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Jedes Wort, das wir aussprechen, muß das Unwissen mindern und das Rätsel vergrößern.
Ibid
Die wirklichen Anfänge einer Reise liegen weit vor der körperlichen Abreise.
Enosis ton Barbaron
Mevlannen begann: „Und jetzt werde ich dir einen harten Schlag nach dem anderen versetzen, Morlenden Deren. Es ist so: Wir, die verhätschelten und beschützten Raritäten, wir, die wir ein Leben leben, das von den Vorläufern als gar zu landwirtschaftlich und übermäßig sexuell charakterisiert wurde, wir, die wir uns angeblich vor jedweder Technologie fürchten … Wir besitzen ein Schiff für den tiefen Raum, Schiff und Arche, Schiff und Waffe, das uns alle zu einer neuen Welt jenseits der Sterne hätte bringen sollen, auf unsere eigene Welt.“
Morlenden hörte ihr zu, hörte ihre Worte klar und deutlich, ohne sie mißzuverstehen, aber zugleich fragte er sich, ob die Nachricht vom Tod Maellenkleths nicht ihre geistige Gesundheit untergraben hatte, ob sie vielleicht eine ungenaue Legende wiederbelebte, die seit mehreren Jahrhunderten im Reservat kursierte. Sie hatte die Nachricht ruhig aufgenommen, zu ruhig, und jetzt waren ihre Worte von romantischer Tapferkeit … Oder stimmte es? Ohne seinen Unglauben zu verbergen, fragte er: „Du meinst eine Maschine, wie die Menschen sie bauen und benutzen, um Personal zum Teleskop zu befördern? Und diese würde uns … uns alle zu einer anderen Welt bringen? Abgesehen davon, daß es absurd ist – wo ist ein derart großes und schweres Ding untergebracht, daß es niemand in all diesen Jahren gesehen hat?“
„Ich werde deine Einwände beantworten, einen nach dem anderen. Unser Sternenschiff gleicht den Schiffen der Vorläufer nur in zwei Punkten: Es bewegt sich im gleichen Medium, und es transportiert lebende Wesen durch den leeren Raum. Aber nicht die Endfunktionen bestimmen die Dinge, sondern allein die Art und Weise ihres Gebrauchs. Das Mittel, nicht der Zweck. Und die Mittel bestimmen die Form des Werkzeuges. Aber ja, ursprünglich war es für uns alle gedacht, und ja, es wird zu den Sternen fliegen, soweit dies notwendig wird. Und vor allem, ja, es ist momentan versteckt, aber bald wird es ans Licht gebracht werden. Und um dieses Geheimnis zu schützen, bezahlte Maellen den Preis, ihren Preis, ihren Wert. Und weshalb dir bisher nichts gesagt wurde, weshalb du nie etwas davon geahnt hast? Es war schon ein Geheimnis, bevor es ein Reservat gab, genaugenommen ist es der einzige Grund, daß es so etwas wie das Reservat – eine ruhige und von den Kämpfen dieser Welt isolierte Zone – überhaupt gibt. Und es hat nie eine undichte Stelle gegeben, weder zu jener Zeit, als dies alles nur ein Traum war, eine Theorie, noch, als es im Bau war, und erst recht nicht jetzt, da es fast fertig ist.“
„Es muß aber eine undichte Stelle gegeben haben, denn es gibt Legenden, gemeinsames Wissen unter den Kindern, obwohl wir sie alle früher oder später als Unsinn abtaten. Wer konnte sich so etwas vorstellen?“
„Legenden? Wir haben die Legenden genährt. Wir, Morlenden, die Perklarens, die Terklarens, die Revens, die Libellenhütte, wir, die wir Kal Hrunon sind, der Regierende Schatten. Wir hielten sie lebendig, so daß wir, wenn alles bereit war, wenn man es brauchte, einen Wahrheitssprecher senden und darauf vertrauen konnten, daß die Leute dem Ruf Folge leisten.“
Und jetzt hielt Mevlannen inne, dachte nach, suchte nach einem eleganten Einstieg in die Geschichte, die sie ihr ganzes Leben lang jemanden hatte erzählen wollen, einem Fremden vielleicht, es jedoch nie getan hatte. Aber sie hatte ihr ganzes Leben in der Gemeinschaft jener gelebt, die diese Geschichten kannten, deren ganzes Leben aus einem komplizierten Tanz um einen Punkt bestand, zu dem sich alle bekannten, einer verstandenen, unausgesprochenen, akzeptierten, jedoch unsichtbaren Basis ihres Lebens.
Sie begann erneut: „Es begann damals, als sie mit dem Verweben anfingen, dem Gesetz, dem Weg. Vor der Zeit des Reservats. Du mußt das verstehen. Die ganze Sache mit uns, die gesamte Kultur, die Art, wie wir empfanden, alles wurde konstruiert, um Beobachter von außerhalb davon zu überzeugen, daß es so etwas nie von den Leuten geben könnte. Ein gigantischer Taschenspielertrick, der sogar den Magier selbst täuschen mußte – jedenfalls zum größten Teil. Und natürlich war er erfolgreich, wie du als erster zugeben wirst. So erfolgreich, daß sogar unsere eigenen Leute der Meinung sind, es sei nicht mehr als ein Kindermärchen; so erfolgreich, daß die Tarnung von ganz allein Wurzeln geschlagen hat und jetzt ebenfalls den inneren Langzeitplan leitet. Die Werte der Tarnung haben jetzt den eigentlichen Plan durchdrungen. Und wenn wir die Erde verlassen, dann sind die Konzepte und Lebensweisen, die wir mitnehmen, um sie auf fremden Boden zu verpflanzen, nicht mehr die Werte der Initiatoren des Plans, sondern die des Schattenspiels, das sie in all diesen Jahrhunderten schützte.
Anfangs waren wir uns nicht sicher, ob es zu schaffen war. Es war eine Hoffnung, eine Theorie, ein Glücksspiel. Allerdings war die Vorahnung, daß es gelingen könnte, so stark, daß wir sie nicht ignorieren konnten, und so fing man am Berg, den man den Berg des Wahnsinns oder auch nur Wahnsinn nennt, damit an. Vorsichtig, bedächtig, wurde er von innen her ausgehöhlt, anfangs nur um jeweils eine Handvoll, dann eine Taschenfüllung, um Platz für die Arche zu schaffen. Und ebenso allmählich entstanden und manifestierten sich in den rauchigen Meditationsräumen der Libellenhütte die Prinzipien. Damals entdeckten wir, daß das gesamte Vorstellungspotential über Raumreisen, unter dem wir gearbeitet hatten, falsch war, voller Grenzen, die wir niemals überschreiten würden … Als würde man versuchen, ein Flugzeug mit kohlebefeuerten Dampfmaschinen anzutreiben. Es würde nie fliegen, und sollte es das zufällig doch tun, so würde es uns oder wen auch immer nirgendwo hinbringen.
Nun war der Raumflug von den Vorfahren in Angriff genommen worden, und sie haben eine Menge guter Arbeit geleistet, Fakten geschaffen, die wir in dem Programm, an dem ich beteiligt bin, noch immer verwenden. Aber sie sind begrenzt, wie jedes Kind sehen kann, und um diese Grenzen zu umgehen, wurden eine ganze Reihe von Phantasievorstellungen ausgeheckt, die allein, streng wissenschaftlich behandelt, nirgendwo hinführen. Wie sah der Grundgedanke aus? Daß man sich im Raum gemäß Newtons verdammten Bewegungsgesetzen bewegt: Druckantrieb, Ausnutzung des Willens, das Feuer-Element, chemische Raketen, Ionen-Antriebe, Solarwind-Segel. Alles falsch. Es war genau wie damals, als die Vorläufer in der Vorgeschichte das erste Mal zur See fuhren … Sie konnten nur natürliche Kräfte nutzen – Auftrieb, schwimmende Schiffe mit Segeln, um den Wind darin zu fangen, von der Flut ins offene Meer hinausgespült. Und wir, die wir an den Ufern eines neuen und furchtbaren Meeres standen, wir taten dasselbe: Wir griffen ebenfalls auf Gezeiten, Winde und Strömungen zurück. Mit dem einen Unterschied, daß dies Analogien waren, fremdartige Formen des Energiestroms in einem vielfältigeren Universum.“
„Ich habe eine gewisse Kenntnis von der Welt“, sagte Morlenden. „Du meinst also, daß ihr unmittelbar Schwerkraft, Solarwinde und solcherlei Dinge anzapft?“
„Nein.“ Ihr scharfgeschnittenes und doch zartes Gesicht zeigte Konzentration, Anspannung. „Die Dinge, von denen du sprichst, die Prinzipien, sind Ableitungen n-ter Ordnung jener Basiskräfte, mit denen wir arbeiten. In deinem Wissen gibt es keine Begriffe für diese Strömungen, die Ströme, die Kräfte, die Konzepte. Und wir haben dafür gesorgt, daß dies für immer so bleibt, bis wir bereit sind, das Geheimnis preiszugeben.
Wir haben gesehen, daß der Raum ein Meer ist, das große Meer. Und wir sahen die Analogie von der einen Art Meer im Vergleich zu den Schiffen des anderen Meeres. Gerade so, daß wir in Single-Sprache ein mit Leuten bemanntes Behältnis, das sich kontrollgemäß in diesem Medium bewegt, noch Schiff nennen.
