stachel aus höchster Energie, unerträglich, vorüber, bevor er richtig begonnen hatte. Sie vergaß sofort, daß es weh getan hatte. Wie betäubt – und nun ohne zu wissen, warum – tastete sie noch einmal nach der speziellen Erinnerung, die sie an die Zeit ihrer Initiation gehabt hatte. Initiation in was? Sie konnte sich nicht erinnern. Es war weg. Es waren nur noch seltsame kleine Teile übrig, und diese verblaßten. Im Zentrum ihres Geistes war eine sich ausdehnende Leere aus Unwissen; fast wie das, was man ein Spiel mit verkehrten Bildern nannte, in dem man die Abwesenden und nicht die Anwesenden darstellte. Eine sich ausdehnende Leere. Schon mußte sie, beinahe neugierig, fragen: Was für ein Spiel? Was war das für ein Spiel gewesen? Es war einst wichtig für sie. Ein Rätsel, und irgend etwas Entscheidendes fehlte, nämlich der Stein, der dieses merkwürdige Versagen des Gedächtnisses erklären konnte. Was war es gewesen? Sie hörte auf, sich zu erinnern zu versuchen und begann mit Hilfe der Logik an das Problem heranzugehen, ging von außen daran heran, um dann ins Zentrum vorzudringen und so wiederzuerlangen, was es hatte sein sollen. Sie konnte das, aber während sie es versuchte, stellte sie fest, daß der Tilgungsvorgang schneller fortzuschreiten schien, als sie nachzufüllen imstande war; er zerfraß ihr Gedächtnis schneller, als sie es, auch unter Aufbieten aller Kräfte, wieder auffüllen konnte. Nutzlos, dagegen anzukämpfen – hoffnungslos. Ihr Bewußtsein war wie eine vom Zentrum her gefüllte Kugel gewesen, die sich immer nach außen hin ausgedehnt hatte, in die Leere der Unwissenheit und des Nichtwissens hinein, und die alles geordnet hatte. Aber sie spürte jetzt, daß sie sich von jedem andern auf der Welt unterschied: Sie fühlte eine Leere auch innerhalb der Kugel. Und die Leere im Inneren wuchs, zwang ihr Bewußtsein erst in einen hohlen Ball, dann in die Form eines Rings. Jetzt ist es durch nichts mehr aufzuhalten, dachte sie: Ich weiß zwar, was es aufhalten könnte, aber ich weiß nicht mehr, wie ich es anstellen soll. Nach einer Weile fügte sie gequält hinzu: Und ich kann es, zum Teufel noch mal, auch gar nicht aufhalten.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis ihr Geist durch den Vorgang ausgelöscht sein würde. Niemand wußte das. Oder wenn es jemand wußte, so redete er jedenfalls nicht darüber. Gedächtnislose erinnerten sich nicht daran, daß sie vergessen hatten. Sie fühlte eine innere Anspannung und wußte nicht, wieso. Nun wurde sie lockerer und ließ den Vorgang über ihr Bewußtsein spielen wie das Sommersonnenlicht über den nackten Körper, etwas, was es vor langer Zeit gegeben hatte. Jetzt werde ich mich an alles Erdenkliche erinnern; an all die angenehmen Augenblicke meines Lebens. Sie überflog rasch das, was ihr von ihren Erinnerungen noch geblieben war; vermerkte, was da war, das Gute und das Schlechte, das Angenehme und das Unangenehme. Es war von beidem vieles dabei; sie hatte ihre Glanzstunden gehabt, aber sie hatte auch bittere Enttäuschungen erlebt, grausame Rückschläge, die nicht ihre Schuld gewesen waren, sondern Teil des Lebens, der Umstände. Aber kein Zufall. Sie machte sich daran, sich eine Kollektion zurechtzulegen: Nenne vierzehn{6} der wunderbarsten Dinge, die dir widerfahren sind. Das war leicht. Dann begann sie kraft ihres totalen Gedächtnisses eins nach dem anderen wieder durchzuleben, wiederzusehen, wiederzuerkennen, wiederzuentdecken. Darunter spürte sie jedoch etwas, was vorher nicht dort gewesen war: eine wachsende, düstere Leere, die Teil von ihr und doch auch wieder nicht Teil von ihr war. Sie konnte sich jetzt nicht mehr erinnern, wieso sie in diesem merkwürdigen Zustand war. Sie würde mit jemandem darüber sprechen müssen.
Die frühen Morgenstunden waren schöner. Sie hatte den Morgen immer besonders gern gehabt, und immer war sie als erstes von allen Kindern aufgewacht und hatte zugesehen, wie das erste Licht die durchsichtigen Scheiben der Fenster des yos tiefviolett färbte. Sie befreite sich dann aus der Menge der anderen, denn bei kühlerem Wetter schliefen sie wegen der Wärme alle auf einem Haufen, und kletterte dann aus dem für die Kinder abgeteilten Raum und nach unten in den Raum, in dem der Kamin war. Sie waren vier gewesen. Zwei Jungen, zwei Mädchen. Die idealen Ler-Webkinder. Aber irgendwie hatte irgend etwas nicht gestimmt; sie konnte sich nicht mehr erinnern, wieso. Der Raum mit dem Feuer pflegte um diese Zeit dunkel zu sein, die Asche im Kamin ausgeglüht oder doch fast. In ihrem Nachtkleid ging sie auf bloßen Zehenspitzen durch den yos, ihrer aller Heim, und durch den doppelten Zuweg, wobei sie im Gehen die Türlaschen beiseite schob. Sie trat behutsam auf den Vorplatz hinaus. Die Luft war kühl gewesen, selbst im Sommer, und hatte durch das dünne Nachtkleid in ihre Haut geschnitten, die Haut, die darunter immer noch vom Schlafen warm war und nach Kind duftete. Diese Erinnerung: Es war Winter, und auf dem Boden lag Frost. Kristalle aus Frost auf dem kahlen Stück beim Bach. Das Flüßchen am Haus murmelte still vor sich hin; es klang rein, präzise und knapp. Die Sprache des Winters. Es klang immer so im Winter. Zur Sommerszeit war die Stimme runder, gelöster, fließender. Sie stellte sich vor, daß es eine Sprache spräche. Nein, das hatte ihr jemand gesagt. Vor kurzem. Wer war es gewesen? Aber der Bach sprach: einen laufenden Kommentar zum Wesen der Dinge, zum Grundwasser, zum Humus, zu den Maulwürfen, Regenwürmern, den neugefallenen Blättern der Jahreszeit, die für den reichen Waldboden ihre Nährstoffe freisetzten. Das Gefühl, beinahe zu erfrieren. Die Dinge, von denen das Wasser wußte. Sie blickte auf. Weiter unten am Bach konnte sie durch die vom Winter entblößten Sträucher und das Gewirr der Weinstöcke hindurch den undeutlichen Umriß des benachbarten yos erkennen. Im Sommer war er vollkommen verdeckt. Und noch weiter unten, durch eine Lücke zwischen den Bäumen, war der See zu sehen, still und kalt und tiefblau in diesem frühen Licht.
