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Die Dinge, die in deiner Erinnerung an die Vergangenheit wirklich herausragend sind, waren zu der Zeit, als du sie erfaßtest, so gewöhnlich und reizlos, daß sie dir wahrhaftig nicht erinnerungswürdig erschienen. Dennoch kannst du dich an die Dinge, die du dir als unglaublich interessant und auf ewig erinnerungsunwürdig vorstelltest, nur noch wie an vage Schatten, Phantome, verwischte Eindrücke erinnern. Man wird zugeben müssen, daß hierin ein Problem liegt: Es gelingt uns nicht zu begreifen, was von Bedeutung ist, bevor seine Bedeutung keinem anderen Zweck mehr dient außer dem, uns ständig zu verfolgen.
Die Spieltexte
Morlenden erwachte, als das Sonnenlicht durch das Fenster auf der nach Osten gelegenen Seite des Baumhauses strömte, hinein in einen Alkoven, in dem ein großes und geräumiges Schlafbord in die unregelmäßige, der natürlichen Form folgenden Konstruktion eingepaßt war. Eine Flickendecke, ein flaumweicher Sack. Er dazwischen. Langsam wurde ihm wieder bewußt, wo er war. Dies war das Baumhaus in den Wäldern, das Haus, von zwei Heranreifenden, Krisshantem und Maellenkleth, die ein Liebespaar gewesen waren. Und noch mehr … Verbündete in einem Krieg gegen einen Gegner, der sich von Tag zu Tag wandelte und sich der klaren Bestimmung zu entziehen schien. Morlenden blinzelte und rieb sich die Augen, als ob das den Nebel in seinem Inneren vertreiben würde. Vielleicht lag die mangelnde Klarheit an ihm, nicht an dem Jungen und dem Mädchen. Besser gesagt, vielleicht litten sie alle unter dem gleichen mangelnden Wahrnehmungsvermögen. Ein Mensch aus der chinesischen Militärgeschichte, ein Mann, dessen Texte die Leute oft lasen, Sun-Tzu, hatte behauptet, daß einer, wenn er seinen Feind und sich selbst kannte, nicht verlieren könne. Maellenkleth schien verloren zu haben; folglich … Der Ler-Geist, stark auf dem Gebiet der Intuition, tat den letzten Sprung für ihn: Sie hatte ihren Feind nicht gekannt. Und dies verursachte ihm ein Kribbeln auf der Kopfhaut, denn er kannte ihren Feind ebenfalls nicht, und er selbst schien drauf und dran zu sein, diesen Feind auch zu dem seinen zu machen.
Ihr Haus, ihr Bett. Ganz und gar nicht wie das yos mit seiner Tendenz, über dem Individuellen zu stehen. Das yos gehörte der gegenwärtigen Webwoge an, gehörte zur Zeit. Wenn es für sie an der Zeit war, verließen sie es, um nie wieder auch nur einen Fuß in dasselbe oder irgendein anderes zu setzen. Die Dinge waren die Artefakte, die von den Lebensformen zurückgelassen wurden. Dieses Baumhaus war ein solches Artefakt von einer Lebensform … etwas Mächtiges und Vitales. Anderes. Fremdartiges. Es gab ihm ein unheimliches Gefühl, ähnlich dem, das einen überfiel, wenn man die Kleidung eines anderen trug: Sie war sauber und hatte die richtige Größe, mehr oder weniger jedenfalls, aber irgendwie stimmte sie nicht, sie war nicht aus einem Guß mit einem selbst.
Er und Kris hatten noch bis tief in die Nacht hinein geredet, bis weit über die Zeit hinaus, zu der sie beide gewöhnlich zu Bett gingen. Aber was sie untereinander besprochen hatten, hatte wenig zu dem hinzugefügt, was er bereits entdeckt, worüber er bereits nachgedacht, was er sich bereits zusammengesetzt hatte. Nichts als Einzelheiten, Farbe, das lebendige Gefüge zweier Leben, die sich irgendwie ineinander verstrickt hatten und die wieder auseinandergekommen waren, aus Gründen, die keiner von ihnen kannte. Einzelheiten. Morlenden wußte, daß er die einzige Person war, mit der Kris über Maellenkleth gesprochen hatte, seit sie vor nunmehr zwei Monaten ihren letzten Auftrag angetreten hatte. Seine starke Unabhängigkeit als hifzer hatte ihm hierbei ganz und gar keinen guten Dienst erwiesen; seine zurückhaltende Schweigsamkeit hatten den Verlust dessen, was er vor allen anderen Dingen schätzte, nicht ausgleichen können.
Morlenden schob die Tagesdecke nach unten, streckte sich, stöhnte und ließ zu, daß ihn die eisige Luft schnitt, ihn noch wacher machte, während er, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, Gedanken sammelte. Irgendwo dort draußen war eine durstige, böse Macht, die das Leben Unschuldiger aussaugte, deren einziges Verbrechen übermäßiger Eifer war. Irgend etwas dort draußen in der Menschenwelt des Jahres 2550, welche überall, in ihr selbst und um sie herum, ihre Wurzeln hatte. Sie war eine geborene Spielerin, dachte er, und das einzige echte Naturtalent, das man jemals hatte, galt als die beste Spielerin, die je in der Geschichte des Spiels auftauchte. Aber sie spielte auch noch bei einem anderen Spiel mit, bei mehreren Spielen, und bei denen war sie nichts als eine Anfängerin, eine Amateurin, zum Verlieren verurteilt von Anfang an. Eine vom Aspekt Wasser, die auf dem Feld des Willens und der Disziplin spielte. Die auf einem Feld spielte, in dem Unbekannte anderen ihren Willen aufzwangen. Sie ging nach draußen, sie war jemandes Spionin, vielleicht Detektivin, gewiß für Sanjirmil, aber wer steckte hinter Sanjirmil? Aber es gefiel ihr nicht, sie hatte große Angst davor, und während dieses letzten Auftrags rechnete sie sogar mit Schwierigkeiten, nach den Vorbereitungen zu urteilen, die sie getroffen hatte, und den Dingen, die sie Kris erzählt hatte. Und trotzdem war sie gegangen! Diese Narren! Morlenden rollte sich auf eine Seite hinüber, stützte sich angeekelt auf den Ellenbogen und dachte über das Problem der Unschuld nach. Deren Unschuld, seine eigene Unschuld.
Das ist bei ihr das Problem, bei mir, bei Kris, dachte er, bei uns allen; wir Ler kennen das Böse nicht. Wir haben uns immer den Luxus erlaubt, das allein den Menschen zuzuschreiben. Jawohl, das Böse, die Sünde, die Dummheit. Nicht bei uns! Wir waren die Neuen Menschen, die Mutanten, die Ler, wir waren so unschuldig wie der frischgefallene Schnee, ohne Fehl und Tadel. Und was waren deine Sünden, Morlenden Deren? Daß du in deiner Jugend einmal ein unscheinbares oder reizloses Mädchen abgewiesen und ihre Gefühle verletzt hast? Daß du für deine Dienste als Registerbeamter manchmal zu viel berechnetest? Daß du manchmal zu ausgiebig dem Alkohol zusprachst? Du bist dumm und weißt fast nichts über das, in das du da hineingeraten bist; in das du mit Sicherheit noch tiefer hineingeraten wirst, wenn du diese Maellenkleth noch weiter verfolgen willst.