Der Fehler des alten Konzeptes lag darin, daß wir von Anfang an versuchten, einen Bocksprung zu angetriebenen Schiffen, Schiffen mit Treibstoff, zu machen, noch bevor wir die Natur dieses neuen Meeres kannten. Oder die Energie-Arten, die wir nutzen konnten. Dann sahen wir es. Und verstanden. Und dann wußten wir auch, warum wir es nicht mit einem Modell testen konnten. Du wirst es auch sehen. Also bedrängten wir die Denker, die Theoretiker. Manche brachen unter der Anstrengung zusammen, andere zogen sich empört oder entmutigt zurück. Aber stets waren einige an der Arbeit, und endlich wußten wir genug, um anzufangen. Dann wurden die Spieler-Weben ins Leben gerufen: die ersten waren die Klarens, die die Per-Klarens werden sollten, dann wurde die zweite Spieler-Webe hinzugefügt, die Ter-Klarens. Und so sind wir geblieben, bis zu dieser letzten Generation.“
„So seid ihr geblieben. Warum?“ fragte Morlenden mit einer Spur von Sarkasmus in der Stimme. „Ehrlich, warum? Etwa, um dreihundert Jahre lang ein ablenkendes Spiel zu spielen?“
Sie lachte, ein helles, neckisches, silbriges Lachen. „Nein, nein. Ihr alle seid sorgfältig dazu verleitet worden, anzunehmen, die Wurzel klarh sei der Erdaspekt: ‚spielen.’ Daher auch: die Spieler … Es ist nicht der Erdaspekt: es ist das Feuer, und das heißt …“
„… fliegen! Nicht Spieler – sondern Flieger!“
„Ja, wirklich, fliegen, aufsteigen, auf den Strömungen treiben. Wir sind keine müßigen, privilegierten Unterhalter, Morlenden Deren, wir sind die Piloten – die Astrogatoren der Großen Arche, des einen Schiffes. Es gab keine andere Möglichkeit, das Können und Wissen am Leben zu erhalten – außer in einem öffentlichen Spiel, einem Spiel, das jeder sehen, von dem jeder denken konnte, er kenne es.“
„Sehr gut. Aber was hat das Spiel mit dem Fliegen zu tun? Dank Krisshantem kenne ich das Spiel, aber ich kann nicht sehen …“
„Die harte Frage, deshalb die harte Antwort. Laß mich für dich eine dynamische Identifikationsreihe aufstellen. Denke an Fahrzeuge. Du baust einen Karren, einen Wagen, spannst ein Pony davor und fährst los. Sein Zweck ist es zu fahren, aber man kann ihn anhalten, und er verändert sich nicht oder hört auf, ein Karren zu sein. Ja? Jetzt denke an ein Fahrrad, das im Gleichgewicht gehalten werden muß, wenn es fahren soll. Ja? Jetzt ein Flugzeug; es kann nur angehalten werden, wenn es kein funktionelles Flugzeug mehr ist, ja? Man kann es nicht einfach irgendwo anhalten, und schon gar nicht in der Luft, es sei denn, es hat Rotoren, was einfach heißt, das System zu überlisten. Ja? Und jetzt der Sprung zum Schiff. Es ist ein Quantensprung in eine neue Vorstellung von Maschinen, wenn dies überhaupt das passende Wort dafür ist. Früher hatten wir Maschinen, die man abschalten konnte. Je komplizierter sie wurden, desto schwerer waren sie abzuschalten. Mit dem Schiff betreten wir eine Vorstellungswelt von Maschinen, die nicht abgestellt werden können – überhaupt nicht. Sie müssen an sein, um zu existieren. Sobald ihr Bau ein gewisses Stadium erreicht hat, ist sie an, und das ist alles, was dahintersteckt. Und wenn man es baut, so baut man etwas ganz Besonderes … Das ist das Gesetz der Vielfältigkeit. Je entwickelter die Maschine, desto einzigartiger wird sie.
Nun, diese Maschine kann nur auf eine Art und Weise an sein, existieren. Ein Raumschiff, das nicht abgeschaltet werden kann. Nun sind allerdings im wahren Modus dieser Existenz die Gesetze, die wir beschränkten Lebewesen wahrnehmen, so begrenzt, daß sie so gut wie nicht anzuwenden wären. Man sieht nicht aus einem Fenster, um zu sehen wohin man fährt! Jener Raum, den das Schiff wahrnimmt, in dem es sozusagen operiert, ist für Wesen wie dich und mich chaotisch, bedeutungslos und gefährlich, nehmen wir ihn direkt wahr. Falls wir dies überhaupt können. Eine direkte Konfrontation ist zerstörerisch für den Verstand von Primaten, ja, für das ganze Nervensystem bei Wirbeltieren. Gegenwärtig ist die Libellenhütte sogar der Ansicht, daß dieses zugrundeliegende Realitäts-Universum auf jeden Verstand zerstörerische Auswirkungen hat, ganz gleich, wie er sich zusammensetzt, ob natürliche oder roboterhafte Lebensform. Grundlegend für das Universum: Seine innerste Realität kann nicht wahrgenommen werden. Eine Grenze. Deshalb schalten wir einen Symbolisierer zwischen, der den Anblick so übersetzt, daß wir ihn wahrnehmen und kontrollieren können. Und wir müssen ihn kontrollieren, denn wie dereinst das Segelschiff, kann auch unser Schiff nicht unkontrolliert existieren, und es kann keinen Automaten geben, der das für uns macht. Es wird manuell geflogen, die ganze Zeit hindurch; selbst, um es in unserem Wahrnehmungsfeld auf der Stelle zu halten. Denn auf der Realitätsstufe, an der wir hier arbeiten, ist wahrnehmen gleich handhaben. Taucht man tiefer ins Rätselhafte ein, werden diese beiden Begriffe einander immer ähnlicher, sogar die Vorläufer wissen das. Aber beim Schiff kommen sie zusammen.“
„Und ich verstehe: der Symbolisierer zeigt ein Spiel …“ sagte Morlenden, nachdem er einen Moment lang überlegt hatte.
„Genau so ist es. Das ist das Innere Spiel. Und das Äußere Spiel, das wir in der Öffentlichkeit gespielt haben, ist eine stark vereinfachte Form dessen, was wir im Sensorium – Bildschirm und Kontrollsystem gleichermaßen – sehen. Nicht kombiniert – es ist wirklich beides. Daß wir Funktionen getrennt sehen, ist ein Maß für unseren Abstand zum Ewigen. Es ist exakt genug, aber natürlich können gewisse Konstellationen im Äußeren Spiel nicht erreicht werden, da diese ebenfalls zum Flug führen würden, und ein offener Spielschirm ist kein Schiff, in dem man fliegen kann, sondern nur ein nicht gehißtes Segel.“
„Es … flattert davon?“
„Ja, so ungefähr. Sehr gut. Und in der zweidimensionalen Darstellung haben wir das Mosaik: dreieckig, viereckig, fünfeckig, sechseckig, achteckig, obwohl dieses letzte Löcher im Kontinuum läßt, und darin geschehen unkontrollierbare Dinge. Diese symbolisieren die verschiedenen Arten des Raumes, die wir nutzen können … Raum-drei, Raum-vier, Raum-fünf, Raum-sechs und Raum-acht. Jeder hat eine andere Ausdehnung und etwas, das ihn wahrnehmen und kontrollieren kann. Wahrlieren wird beidem gerecht. Innerhalb gewisser Grenzen können wir die Entfernungen beliebig festlegen.“
„Ich verstehe. Wenn man das Schiff fliegt, spielt man in Wirklichkeit ein kompliziertes Spiel, in dem der Raum selbst die Rolle des Gegners innehat.“
„Ja. Und es gibt keine Möglichkeit, zu üben und dabei die Anlage des Schiffes zu gebrauchen. Da ist simulieren gleich ersetzen. Deshalb erfanden wir das Äußere Spiel, das Öffentliche Spiel, um uns in den Grundlagen trainiert zu halten und um bereit zu sein, wenn die Zeit kommen würde.“
„Gehörst du zu den Pilot-Astrogatoren?“
„Nein. Ich hätte dazugehört, wenn entweder Maellen oder ich von männlichem Geschlecht gewesen wäre. Vier Piloten und nicht weniger benötigt man, um sich dem zu stellen, was der Symbolisierer abbildet … Deshalb wurden die Weben erfunden. Dies ist der tatsächliche Grund. Nicht der genetische Grund, den wir gebrauchen – daß damit die notwendige Kontrolle und Vermischung der Gene erfolgt. Das ist ein Vorwand. Verstehst du? Es müssen vier sein, und die einzige Webe, die halten wird, ist die sexuell-emotionell geprägte. Du wirst es jetzt noch nicht verstehen, aber ich sage dir trotzdem – und du mußt es mir glauben –, daß man das Spiel im Schiff nicht als Job, Berufung, Karriere oder Erholung angehen kann. Im Gegenteil. Hier geht es um Leben und Tod. Im Inneren Spiel nennen wir das Spiel Dhum Welur, den Geist Gottes. Und es ist ein furchtbarer Geist, man kann ihm nicht direkt gegenübertreten und dabei intakt bleiben. Einige der Vorläufer haben es vor langer Zeit erfahren – zuerst die Hebräer, vor sehr langer Zeit, andere am Wege, und sie ließen ihn klugerweise in Ruhe, ließen die Mysterien in Ruhe. Deshalb waren jene, die die okkulten Künste studierten, entweder Narren oder dem Untergang geweiht. Narren, wenn sie unrecht hatten, und das hatten die meisten, dem Untergang geweiht, wenn sie recht hatten. Die Vorläufer wissen es und halten sich fern.“
„Ist es so fremdartig?“
„Ja. Unvorstellbar … Ein Beispiel: Wir werden ins Freie gehen und zum Himmel hinaufschauen. Wir werden Wolken sehen, wie sie vom Sturm dahingetrieben werden, und durch Risse in den Wolken die Sterne. Ziemlich normal, kann man sagen, doch ich habe denselben Himmel und dieselben Wolken-der-Welt in Raumdrei gesehen … Es ist anders, voller Schrecken … voller Dinge, die wir nicht verstehen, geschweige denn meiden können, andersartige Dinge …“
Sie hielt einen Moment lang inne und lauschte in sich hinein. Dann fuhr sie fort: „Deshalb nehme ich an, daß es auf diese Art und Weise weitergegangen wäre, endlos … Aber das Schiff näherte sich der Vollendung, und man glaubte, daß die Zeit der beiden Spieler-Weben zu Ende und die Täuschung der Öffentlichkeit nicht mehr lange aufrechtzuerhalten sei. Daher nahmen die Perklaren-Innenverwandten, die sich zu jener Zeit gerade verweben wollten, als Angehörige der höhergestellte Webe eine Droge, die den normalen sexuell-selektiven Prozeß der Innenverwandten{42} für die Dauer dieser Generation abbrach. Sie wußten, daß sich hierdurch die Toorhon als von demselben Geschlecht herausstellen würden, aber sie wußten nicht, welches Geschlecht es sein würde.“
„Sie machten es absichtlich?“
„Ja. Und es wäre nicht … sollte nicht von großer Wirkung sein. Aber das ist eine der Ironien des Spiels, denke ich. Es läßt einen nicht mehr so leicht los. Man kann das Schiff nicht abschalten und das Spiel nicht einfach mir nichts dir nichts verlassen. Es fordert seinen Tribut. So, und hier nun die Essenz all dessen: Sanjirmil war durch die von den Perklaren-Innenverwandten vor der Geburt meiner Generation vorgenommenen Handlungen zur Erbin des Spiels bestimmt. Aber Sanjirmil ist im Grunde genommen überhaupt nicht dafür geeignet. Was das Spiel anbelangt – und nur das Spiel –, ist sie ohne Schwung und – nun, dumm. Sie hat einfach nicht das Gefühl dafür, obwohl sie auf anderen Gebieten durchaus befähigt ist. Maellen hingegen hatte ein angeborenes Talent dafür, das beste, das wir je hatten. Ironie des Schicksals oder Zufall: Sie war ein Naturtalent, das einzige, das je geboren wurde. Ein Genie. Aber es war zu spät, die Dinge waren viel zu weit gediehen, der eigene Schwung riß uns mit sich, und vielleicht kontrollierte das Spiel inzwischen uns und wollte uns eine Lektion erteilen. Ich weiß nicht. Aber so, wie es stand, wäre es grausam genug gewesen. Aber dies berührt ein anderes Problem …“