Sie überflog noch einmal alles, und sie spürte, daß sie schneller, als sie es sich vorgestellt hatte, an Boden verlor. Keine Zeit mehr für vierzehn. Habe nur noch Zeit für eine Wiederholung. So soll es dann mit ihm sein. Das eine will ich bis zum Ende behalten. Laß es das letzte sein, und danach das Nichts. Auch wenn es jetzt nur eine reine Einbildung meines Gedächtnisses ist und nie mehr sein wird. Plötzlich waren die Trugbilder verschwunden.
Der Vorgang dauerte unerbittlich fort und brachte ihren Geist wieder zu dessen entropischer Verfassung zurück, aber während er weiterging, schlug er in der zentralen Leere kleine Wellen eines Pseudowissens, ein logikähnlicher Akt, der ihr wie ein plötzliches Aufleuchten von Einsicht erschien. Diese vorübergehenden neuen Formen waren so verschiedenartig wie ihr Ursprung: Einige waren offensichtlich nichtig, andere unverständlich und fremdartig. Und manche hatten den Klang der Wahrheit. Sie wußte nicht, woher sie dies wußte. Diese letzteren versuchte sie festzuhalten. Eines ganz besonders, ein hochaufragendes Gebäude, das sich unaufhörlich veränderte. Für einen Moment sah sie es – und Erleichterung durchflutete sie, denn sie hatte die Zukunft gesehen. Keine Einbildung, kein Paratraum, kein Pseudowissen. Wirklich. Und diese Zukunft war sowohl wahr als auch gut: Es würde Leid geben gerade wegen dem, was sie soeben getan hatte, aber es war nicht ihre Schuld, sondern die eines anderen. Und sie würden das große Werk vollenden. Es würde vollendet werden. Sie sah und war glücklich, aber sie verstand nicht, warum der Gedanke ihr gefallen hatte. Dann war er verschwunden. Und verschwunden war auch die Erinnerung an das Etwas, das ihr gefallen hatte.
Sie konzentrierte sich auf sein Bild. Er. Ihr tiefstes Bild. Da er zuerst kühl und zurückhaltend gewesen war, hatte er zuerst etwas an sich gehabt, was sie nicht mochte … oder mißbilligte. Und dann hatte sie entdeckt, daß er etwas konnte, das auch sie konnte, etwas … auch das war weg. Egal. Die Erinnerung daran, wie er gewesen war, war deutlich und wohlgeordnet. Die Deutlichkeit des Bildes hatte anscheinend zugenommen durch den Wegfall der Umstände, unter denen sie sich kennengelernt hatten, und durch die Vergrößerung der emotionalen Verwicklungen, die zwischen ihnen entstanden waren, und die sie bald aneinandergekettet hatten. Sie konnte ihn deutlich sehen: schlank, drahtig, beinahe zierlich, aber stark und gewandt. Präzise Bewegungen, keine überflüssigen Handlungen und Manierismen. Etwas jünger als sie selber, aber weniger als ein Jahr. Sein Haar in dem lockeren Rundschnitt, den alle Heranreifenden trugen, war viel heller als ihres. Er erinnerte sie ganz entfernt an … wen? Ein jüngeres, mit ihr verwandtes Kind, aber sie konnte sich nicht erinnern, wer es war. Feine, gerade Gesichtszüge; angespannt, aber nicht anmaßend. Nein, das nicht. Er war das sanfteste aller Geschöpfe gewesen. Das wußte sie.
Sie sank tiefer in die Erinnerung, empfand sie wie einen heilsamen Schutz vor einer außerhalb von ihr wachsenden, dunklen Leere. Alles jenseits dieser Erinnerung schien trübe, düster, vergänglich. Das war ihre räumliche Orientierung. Was die Zeit anging, so war es nicht besser: Sie begann mit einem Nichts und endete mit einem Nichts. Jetzt konnte sie sich an nichts mehr erinnern außer an das letzte Mal, das sie zusammengewesen waren.