Er hatte etwas wie eine Vorahnung; jedoch war er sich auch einer starken Strömung der Unrechtmäßigkeit, der Ungerechtigkeit, der Böswilligkeit bewußt, etwas, das ihm sogar noch fremder war – daß eine Person auf ein Nichts reduziert werden konnte und dies durch nichts als irgendeinen simplen Vorgang oder möglicherweise die Ziellosigkeit eines geheimen Plans, mit dem sie gar nichts zu tun hatte. Sie war einfach nur anderen im Weg, die nicht sehen wollten, was sie ihnen anbot. Nein, das war auch nicht alles. Es war auch Böswilligkeit dabei. Aber von wo ging sie aus? Von wem? Morlenden suchte irgendwo tief in seiner Intuition nach den äußeren Anzeichen einer Macht, einer elementaren Gewalt, aber dort unten, da war nur das Gefühl eines schimmernden Widerspruchs, eines Zwiespalts. Falsch, falsch. Ihm fehlten die Daten. Er setzte sich aufrecht auf dem Schlafbord hin. Er hatte etwas entschieden. Er fühlte sich unwohl deswegen, einen Augenblick lang schwindelig vor Angst, aber er blieb dabei, und kurz darauf klang das unangenehme Gefühl ab. Es verschwand nicht ganz, und er befürchtete schon, daß es ihn für den Rest seines Lebens begleiten würde, aber es war immerhin doch bis zu einem erträglichen Intensitätsgrad abgeflaut.
Kris hatte auf dem Boden am Ofen geschlafen und Morlenden das Schlafbord angeboten. Offensichtlich hätte der Junge unter dieser Decke sowieso nicht allzu ruhig geschlafen, da er sich voll und ganz der Gefühle erinnern mußte, die sich zwischen ihm selbst und Maellenkleth hier abgespielt hatten. Morlenden stand auf, zog sein Überhemd an und kletterte zur niedrigeren Ebene des Baumhauses hinunter, wo der Ofen und der Kaminraum waren, der Raum, in dem sie miteinander gesprochen hatten. Das Baumhaus war still, leer. Er hatte nicht das Gefühl, daß jemand anwesend war. Morlenden wußte nur zu gut, daß Krisshantem ein ruhiger Typ war, aber doch nicht so ruhig. Er blickte sich um. Kris war verschwunden. Am Herd lagen ein paar hartgekochte Eier, etwas Brot und Käse und ein Zettel. Er hob den Zettel auf und las, was in zierlicher und klarer Schrift darauf geschrieben stand.
Ser Deren, ich habe dich letzte Nacht viel zu lange aufbleiben lassen, doch ich mußte mich heute früh auf den Weg machen. Für deinen Nachhauseweg habe ich dir Proviant hingestellt. Ich werde dich in ein oder zwei Tagen bei deinem yos treffen. Ich habe dir letzte Nacht nichts gesagt, denn ich wollte nicht laut davon sprechen, aber sei gewarnt und paß auf dich auf. Jemand war in der Nähe und hat uns verfolgt, wahrscheinlich dich, obwohl ich nicht weiß, warum es so sein sollte, wie es zu sein scheint. Ich glaubte in der Nacht ihre Spuren zu hören, aber sie kennen meine Grenzen und wollen nicht nahe genug herankommen, damit ich sie hätte identifizieren können. Bei Anbruch des Tages fand ich Teile von Spuren im Wald. Aber ich weiß immer noch nicht, von wem. Ich rieche hier Gefahr und weiß, daß du nicht das Gespür derer hast, die hier leben. So gehe denn geradewegs zu deinem Anwesen und zögere nicht. Ich werde so schnell ich kann zu dir stoßen. Sei auf der Hut, so gut du kannst.
Morlenden las alles durch und dann nochmals, wunderte sich über die Botschaft und sann über den eigenartig abgehackten Stil nach, so unähnlich dem, in dem Kris persönlich sprach. Vielleicht hatte er wirklich Angst. Da gab es also des Nachts Lauscher bei den Perklarens oder besser dem, was noch von ihnen übrig war; und einen Beobachter außer Sichtweite beim Baumhaus, jemanden, der laut Kris’ eigenem Eingeständnis fähig war, sich mit genügender Geschicklichkeit zu bewegen, um sein beachtliches Wahrnehmungsvermögen zu neutralisieren. Ja, es sah in der Tat so aus, als folge ihm jemand, beobachte ihn jemand. Morlenden zog nicht ernsthaft die Möglichkeit in Betracht, daß die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun hätten. Eine solche Geschicklichkeit war selten. Er trat ans Fenster und sah durch es hindurch in den Wald; er wußte nicht genau, was er zu sehen erwartete. Er sah nichts als die Bäume, den blattbestreuten Waldboden, die kahlen Stämme und Äste, die Schatten des Morgens, den sich überziehenden Himmel, dunstig, verschwommen. Das Licht hatte etwas Perlenartiges, Verblassendes, Zerrinnendes an sich.
Er kehrte wieder zu dem Essen zurück, und nachdem er alles in einem Bündel zusammengepackt hatte, zog er sich für das Wetter draußen an und machte sich daran, das Baumhaus zu verlassen, indem er die Falltür öffnete, um die Luft hereinzulassen. Die Luft hatte sich während der Nacht erwärmt; es war nicht annähernd so kalt wie am Tage zuvor. Regen lag in der Luft, Regen von der Sorte, der tagelang anhalten würde – beginnend mit einem feinen Nieseln und endend mit dem Morast, der durch das allmähliche Durchweichen klebrig geworden sein würde. Er glaubte jedoch, daß er es bis zum yos der Derens zurück schaffen würde, bevor der Regen ernsthaft einsetzte. Er glaubte, irgendwie Böses ahnend, daß dies unter der Voraussetzung der Fall sein würde, daß er unterwegs niemanden traf. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sah er sich nach einer Waffe um, etwas, das er als solche benutzen konnte, ein Messer, einen Knüppel. Es war nichts zu sehen; und Morlenden hatte im Augenblick viel zu großen Respekt vor dem Bewohner dieses Hauses, um es auf der Suche nach einer Waffe zu durchstöbern. Die es hier wahrscheinlich ohnehin nicht gab.
Eine Waffe! Morlenden war allein durch das gesamte Reservat gegangen, hatte im Freien geschlafen, wenn das Wetter es erlaubte und manchmal auch dann, wenn nicht, er hatte mit den schlimmsten Rabauken zusammengearbeitet und im Gegensatz zu Fellirian noch nie in seinem Leben eine Waffe getragen. Fellirian wohl. Aber er nicht. Er hatte nie eine für nötig gehalten. Fellirian auch nicht, was das anging. Aber wer konnte sich auch vorstellen, daß er eine nötig haben könnte? Geschlagen hatte er sich, und nicht zu knapp, mit Knien und Fäusten, Füßen und Ellenbogen, gewonnen und verloren hatte er in gleichem Maße. Trotzdem trug er keine Waffe. Und jetzt war nichts da. Morlenden wandte sich zum Gehen; er fühlte sich unbehaglich, besorgt. Aber auch trotzig: Wenn denn also mein Feind einer von uns ist, dann soll er sich mit mir einigen, Auge um Auge, Zahn um Zahn! Die Liebe mag für mich vorüber sein, aber kämpfen kann ich immer noch, und ich werde ihm schon ganz schön den Hintern versohlen! Morlenden wußte, daß diese frechen Worte dürftige Waffen waren, aber trotzdem fühlte er sich danach besser.