„Und das wäre?“
„Ich sagte, das Schiff sei eine Maschine, die man nicht abstellen könnte. Daß es nicht möglich ist. Daß es – nachdem die Konstruktion einen bestimmten Punkt erreicht hat – an ist, aktiviert, und einen Teil der Verantwortung übernimmt, sich selbst zu bauen, sich selbst zu vergrößern, während es gesteuert wird. Und folglich schaltete es sich an diesem Punkt selbst ein, und der Flug beginnt, ob es nun fertig ist oder nicht! Wir wußten, daß es so kommen würde – die Theoretiker hatten es vorausgesagt. Schließlich ist es keine sonderlich schwere Prognose. Du oder ich, wir hätten sie ebenso stellen können. Nur der Zeitpunkt, zu dem es geschehen würde, stand nicht fest. Deshalb die beiden Spieler-Weben. Die künstliche Rivalität sollte uns aufmerksam und vorbereitet halten. Und es war sowohl gut wie auch schlecht, daß es die Terklarens während dieser Generation so gut gemacht hatten. Ein böser Stern stand über unserem Geschick. Nun, der Flug begann vor fünfzehn Jahren.“
„Etwa zur Zeit von Taskellans Geburt?“
„Ja. Kurz danach. Maellen und ich waren gerade fünf, kleine Kinder, hazhon-hazhoun, Kinder von Kindern. Daher mußten alle Flieger an die Arbeit gehen, sich im Sensorium abwechseln, Stunde um Stunde, Tag für Tag … Fünfzehn Jahre lang.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Es muß manuell geflogen werden, um es auf der Stelle zu halten!“ rief sie aus. „Nicht Schwer- und Fliehkraft läßt es auf einer bestimmten Stelle auf der Erde verharren, wie all die anderen Dinge – es muß dorthin geflogen werden! Während wir hier sitzen, bewegen wir uns auf vielerlei Arten, werden jedoch in einer Matrix örtlicher Kräfte festgehalten. Die Erde rotiert, dreht sich im Erde-Mond-System, dreht sich um die Sonne, folgt einer Kreisbahn um die Galaxis, bewegt sich mit der Galaxis in der örtlichen galaktischen Gruppe und nimmt teil an der steten Expansion des Universums … Diese Bewegungen und ihre vielfache Summe muß umgekehrt und dem Schiff eingegeben werden, damit es in seiner Höhle bleibt. Diese Bewegungen und viele andere, die wir nicht sehen … Manche dieser Gegenbewegungen kann man nicht sehen. Da sind schreckliche Kräfte im Universum, unvorstellbar. Und würden wir nicht kompensieren, so würde das Schiff davontreiben, den Strömungen folgen … Vielleicht ist das Wort treiben unangemessen, denn von einem Außenstehenden auf der Oberfläche gesehen, erschiene es als Explosion. Das Schiff würde seinen momentanen Standort explosiv mit Werten nahe c, der Lichtgeschwindigkeit, verlassen und dabei auf jede es umgebende Materie vernichtend reagieren. Bei einem Beschleunigungswert c besäße es jedoch sofort genügend Masse, um das Gleichgewicht des gesamten Sonnensystems durcheinanderzubringen. Sicher, im ersten Augenblick des ungelenkten Fluges wäre es auch schon zerstört, aber das ist gleichgültig. Alles andere wäre ebenfalls vernichtet.“
„Ich verstehe nicht … Warum geschieht das nicht zwangsläufig? Es hat doch auch jetzt genügend Masse.“
„Es hängt allein mit der Geschwindigkeit zusammen. Relativität. Die Masse nähert sich der Unendlichkeit, wenn sich die Geschwindigkeit dem Wert c nähert. In Ruheposition gehalten, hat es seine eigene materielle Masse, ein paar tausend Tonnen. Diese wird vom Kontrollfeld abgeschwächt, so daß es masselos erscheint. Somit im Kurzbereich leicht beweglich. Losgelöst jedoch hebt es mit nahezu voller Lichtgeschwindigkeit ab, und so kommt seine Masse annähernd zwei Komma fünf Sonnen gleich. Dies überschreitet in einem vorgegebenen Raumvolumen die Grenzen, und das Ergebnis ist für die Dauer des Ganzen eine lineare Supernova. Das sind die Grenzen … Sagen wir, von der Masse des Jupiter bis zwei Komma fünf Sonnen. Unsere diesbezüglichen Berechnungen sind etwas ungenau, das Ergebnis ist jedoch in beiden Extremen gleich: Untergang. Was spielt es also für eine Rolle? Und als würde das noch einen Unterschied machen, können wir auch den Vektor nicht bestimmen. Fliegen ist eine schwere Verantwortung.“
„Das ist wahr. Wenn man bedenkt, daß die Piloten seit fünfzehn Jahren auf einer Bombe sitzen. Sie haben sie manuell geflogen?“
„Ja, manuell. Während der Rest des Schiffes vergrößert und ausgebaut wurde. Fertiggestellt, das Lebenserhaltungssystem vollendet. Es hat nie genug Leute gegeben, die Arbeit zu tun, die nicht vom Schiff getan wird. Und entsprechend dem Kanon des Gesetzes der Flieger kann nur eine ausgebildete Webe fliegen. Das heißt, daß nur zwei Mannschaften zur Verfügung stehen, obwohl die Ausführungsordnung des Hohen Reven Ausnahmen erlaubt, um Entlastung zu gewähren und damit das Äußere Spiel weitergehen, die Ablenkung aufrechterhalten werden kann … Als ich das letzte Mal zu Hause war, wurde mir gesagt, für Sanjirmil und ihre Webe würde eine Befreiung erteilt, falls sie eine neue zusammenbekommen könnte.“
„Deshalb also waren die Perklaren-Eltern seit vielen Jahren nie zu Hause.“
„Ja. Und das ist auch der Grund, weshalb ich hier bin. Aber zuerst ihre Geschichte. Sie waren in einem heiligen Berg, dem Berg des Wahnsinns, im Schiff und flogen allein in der Dunkelheit in Raum-drei, Dreiecksmosaik, das schwerste überhaupt. Matrix zwölf, feine Detailarbeit tief in einem Schwerkraftloch der Sonnenschwerkraftquelle. Das Schiff hat eine sphärische Form und sitzt in einem Gerüst im Fels, in der Höhle. In der ganzen Zeit hat es sich nur um etwa einen Zoll bewegt. Man könnte auf der Bergspitze sitzen und würde trotzdem nichts von seiner Existenz ein paar Dutzend Fuß in der Tiefe ahnen.“
Sie schwieg ein paar Sekunden, dann sagte sie: „Klervondaf wurde eingeführt, jedoch nicht ausgebildet. Taskellan wurde nicht eingeführt. Sowohl Maellen als auch ich wurden natürlich eingeführt. Wir hörten ja nicht auf, Innenverwandte zu sein. Das Innere Spiel war unser Erbe und unser Recht. Aber anstelle von Spieler-Fliegern sollten wir verschiedene Rollen wahrnehmen, damit der letzte Schritt vollendet würde. Ich sollte hierher kommen, zum Trojanischen Projekt, und Maellen sollte uns in der Äußeren Welt insgeheim als Soldat dienen. Ich wählte die Einsamkeit und Maellenkleth die Gefahr – und letztendlich den Tod.“
„Wer entschied? Wie?“
„Der Schatten, wie üblich. Wir, Maellen und ich, teilten die Aufgaben, wie man Kuchen teilt. Es gab keinen besonderen Grund. Wir waren so jung … Und sie verstand etwas vom Spiel und wollte dort bleiben, wo sie es zumindest studieren, ihre Einsichten weitergeben konnte. Ich bin nur Durchschnitt, wie jeder andere. Besser als Sanjirmil, aber nicht so gut wie Maellen. Und deshalb bin ich hier … Aber auf gewisse Art und Weise mag ich meine Arbeit, die inneren wie auch die äußeren Teile davon. Es macht mir Spaß, Dinge in Gang zu bringen, und deshalb waren meine Arbeitgeber auch mit mir zufrieden. Sie haben mich gut behandelt, sogar dann noch, als ich ihr Instrument benutzte, um andere Dinge damit zu tun …“
Sie schüttelte ihren Kopf, als glaube sie es immer noch nicht. „Ich bin also eine Astronautin, eine Ingenieurin. Obwohl ich ein yos vorziehe und, bis zur Verwebung, einen eifrigen Reigen von Liebhabern.“
Morlenden unterbrach ihr Nachsinnen. „Jetzt ist mir klar, daß Maellenkleth die Aufgabe hatte, den destruktiven Störfaktor zu spielen, um euch zu entlasten.“
„Ja. Eine letzte kleine List.“
„Und du?“
„Ich hatte die letzte Rolle zu spielen, allerdings eine wichtige. Ich sollte dafür sorgen, daß das Teleskop gebaut wurde, und beim Bau behilflich sein, damit ich einen guten Grund hatte, es ohne Verdacht zu erregen zu benutzen.“
„Wozu wurde es gebraucht?“
„Du weißt, daß unsere Nachtsicht schlecht ist, deshalb das Teleskop. Nicht zum Vergrößern, sondern zum Sammeln von Licht. Normalerweise hätte dies eine von uns vom Boden aus machen können. Ich sollte also von allen Richtungen des Raumes visuelle, polychrome Ansichten bekommen und sie mir einprägen. Dann sollte ich all diese Ansichten von verschiedenen Stellen der Erdumlaufbahn um die Sonne miteinander kombinieren und aus dem eidetischen Gedächtnis eine Karte des interstellaren Raumes in meinem Geist heranbilden. Da mir eine Parallaxen-Grundlinie von einhundertfünfundachtzig Meilen Länge – der Durchmesser der Umlaufbahn – gegeben wäre, würde ich eine ausgezeichnete dimensionale Sicht bekommen. Nachdem ich das Bild hatte, konnte ich es unter Verwendung von Raummatrix-Koordinaten der Multisprache in eine dreidimensionale Gitternetzkarte übertragen, welche sodann als Basis für vergleichende Astrogation benutzt werden würde.“
„Wie das?“
„Du schaust in einer klaren Nacht zu den Sternen hinauf. Kannst du in ihrer Anordnung eine Regelmäßigkeit entdecken?“
Morlenden zögerte. „Nein … Ich sehe die helleren Konstellationen, aber sie scheinen willkürlich verstreut zu sein. Ich kann nicht sagen, was nah ist oder fern oder worauf sich was bezieht. Lichter am Himmel. Jupiter und Mars scheinen ebenso weit entfernt zu sein – oder so nahe – wie Sirius, die Wega, Deneb.“ Die Stern- und Planetennamen hatte Morlenden unbewußt so genannt, wie er sie von Fellirian gehört hatte; es waren die alten modanglischen Namen. Erst jetzt, da er die Worte ausgesprochen hatte, merkte er, wie fremdartig und seltsam sie klangen. Mevlannen bemerkte es ebenfalls. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Du kennst die Namen der Sterne nicht, denn jene, die Namen geben, sind identisch mit jenen, die Ordnung suchen. Es war ein langwieriger Prozeß, denn wir mußten teilweise mit alten Karten arbeiten. Man kann sie nicht alle vom Boden aus sehen. Mühseliges Forschen, Tausende von Nächten sorgfältigen Beobachtens, Sorgfalt und Geheimhaltung, damit nicht bekannt wurde, daß wir überhaupt zu den Sternen aufschauen. Aber wir haben unsere eigenen Namen für die Sterne, für die nahen, die wir kennen und fühlen, und für die fernen, die wir als Bezugspunkte verwenden. Du kennst den Kanon der Namen: eine Silbe für Dinge, zwei für Orte, drei für Personen, vier für Sterne und für die ‚Attribute Gottes’{43} fünf. Deshalb ist Borlinmeldreth mit dem unseren Vorfahren geläufigen Begriff Sirius identisch; Kathiarvashien mit Sigma Doradus; Skarmethseldir mit Deneb. Es gibt viele Namen, die wir lernen und auswendig aufsagen mußten.“
„Namen, ja, aber es ist doch immer ungeordnet“, meinte Morlenden.