Sie waren in östlicher Richtung tief in den Wald hineingegangen, im Herbst, kürzlich war es erst gewesen. Zu ihrem Geheimplatz, den sie sich gebaut hatten, einem Baumhaus. Es war zu intensiv zwischen ihnen geworden, und sie wollten mit niemand anders zusammensein (oder hatten sie Angst vor anderen gehabt?). Es war das letzte Mal gewesen, kurz bevor sie auf irgendeine Weise an diesem unsäglichen Ort gelandet war. Sie hatten sich geliebt, mehr als das, sie hatten jeder den Körper des anderen berührt und geküßt, sich gegenseitig mit allen Gliedern fest umarmt. Sie glaubte, einen Stich im Herzen, Feuchtigkeit in den Augen zu spüren. War das wirklich? Etwas Bedrückendes hielt sie davon ab, das zu spüren, von dem sie wußte, daß sie es eigentlich spüren sollte. Alles schnell verschwunden. War wirklich? Werde dieses festhalten, bis alles weg ist. So schön damals. In einem Sonnenstrahl haben wir es gemacht. Glaubte, mir würde das Herz zerspringen. Sie versank völlig in der Erinnerung, ließ sich von ihr überwältigen, mit der jüngsten Vergangenheit verschmelzen, fühlte dumpf, daß sie irgendwo im Jetzt einen Körper besaß, der endlich zu reagieren begann auf den damaligen Körper, während der Unterschied zwischen den beiden zu ihrem Bewußtsein hin verflog; die Kraft des Impulses war nun so stark, daß er, was immer es gewesen war, was sie vorher abgehalten hatte, umzuwerfen begann. Dafür war er nicht gemacht. Spürte, wie das Verlangen sie überkam; sie ließ ihn widerstandslos dahinströmen, den Sog des äußersten Strebens nach Lust, und die Erinnerung übernahm; im Jetzt, in dem Kasten reagierte sie, als wäre sie eins mit ihr, eins mit der Erinnerung, als würde sie sich strecken, strecken, eine letzte, minimale Anstrengung, und jetzt ging der Brennpunkt durch sie hindurch, und einen einzigen Augenblick lang war alles kristallklar, Gestalten, die Summe des Universums und aller seiner Teile spielten über sie hin, Feuer und Licht. Sie flog. Mit in sich ruhendem Körper; ihre Hände übten eine Macht aus. Dann gab es keine Lust mehr, kein Bedürfnis. Sie hatte einen letzten Gedanken in zusammenhängender Form, in wortähnlichen Begriffen, dann wurden die Worte immer schwächer. Das hatte sie also verloren. Es gab nur noch bildhafte Vorstellungen: Sie hatte eine Vision. Als sei sie aus sich herausgetreten, sah sie sich selbst, wie sie im Raum schwebte, und sie blickte zu sich zurück. Die Erscheinung erwiderte ihren Blick, indem sie von ein wenig oberhalb auf sie hinuntersah; sie trug ihren besonderen Pleth, den, der nur für hohe Zeremonien gedacht war, mit einer abstrakten Stickerei, die sich von oben nach unten in Form von sonderbaren kleinen Tupfen, die ein geheimnisvolles, aber erkennbares Muster bildeten, über die gesamte Vorderseite hinzog. Die Gestalt war barfuß. Die Ärmel in lockerem Wurf halb zwischen Ellenbogen und Handgelenk. Rundum schien ein bläulicher Raum die Gestalt einzuschließen, eine kreuzförmige Figur, aber mit einem zusätzlichen, sich klar abzeichnenden Balken vorn und hinten, und überall mit Winkeln von neunzig Grad.
Zusammengesetzt aus acht Würfeln. Die Gestalt hatte ihre Arme in die kubischen Räume an den Schultern gesteckt. Und dahinter, undeutlich zu sehen, da war noch etwas, ein gewölbter Schirm, ein großes Feld, riesig, die wahre Größe durch die Perspektive verzerrt. Sie konnte nicht sagen, wie weit entfernt es war. Muster, die der Stickerei auf dem Pleth ähnelten, aber unendlich verwickelter und komplizierter waren, füllten den Schirm mit ihrem Leben und ihren Bewegungen, wandelten sich in einer Weise, die ihr schmerzlich war. Das Mädchen war sie selbst, das wußte sie. Und jetzt drehte das Ich, das sie beobachtete, das traurig zu ihr zurückgeblickt hatte, seinen Kopf langsam nach rechts, als wolle es noch einmal das Muster, das hinter ihm lag, sehen. Das Gesicht wandte sich ab. Das Muster hörte auf, sich zu bewegen, und eine tödliche Stille erfüllte ihren Geist. Die Vision war jetzt leblos, auf ewig erstarrt. Sie verlor die Konturen, dann die Farbe, erlosch. Da war nur noch die vollkommene Dunkelheit.
Sie ließ sie dahinschwinden; sie wußte nun fast nichts mehr. Sie hatte gesehen, aber sie hatte nicht verstanden. Sie empfand Müdigkeit, Erschöpfung, aber auch Erfüllung, Befriedigung. Sie war schläfrig. Sie hatte keine Wünsche mehr, keine Bedürfnisse. Die Dunkelheit war nahe, aber sie fürchtete sie nicht; sie war eine Freundin, etwas, wonach es sie verlangt hatte. Sie hatte nun eine Menge vergessen, und es gab keine verwirrenden Bilder mehr. Nur noch ein paar zufällige Splitter sickerten durch. Sie beachtete sie nicht. Sie hatte an diesen Splittern überhaupt kein Interesse. Sie war schläfriger als jemals zuvor, schwer, sank hinab. Es war, als würde sie des Nachts in einem seichten Teich, im Sommer, unter einem bedeckten Himmel dahinschwimmen. Die Wärme wartete auf sie. Sie brauchte nichts zu tun, als sich abzustoßen und dahingleiten zu lassen. Es war so leicht. Es gab keine Zeit mehr, keine Dauer mehr. Jetzt war auch das verschwunden. Sie war frei. Das Universum fiel in einen Punkt zusammen, einen Punkt, undimensional. Sie wußte nicht mehr, wer sie gewesen war. Es gab keine Vergangenheit, es gab nichts, und was an Splittern übrigblieb, schien in keiner Weise einen Unterschied zu machen.
In keiner Weise. Überhaupt nicht.
Clane Oeschone, medizinischer Techniker des vierten Ranges, abgekürzt als MT4, war gerade auf seiner ersten Mitternachtsschicht des neuen Zyklus in der Nondestruktiven Auswertungsanlage, die an Gebäude 8905 angegliedert war; es handelte sich für ihn um eine neue Aufgabe, eine Aufgabe, die man als Beförderung ansehen konnte. Aber bis jetzt waren die ihm aufgegebenen Pflichten lächerlich einfach gewesen: Er hatte lediglich gewisse Versuchsapparate zu bedienen, die verschiedene Umweltkapseln zu Schulungszwecken zu sein schienen. Seine Verpflichtungen waren begrenzt, eindeutig spezifiziert und auf einen Techniker des vierten Ranges abgestimmt, wenn sie auch eigentlich mehr implizierten, als man gewöhnlich vom vierten Rang erwartete. Ja, in der Tat, dachte Oeschone. Immerhin bedeutete es doch einiges, einen programmierten Namen anzunehmen. Er hatte seinen alten Namen wie zufällig vergessen. Jenes Individuum existierte nicht mehr. So nahm man also den programmierten Namen an, und schon war man eine Stufe höher als der durchschnittliche Verdiener. Das öffnete einem die Türen zu den Spezialaufgaben, und in seinem Falle kam man dadurch aus der Unterabteilung Palliativa heraus.