Bevor er das Baumhaus durch die Falltür und über die Leiter verließ, trat er auf einen schmalen Vorsprung hinaus, der nicht groß genug war, um als Veranda im eigentlichen Sinne bezeichnet zu werden; nur ein Ort, um sich ab und zu auszuruhen. Am anderen Ende, in der Ecke, verbreiterte er sich zu einem Sims, einen kleinen Balkon, einem Plätzchen nach Westen zu, von dem aus man die Strahlen der untergehenden Sonne mitbekam; etwas, das er schon gesehen hatte – und trotzdem auch noch nicht gesehen hatte … er hatte das merkwürdige Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses. Da fiel es ihm ein.
Das Bild Maellenkleth. Ein Muster aus Licht und Schatten war über sie hinweggehuscht, und er hatte angenommen, daß es vom Fenster erzeugt worden war, aber das war natürlich nicht der Fall; es war von dem Sonnenlicht gekommen, das durch das Sommerlaub fiel. Natürlich. Das Bild kehrte jetzt genauso klar wieder, wie es gewesen war, als Kris es gesendet hatte und er sie sah, genauso lebendig, als ob er sie selbst gesehen hätte. Und sie hatte noch etwas an sich, was ihm zuvor, geblendet durch ihre Jugend und Schönheit, nicht aufgefallen war.
Nicht der Körper oder die Pose, entspannt, ungezwungen, das versuchsweise einladende Lächeln der Liebenden, das über die Flächen ihres Gesichts spielte, aus ihren Augen herausströmte; was war das, was ihre Augen an sich hatten? Die Haut war ein warmes, sonnengebräuntes Oliv, die Gliedmaße immer noch ein wenig unbeholfen, unfertig, jugendlich, die Hände lang und starkknochig, gerade wie Klervondaf gesagt hatte. Sie hatte eine hohe Stirn, die wie bei einem Kind unter der Ponyfrisur verborgen war, in der sie ihre dunklen Haare trug. Und die Augen … die Augen! Das war es! An den Augen hatte es gelegen! Obgleich sich das Bild nicht bewegt hatte, sondern nur ein Ausschnitt aus einem einzigen Augenblick gewesen war, war doch an den Augen irgend etwas bestürzend Vertrautes gewesen, und nun konnte er es erkennen und einordnen. Morlenden hatte den gleichen zerstreuten und abwesenden Blick vor langer Zeit schon einmal gesehen, bei einer, die viel von ihrer Zeit und ihrem Leben damit zubrachte, sich hauptsächlich im peripheralen Sehen zu üben, wobei die Augen ein Muster aufnahmen, das im visuellen Zentrum gelesen wurde, statt sich auf einen einzelnen Gegenstand zu konzentrieren. Genau wie bei der Sanjirmil von vor sechzehn Jahren, nur hier etwas stärker ausgeprägt. Aber es war ihm damals bei Sanjirmil nicht als Nachteil vorgekommen, und genausowenig kam es ihm jetzt bei Maellenkleth so vor. Natürlich, sie waren beide Spielerinnen des Zan-Spiels, und etwas, das sie bei diesem Spiel taten, verlieh ihnen diesen eigentümlichen Blick, dieses Starre, Geistesabwesende. Morlenden überlegte noch einmal: Aber Kris, der auf dem Gebiet des Spiels unterrichtet worden war, hatte ihn überhaupt nicht, und in seinen eigenen eingeschalteten Erinnerungen konnte er nicht das geringste entdecken, das eine so starke Ausprägung hätte bewirken können. Es konnte nur ein Beiprodukt des Inneren Spiels sein, etwas, das sich auf das Verhalten auswirkte und das weder er noch Krisshantem je gesehen oder gekannt hatten!
Er kehrte ins Baumhaus zurück, kletterte durch die Falltür nach unten und ließ die Leiter zum Boden hinab. Morlenden sah sich um, so gut er konnte, und brach dann gen Südwesten auf, durch die verlassenen Wälder, indem er die Richtung in dem glasigen, durchscheinenden, schattenlosen grauen Licht riet und sich, wie er so ging, gründlich nach möglichen Anzeichen von Gesellschaft umsah. Daß er keinerlei Anzeichen sah, beruhigte ihn keineswegs. Denn als er und Taskellan Krisshantem getroffen hatten (oder war es andersherum gewesen?), war Kris anscheinend aus dem Nichts gekommen. Vielleicht gab es noch andere, die ähnlich begabt waren. Zumindest begabt genug, um ihm unbemerkt zu folgen und sich von Kris fernzuhalten, so daß der Verfolger unerkannt bleiben konnte.
Bei Anbruch des Nachmittags, als die Luft durch einen von Norden her wehenden Wind kalt war und mehr als nur einen Anflug von Feuchtigkeit an sich hatte, sah er sich mit der Tatsache konfrontiert, daß er an diesem Tage nicht sein eigenes yos erreichen oder auch nur in die Nähe davon kommen konnte. Kraft seines eigenen inneren Schätzsystems, das, wie er zugab, sich leider nur allzuoft irrte, und trotz des totalen Gedächtnisses hatte er geglaubt, sich südöstlich des Seengebietes und der Perklarens zu befinden und damit etwa einen Tagesmarsch nordöstlich seiner Wohnung. Die Gegend, die er jetzt durchquerte, war nirgendwo so wildromantisch wie der ferne Nordosten, das Land der Hulens, Krisshantems und anscheinend wenig anderer, aber man hatte auch erst vor kurzem damit begonnen, dieses Land in den Grundbesitz der Reservatsweben einzugliedern, und es war noch verhältnismäßig unterbevölkert. Morlenden wußte nur von wenigen Anwesen in diesem Teil, und die, an die er sich erinnern konnte, lagen auch nicht annähernd in dieser Gegend, wo immer er sich jetzt befinden mochte; er war sich nicht ganz sicher. Er wußte nur, daß er, wenn er in der Richtung, in die er sich bewegte, weiterging, irgendwann auf vertrautes Land stoßen würde.
Der Nachmittag zog sich dahin, wie dies in Gebieten geschieht, die unter dem Einfluß launischer und sich im Zeitlupentempo wandelnder Witterungen stehen; bald konnte man damit rechnen, daß es anfing zu regnen, möglicherweise zu schneien, und so würde es tagelang gehen. Jetzt ließ das Licht nach, das Licht eines späten Wolkentages, schwach und mit blauen Untertönen; das Ler-Auge mit seinem höheren Anteil an Stäbchenzellen in der Netzhaut verlor mit abnehmenden Helligkeitsgraden zunehmend an Unterscheidungsvermögen und sah im Graulicht besonders schlecht. Morlenden fand sich damit ab, frieren zu müssen und fing an, nach einem geeigneten Unterstand für die Nacht zu suchen. Blind durch den Wald und über gestrüppbedecktes Neuland weiterzugehen war undenkbar: Irgendwann würde er stolpern und hinfallen.