„So scheint es. Aber es gibt ein großes und mächtiges System der Ordnung im Raum, obwohl es von einem Wesen auf der Oberfläche nicht ohne Matrix in der Vorstellungskraft gesehen werden kann. Es ist ein zu gigantischer Maßstab für uns. Und wir reden über visuelle Dinge, über Dinge, die wir mit unseren Augen sehen. Du kannst nicht einmal anfangen, dir vorzustellen, wie dasselbe Volumen durch den Symbolisierer, in Raum-vier beobachtet, aussieht. Oder in einem beliebigen anderen. Mehr als chaotisch, es lebt von Kräften und unbekannten Objekten, deren Natur wir nicht bestimmen können. Da gibt es Strudel und Strömungen, Wellen und Winde und Stürme, von denen wir weder Quelle noch Abfluß kennen. Und wie die alten Vorläufer, polynesische Seefahrer, Lichter im Meer sahen, Lichter, die vom nahen Land kündeten, den Glanz des Meeres, so sehen wir den Glanz im Meer des Raumes; aber es ist ein Glanz, der uns ebenso ängstigt. Der hin und her wogt wie der Pazifische Ozean dort unten, an den Klippen am Fuße des Pico Tranquillon. Und für ein derartiges Schiff kann es nirgendwo einen Ankerplatz geben, für den Piloten keinen Landurlaub, obwohl ein Planet gefunden werden mag und die Passagiere, unser Volk, aussteigen. Für uns ist eine Planetenlandung nur mehr Arbeit in Raum-drei … Und es gibt noch andere Dinge, Dinge, die wir im Verlauf des Spiels nur vage wahrnehmen können, Dinge, die überhaupt keine visuelle Analogie haben. Sie bewegen sich, scheinen einen eigenen Willen zu haben. Sind es Lebensformen? Vielleicht. So gut wir also auch denken, wir sehen den Raum in der Darstellung und müssen folglich aus der visuellen Wahrnehmung eine Koordinaten-Bezugsreihe ableiten. Denn im Spiel zeigen sich mancherlei Dinge, die man nicht sehen kann und deren Standort wir kennen müssen – etwa, wo der Galaktische Norden liegt, G-Süden, Solarer Norden, S-Süden. Ein Hinweis auf den Galaktischen Meridian. Übertragen. Unsere Augen sehen zu den Sternen führende geodätische Linien, aber im Schiff gibt es so etwas nicht, und die beiden müssen integriert sein. Diese Integration ist meine wirkliche Mission gewesen, und dafür wurde ich ausgebildet.“
Sie hielt kurz inne, bevor sie weitersprach. „Es ist auch ein synästhetisches Problem. Wir haben immer angenommen, Sicht sei gleich Sicht. Punkt. Aber so sollte es nicht sein: Das, was der Symbolisierer abbildet, ist am besten als Geruchsimpulsfolge zu beschreiben, deren Wirken wir dann durch den Symbolisierer sehen. Kein guter Vergleich, aber er wird ausreichen müssen.“
Morlenden mußte lachen. „Ihr schnüffelt euch also durch, blind bis auf den im Gedächtnis behaltenen Anblick, was?“ Aber er lachte unbehaglich, denn das Bild, das ihm in den Sinn kam, gefiel ihm nicht … Das Bild eines erblindeten Hundes, die Nase am Boden, schnüffelnd – so folgte er einer Spur, die ihn an einen Ort führte, an dem er noch nie zuvor gewesen war, den er jedoch richtig erriechen mußte. Und er mußte einem Universum anderer Dinge ausweichen, deren Wahrnehmung er nicht durch Sicht festigen konnte. „Das ist die verdammteste Sache, von der ich in meinem ganzen Leben gehört habe“, kommentierte er schließlich.
Mevlannen erwiderte sein Lächeln. „Damals, als ich eingeführt wurde, habe ich auch gelacht. Alle haben gelacht. Außer Sanjirmil. Sie hat nie gelacht. Aber die Gefahren sind real, und es gibt viel Verwirrendes. Natürlich wollen wir uns nicht verirren – nur die Erde verlassen und auf einer Welt landen, auf der wir leben können. Und meine Rolle hierbei war eben, das, was wir mit unseren Augen sehen, und das, was wir über den Symbolisierer wahrnehmen, miteinander in Einklang zu bringen. Dies habe ich getan, meine Aufgabe ist beendet.“
Sie schwieg. Die letzten Worte hatte sie mit heiserer Stimme gesprochen. Sie senkte ihren Blick und sah, daß ihre und Morlendens Tasse leer war. Sie nahm sie auf, erhob sich, füllte sie wieder und kehrte zu ihrem Platz am Feuer zurück. Sie wirkte benommen, zerstreut.
Morlenden fühlte sich ebenfalls benommen, da er das, was er soeben gehört hatte, mit dem in Einklang zu bringen versuchte, was er anderweitig gehört hatte. Mevlannen hatte ihm eine Menge erklärt, den ganzen Hintergrund. Aber so verblüffend es auch war, es erklärte nicht, was mit Maellenkleth passiert war. Oder mit ihm. Wieder überlegte er. Er glaubte, die Antwort am Horizont geschrieben zu sehen, aber er kümmerte sich nicht darum. Es gab noch soviel zu verstehen.
Er räusperte sich. „Ich habe noch viele Fragen, Mevlannen“, sagte er dann. „Die Schatten, Maellenkleth, Sanjirmil … Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.“
„Ich kenne die Grundlagen“, meinte sie. „Und ich weiß, was ich getan habe. Seit einiger Zeit habe ich jedoch nichts mehr damit zu tun. Denke daran, daß ich schon seit fünf Jahren hier draußen lebe. Vieles wirst du besser wissen als ich.“
„Na schön. Trotzdem zum ersten Teil: Ich verstehe die Geheimhaltung. Aber ich fühlte mich betrogen … Daß eine komplette Lebensweise Täuschung statt Realität ist, so gut sie auch für unser aller Wohl sein mochte. Es gibt Dinge, die wir aus einem Anlaß heraus tun, der uns schließlich nicht leichtfällt. Ich kenne diese Dinge gut. Und wofür soll das alles gewesen sein?“ fragte er.