Aber wie immer es sich auch zugetragen hatte, seine gegenwärtige Aufgabe war jedenfalls die Einfachheit selbst: Alles, was er zu tun hatte, war die von Hand zu bedienende Schalttafel zwecks eventueller Korrekturen zu überwachen, ständig in Alarmbereitschaft zu sein und die Registriergeräte instand zu halten, also, falls nötig, das Papier auszuwechseln, den ständigen Datenfluß den technischen Instruktionen entsprechend an die elektrostatischen Nadeln anzugleichen und anderes mehr.
Oeschone war, was seine Pflichten hier in 8905 anging, gründlich durch den die Abendschicht versehenden Techniker unterwiesen worden, einschließlich einer Beschreibung der Muster, auf die auf dem Multiencephalographen besonders zu achten war, und zwar normale Muster wie auch einige abnorme. Auch hatte er zum Nachschlagen eine Bedienungsanleitung da, in der Hunderte von Bedienungen und die Reaktionen darauf aufgeführt waren, welche er ebenfalls benutzen durfte. Er hatte sie flüchtig durchgeblättert; es war ein schwerer Band von mehreren hundert Seiten. Um vollkommen unvoreingenommen zu sein, hatte er nicht alles, was er darin gesehen hatte, auswendig gelernt; aber er hatte von dem Teil Kenntnis genommen, der davon handelte, wie man sich in Notfällen zu verhalten hatte, besonders von den Seiten, in denen es um spezifische Muster auf dem Millimeterpapier ging: Diese Fälle verlangten die Hilfe des medizinischen Technikers, der Bereitschaftsdienst hatte. Jene verlangten den Bereitschaftsarzt.
Oeschone warf einen trägen Blick auf die Maschine. Es war die einzige in dem Raum, mit deren Überwachung er beauftragt war. Vor ihm kratzten Nadeln mit einem schwachen, aber unangenehm monotonen Geräusch so regelmäßig wie ein Uhrwerk. Das Papier war an einer riesigen, leicht zugänglichen Trommel befestigt. Es lief unter den Nadeln hindurch und von da aus weiter auf eine ebenso umfangreiche Sammelspule. Oeschone machte eine Aufmerksamkeit verheißende Bewegung zu den Aufzeichnungen hin, die auf dem Millimeterpapier entstanden, obgleich er insgeheim sofort sich selbst gegenüber zugab, daß er von den Daten, die dort registriert wurden, nur den allereinfachsten und primitivsten Teil verstand. Aber wenn er auch nur begrenzt durchblickte, störte ihn dennoch nicht das Wissen darum, war Oeschone doch ein bescheidener Mann, der sich des Fortschritts seiner Karriere sicher sein durfte. Er hatte keinen brennenden Ehrgeiz, der sich an den laufenden Routineangelegenheiten hätte entzünden können. Er wußte auch, daß nie das zählte, was man tatsächlich tat, sondern vielmehr die Art, wie das, was man tat, angesehen wurde. Und hier war nun ein programmierter Name eine Münze, die ihren Wert hatte.
Er bückte sich und sah genauer hin, um herauszufinden, ob er das dort lesen konnte. Er sah nochmals hin; die Muster auf dem Papier, das sich unter den Nadeln bewegte, entsprachen keinesfalls der Norm. Er glaubte zumindest feststellen zu können, daß die Versuchsperson bei Bewußtsein war, aber sie schien sich in einem extrem entspannten Bewußtseinszustand zu befinden. Es war fast ein Alphawellenmuster. Aber nicht ganz. Er sah nochmals hin. Ja, es war offensichtlich; er verstand. Er konnte es lesen; sie war noch bei Bewußtsein, aber da war ein starker Phi-Faktor. Das war nun etwas, was er gelernt hatte. Das wies auf Halluzinationen hin. Vorübergehende, noch nicht die von der Art der Zwangsvorstellungen. Oeschone war beunruhigt und schlug in seiner Bedienungsanleitung nach, nur um sicherzugehen. Nach einer Weile, nachdem er den Text gelesen und das Schaubild abermals geprüft hatte, wurde er wieder ruhig. Es war nicht nötig einzugreifen. Abnorm, aber nicht außerhalb der Toleranzgrenze. Er kehrte zu seinem Stuhl zurück und setzte sich bequem hin.
Um Halluzinationen handelte es sich also? Nun gut, das war für ihn nichts Besonderes. Er ertappte sich allerdings dabei, daß er für einen Moment, jedoch ohne sich ernsthaft darüber Gedanken zu machen, überlegte, warum diese Person, wer immer sie sein mochte, in den Kasten, offensichtlich in die Isolierung, gesteckt worden war. Aber man konnte schließlich nie wissen, nie … Isolierung … Oeschone sah von dem Kasten weg. Dies war eine leichte Schicht; da war nichts dabei.
Selbst bei den Halluzinationen, die sie offensichtlich hatte, konnte die Person dort in dem Kasten noch Tage, Wochen durchhalten, bevor die Symptome bedenklich wurden oder eine der Alarmvorrichtungen losging und der medizinische Techniker kam, um den Kasten aufzubrechen, vorsichtig natürlich, unter Beachtung aller Vorschriften, warnenden Hinweise, Vorsichtsmaßnahmen und Erläuterungen des Bedienungshandbuchs. Aber es war immer dasselbe, wann immer man einen Isolierkasten öffnete: Jedes Mal fand man ein Wesen vor, das gefühlsmäßig ausgehungert war, das alles sagen, jedes Geheimnis verraten würde, ganz gleich wie trivial es sein mochte, wenn es dafür nur einen winzigen persönlichen Kontakt gab. Der Grund war die äußerste Angst, es war die Angst, sich dem unentrinnbaren Beweis der extremen Einsamkeit stellen zu müssen, und sie hatten sie stärker ausgenutzt, als je zuvor irgendein anderes Herrschaftssystem irgendeine Angst ausgenutzt hatte. Es war körperlich schmerzlos und hinterließ keine Spuren. An der Außenseite. Und einer, der in dem Kasten gewesen war, war absolut zuverlässig, vielleicht noch mehr als die höheren Ränge, wenn auch etwas zu zurückhaltend. Oeschone hatte Geschichten gehört … daß nach der Isolierung viele um eine kleine, leichte Folter bettelten, nur um wieder etwas spüren zu können. Um wieder in die Wirklichkeit zurückkehren zu können, so erniedrigend dies auch sein mochte.