Als er nach einem geeigneten natürlichen Unterstand suchte, einem geologischen Vorsprung, einem gestürzten Baum, ein paar Ruinen aus der Zeit, in der dieses Land noch von Menschen bewohnt gewesen war, einem Stall oder Schuppen, da wurde ihm allmählich bewußt, daß er sich an einem Ort befand, der gewisse Anzeichen dafür aufwies, daß er benutzt wurde: ein frischer Pfad, einer, der erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit von Wanderern benutzt worden war. Eine merkwürdige Rodung in dem halbbewachsenen Waldgebiet, dort, wo man geschickt einen Baum entfernt hatte. Es sah allerdings nicht nach der Arbeit einer Webe aus, die das Land auf eine bestimmte Frucht hin bearbeitete. Sie pflegten unbekümmerter vorzugehen, und außerdem waren sie spezialisierter. Wahrscheinlich war irgendwo in der Nähe eine Ältestenhütte, höchstwahrscheinlich erst kürzlich gegründet. Das konnte alles mögliche bedeuten: Morlenden hatte sich nie um die Organisationen der Ältestenklasse gekümmert und wußte eigentlich nur von den berühmteren, wo sie waren und wie sie lebten. Er lauschte sorgfältig, außerstande, mit dem bloßen Auge auch nur irgend etwas mit Gewißheit in der Ferne auszumachen, in der bedeckten Dunkelheit, die vor dem Regen kommt, grauen und violetten Schatten. Nichts. Ein träge fließender Bach in der Nähe. Ein tröpfelndes Geräusch, ganz langsam, irgendwo in entgegengesetzter Richtung. Etwas Erwartendes, ein Hoffen auf Regen. Ja, es würde sicher Regen geben. Er konnte es fühlen. Keinen Schnee.
Aus der Ferne, gedämpft durch den Abstand und das Wetter und durch das halb überwachsene Land, glaubte Morlenden das Läuten einer Glocke zu hören, über die bewachsenen Felder hinweg. Er lauschte abermals. Stille für eine ganze Weile. Dann das Geräusch: Das Läuten einer Glocke, schwach, einzelne, tiefe Impulse, die sich wie das langsame Kräuseln auf der Oberfläche eines stehenden Teiches ausdehnten, abgelenkt durch Pflanzen und Abfälle und von ihnen erstickt … wieder ein Impuls, gefolgt von Schweigen. Indem er voraussetzte, daß der erste, den er gehört hatte, auch tatsächlich der erste gewesen war, zählte er sie, während die beinahe unhörbaren Impulse nach und nach durch die feuchte Luft strömten. Die achtzehnte Stunde. Er wußte nicht, wer das sein konnte, der dort den Abend einläutete, aber er wandte sich in die Richtung, aus der das Läuten gekommen war. Es war fast vollkommen dunkel, als er sich nach einigem Stolpern sicher war, doch noch an ein Ziel zu kommen; es waren bebaute Felder, es war beschnittenes Reisig zu sehen, und das Ganze machte den Eindruck von Ordnung und Sauberkeit, fast von etwas Parkähnlichem, als er näherkam. Ein leichter Sprühregen hatte eingesetzt. Morlenden folgte einem Etwas, das wie ein häufig benutzter Pfad aussah. Da vorn war etwas.
Während er so weitermarschierte und in dem schlechten Licht halb dahinstolperte, wäre er fast in eine Gestalt hineingelaufen, die mitten auf dem Pfade in der Haltung des schweigenden Wartenden stand. Sie trug ein dunkles Winterpleth mit Kapuze und stand mit geneigtem Kopf da, selbst als Morlenden näher herankam. Morlenden ging um die Gestalt herum, bis er genau vor ihr stand, und spähte in die dunkle Kapuze hinein. Innen hob sich ein Paar ruhiger Augen langsam vom Boden bis zu Morlendens Gesicht empor und fixierte ihn mit einem gefaßten, ausdruckslosen Blick.
Morlenden sprach: „Ich bin ein Wanderer mit Namen Morlenden Deren. Ich bin auf dem Heimweg, und der Regen und der Einbruch der Nacht haben mich draußen überrascht. Gibt es hier in der Nähe einen Unterstand?“
Die Gestalt sprach nicht, sondern hob ihren Arm und zeigte den Pfad hinunter in die gleiche Richtung, in die Morlenden gegangen war, und neigte den Kopf einmal in dieselbe Richtung. Dann kehrte die Gestalt wieder zu ihrer Meditation zurück, indem sie erneut zur Erde sah, als ob Morlenden derjenige sei, der wie ein Geist wirkte.
Morlenden erkundigte sich höflich: „Sprichst du nicht?“
Die schweigsame Gestalt erwiderte nichts, ja, sie ließ nicht einmal mehr erkennen, daß sie Morlendens Anwesenheit überhaupt je wahrgenommen hatte.
Morlenden drängte nicht weiter, da er zu dem Schluß gekommen war, daß er bereits dabei war, irgendein heikles Gleichgewicht zu stören; er wandte sich von der Gestalt ab und ging in der angegebenen Richtung weiter. Nachdem er ein paar Biegungen des Pfades hinter sich gelassen hatte, der jetzt von hohen und dickten Hecken aus Liguster und Feuerdorn gesäumt war, stieß er auf ein einfaches Holztor und hinter diesem auf eine weitläufige Ansammlung von Gebäuden aus grobem Stein und teilweise Holzfachwerk, einige davon offensichtlich Viehställe, andere Werkstätten. Ein paar waren größer und hatten zwei Stockwerke, anscheinend die Wohnquartiere. Weitere Gestalten mit Kapuzen waren auf den Beinen; sie erledigten ihre Geschäfte mit betonter Langsamkeit. Eine kam an Morlenden vorbei, blieb stehen und wies auf eines der großen Gebäude. Dann drehte sie sich um und ging weiter ihres Weges, wobei das Ganze in vollkommener Stille vonstatten ging. Eines wußte er nun: Es mußte eine Ältestenhütte sein. Aber welche?
Als er auf das angegebene Gebäude zuging, fand Morlenden eine Tür und trat ein. Innen war eine niedrige Theke und dahinter ein ziemlich kleines und eher dürftiges Refektorium. Die Theke war durch eine massive Platte aus blauem Glas geschützt und trug eine Aufschrift, die in umgekehrten Lettern in die Unterseite geritzt war; sie lautete: Granithütte. In kleineren Lettern hieß es: INNERE EINKEHR UND SCHWEIGEN. Morlenden entdeckte ein hübsches kleines Schild an einem Pfosten, auf dem mitgeteilt wurde: Höfliche Besucher werden an unseren Meditationen teilhaben. In der Schenke wird zwischen der fünften und der achten Stunde Essen ausgegeben. Unterkünfte ein Stockwerk höher. Der einsichtige Gast wird die Auflistung von Einzelpreisen für unnötig halten. Morlenden verstand; er griff tief in den Beutel, den er an der Hüfte trug und entnahm ihm mehrere kleine Münzen, welche er in eine geeignete Vertiefung in der gläsernen Oberfläche legte. Er sah sich unsicher um. Es schien niemand im Refektorium zu sein. Er suchte nach einer Treppe oder einem Gang zum anderen Teil des Gebäudes; weit rechts endete ein verdunkelter Gang mit einer schmalen Treppe. Morlenden machte sich in diese Richtung auf und begann mühsam den Aufstieg zu den oberen Stockwerken.