„Für unsere Freiheit. Für eine Welt, die uns allein gehört. Ist das nicht genug? Und denke daran, daß das Mittel das Werkzeug bestimmt … Und so wurden wir bestimmt.“
„Habt ihr, vom Schatten, daran gedacht, daß das Volk zynisch werden könnte …?“
„Anfangs wurde es erwogen, ja, aber man hoffte, daß es nicht soweit kommen würde, sondern daß diese aufgeopferten Werte verinnerlicht würden. ‚Der gepfropfte Baum trägt das süßeste Obst’, sagen die Leute aus der Pomen-Webe. Und es tat uns gut. Unter unserer erweiterten Familienstruktur haben wir soviel erreicht wie mit kaum einem jener anderen Modelle, die es in früheren Zeiten gab. Und jetzt sind wir daran gewöhnt. Ich könnte es mir nicht anders vorstellen – und ich will es auch nicht.“
„Das sagen wir hier … Aber da gibt es auch noch die Vorstellungen zum Regierungssystem. Scheinbar gab es die Revens und die Derens, und das war’s – fröhliche, gesetzestreue, sanfte Anarchie. Doch jetzt erzählst du mir, daß das gar nicht so gewesen ist, daß wir insgeheim in all diesen Jahren von einer Regierung geleitet wurden, von deren Existenz wir nicht einmal etwas wußten … Ein Rat, der sich Kal Hrunon nennt, ‚der Schatten selbst’. War die Webe der Revens der wahre Regent?“
„Mit einem Wort: ja. Mit einem anderen: nein. Beispielsweise wäre es dir nie gestattet worden, eine Entscheidung von Pellandrey oder seinem innenverwandten Devlathdar anzuzweifeln. Daß das eine wie das andere in der Vergangenheit nie getan wurde, ist der Beweis für unseren Takt, der die Zivilisation ausmacht.“
„Aber es war immer anders als der Schein.“
„Meistens. Äußerlich: eine Webe, um Streitigkeiten beizulegen, und eine andere, um familiäre Rechtmäßigkeit zu verleihen. Aber im Zentrum des Schattens gab es eine Mehrheit der Ältesten aus dem Umfeld der Flieger-Webe. Und da regiert nur eine. Die Perwathwiy Srith. Und es gehört zur traditionellen Gepflogenheit, daß der Reven nur am Boden entscheidet. Im Raum regiert der Älteste Flieger. Im Namen des Schattens und des Planes.“
„Darin sehe ich eine Gefahr: Wenn das Schiff nicht abgeschaltet werden kann und somit immer fliegt – was hält dann den ehrgeizigsten Flieger davon ab, die Macht zu ergreifen und daran festzuhalten? Immerhin kann er das Argument benutzen, die Macht gebühre ihm, da das Schiff ja fliege. Was verhindert das?“
„Die Notwendigkeit der Diskretion. Tradition. Und die Tatsache, daß sich die meisten Leute noch immer außerhalb des Schiffes aufhalten und wahrscheinlich Befehle von innen ignorieren würden. Und dann gibt es da immer noch die Gewalt. Sie ist uns nicht verboten.“
„Wer ist momentan Ältester Flieger?“
„Als meine Perklaren-Eltern den Schritt unternahmen, den Fortbestand der Perklarens zu beenden, ging die Führung automatisch an die Webe mit Fortbestand. Und das waren die Terklarens.“
„Sanjirmil!“
„Nein, wenigstens damals noch nicht, als ich wegging. Sie ist noch nicht alt genug. Die Position kommt der Elterngeneration zu, den Terklaren-Innenverwandten Daeliarnan und Monvargos; das war der Stand der Dinge, als ich wegging.“
„Aber die Macht wird an Sanjirmil übergehen?“
„Ja, so ist es.“
„Und du hast gesagt, Maellenkleth sei euer Soldat gewesen, euer Kämpfer?“
„Jawohl, genau das. Stets hat sie verlangt, allem voraus zu sein, da sie das Spiel nicht haben konnte. Sie war tapfer, mehr noch: tollkühn.“
„Hat Sanjirmil eigenverantwortlich gehandelt oder nur unter Anweisung?“
„In Angelegenheiten außerhalb des Reservats sprach Sanjirmil für den Schatten, vorausgesetzt, daß sie nicht gerade flog. Es wurden ihr eine Menge Vorrechte eingeräumt. So sollte es ihr erlaubt werden, die Außenverwandten für ihre Webe früher aufzutreiben. Es war einfach notwendig, denn die Arbeit des Fliegens ist zu anstrengend für nur zwei Mannschaften, und jede Mannschaft muß aus vier Personen bestehen.“
„Diese Täuschung und ihre Auswirkungen … Eine davon mag der unnötige Tod deiner Innenverwandten sein. Hast du das inzwischen verstanden?“
Voller Unbehagen wandte sie ihren Blick von Morlenden ab, starrte ins Leere. Nach einer Weile antwortete sie ihm, und ihre Stimme war rauh und gedämpft: „Wir haben immer gewußt, daß der Weg, den wir gewählt haben, gefährlich ist, Risiko und Lohn, weißt du. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Aber wir mußten diese Gefahren immer gegen das abwägen, was geschehen würde, wenn die Menschen das Geheimnis des Schiffes in die Hände bekommen würden. Es war uns klar, daß wir ein solches Schiff nicht offen bauen konnten. Sie hätten es uns einfach weggenommen. Gibt es einen Grund, warum sie es nicht hätten haben wollen? Sternenschiffe? Und einmal haben wir uns überlegt, ob wir es nicht mit ihnen teilen sollten, aber das wurde niedergestimmt. Untersuchungen und Tests wiesen darauf hin, daß sie, sollten sie je das Innere Spiel entdecken, den Matrix-Überantrieb, Autopilot-Vorrichtungen einführen würden – und das ist ein schrecklicher Gedanke. Mit den Dingen, mit denen wir im Spiel fertig werden, kann keine Maschine umgehen, denn was wir tun, jede Sekunde tun, ist zu entscheiden, und das kann uns keine Maschine abnehmen. Und um diese Vermutungen und Entscheidungen zu treffen, greifen wir auf Vorahnungen zurück. Wir benutzen Hilfsmittel, die wir nicht völlig verstehen. Unter einem Autopiloten würden die Dinge in Bewegung geraten, und die Korrekturen würden sich anhäufen, und die Maschine würde sich einfach sperren. Es ist äußerst gefährlich, mit Kräften umzugehen, die dem Universum zugrunde liegen, und man muß es immer bewußt tun, nie automatisch. Beobachten heißt handhaben, und sobald man damit anfängt, muß man weitermachen oder das Gerät, das einem das zu tun gestattet, zerstören. Aber man kann nicht eine Spanne-der-Aufmerksamkeit damit spielen, einfach damit spielen und dann das Ganze wieder vergessen. Und Roboter würden durch die Natur der transzendentalen Zahlen lahmgelegt und vom Algorithmus, der endlos ist, verwirrt werden.“
Sie fügte hinzu: „Die Risiken eines jeden Stadiums des Spieles wurden uns so anschaulich wie nur vorstellbar dargestellt, sowohl für das Volk als auch für jene in individuellen Situationen. Ich weiß, daß Maellenkleth die Risiken kannte und sie einfach akzeptierte. Ich kann das nicht länger in Frage stellen. Daß sie dafür bezahlt hat, dient der Ehre ihres Andenkens.“
„Ich habe nichts an deiner Loyalität auszusetzen“, erwiderte Morlenden. „Oder an der Maellenkleths. Sie stellte sich der allerschwersten Verantwortung und tat das, was zu tun sie versprochen hatte. Sie war keine Eidbrecherin. Aber ich bin einfach der Meinung, daß ein derartiges Opfer hätte verhindert werden können und daß hinter ihrer Gefangennahme und Ermordung mehr steckt, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Daß momentan in eurem so sorgfältig kultivierten System Mächte am Werke sind, die für das Volk wie auch für das Schiff vernichtend sein könnten.“
„Aber ich kann mir nicht vorstellen …“
„Natürlich nicht. Du lebst seit fünf Jahren hier draußen, warst außer Reichweite. Aber in unserem Garten ist Böses im Gange, und ich versuche jetzt, die Quelle zu finden. Das, was du mir erzählt hast, ist wertvoll, aber es reicht nicht, die Kluft zu überbrücken. Deshalb frage ich dich: Warum wurde Maellen ausgeschickt, um Instrumente zu zerstören?“
„Sie muß tatsächlich geschickt worden sein, Morlenden. Auf diese Art und Weise war sie nicht eigenwillig. Nur im Hinblick auf das Spiel. Aber Instrumente zerstören? Das ist ungewöhnlich. Die Vorreiter sollten eigentlich nur beobachten. Was für Instrumente?“
„Wie mir gesagt wurde, ein Gerät zum Messen von Magnetismus, die Feldstärke des Bereichs, in dem es war. Ein anderes maß die Feldstärke der Gravitation von Punkt zu Punkt. Kleine, tragbare Dinger, die präzise und charakteristisch arbeiten. Gegenwärtig nicht mehr im Gebrauch, was wir alle besonders seltsam finden.“
„Ja, das ist wirklich seltsam … Mit diesen Geräten könnte man das Schiff aufspüren, aber da sie nicht mehr in Gebrauch waren …“
„Man könnte es aufspüren? Wie?“
„Wenn man eine große Masse Eisenerz oder Metall hat, verzerrt sie das örtliche Magnetfeld, konzentriert die Linien, macht das Feld dichter. Das aktivierte Schiff verursacht genau das Gegenteil – es schwächt das lokale Magnetfeld. Und das andere Gerät, der Schwerkraftmesser, könnte auf ähnliche Art und Weise verwendet werden: Im wesentlichen zeigt sich die Masse des Schiffes viel weniger, als man erwarten würde. Das kommt daher, weil die Massenträgheit ständig vom Matrix-Überantrieb gemindert wird. Wenn man einen Berg mit einem derartigen Instrument absucht, ausmißt, würde man in Anbetracht der zusätzlichen Masse einen weit höheren Wert erwarten, aber statt dessen entdeckt man ein masseloses Loch im Berg. Wäre das Gerät auf Feindetail-Auflösung abgestimmt, dann könnte man sehen, daß das ‚Loch’ sphärisch ist … Vorausgesetzt daß sie benutzt werden sollten, könnte ich durchaus verstehen, daß man sie zerstört. Aber ich kann mir kein Urteil erlauben. Ich weiß nichts.“
„Also können wir hier nicht festlegen, ob sie benutzt werden sollten oder nicht.“
„Nein. Es gibt so vieles auf der großen Welt, Morlenden, über das wir die ganze Nacht reden könnten, uns mitteilen könnten, was wir uns vorstellen, was wir wissen, und trotzdem gibt es noch immer soviel mehr, was wir nicht wissen, nicht teilen, nicht gemeinsam haben können. Die Wahrheit ist ein kostbares Gut. Und selbst wenn wir die Wahrheit kennen, irren wir. Und das gilt auch für wahre und beweisbare Dinge.“
„Ob nun wahr oder nicht“, sagte Morlenden, „ich werde als der zurückzukehren haben, als der ich gekommen bin … Aber wenigstens kannst du mit mir zu deiner Familie und deinen Freunden zurückkehren.“
„Nein. Ich kann niemals zurückkehren. Das war einer der Preise für dieses hier. Ich habe einen knappen Spielraum. Ich werde meine Arbeit fortsetzen.“
„Wir mögen die Riesentäuschung angenommen haben, aber das heißt noch lange nicht, daß du in deiner Rolle dasselbe tun mußt. Und wir brauchen dein Können, Ingenieurin. Und wenn schon nichts anderes, so brauchen wir noch immer die Dienste eines hiesigen Sternguckers, um die Himmelslehre der guten alten Erde für jene zu bewahren, die sie dereinst für immer verlassen werden, und um die Himmel der neuen Welt auszuforschen, wo immer sie auch liegen mag … Ehrlich gesagt, ich finde es seltsam und furchteinflößend, überhaupt davon zu sprechen. Oder – fürchtest du dich davor zurückzukehren?“
„Du bist scharfsinnig und unbarmherzig, wenn du nur deine Hand ausstreckst. Es stimmt, ich fürchte mich. Ich habe so lange hier gelebt … Wir haben uns gegenseitig an die Fremdartigkeit des anderen gewöhnt. Und nach der Art des Volkes wurde ich von den vielen Vorstellungen angesteckt, mit denen ich gearbeitet habe.“
Sie schwieg, und Müdigkeit zeigte sich auf ihrem Gesicht, dem geraden, zarten Kinn. Ermüdung und unterdrückter Kummer zersetzten ihre Abwehr, begannen die Festung ihrer Einsamkeit niederzureißen. Die blassen Augen wurden weich, ihr Blick war nach innen gerichtet. Morlenden konnte ihre Gedanken nicht erraten, aber vielleicht dachte sie über den Raum nach oder an vergangene Kindertage mit ihren Innenverwandten, die jetzt Vergangenheit und zu Staub zerfallen waren. Er konnte sie sich als Kind des Volkes vorstellen, aber schwerer war es, sich auszumalen, wie sie in einem Raumanzug aussah, den zarten, kindhaften Körper umhüllt, nicht von den anderen, Vorläufer einer wie der andere, zu unterscheiden. Er verfolgte den beunruhigenden Gedanken bis zu seinem hermetischen Ende, nämlich, daß sich die Lebewesen nur in gemütlicheren Umgebungen die äußere Differenzierung zwischen männlich und weiblich gestatteten. Je rauher die Umgebung, desto weniger Unterschiede zeigten sich. Der Weltraum … Aber nicht einmal der Weltraum war der Endpunkt. Es gab noch schlimmere Dinge, fürchtete er.