Bedauernswert, solche Personen. Warum ließen sie es so weit mit sich kommen? Oeschone war sicher, daß er es nicht wußte. Oder wenn er es wußte, so wollte er es nicht wissen. Das kam letztlich alles auf dasselbe heraus. Aber sie kannten doch die Vorschriften, das System und die Folgen. Und nachdem sie getan hatten, was immer es war, was solche Leute taten, endete es immer auf die gleiche Weise: in dem Kasten. Oeschone betrachtete den Kasten. Eine dunkelgraue Konstruktion, etwas höher als er selbst, die die Stirnseite des Raums einnahm und so groß war wie ein Autobus, fast jedenfalls. Geräuschlos, bewegungslos, sauber, stark. Oeschone drehte sich um und ging zu seinem Stuhl, setzte sich hin. Er zog das Tastgerät auf seinem ausziehbaren Gestell zu sich heran, schaltete es ein. Er sah lange Zeit nicht wieder zu dem Isolator hinüber …
Einige Stunden später, als ihn das, was da in stets gleicher Wiederkehr auf dem Programm des Tastgeräts zu sehen war, allmählich langweilte, sah Oeschone etwas verzagt auf, überlegte, wieviel Uhr es sein mochte, und daß er gern eine Tasse Kaffee trinken würde. Er stand auf, streckte sich, blickte sich im Raum um, allerdings mehr, um seinen Augen eine Ruhepause zu gönnen als aus irgendeinem anderen Grund. Der Raum war ruhig, abgesehen von dem Rauschen der Luft in der Belüftungsanlage und dem leisen Kratzen der Nadeln auf dem Millimeterpapier. Das erinnerte ihn nach einer Weile an etwas. Schuldbewußt fiel ihm ein, daß er eigentlich alle fünfzehn Minuten die Ausgabeblätter hätte kontrollieren sollen. Aber er war nicht übermäßig beunruhigt; es handelte sich lediglich darum, seine Dienstprotokolle zu korrigieren. Er war davon überzeugt, daß nichts von Bedeutung vorgefallen war; es war noch nie etwas von Bedeutung vorgefallen. Oeschone ging zu dem Registriergerät hinüber, sah flüchtig auf das Schaubild, richtete sich wieder auf und nickte. Nichts hatte sich verändert.
Er sah noch einmal hin, da irgend etwas unterschwellig an seinem getrübten Bewußtsein zerrte. Er konnte nicht, wie rational er es auch zu betrachten versuchte, dem Verdacht aus dem Wege gehen, daß sich doch etwas kaum Wahrnehmbares, aber deswegen bei weitem nicht weniger Drastisches ereignet hatte, während er auf den Schirm des Tastgeräts geblickt hatte. Oeschone sah jetzt ganz genau auf das sich immer noch vor ihm entfaltende Muster. Da war doch etwas, da war er ganz sicher. Er mußte es finden.
Jede der Nadeln beschrieb ein besonderes Muster, und alles schien genau wie vorher zu sein. Genau wie vorher, als er sich zu seinem Stuhl hinbegeben hatte. Oeschone sah noch einmal hin, und ihm wurde flau im Magen. Nein, es war nicht genau wie vorher. Jetzt waren die gesamten Wellenlinien vollkommen regelmäßig, ohne die geringste Abweichung von welcher reinen Frequenz auch immer. Die gesamten Wellen waren so. Regelmäßige Wellenlinien, als ob sie von einem Computer erzeugt würden. Er beugte sich über die Sammelspule und begann, völlig außer sich, Papier von ihr abzuwickeln und dabei verzweifelt nach der Stelle zu suchen, an der die regelmäßigen Wellenlinien angefangen hatten. Er atmete auf; dann sank ihm vor lauter Enttäuschung wieder der Mut; er konnte sie nicht finden. Oeschone griff nach dem Alarmknopf, dem, der den Bereitschaftsarzt herbeirufen würde. Er würde schon wissen, was zu tun war.
Die unerklärlichen, immer gleichen Wellenlinien liefen ohne die geringste Veränderung oder Abweichung weiter, bis der Bereitschaftsarzt etwa vierzig Minuten später eintraf. Eine ansehnliche Gruppe begleitete den Arzt, offensichtlich Hilfspersonal, das er herausgeklingelt hatte. Oeschone versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.
Nachdem er die allgemeine Situation abgeschätzt hatte, nahm sich der Arzt der Dinge auf eine strenge Weise an, die im Widerspruch zu seiner jugendlichen Erscheinung stand. Das überraschte Oeschone zumindest nicht; Bereitschaftsärzte waren bestenfalls zähe Burschen, und er hatte noch nie von einem gehört, dem es Spaß gemacht hätte, während der Schicht herausgerufen zu werden. Es wurde allgemein fest angenommen, daß sie während der Schicht schliefen, und wenn man sie zu plötzlich weckte, knurrten sie natürlich wie die Bären. Aber, ob er nun knurrte oder nicht, auf jeden Fall war Oeschone insgeheim froh, den Arzt in Funktion zu sehen; Problem und Verantwortung lagen somit nicht mehr in seinen eigenen Händen. Vielleicht würde es noch irgendwie möglich sein, die Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken.