Auf dem ersten Stock war ein schmaler Gang, der durch dicke, langsambrennende Kerzen erleuchtet war, die auf Haltern aus schwarzem Eisen steckten. Innen setzte sich die Fachwerkbauweise der Außenwände fort, unterbrochen von Türen mit schwerer Holzverkleidung, welche anscheinend auf der gesamten Etage in Schlafabteile führten. Morlenden ging auf die erste Tür zu und versuchte sie zu öffnen. Sie war verschlossen. Die zweite – die in einem Winkel auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs und etwas weiter weg lag –, war nicht abgeschlossen; er trat ein.
Innen waren zwei Betten, die ziemlich genau nach Art der Betten der Menschen gemacht waren, aber ganz schlicht, nichts weiter als Gestelle für gepolsterte Bretter. Aber sie waren reichlich beladen mit Bett- und Tagesdecken. Morlenden öffnete seinen äußeren Umhang und prüfte die Luft. Kalt; er würde den ganzen Haufen feuchter Decken benötigen. Am anderen Ende des Raums standen unter einem winzigen Fenster, das hoch oben in die Mauer eingelassen war, ein Tisch und ein Stuhl. Auf dem Tisch befand sich eine einzige lange Kerze. Morlenden nahm die Kerze mit nach draußen, wo er sie an eine der brennenden Kerzen in den Haltern hielt, zündete sie an und ging wieder in den Raum zurück. Nun, da er von dem warmen gelben Licht der Kerze erleuchtet war, wirkte er nicht mehr ganz so kahl und öde. Das Balkenwerk war feinste Handarbeit, wenngleich mit jenem Hauch roher Patina behaftet, die auf frisches, von der Zeit noch nicht bearbeitetes Material schließen ließ. Auf dem Tisch lag ein großer, schwerer Band zusammen mit einem Bündel Papier, einer Feder und einem Tintenfaß. Er sah genauer hin; die Schrift der Vorderseite des Buches lautete: Knun Vrazus{37} – Die Lehre von den Gegensätzen. Morlenden lächelte ein wenig und blätterte flüchtig in dem Buch. Von Hand geschrieben, schön illuminiert und reich ausgestattet mit seltsamen Zeichnungen von mythologischen Tieren und Gestalten, Dämonen, Engeln, Märchenfiguren. Er verstand sehr gut: Man sollte hier meditieren, hier in dieser kleinen Zelle, und seine Gedanken und Überlegungen an die künftigen Bewohner wie auch an die Bewohner der Granithütte weitergeben. Er seufzte niedergeschlagen: Morlenden hätte einen Gang in die Schankstube vorgezogen, um sich dort einen Schluck oder zwei und ein kleines Gespräch zu gönnen. Er grub das noch übriggebliebene gekochte Ei aus seinem Tornister aus, klopfte es auf und verzehrte es, wobei er vorsichtig auf der harten Bettkante saß. Während er aß, lauschte er den Geräuschen im Haus, bemerkte jedoch nichts außer dem vom Dach heruntertropfenden Regenwasser, das draußen Pfützen bildete, und ein leichtes, angenehmes Glucksen weiter weg, das Fließen von Wasser in einer Dachrinne. Geräusche von Leuten waren überhaupt nicht zu hören.
Als er sein Ei aufgegessen und aus einem kleinen Krug Wasser getrunken hatte, den er in einem winzigen Wandschränkchen entdeckt hatte, blickte er sich noch einmal in dem kleinen, kahlen Raum um, schüttelte den Kopf und begann sich auszuziehen. Seine äußere Kleidung hing er an einen Haken an der Wand. Alles übrige faltete er zusammen und legte es auf das Schreibpult; er behielt nur das untere Hemd an. Anschließend ging Morlenden daran, das Bett zu machen, wobei er hauptsächlich etwas über kalte gekochte Eier vor dem Zubettgehen vor sich hinbrummte. Er wollte schon die Kerze ausblasen, als er Schritte auf der Treppe hörte, die dann in den draußen liegenden Flur einmündeten. Noch ein Gast, dachte er. Mögen sie der gleichen Einladung folgen wie ich. Er lauschte. Er vernahm ein leises Rütteln an der ersten Tür; genau wie er selbst es vorher gemacht hatte. Dann versuchte der Besucher, seine Tür zu öffnen, die jetzt eingeklinkt, aber nicht abgeschlossen war. Es wurde einmal gerüttelt. Es entstand eine Pause, und dann klopfte der Besucher an die Tür. Indem er die Augenbrauen hochzog, nahm Morlenden die Kerze und ging zur Tür und öffnete sie – und blickte geradewegs in das regennasse Gesicht von Sanjirmil Srith Terklaren.
Sie trug immer noch einen schweren Winterumhang mit einer Kapuze, die ihr bis weit in die Stirn hineinfiel, der Umhang war mit der wasserabstoßenden Seite nach außen gewendet, und in dem flackernden Kerzenlicht schimmerten Hunderte von Glitzerpunkten auf ihm und auf Sanjirmil selbst an den Stellen, an denen sie unbekleidet war, an Gesicht und Händen. Ihre dunklen Augenwimpern; tiefschwarz, mit dem gleichen bläulichen Schimmer wie ihr Haar.
Sie sprach zuerst, weil sie entweder die Fassung wiedergewonnen oder sie nie verloren hatte, indem sie sagte: „Du auch hier? Darf ich mich zu dir gesellen?“
„Ja, ja, natürlich darfst du“, stotterte er und fuchtelte mit der Kerze herum. „Deine Stimme ist die erste, die ich hier höre; du bist mir sehr willkommen.“
Sanjirmil trat schüchtern ein und vermied es, Morlenden direkt anzusehen, während sie wie mit sich selbst sprach. „Du bist noch nie hiergewesen? Die hier sind wahrlich schweigsam. Nie habe ich einen von ihnen auch nur ein Wort sagen hören.“ In der Mitte des Raumes zog sie den äußeren Umhang aus, schüttelte den Regen ab und suchte nach einem Haken, um ihn aufzuhängen. Als sie ihn gefunden hatte, den unbesetzten Haken an der entgegengesetzten Wand, hing sie den Umhang auf und ließ ihm einen großen Beutel folgen, den sie über eine Schulter geschlungen getragen hatte und der dumpf klirrte, als sie ihn gegen die Wand lehnte.