Mevlannen begann wieder zu sprechen, jetzt eher nachdenklich als erklärend. Es war ein sanftes Sprechen, und ihre Augen waren auf einen fixen Punkt gerichtet, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Sie sprach von den Sternen, und Morlenden unterbrach sie nicht, denn sie brauchte dies.
Und während sie von den Sternen und ihrer Arbeit sprach, belebte ein Leuchten ihr Gesicht, etwas, das von innen heraus strahlte und das sie vorher nicht gezeigt hatte. Morlenden glaubte die Sterne gut genug zu kennen. Die helleren konnte er ebensogut wie jeder andere Ler{44} sehen, aber der Nachthimmel war für ihn keine strahlende Herrlichkeit, sondern eine pelzige, schwarze Leere, durchbrochen von zahlreich verstreuten Punkten. Wie konnte er da begreifen, was Mevlannen Srith Perklaren Sternentag für Sternentag in der endlosen, grenzenlosen Nacht des Raumes sah, wenn sie wie ein Vogel im Zentrum ihres Instrumentariums saß, völlig überwältigt – dessen war er sicher – von dem vor ihr liegenden unglaublichen, unvorstellbaren Anblick und bis zur Empfindung eigener Bedeutungslosigkeit von dem dreidimensionalen Abbild beeindruckt, das sie per eidetischer Erinnerung aufbaute, eine mühsame Zeile nach der anderen, Position für Position. Und sie sprach die wohlklingenden, viersilbigen Sternennamen aus, Namen mit einer wilden, quälenden Poesie von unbekannten Orten und fernen Reisen, Namen, die unbekannte Sehnsüchte in ihm gerinnen ließen.
Thondalrhenvir, Alpha Crucis; Lothpaellufkresh, Beteigeuze; Norrimveldrith, Großer Rigel. Immer länger wurde die vielsilbige Liste, gemischt mit alten lateinischen und griechischen und arabischen Namen und Zahlen und Buchstaben, Lichtpunkte in einem Himmel der Finsternis, Bezugspunkte und mögliche künftige Zufluchtsorte für Sternenfahrer und Piloten, die sich vom befestigten und sicheren Ufer lösen und der stets in Bewegung befindlichen Strömung anvertrauen würden. Morlenden hörte Namen von fernen Galaxien, die er noch nie gehört hatte: Lethlinverdaerlan, M 31 im Andromedanebel; Vardaindralmerran, Maffei I; Klaflanpurliendor, die Größere Magellanische Wolke. Manche kamen nur Zahlen auf unübersichtlichen Tabellen von meist menschlichen Himmelsbeobachtern gleich, ein paar waren von Mevlannen und ihrem Vorgänger Thalvillai beziffert worden, einem Perklaren aus einer anderen Generation: Avila 3135, Elane 10110, und Morlenden wünschte sich, sie vor sich sehen zu können, aber er spürte, daß er hinter dem inneren Bild zurückbleiben würde, das Augen und Gesicht des Mädchens erhellte. Orte, denen sie niemals näher sein würde als gerade jetzt, gleichgültig, ob sie auf der Erde blieb oder nicht. Und da waren die näheren Sterne, die benachbarten Lichter, die Mensch und Ler gleichermaßen mit verlangender und brennender Neugier betrachtet hatten: Yallovyardir, Tau-Ceti, zwölf Lichter; Diylarmendar, Epsilon Eridani; Thifserminlen, Epsilon Indi; Holdurfarlof, 61 Cygni A; Dharhamnerlaz, Lalande 21185; Melforshamdan, Proxima Centauri; Tandelkvanlin, Barnards Stern; Partherlondrin und Khaliannindos, Alpha Centauri A und B.
Und Morlenden dachte an sein eigenes Leben, dessen Routine, an Logbücher und Weben-Diagramme, an Besuche und Zeremonien und Gesellschaften, an die Sicherheit von Stellung und Identität in einer stabilen und feststehenden, alteingesessenen Gesellschaftsordnung. Er dachte an Wanderschaften im sich verändernden Wald, an all die ihm und Fellirian vertrauten Dinge. Und obwohl das Reservat nur ein eingeschränktes Leben zugelassen hatte, wußte er, daß es ein gutes Leben gewesen war, und er wollte es nicht aufgeben. Und was sollte er jetzt verlieren – den Ort oder seine Rolle? Er war sicher, daß es der Ort war, denn die Rolle konnte man immer wechseln; die Außenverwandten taten es jedes Jahr.
Als sie für einen Moment innehielt, unterbrach er sanft: „Mevlannen? Es gibt noch etwas, das ich dir sagen sollte. Weißt du etwas über einen Jungen namens Krisshantem?“
Sie sah ihn ausdruckslos an. „Nein, nichts.“
„Er war Maellens letzter Liebhaber. Ich sehe das so, daß sie plante und darauf hinarbeitete, die Genehmigung des Revens für eine Dritt-Spieler-Webe einzuholen. Sie wären shartoorh gewesen. Sie lehrte ihn das Äußere Spiel und erhielt durch Pellandrey Reven und, wie ich glaube, auch durch die Perwathwiy eine offenbar verdeckte Unterstützung für ihr Vorhaben. Wäre es möglich, daß dies eine Auswirkung auf das Schiff gehabt hätte?“
„Ich weiß es nicht. Wir konnten nicht vorhersagen, wann das Schiff aktiviert war, und deshalb konnten wir auch nicht definitiv vorhersagen, wann es flugbereit war. Als ich wegging, spürte man, daß es fliegen würde, noch bevor Mael und ich alt genug wären. Es war kurz davor. Das wären – von jetzt an – zehn Jahre. Aber wie du zweifellos herausgefunden hast, war Maellenkleth mit ihrem Rollenwechsel nie zufrieden, und wer konnte es ihr verübeln? Sie war ein echtes Genie im Spiel und deshalb auch im Schiff. Aber natürlich war dieser ihr Plan auch gegen die Entscheidung des Schattens und die Nutznießer dieser Entscheidung, die Terklarens, und natürlich gegen Sanjirmil gerichtet. Im Vergleich zu Maellenkleth auf der Höhe ihrer Macht wäre Sanjirmil als Herrin des Spiels lächerlich gewesen; sie hätte den offenen Wettstreit nicht überleben können. Und keine Angst, Maellenkleth hätte ihn erzwungen. Zweifellos wurde ihr diese Absicht verübelt, um so mehr, da sie einen Außenseiter ins Spiel brachte. Der Schatten hat die Außenverwandten, mit denen wir uns verwoben haben, immer sehr sorgfältig ausgewählt.“
„Also hätte es Sanjirmil verletzt.“
„Wirklich, oh gewiß, zweifellos. O ja, ich verstehe, was du denkst. Hmm … sie wäre dessen fähig. Mael und Sanjir fürchteten einander sehr. Und wir wußten alle, daß es so, wie sich die Dinge entwickelten, weitgehend eine Sache des zufälligen Aufeinandertreffens war. Aber wenn man es mit Generationswechsel-Perioden von zwei mal vierzehn und eins mal sieben Jahren zu tun hat, muß man sich darauf gefaßt machen, daß in dieser Zeit eine Menge passieren kann. So fiel es an Sanjir, und vielen von uns gefiel das nicht, aber wodurch konnten wir sie ersetzen? Als ich von zu Hause wegging, durch nichts. In jeder Richtung, in der wir uns bewegten, verzerrten wir unseren Kanon, dem wir stets zu unserem eigenen Vorteil gehorcht hatten. Es wäre wirklich zynisch gewesen, dagegen anzugehen, weil sich die Dinge nicht so entwickelten, wie sich das mancher von uns vielleicht gewünscht hätte.“
Sie sah einen Moment lang weg. Dann: „Du mußt das so verstehen, wie die meisten des Schattens es verstanden haben: Maellenkleth war im Unrecht. Seit die Webe agenetisch ist, würde man sagen, spielt geringeres Talent keine große Rolle, also sollte dies auch für ein großes Talent gelten. Wir haben sie alle sehr geliebt, aber sie hat sich von Anfang an von allen anderen abgehoben. Es gibt keinen Zufall bei den Spielern; sie sind bewußt ans Werk gegangen. Der Zufall war Maellenkleth; sie war zu gut, welch eine Ironie, wie grausam! Und sie verstand nie, weshalb sie das aufgeben mußte, was sie am allerbesten machte. Du weißt, sie war ein Wunderkind, aber was heißt das schon? Ich will es dir sagen: Sie war bereits eine Vollspielerin, auf Stufe vierzehn eingeordnet, als sie zehn Jahre alt war. Die beste, die wir je vor ihr hatten, war die Perwathwiy, und auf dem Höhepunkt ihres Könnens erreichte sie nur Stufe elf, und auch das nur durch jene Art von Disziplin, die Geist und Körper vor der Zeit zerbricht. Der Durchschnitt liegt etwa bei sieben, und man muß mindestens Stufe fünf haben, um zum Inneren Spiel zugelassen zu werden.“