Der Arzt schien von Oeschone keine Notiz zu nehmen; ein Assistent faßte in eine voluminöse Tasche und zog ein gewichtiges blaues Lehrbuch daraus hervor, aus dem er rätselhafte Instruktionen und Begleitkommentare vorlas, zu denen der Arzt entweder zustimmend nickte oder irgendeine Handlung ausführte, wie zum Beispiel das Umdrehen eines Potentiometers, das Ablesen eines Zählers oder das Schalten eines Schalters. Sie führten diese Handlungen mit einer Zügigkeit aus, die sowohl Kenntnis des Gegenstandes wie auch beträchtliche Übung verriet. An verschiedentlichen Stellen während des Ablaufs dieser Handlungen pflegte der Arzt den Multiencephalographen zu konsultieren. Bei diesen Gelegenheiten pflegte er ebenfalls Oeschones Dienstprotokoll zu überprüfen, wobei er Oeschone einen wissenden Seitenblick zuwarf. Aber er sagte nichts. Nachdem man eine beträchtliche Zeit mit den vorbereitenden Maßnahmen zugebracht hatte, begann man, den Kasten auseinanderzunehmen, wobei man genau nach den Bestimmungen verfuhr, um nicht die empfindlichen Mechanismen durcheinanderzubringen, die für den Erhalt des Lebens verantwortlich waren. Als die vorbereitenden Handlungen abgeschlossen waren, kletterte der Bereitschaftsarzt dann auf den Kasten hinauf, wobei er sich an geschickt verborgenen Hand- und Fuß-Halterungen festhielt. Oben angekommen, öffnete er eine kleine Sichtklappe, leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in die Öffnung und blickte gespannt hinein.
Oeschone kannte das Routineverfahren, wenn er auch noch nie einem Notfall beigewohnt hatte; der Arzt würde nun von dem Kasten herunterklettern, ein paar weitere Handlungen verrichten und dann brummelnd zurücktreten, während das Personal die Demontage vollendete. Aber Oeschone wurde allmählich unruhig, denn es ging nicht auf diese Weise weiter. Statt dessen blieb der Arzt während einer überlang erscheinenden Zeit oben auf dem Kasten und starrte gespannt in die Öffnung. Dann veränderte er seine Stellung und blickte aus verschiedenen Winkeln in die Öffnung. Schließlich kletterte er kopfschüttelnd, dabei sehr bedächtig und gefaßt von dem Kasten herunter und ging langsam zu Oeschones Pult hinüber. Sein Gesicht wirkte hochrot und verärgert, wenngleich beherrscht.
„Haben Sie eine Außenverbindung?“ In der Tat lag mehr als Ärger über einen lästigen Störfall in der Stimme des Arztes.
„Selbstverständlich, Doktor Venle“, antwortete Oeschone, dem noch rechtzeitig einfiel, des Mannes Namensschild zu lesen, damit er ihn mit dem Namen anreden konnte. Dies war immer geeignet, Feindseligkeit abzubauen; um so mehr in diesem Falle, da der Arzt auch Inhaber eines programmierten Namens war. Oeschone hoffte nun, daß der Arzt die Geste zu würdigen wußte und sich erinnern würde, daß beide, er und Oeschone, schließlich einer privilegierten Gruppe zugehörige Kollegen waren. Oeschone fügte auch noch hinzu: „Gibt es ein Problem?“
„Stellen Sie nur erst die Verbindung her“, erwiderte der Arzt ungeduldig.
Oeschone kam der Forderung nach. Kurz darauf saß Venle an dem Pult und blickte streitlustig in den Empfänger. Die anderen Mitglieder der Rettungsmannschaft blickten erwartungsvoll auf Venle, als erwarteten sie weitere Anweisungen, aber er winkte nur ab, um ihnen auf diese Weise zu bedeuten, daß sie sich, was weitere Anweisungen betraf, zu gedulden hätten. An dem Pult leuchtete das Licht auf, das anzeigte, daß der Apparat betriebsbereit war.
Eine Stimme tönte aus dem Sprechgerät. „Hier Telephonist PZ. Bitte sprechen Sie.“
„Hier spricht Hilfsarzt Domar Venle, Dienstgrad vier, Stufe C. Ich wünsche eine dringende Konferenzschaltung, bei der die Terminals von Hirn-Doktor Siegele wie das des befehlshabenden Offiziers Eykor, Leiter der regionalen Sicherheit, zusammengeschaltet werden sollen. Allererste Priorität, Vollmacht Abteilung B.“
„Verstanden, Doktor Venle, aber es ist jetzt null-fünf-drei-null Ortszeit. Die von Ihnen genannten Beamten werden aller Wahrscheinlichkeit nach noch schlafen. Sie sind bekanntlich beide Tagesschichtarbeiter.“
Venle sagte sehr ruhig und gefaßt: „So, die schlafen also noch? Nun denn, dann wecken Sie sie auf.“ Dann fügte er boshaft hinzu: „Wecken Sie die Scheißkerle auf.“ Während der Telephonist noch zögerte, fügte er weiter hinzu: „Ich erwarte Verantwortungsgefühl von den Leuten. Ja, ich verlange es.“
Es entstand eine Pause, während der der Telephonist Venles Anweisungen nachkam und die beiden erwähnten Personen anrief. Es entstand noch eine weitere Verzögerung, während der die angerufenen Personen wach wurden und versuchten, etwas von ihrer Amtswürde zusammenzubringen, bevor sie sich in die Konferenz einschalten ließen. Aber schließlich teilte sich der Schirm vor Venle in zwei Hälften, und nebeneinander erschienen zwei Gesichter. Venle sprach als erster. „Telephonist, bitte nehmen Sie das Folgende auf Band auf.“
„In Ordnung.“