Morlenden konnte sehen, daß der Umhang nicht den ganzen Regen abgehalten hatte, denn an den Schultern und am Saum ihres Pleth waren feuchte Flecken. Auch dies zog sie unbefangen aus und legte es über das Kopfende des freien Bettes. Alles, was ihr jetzt noch an Kleidung verblieb, war ihr Unterhemd, welches sie anbehielt. Morlenden fiel jetzt vieles an ihr auf, aber das erste, was seine Aufmerksamkeit erregte, war ein gesticktes Zeichen, das in die rechte Schulter des Unterhemdes eingearbeitet war und den Mustern ähnelte, die er zuvor im yos der Perklarens bemerkt hatte, jedoch anders geformt war. Wo jene einfache geometrische Muster gewesen waren, mehr oder weniger symmetrisch, hatte das von Sanjirmil nicht diese offensichtliche Ähnlichkeit mit einer Zelle und war asymmetrisch – eine Linie aus blauen Punkten, die an jedem Ende bogenförmig angeordnet waren, wobei das rechte Ende größer war als das linke. Er erinnerte sich des grundlegenden Wissens, das Krisshantem in ihn hineingezwungen hatte, suchte in seinen neuen Erinnerungen nach der Figur und fand sie auch. Es war eines von den beweglichen Mustern des Anfängerspiels, eine Figur, die sich mit der Grundlinie rechtwinklig über das Feld in Richtung des größeren Kringels bewegte. Wie alle nachhaltigen Figuren des Spiels hatte diese einen Namen: Prosianlodh. Übersetzt ergab dieser Name eine rätselhafte Impression – „Schiff des leeren Raums“. Der Name wurde nicht erklärt. So war eben das Innere Spiel.
Aber er sah auch noch andere Dinge, Dinge, die zu sehen er sich nicht die Mühe gemacht oder die zu sehen er vermieden hatte, als das Mädchen die Perwathwiy Srith zum yos der Derens vor seiner Wanderung ins Landesinnere begleitete. Sanjirmil stand jetzt zögernd an der Grenze zur Fruchtbarkeit, auf dem Gipfel der Adoleszenz; sie stand zitternd an dieser Grenze.
Im Geiste erinnerte er sich der Range, des Wildfangs von vor sechzehn Jahren. Von nahem gesehen, so wie sie jetzt vor ihm stand, waren immer noch große Mengen dieser gleichen Qualitäten gegenwärtig – die Gesten, die zögernde Ungeduld, der schmale, schmollende, entschlossene Mund, die halb angestrengte Konzentration ihres Gesichts. Aber da war noch mehr. Ihr Haar war genauso dunkel und fest und zerzaust, wie es immer gewesen war, aber es war jetzt länger und voller, fiel achtlos über ihre Schultern, war fast bereit, zu der einzelnen Websträhne zusammengeflochten zu werden, die das Merkmal der Elternphase war. Auch war ihr Körper voller, beinahe erwachsen, besaß jedoch mit den stärkeren Rundungen etwas nicht ganz Lerhaftes, wenn diese auch gleichfalls nicht menschlich und auf ihre Art immer noch geschmeidig und kräftig waren. Sie nahm ihm die Kerze ab und stellte sie auf das Pult; sie bewegte sich mit wohlabgewogener Anmut, wie es vielleicht ein junges Mädchen gegenüber dem Liebhaber getan hätte, eine fließende, tanzende Haltung, die das Unterhemd um sie herumwirbeln ließ, und stand hinterher so da, daß das Licht der Kerze durch das Unterhemd hindurchscheinen mußte und somit vieles ahnen ließ und nichts enthüllte. Es war eine klassische Bewegung, kaum weniger direkt als eine ausgesprochene Einladung. Morlenden sah und würdigte alles, was sie da für ihn zur Schau stellte; er verstand die Botschaft ganz und gar. Sie weiß nicht weniger als ich, daß meine Zeit für diese Dinge vorbei ist, Vergangenheit, dachte er. Daher ist es nicht so eklatant, wie es scheint. Es ist keine Einladung, nur eine Mahnung. Als ob einer von uns je vergessen könnte.
Er hatte nicht vergessen: Sanjir-Ajimi war heiß und verschwitzt gewesen, beißend wie der Geruch von brennenden Blättern, nassem Holz, und ihre Haut hatte selbst nach dem Waschen den schwachen Geschmack von Salz behalten. Er hatte ihren Geruch aufgefangen, als sie an ihm vorbeigegangen war: herb und gebieterisch, rauchig wie immer, noch stärker. Zum ersten Mal in seinem Leben ertappte er sich dabei, wie er zugeben mußte, daß er doch ein wenig Bedauern über den Lauf der Dinge empfand. Morlenden blickte für einen Augenblick auf sein Leben zurück, ganz rasch, und er erkannte, was Sanjirmil für ihn gewesen war: ein letztes dhainaz, auf jeden Fall auf körperlichem Gebiet. Und auf wie vielen anderen Gebieten, die er versäumt hatte? Was war es, was sie ihm bot?
Sanjirmil ließ sich sanft auf der Kante dessen, was ihr Bett sein würde, nieder, ein wenig erschöpft, steif, wie nach einem langen Spaziergang. Sie fragte halb spöttisch: „Und was machst du hier, Ser Deren?“ Sie lehnte sich auf den Ellenbogen zurück und ließ zu, daß sich ihr Unterhemd am Hals noch etwas weiter öffnete, noch eine alte List, die Morlenden nicht entgehen konnte; und im Kerzenschimmer fiel das warme Licht über ihre dunkelolivfarbene Haut, warf Schatten in die Gruben ihres Schlüsselbeins, ein Platz für Küsse.