„Und was für eine Stufe hat Sanjirmil?“
„Die Norm wird festgelegt, solange man ein Kind ist. Bei Sanjirmil lag sie stets unter dem Einstiegsniveau, bei drei oder vier. Aber irgendwie schaffte sie es mit einer fünf, als sie es schaffen mußte. Wie, das weiß ich nicht. Die Zahlen sind nicht additiv, sondern exponential; es ist unmöglich, daß ein Dreier zu einem Fünfer wird und normal bleibt. Zuviel gehört dazu.“
Sie unterbrach sich, dann sagte sie: „Komm ganz nah zu mir her, ich werde dir die Zahlen geben. Ich habe mich noch nicht entschlossen und würde es lieber noch einmal überschlafen – doch ich werde sie dir geben, damit sie nicht verloren sind, wenn ich mich dazu entschließe, hierzubleiben … Hör mir genau zu, denn es sind Matrix-Zahlen, und sie sind nur schwer richtig zu erfassen.“
Morlenden stimmte zu und näherte sich dem Mädchen, so nahe, daß sich ihre Gesichter fast berührten. Er schwieg, öffnete Mevlannen seinen Verstand und Willen. Alles, was er von ihr sehen konnte, waren ihre Augen, deren tatsächliche Farbe jetzt im Feuerschein unbestimmbar war. Die Augen waren ausdruckslos, jedoch im Weiß gerötet; Feuchtigkeit glitzerte darin. Ihr Atem roch nach dem Branntwein, mit dem sie den Kaffee versetzt hatte, und er konnte auch den Duft des Öles auf ihrem Gesicht wahrnehmen. Es gab keine vorherige Warnung, wie das bei Krisshantem der Fall gewesen war, sondern es begann schlagartig, wie bei Sanjirmil, ergriff seinen Verstand, löschte seinen Blick und gab die abgestimmte Koordinaten-Matrix leicht und umgehend ein. Er verstand nicht, was er empfing, aber er hatte keine Zeit, daran zu denken, nur eines war wichtig: Die Matrix so zu behalten, wie er sie bekam. Mit Blitzgeschwindigkeit drang sie in ihn, dennoch schien sie ewig weiterzulaufen, und bald war sich Morlenden keiner anderen Sache mehr bewußt als Raumzahlen, die manchmal in kürzeren oder längeren Reihen untergliedert waren. Es war holistisch, visuell, aber zugleich auch anders. Dieses Mal baute sich kein Bild auf, das er sehen konnte. Als es ohne Ankündigung oder Vorwarnung vorbei war, verspürte er einen leichten Stich, nicht mehr, das Feuer war weit heruntergebrannt, und dann sah er wieder ihre Augen.
„Ich habe sie“, sagte er. „Bist du sicher, daß Sanjir dies alles auch versteht?“
Mevlannen stand auf und streckte sich wie eine Katze. Sie musterte Morlenden sehr eingehend, als suche sie nach einer Bestätigung oder einem Zeichen oder etwas ähnlichem. Wonach? Sie sagte: „Ja. Sie wird alles, was ich dir gegeben habe, verstehen und noch mehr … Ich warne dich: Sprich zu niemandem über das, was du von mir bekommen hast, gebe es niemandem weiter – rezitiere es nicht einmal vor dir selbst – außer an Sanjirmil. Du darfst es nicht tun, sonst wirst du uns alle scheitern lassen. Gib es nur Sanjirmil!“
„Warum kannst du es ihr nicht selbst übergeben?“
„Weil ich nicht zurückgehen sollte!“ Es hörte sich beinahe kläglich an. Nach einem Moment fügte sie hinzu: „Und überhaupt … Mit meinem jetzigen Wissen wird man mir nie erlauben, Sanjir zu nahe zu kommen. Sie werden – zu Recht oder Unrecht – annehmen, ich wolle Blutrache an ihr nehmen.“
„Ich weiß. Ich kann es sogar verstehen. Ich weiß auch nicht, wie es dazu kam, aber ich verdächtige sie eben.“
Eine unangenehme Grimasse legte sich über Mevlannens Gesicht. Ihre Mundwinkel wurden nach oben gebogen, aber trotzdem konnte man es nicht als Lächeln bezeichnen. „Wirklich …“ sagte sie. „Also denke an deinen Eid und meine Anweisungen. Du gibst es nur ihr! Fühlst du dich nicht wohl, Morlenden? Du siehst seltsam aus.“
Morlenden fühlte sich wirklich eigenartig, und er konnte die Ursache dieses Gefühls nicht aufspüren; sobald er danach forschte, schien es zu schwinden. Da war etwas … Nein, nichts schien an falscher Stelle zu sein. „Ach, mir geht es gut. Bin nur sehr müde.“
„Empfinde nichts Schlimmes dabei; du trägst jetzt viel von dem, was wir unser ganzes Leben getragen haben. Es ist eine Last. Und für dich ist sie jetzt neu und ungewohnt … Die Stressies werden nicht auf dich aufmerksam werden.“
Sie wandte sich von ihm ab und ließ – wie alle Ler-Mädchen seit Anbeginn ihrer Zeit – das weite Überhemd über ihren schlanken, fast zerbrechlichen Körper fließen. Langsam ging sie im Zimmer umher und machte die Lampen und Kerzen aus, die noch brannten. Sie bückte sich, deckte die Feuerstelle mit einem Metallschild zu und schüttelte das Feuer nieder. Der Raum versank in tiefe Dunkelheit, und in dieser weichen, dimensionslosen Schwärze nahm Mevlannens Miene einen Ausdruck der Erwartung, des Verlangens an. Morlenden erinnerte sich, wie es früher gewesen war, und er bedauerte sehr, daß seine Zeit vorbei war. Dies war wirklich ein unbezahlbares Geschenk, und er war machtlos, mehr damit anzufangen, als es von Herzen zu würdigen.
Sie nahm die letzte Kerze hoch und sagte leise: „Jetzt mußt du mit mir schlafen, denn es gibt nur ein Bett.“
Er wollte protestieren, aber sie kam lautlos zu ihm und legte ihm sanft einen Finger über seinen Mund. Die Hand war uncharakteristisch fest und kühl, trotz ihrer Zartheit eine sehr kräftige Hand.
„Ich weiß nur zu gut, was du sagen willst“, sagte sie. „Ich weiß, daß es die Wahrheit ist, denn ich kenne mich. Aber obwohl ich dies haben möchte, wünsche ich mehr … Wir teilen jetzt ein großes Geheimnis und sind von der Welt gefährdete Kameraden, mehr als du es dir vorstellen kannst. Das bringt uns einander nahe, so nahe wie die arme Mael und mich. Die letzte unserer Art, die mit mir zusammen geschlafen hat, war sie, Maellen, die die Nächte mit jemand Aufregenderem aufgegeben hat, um hierherzukommen und bei mir zu sein. Es war so, als wären wir kleine Kinder, und alles, was wir zu tun hatten, war, mit dem, was wir für das Leben hielten, Spiele zu spielen, und wenn wir müde waren, fielen wir ins Bett und schliefen eng umklammert, wie Katzen an einem Herdfeuer, wir schützten uns gegenseitig vor dem Unbekannten, das wir beide gesehen hatten. Seitdem habe ich nie wieder so tief geschlafen.“
„Ich verstehe“, meinte Morlenden. „Ich werde dich genauso festhalten.“
„Da ist noch etwas … Ich hätte daran denken sollen.“
„Was?“
„Daß wir den Terklarens im Äußeren Spiel und in ihrer Eigenschaft als Gegner – jener Rolle, die im Inneren Spiel dem wirklichen Universum gleichkommt – einen gewissen Spielraum zur Täuschung ließen.“
„Täuschung? Wofür?“
„Um uns auf das Echte vorzubereiten. Das scheint nämlich das wirkliche Universum zu tun: zu täuschen. Vielleicht schummelt es wirklich, obwohl dies ein bewußter Prozeß ist und zu Spekulationen führt, die ich über die Natur dieser Dinge nicht anstellen möchte … Aber es hat seine eigenen Regeln, und es ist unsere Aufgabe als Spieler, diese Regeln so gut wie möglich zu verstehen. Durch das Spiel können wir den Mikro- und den Makrokosmos manipulieren, dem einen wie dem anderen jedoch nicht unsere Ordnungs-Konzeption aufzwingen. Wir haben uns mit dem Spiel nach ihnen zu richten. Demgemäß gibt es Feinheitsgrade und sodann weitere Feinheiten, und immer dann, wenn wir denken, daß wir es für alle Zeiten festgelegt und gesichert haben, gibt es eine Veränderung, irgendeine kleine Veränderung, eine Ausnahme … Wir alle wissen, was das heißt, daß wir mehr lernen müssen, aber es erinnert an Schummelei. Es ist nicht fair! Deshalb erlauben wir der gegnerischen Spielermannschaft, im Äußeren Spiel ein wenig zu mogeln, um uns so auf die kleinen Verschiebungen im Inneren Spiel vorzubereiten, das überhaupt kein Spiel ist, sondern über Leben und Tod entscheidet.“
„Könnte dies nicht dazu führen, die gegnerischen Spieler ein wenig unehrlich werden zu lassen?“ fragte Morlenden.