„Gut. Zunächst, Hirn-Doktor Siegele: Ist Ihnen die Natur der Versuchsperson bekannt, die in den Apparat zur Reduzierung der sinnlichen Wahrnehmung in Raum sieben-drei-null-fünf, Gebäude acht-neun-null-fünf eingeliefert wurde?“
Venle wußte sehr wohl, daß dem Hirn-Doktor dies nicht bekannt war. Es war lediglich eine einleitende Frage, die den Ranghöheren aus dem Gleichgewicht bringen sollte. Und das gelang auch. Siegele antwortete: „Natürlich weiß ich das nicht um fünf Uhr am frühen Morgen. Ich habe für gewöhnlich keine Dienstpläne in meinem Haus. Haben Sie mich deswegen zu dieser Stunde aus dem Bett holen lassen?“
Venle sagte: „Nun, lassen Sie es mich als erster Ihnen mitteilen. Sie haben eine, Anführungszeichen unten, lebende, Anführungszeichen oben, Ler in Ihrem Wunderkasten, darum geht’s.“
Das aufgedunsene Gesicht auf dem Schirm geriet in Bewegung, zeigte mehrere Gefühle auf einmal. Siegele sagte: „Aber Venle, das ist unmöglich. Ich erinnere mich an den Fall, und ich weiß genau, daß ich die Daten auf dem Info gesehen habe; Sie müssen sich irren. In dem speziellen Apparat befindet sich eine unbekannte weibliche Person, ein Fall von Vandalismus oder so etwas.“
„Jemand hat gelogen“, sagte Venle scharf. Er machte sich keine Mühe, seine Freude über die Bestätigung eines lange gehegten Verdachts zu verbergen: nämlich daß der Hirn-Doktor Siegele ein reiner Bürohengst war, der keine Ahnung hatte von dem, was in seinem Ressort vor sich ging. „Ja, so ist es. Die Daten waren nicht korrekt. Es ist schon eine Frau; ich habe nachgesehen. Aber es ist kein Mensch. Bei einem von ihnen müßte ich das Alter schätzen … sie scheint in der mittleren Reifezeit zu stehen, über fünfzehn, unter fünfundzwanzig. Kleine Brüste, gut gebaut, kein Schamhaar. An der Außenseite beider Hände ein zweiter Daumen. Das hört sich für mich doch ganz nach einer Ler an. Und Sie kennen die Vertragsbedingungen ebensogut wie ich: keine Haft und keine Experimente. Alle Verdachtspersonen sind unverzüglich an das Institut zu überführen. Sie und ich, wir beide werden dafür büßen. Wie lange war sie schon isoliert?“
Eykor, der allmählich die Fassung zurückgewann, mischte sich ein. Er war ein pferdegesichtiger Mann mit einem zerzausten, rötlichen Haarschopf. Aber trotz seiner rauhen Erscheinung war er sowohl höflich als auch beherrscht. „Das ist kein Problem, Venle. Wir haben die Person auf diese Weise auf unseren Listen vermerkt. Alle vorhandenen Unterlagen wurden durch meine Leute frisiert. Worin besteht also das Problem? Noch genauer gefragt, wie sind Sie eigentlich dort hingekommen?“
„Ich glaube, ich kann den Grund ganz kurz darlegen: Ich wurde durch einen Alarm gerufen, den Ihr Idiot von einem Nachtwächter sechs Stunden zu spät geschlagen hat. Der Versuchsperson, wie Sie sie zu benennen belieben, ist es irgendwie gelungen, sich ihres Geistes zu entledigen. Da ist nichts mehr. Sie haben jetzt noch eine lebende Leiche, Herr Inquisitor, aber das ist auch alles. Wenden Sie Ihre Methoden mal darauf an. Sie reagiert praktisch auf nichts mehr. Ich würde schätzen, sie ist jetzt wie ein neugeborenes Kind, wenn sie überhaupt noch etwas ist.“
Siegele begann zu stottern: „Aber, aber …“
Eykor unterbrach Siegele. „Diese Konferenz wird als geheim eingestuft nach den Bestimmungen der Verordnung Nummer vier-null-eins-fünf, Ergänzungsparagraph B und kommt hiermit unter Verschluß. Alle diesbezüglichen Bandaufnahmen werden an diese Dienststelle, Abteilung S, weitergeleitet. Telephonist?“
„Ist in Ordnung, Sir.“
„Venle, setzen Sie Ihr Verfahren fort, und warten Sie auf mich. Ich werde sofort dort sein.“
„Ausgezeichnet.“
„Und Sie, Telephonist, setzen für mich einen Termin mit dem Vorsitzenden Parleau fest. Selbstverständlich würde man taktvollerweise darauf hinweisen, daß ein solches Treffen in seinem Belieben steht, aber es sollte so früh wie möglich stattfinden.“
„In Ordnung. Das wird sofort zu Ihren Wünschen erledigt. Soll ich Mitteilung an Ihr Büro machen? Das Büro des Bezirksvorsitzenden wird frühestens in etwa einer Stunde geöffnet sein.“
„Melden Sie sich persönlich bei mir in Zimmer sieben-drei-null-fünf, Gebäude acht-neun-null-fünf. Venle?“
„Hier.“
„Ihr Verhalten grenzt an Gehorsamsverweigerung.“
„Das hat man bereits festgestellt, Sir. Aber ich muß dazu sagen, daß, wenn ich in bezug auf eine Bestimmung gefehlt haben sollte, Ihr Büro sicher in bezug auf eine andere gefehlt hat, was vielleicht noch ernstere Folgen nach sich ziehen wird. Ich muß auf meinem Recht bestehen, frei und ohne jegliche Repressalien auf Irrtümer, wie geringfügig sie auch sein mögen, hinzuweisen.“ Venle zitierte.
„Oh, Ihre Rechte habe ich voll und ganz zur Kenntnis genommen. Lassen Sie sich von der weiteren Ausübung Ihrer Pflichten nicht abhalten. Ende.“ Eykors Schirmhälfte wurde ausgeblendet. Slegeles aufgedunsenes Gesicht füllte die ganze Bildfläche. Venle tat es wirklich leid, den Hirn-Arzt in die Angelegenheit hineingezogen zu haben. Der Mann war einfach nicht darauf vorbereitet.