Er antwortete vorsichtig, indem er versuchte, den Schein der Neutralität zu wahren, irgendeinen Hauch von Verschwiegenheit, ein sinnloses Unterfangen, das wußte er, gegenüber dieser unglaublichen Bewahrerin von Geheimnissen. Er sagte: „Wenig genug. Ich habe nach dem Bilde von der gesucht, welche wir finden müssen, damit wir um so besser wüßten, wo wir sie zu suchen hätten. Ich war auf dem Weg nach Hause, wurde vom Regen überrascht und stieß zufällig auf diese Hütte.“
„Du hast also die, nach der ihr sucht, noch nicht gefunden.“
„Nein. Wir hatten auch nicht damit gerechnet. Wir wollten zunächst begreifen, wer sie ist, was sie ist. Oder besser gesagt, war. Fellirian forscht in der anderen Richtung nach, drüben beim Institut bei ihren Bekannten. Wir glauben, daß sie noch am Leben ist. Zumindest gehen wir so vor, als sei sie es noch.“
„Du wirst ihretwegen nach draußen gehen?“
„Natürlich.“
„Warum? Wenn du herausfindest, wo sie ist, kannst du es der Perwathwiy melden, und damit wäre die Sache für dich erledigt.“
„Warum? Das ist eine Sache der Ehre, würde ich meinen. Wir sagten, daß wir sie zurückbringen würden, wenn dies in unserer Macht stünde. Es gibt jedoch immer noch vieles, was wir nicht wissen. Wenn sie noch lebt, in welcher Verfassung sie dann ist.“ Er wechselte das Thema, da er bei dem Thema Maellenkleth etwas Bedrückendes empfand. „Und du, Sanjir, was machst du hier, an diesem Ort des Schweigens? Kommst du vielleicht auch aus dem Regen, so wie ich?“
Sie antwortete nicht sofort, sondern sah mit diesem alten, ausdruckslosen Blick, den sie an sich hatte, in die Ferne und wandte ihn nach und nach Morlenden zu. Ja, die Augen, dunkel, mit schweren Wimpern, weindunkel; sie hatten immer noch diese unheimliche Fähigkeit des prüfenden Tastens, aber jetzt war in ihnen auch eine gezügelte Unmittelbarkeit, und sie sandten Blitze und Feuer aus, wenn sie sich auf etwas konzentrierte. Aber im Moment waren sie weit weg und sahen etwas, das Morlenden nicht kannte. Sie sagte nach einer Weile: „Wir treffen uns oft hier, unsere Gruppe. Es ist ein ausgezeichneter Ort, um geheime Pläne zu besprechen, denn die, die hier wohnen, sprechen nie von dem, was sie hören oder sehen … Mit den Jahren habe ich ihn liebgewonnen, diesen Ort, und komme manchmal auch allein hierher. Und ich hatte Sorgen, und daher kam ich, um Einsamkeit und Frieden zu suchen, Morlenden. Ich weiß, daß ich ihn nicht in mir habe, aber ich würde ihn gern einmal erleben, und sei es auch nur, um ihn abzulehnen.“
Sie verstummte wieder und kaute an der Innenseite ihrer Unterlippe. An diesem Abend waren ihre Lippen blaß und farblos, heller als ihr Gesicht, was ihr ein merkwürdiges, geisterhaftes Aussehen verlieh. Das hellere Blaßrot ihres Mundes gegen das dunkle Oliv ihres Gesichts. Dann wandte sie sich ihm plötzlich zu und fixierte ihn mit einem durchdringenden und unangenehmen Blick und sagte: „Du bist wirklich sehr gründlich bei dieser Angelegenheit. Warum eigentlich? Ich kenne dich gut genug und weiß, daß du dich nie auch nur im geringsten um das Spiel oder seine Spieler geschert hast. Du bist nie ein Anhänger des Spiels gewesen, bei keiner Vorführung … Du hängst keiner Seite an, keiner Farbe, es gibt keine Flagge, die du schwenken würdest, weder eine rote noch eine blaue.“
„Es ist so, wie du sagst … Ich bin weder Anhänger des Spiels, noch habe ich je eine Seite gegenüber der anderen unterstützt.“
„Aber du mußt doch von der Rivalität zwischen unseren Weben wissen und davon, daß Maellenkleth und ich besondere Beispiele für diese traditionelle Rivalität waren?“
„In der Tat. Ich wußte davon, bevor du davon sprachst.“
„Warum also dieses Mädchen bis zum Schluß verfolgen? Du brauchst nur herauszufinden, wo sie ist, und darüber Meldung erstatten.“
„Es sieht ganz so aus“, sagte er nach einem Augenblick des Nachdenkens, „daß es einige Intrigen um das Haus der Perklarens gibt, von denen ich einige noch auseinanderpflücken muß. Es sieht alles extrem komplex aus, genau wie Maellenkleth selbst.“
„Maellenkleth war das genaue Gegenteil; sie dachte einfach und einseitig. Ich kenne sie gut, habe sie oft gesehen.“
„Soviel weiß ich bereits. Und auch, daß sie als eine hervorragende Spielerin galt.“ Morlenden spürte die Notwendigkeit, auf diesem Gebiet auf der Hut zu sein, aber er verspürte ein noch größeres Bedürfnis, Sanjirmil dazu zu verleiten, noch mehr zu enthüllen. Seine Rechnung ging auf: Sie reagierte sofort, wenn sie es auch gut verbarg.
Sie sagte mit schwankender Stimme: „Ach, wer hat dir denn das gesagt? Höchstwahrscheinlich hat man dir auch gesagt, daß sie eine bessere Spielerin war als ich. Nun, ich glaube nicht besser – nur anders. Meiner Meinung nach kümmerte sich Maellenkleth viel zu sehr um Fragen des Stils, um Eleganz, Finessen, kleine Geheimcodes. Aber ich glaube an die Ergebnisse, daran, daß sie das Eigentliche ausmachen. Und ich bekomme sie auch.“ Sie fügte hinzu: „Als Spielerin.“
Morlenden wollte rücksichtslos sein und verfolgte das Thema weiter. „Und ich habe auch gehört, daß ihr möglicherweise auch erlaubt werden sollte, wieder in das Spiel einzutreten – in das Innere Spiel, was immer das sein mag –, als eine gewisse shartoorh Dirklaren der ersten Dirklaren-Generation.“
Sanjirmils Gesicht wurde dunkler, geröteter, erregt. Sie ging sofort darauf ein: „Das war Torheit, Dummheit, vollkommener Unfug! Sie – diese beiden, sie und dieser hifzer – wollten das Unvermeidliche ändern durch kleine Kaminraum-Kinderspiele und durch List und Tücke. Aber ich sage dir, daß das auf mich keinerlei Eindruck machen konnte und auch nicht gemacht hat. Denn das Gesetz des Spiels, das von Pellandrey selbst so bestimmt wurde, besagt, daß nur ein verwobener Toorh zum Huszan, zum Meister des Spiels, werden kann: Ich bin verwoben und obendrein Toorh und Klandorh, und die gegenwärtige Elterngeneration der Terklarens ist bereits zu meinen Gunsten zurückgetreten, freiwillig. Deswegen bin ich nach dem Gesetz die Meisterin des Spiels; ich bestimme, wer etwas darf und wer nicht. Perwathwiy und die anderen, sie können mich vielleicht beraten, aber hier liegt die Verantwortung ebenso bei mir, und ich kann ihren Rat ausschlagen. Und ich werde Huszan und Klandorh sein, bis unsere Torrh-Kinder ihrerseits sich verweben werden. Jetzt, Morlen, geht es um weitere dreißig Jahre, um mehr als eine Spanne.“ Sie wiederholte die Zahl, indem sie sie nachdrücklich betonte: „Zweimal vierzehn und zwei! Und die Revens können so viele Weben gründen, wie sie wollen; am Ende kann doch nur ich sie zulassen, sie und ihren Außenseiter. Was sollte ich mich also um Dirklarens, Beshklarens, Nanklarens{38} kümmern?“
„Technisch gesehen bist du nicht eher verwoben, bis zum Beispiel ich dich dazu erkläre. Ich oder Fellirian oder Kaldherman oder Cannialin.“
„Aber natürlich bin ich verwoben! Ich bin voll initiiert! Und wie ich initiiert bin!“ Und an dieser Stelle mußte Sanjirmil so unwillkürlich lachen, als ob es um einen Witz ginge, den nur sie verstanden hatte.