„Über diesen Nebeneffekt gibt es keinen Zweifel. Alle Dinge haben Folgen, Nebenfolgen. Manchmal konzentrieren wir uns zu sehr auf den gewünschten Effekt und vergessen darüber, daß es auch noch andere gibt, von denen manche sogar noch gewaltiger sind.“
„Warum erzählst du mir das?“
„Damit du möglicherweise begreifst, in was du hineingeraten bist. Wir kennen es und gleichen es aus. Es geschieht so automatisch, daß wir normalerweise gar nicht daran denken. Sie haben es dir nicht gesagt, und ich hätte es beinahe auch nicht getan. Ein Versehen. Aber eines, das ein schlimmes Ende nehmen könnte.“
„Das gilt für euch alle?“
„Den anderen Spielern gegenüber berücksichtigen wir es, aber bei anderen verlieren wir die Tatsache, daß sie nicht nach unseren Regeln spielen, manchmal aus den Augen.“
„Also riskiere ich jetzt, da ich endlich mit den Spielern Kontakt aufgenommen habe, daß ich in jedem Stadium des Spiels getäuscht und hinters Licht geführt werden kann.“
Trotz des Zwielichts konnte er sehen, daß sich Mevlannen bei seiner letzten Frage mit einer schmerzlichen Miene von ihm abgewandt hatte. „Nein“, sagte sie. „Das nicht so sehr. Oder vielleicht doch, es kann sein.“ Sie richtete sich auf. „Sei jetzt auf der Hut, auch mir gegenüber. Besonders aber bei Sanjirmil.“
Morlenden war versucht, von dem zu sprechen, was er sonst noch wußte und vermutete, aber er tat es nicht. „Sanjirmil?“
„Ja. Weil sie nie das Gegenprogramm zur Täuschung gelernt hat.
Es ist eine ethische Übung. Aus welchem Grunde auch immer – sie hat sie nie absolviert. Sie versuchen, das wettzumachen, aber du weißt, wie diese Dinge sind. Einmal aus der Reihe, und es ist für immer weg. Sie haben es versucht, aber niemand weiß, ob es wirkte … Sie kann gefährlich sein.“
Morlenden nickte. Eine Idee nahm in seinen Gedanken Gestalt an. Er begriff, daß keine fehlenden Daten sie daran hinderten, früher damit herauszukommen, sondern daß er den offensichtlichen Abschluß die ganze Zeit unterbunden hatte. Und diese Gewißheit erheiterte ihn nicht. So erfuhr er von einer Kehrseite, die er ohne sein Wissen mit sich herumgetragen hatte, ein schmutziges, kleines Geheimnis um fast verbotene Früchte, von verschwitzten, festen, geschmeidigen Körpern und salzigen Küssen, ein Eindruck, der ohne gewisse Umstände und einen Zufall nie eine Rolle gespielt hätte. Ja. Jetzt wußte er es. Es blieb nur noch zu bestätigen.
Er folgte Mevlannen in den hinteren Teil der Hütte. Dort, in einem angrenzenden kleinen Raum, stand ein hartes, spartanisches Bett im Stil menschlicher Kultur, hoch mit groben, aber gemütlichen Decken beladen.
Mit einem zarten, kleinen Hauch pustete sie die Kerze aus, mit der sie ihren Weg beleuchtet hatte. Wind und Regen und Sturm umtosten die Hütte, peitschten den verkümmerten, zerzausten Wacholder gegen die Wände, ließen ihn darüberschaben und erfüllten die Dunkelheit mit ihrer Melodie, dennoch hörte Morlenden die seidigen Geräusche, mit denen ihr Überhemd über ihren Kopf von ihrem Körper glitt und zu Boden fiel. Er fühlte es mehr, als daß er es sah oder hörte, wie sich Mevlannen bewegte, dann hörte er die Decken rascheln, als sie nackt ins Bett schlüpfte.
Er zog sein Überhemd nicht ohne Zögern aus, und als er die Kälte fühlte, glitt er neben sie in das Bett. Die Decken waren rauh und hart. Sie kam ganz nahe zu ihm, glitt in seinen Arm und streckte sich in voller Länge an ihn geschmiegt aus. Obwohl ihre Absicht im Grunde genommen nicht erotischer Natur war, war es doch erotisch und dementsprechend aufreizend. Morlendens innerer Wechsel war schon vor Jahren erfolgt. Er und Fellirian hatten sowohl den Willen als auch die Möglichkeiten verloren, nachdem sie ihre dritte Schwangerschaft vollendet und entbunden hatte. Aber sie hüteten ihre Erinnerungen und vergaßen nie, und die Sinne erfüllten nach wie vor ihre Funktionen. So wußte er nur zu gut, wie begehrenswert dieses glatte, geschmeidige junge Mädchen war, wie begierig auf Liebe; doch gleichzeitig ging das, was er fühlte, nicht weiter als ein Gedanke, eine Erinnerung. Wenn sein Körper überhaupt reagierte, so spürte er es nur vage irgendwo in der Umgebung des Herzens, vielleicht im Zwerchfell, wo es sich in etwas auflöste, für das es kein ihm bekanntes Wort gab: etwas Lächerliches und zur Reaktion Unfähiges, wie eine namenlose, dazwischen liegende Empfindung, etwas zwischen Zärtlichkeit und Magenverstimmung.
Ruhig, gleichmäßig und tief atmend, lag sie neben ihm. Nach einer Weile wurde ihr Atem weicher, flacher, und ein- oder zweimal zitterte ihr Körper leicht. Jetzt begann sich die Kombination von Erschöpfung und Mevlannens erstaunlichen Enthüllungen bei ihm zu zeigen, und die Wärme ihres Körpers entspannte ihn noch mehr, bis hin zum Halbbewußtsein. In diesem Halbschlaf glaubte er sie etwas sagen zu hören, aber er konnte sich dessen nicht sicher sein. Es hatte sich angehört wie: „Vergib mir, was ich getan habe.“ Aber als er bewußt hinhörte, war sie still, und sie wiederholte es nie. Den Kopf voller dahinjagender Visionen und entsetzlicher Vermutungen, so verfiel Morlenden schließlich in den Schlaf, wie ein runder Kieselstein, der in einen stillen Teich fiel.
Als er am Morgen erwachte, schmiegte sich das rosige Licht vom Osten her gegen die Vorhänge des winzigen Fensters, das er am Abend zuvor nicht gesehen hatte; sofort stellte er fest, daß die warme Präsenz, die sich neben ihm erstreckt hatte, nicht mehr zugegen war, daß sie verschwunden war und daß die Hütte jetzt vom Schweigen der Leere erfüllt war. Er stand auf, zog seine alten Kleider an. Es war keine Notiz da, nichts. Er durchstöberte die Hütte und fand schließlich im Schrank ein paar Kekse, die offenbar dort zurückgelassen worden waren, damit er sie fand. Er zog seinen Umhang über das Überhemd und verließ die Hütte. Er suchte nach einer Möglichkeit, die Tür hinter sich abzuschließen. Es gab keine. Offenbar konnte sie nur von innen verriegelt werden. Er gab es auf und ging den Pfad hinunter, den Weg zurück, auf dem er gekommen war, über den Bergsattel, der ihn zu den Klippen über dem blauen Meer hinunterführen würde, dessen Oberfläche jetzt – wenn man von den vollkommenen Wellenerhebungen absah, die sich in exakten Mustern am Ufer brachen und deren Kämme sich von links nach rechts kräuselten und über und hinter sich eine schwache Hahnenschwanzspur herzogen – glatt und durchsichtig war. Die alte Sonne überzog den Ozean und die grasbewachsenen Klippen mit einem klaren, goldenen Licht.
Er ließ den Bergrücken hinter sich zurück und folgte dem Serpentinenweg in die Ebene hinunter, wo er Mevlannen auf einem alten Wacholderstumpf sitzend fand, in ein altes Winter-Überhemd und einen Umhang gekleidet, die so aussahen, als seien sie schon seit einiger Zeit nicht mehr getragen worden. Sie sah stumm zum Meer hinunter; hin und wieder kräuselte ein verirrter Windhauch eine Haarsträhne, die unter der Umhangkapuze hervorlugte. Er grüßte das Mädchen: „Der Tagstern erhelle deinen Weg wie den meinen! Wartest du, um Lebewohl zu sagen?“
Sie drehte sich um und sah ihn sanft an, als müsse er ihre Antwort bereits kennen. „Dies hier ist ein Ort, den ich sehr liebe, und hier gab ich meinen Teil zu dem Plan. Aber ich werde nicht hierbleiben und den Vorläufern eine brachliegende Fruchtbarkeit schenken, während meine Verwandten zu den Sternen reisen. Ich werde mit dir kommen, wenn du mir Taskellans neue Familie anbietest.“
Morlenden nickte. „Genau das und nicht mehr. Aber statt Ser Deren wirst du mich jetzt Kadh’olede nennen müssen.“
„Dies will ich gerne tun. Es ist lange her. Werden uns die Kinder deiner eigenen Webe nicht ablehnen?“
„Nein. Ich glaube nicht, obwohl unsere Nerh, Pethmirvin, nicht damit einverstanden sein wird, daß du ihr die Liebhaber stiehlst.“
„Oh. Ich weiß noch nicht, ob ich das kann.“
„Macht nichts. Ich habe bereits etwas im Sinn, das dich eine Zeitlang beschäftigt hält.“
„Du willst es mir nicht sagen?“
„Nein, das will ich nicht.“
„Na schön.“ Sie stand auf und schüttelte sich. „Meinst du, wir können zurückkehren?“
„Ich hatte keine Schwierigkeiten hierherzukommen. Ihre Aufmerksamkeit scheint sich auf andere Gebiete zu konzentrieren. Wir werden fahren und dann ein Stück zu Fuß gehen. Wir können es immerhin versuchen. Was bleibt uns auch sonst übrig? Wenn sie fragen, dann sag ihnen, daß du auf der Salz-Pilgerfahrt gewesen bist. Und dann mußt du natürlich einen anderen Namen benutzen, genau wie ich.“
Mevlannen nickte. Sie schaute zurück, nur einmal, zum Gipfel des Pico Tranquillon hinauf. Von ihrem momentanen Standpunkt aus konnten sie die Hütte nicht sehen. Dann drehte sie sich um und ging den schmalen Pfad zum Meer hinunter, das sich tief unter ihnen im Morgenlicht kräuselte. Morlenden folgte ihr, und gemeinsam gingen sie zum Meer hinunter und zurück in die Welt.