Zu Siegele sagte er: „Wir kriegen sie schon wieder hin, ganz bestimmt. Glücklicherweise habe ich mein eigenes Personal mit hergebracht. Aber ich werde trotzdem noch Hilfe brauchen; können Sie sich mit der Rekonvaleszenz-Zentrale in Verbindung setzen und mir ein paar, äh … Kinderärzte herüberschicken?“
Siegele stotterte: „Selbstverständlich, wenn Sie sie brauchen. Aber wieso Kinderärzte? Ich verstehe nicht …“
Venle sagte geduldig: „Anscheinend hat das Mädchen, was immer sie ist, jetzt nur noch die Reflexe, die sie als Säugling hatte. Sie atmet, sie hat einen kräftigen Puls, ihr Blut ist in Ordnung, obwohl ich da noch in einigen anderen Handbüchern nachsehen muß. Aber die Reflexe eines Säuglings! Man wird sich um sie kümmern müssen: Sie ist ein Säugling mit einem voll ausgebildeten Gebiß. Sie wird sich die Zunge abbeißen, bevor sie merkt, wofür die kleinen Beißerchen gedacht sind. Und was sagen wir ihren Leuten, wenn sie, was sie ganz sicher tun werden, sie holen kommen? Daß es uns verdammt leid tut? Sie ist offensichtlich eine Heranreifende. Noch nicht im gebärfähigen Alter. Sie werden das ganze Haus auf den Kopf stellen, wenn sie etwas herauskriegen.“ Venle überlegte einen Moment und fuhr dann fort: „Und eine Schande ist es sowieso; sie ist recht attraktiv, wenn auch etwas kindlich für meinen Geschmack.“
Siegele, der gerade aufgewacht war, unterbrach Venles Gedankengang. „Woher sollen sie wissen, daß sie vermißt wird? Und selbst wenn sie es wüßten, woher sollen sie wissen, daß sie gerade hier nach ihr suchen müssen?“
„Ich nehme doch an, daß ihre Abwesenheit irgend jemandem sonderbar vorkommen wird. Diese Leute leben auf sehr engem Raum, wissen Sie. Und es wird keines Genies bedürfen, um auf Gebäude acht-neun-null-fünf zu kommen. Natürlich können wir das Ganze immer noch leugnen, aber das würde auch bedeuten, daß wir ihren Körper loswerden müßten. Und viele andere, die etwas darüber wissen. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?“
„Ja … ich glaube schon. Wir könnten immer noch sagen, daß sie sich selbst so zugerichtet hat, oder? Dafür kann man uns doch nicht verantwortlich machen.“
„Ich möchte meinen, daß es einen Versuch wert wäre. Aber ich sage Ihnen eins: Sie und ich haben mehr von unseren eigenen Leuten zu fürchten als von denen. Kapiert?“
„Das ist Zynismus.“
„Realismus würde ich als Fachausdruck vorziehen … Ich weiß, daß diejenigen, die Vorgänge wie diese in Gang bringen, nie dafür geradestehen müssen. Die richten es schon so ein, daß ein anderer die Zeche bezahlt. Ich bin nicht in Gefahr, aber Sie könnten es sein. Sichern Sie sich ab. Ich werde für Sie tun, was ich kann.“
„Wir wollen beide hoffen, daß es nicht so weit kommen wird. Aber ich bin Ihnen auf jeden Fall dankbar.“
Venle meldete sich angeekelt ab und machte sich wieder an die Arbeit mit der Insassin des Kastens, wobei er Oeschone, außer in seinen ureigensten Gedanken, die feindseliger Natur waren, ignorierte; Venle nahm seine Arbeit weitaus ernster als seinen Status, und eine besonders starke insgeheime Abneigung betraf diejenigen, die sich um programmierte Namen bewarben und glaubten, dann für den Rest ihrer Tage nichts mehr tun zu müssen. Diese Karrieremacher, schimpfte er unhörbar. Es gab nun wirklich zu viele davon und keine echte Möglichkeit, an sie heranzukommen.
Nicht sehr viel später wurde das Mädchen vorsichtig aus dem Kasten gehoben und fast zärtlich auf die bereitstehende Bahre gelegt. Sie war, wie Venle schon vorher bemerkt hatte, sehr hübsch. Nun, da sie aus dem Kasten heraus und im hellen Licht war, war sie noch mehr als das. Ihr Haar war von einem glänzenden, kräftigen Dunkelbraun, fast schwarz, das auf die Art getragen wurde, wie sie die heranreifenden Ler besonders liebten, nämlich in einer einfachen Kurzform, ähnlich einem hinten spitz zulaufenden, in menschlichen Augen jungenhaften Rundschnitt. Das Gesicht war gleichzeitig fein und zart, oval bis dreieckig, und es erhob sich über einem kleinen, aber nicht unausgeprägten Kinn bis zu großen, tiefliegenden Augen hinauf, die von merkwürdig hellbrauner Farbe waren. Sie hatte eine kleine, sehr gerade Nase, und die Lippen waren eher spitz als voll zu nennen. In dem Gesicht war nicht die kleinste Falte, aber es war ein markantes Gesicht, das von unzähligen festen Absichten, wie sie der Erwachsene hat, erfüllt war und mit noch etwas: einer Traurigkeit, etwas wie Sehnsucht, etwas Jenseitigem, zutiefst Emotionalem. Von dem Kopf aus führte ein schlanker, zierlicher Hals zu einem straffen, athletischen Körper mit weichen Rundungen hinab, der absolut weiblich war und dessen Hauttönung von verblaßtem Honig-Oliv war. Venle betrachtete sie lange und seufzte. Es gab nur eins, was an ihr nicht richtig war; sie hätte ein Mensch sein können, wenn nicht die Hände gewesen wären. Die Hände waren schmal, dreifingrig, mit einem Daumen an jeder Seite, wobei beide Daumen schmaler waren als die des Menschen. Außerdem waren ihre Hände stark und knochig und standen damit ein wenig im Widerspruch zum übrigen Körper. Venle betrachtete noch einmal das Gesicht, das nun entspannt war. In den Konturen und weicher gewordenen Flächen des Gesichts des Mädchens zeichnete sich der Anflug eines Lächelns ab, etwas unsagbar Feines, etwas um die Augen- und Mundpartie; davon abgesehen, war das Gesicht jetzt jeden Ausdrucks bar. Niemand von den anderen bei Venle konnte sich recht entsinnen, wo er ein solches Lächeln schon einmal gesehen hatte, wenn überhaupt.