„Und du berufst dich auf das Gesetz, um Maellenkleth aus dem Spiel auszuschließen, aber du selbst willst nicht, daß dasselbe Gesetz auch für dich gilt.“ Morlenden gab seiner Stimme etwas Schneidendes, als ob er ein Kind tadelte. „Es gibt kein Protokoll darüber; kein Deren war Zeuge.“
„Oh, aber es gab schon eine Feier. Sogar Mael war dabei …“
„Und Blumen hat sie wahrscheinlich auch gestreut?“
Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: „Und die, die deine Position rechtlich anerkannt hätten, wurden nicht benachrichtigt. Nicht einmal ein Höflichkeitsbesuch, nicht einmal eine Nachricht durch einen Boten.“ Damit erinnerte er sie auch an ihre gemeinsame Vergangenheit, denn Sanjirmil war es gewesen, die sooft darauf bestanden hatte zu schreiben, es aber nach all den Versprechungen nie getan hatte. „Aber alles in allem, wenn man das Gute wie das Schlechte betrachtet, denke ich doch, daß es letztlich keinen Unterschied macht, so oder so. Du benötigst unsere Billigung – du bekommst sie, jetzt, in dieser Minute. Schreib die vollen Namen deiner Webgefährten auf, und ich werde sie in die Akten aufnehmen. Fertig. Ich würde niemals irgend etwas blockieren, was offensichtlich bereits vollzogen ist … Ich könnte höchstens zu den Revens gehen wegen einer Schlichtung, aber nach allem, was ich gesehen habe, kann ich mir denken, daß sie schon im Bilde sind.“
„Morlenden, du kennst nicht alle Gründe …“
„Gründe nennt man das? Die Tyrannis der Gründe, so sagt man; wir können immer ein zhan voll von ihnen finden, um Dinge zu erklären, die wir gar nicht erst hätten tun sollen. Und natürlich können wir vernünftigerweise annehmen, daß Maellenkleth ohnehin erledigt ist.“
„Man hat sie vor den Gefahren vor langer Zeit gewarnt! Es war ganz klar – keine Tricks und keine geheimen Sachen! Uns zu dienen hat immer noch sie selbst gewollt, nicht wir! Sie hatte ein tapferes Herz, und man konnte es ihr nicht versagen, man mußte sie einfach an die vorderste Front lassen. Sie legte es darauf an … auf diese Weise verpflichtete sie sich diejenigen von uns, die nicht nach draußen konnten, solche wie mich, sogar solche wie mich. Darüber hatte nicht ich zu urteilen.“
„Und du willst behaupten, daß du nicht nur die Huszan, die Meisterin des Spiels, sondern auch eine chlenzan, die Gefangene des Spiels seist.“
„Gefangene, ja! So ist es bei jeder Meisterschaft! Ich bin nicht so einzigartig! Und ich bedauere nichts von dem, was ich aufgegeben habe, um sie zu erlangen, daß ich eines gegen ein anderes getauscht habe. Gegen irgendein anderes. Wenn du wüßtest, was ich weiß, würdest du es genauso sehen, und wenn sich so etwas in deiner Reichweite befinden würde, würdest auch du danach greifen.“
„Ich kann nicht über Versuchungen sprechen, denen ich mich nicht gegenübergesehen habe.“
„Aber du könntest dich ihnen gegenübersehen, und du könntest dabei gewinnen, wenn du nur auf mich hören würdest.“
„Wie kann ich nach etwas greifen, was mir noch gar nicht angeboten worden ist?“
„Ich habe es dir immer angeboten, schon vor langer, langer Zeit.“
„Um an dir zu kleben wie ein Ältester, wie damals, als wir nicht anders konnten? Um mit dem Geist das zu tun, was wir in der Vergangenheit mit dem Körper taten?“
„Warum denn nicht? Ich sage dir, das war das Beste und Schönste im meinem ganzen Leben; und einmal, nur ein einziges Mal, war ich frei, nur ich selbst, und ich vergaß meinen Namen. Ich weiß, es würde wieder genauso sein; du besitzt Reserven und ein Wahrnehmungsvermögen, von denen du nichts weißt …“
„Selbst wenn ich mich mit so etwas einverstanden erklären sollte, würde ich doch immer noch auf dich warten müssen …“
„Wie ich gewartet habe. Aber das ist nichts; das ist etwas, über das wir, die wir weiter vorausblicken, hinwegsehen. Ich werde nie jene Herbsttage vergessen. Es ist wahr, daß wir alle die Pflicht gegenüber dem Volk, gegenüber dem Körper auf uns genommen haben, die Linie, die uns übergeben wurde, hervorzubringen und zu erhalten. Nichtsdestoweniger kennen auch Herz und Verstand ihre Bedürfnisse.“
„Auch ich habe nicht vergessen. Aber wir waren trunken von der Haut des anderen, süchtig nach Küssen, und es geschah und es endete vor einer Ewigkeit. Du mußt wie ich zu dem Schluß gekommen sein, daß wir zeitlich schlecht übereingestimmt haben: Wir hatten wohl unsere Stunde, aber wir mußten beide auf getrennten Wegen weitergehen.“
„Aber ich habe gehört, daß du dir noch mehr wünschst für die Zeit deiner freien Jahre. Und frei sind sie, du kannst über sie verfügen. Und du hast schon mehr gehabt; das kann ich dir bieten, das und mehr.“
„Ich bin weiterhin skeptisch. Nach dem zu urteilen, was ich über das Spiel erfahren habe, bin ich mir nicht so sicher, ob ich mir solch ein Abenteuer wünschen würde. Wir sind einfache Feld- und Waldarbeiter, denk daran; entsprechend haben wir im wesentlichen bescheidene Ansprüche. Nur weil ich unvorsichtigerweise davon gesprochen habe, etwas Neues lernen zu wollen – zum Beispiel Schwimmen –, sollte das nicht so aufgefaßt werden, als ob ich deswegen das ganze Grüne Meer bis zum Lande Yevrofian durchschwimmen wolle. Bietest du mir das Spiel an, oder willst du annehmen, was ich als Ältester dir biete?“
„Ich biete dir nicht das Spiel an; was das angeht, so kann ich es nicht. Maellenkleth hat das bei Krisshantem gemacht, aber sie waren Kinder. Dafür ist es zu spät. Zu viel, was du lernen müßtest, Reflexe, Morlenden, Reflexe. Wissen ist nicht genug. Es ist die Geschwindigkeit, mit der du sie einsetzt, und es dauert fast eine ganze Spanne, bis man es richtig macht. Handeln, entscheiden, vorausblicken und den richtigen Zeitpunkt abpassen. Zu spät, muß ich leider sagen.“
„Was ist es dann, was ich von dir annehmen soll?“
„Nur mich selbst. Was könnte ich dir mehr bieten?“
„Ich kenne nur einen Teil von dir … und selbst jetzt kann ich nicht wissen, wie gut ich diesen Teil kenne. Alles ändert sich, und noch weniger weiß ich, was sich alles in deinem Leben ereignet hat.“ Sanjirmil schüttelte den Kopf. „Wenig, soviel steht fest. Ich habe noch keinen anderen kennengelernt, mit dem ich meine Ältestenzeit zusammen verbringen möchte. Könnte ich noch deutlicher werden? Schäme dich, daß du mich zwingst, mein tiefstes Inneres so zu offenbaren.“
„Das ist keine Angelegenheit, die ich leicht entscheiden könnte, schon gar nicht von einem Augenblick auf den anderen. Zumindest hätte ich gerne etwas Zeit.“
„Zeit, meinst du? Die fünfzehn Jahre bis hin zu Pethmirvins Verwebung? Die zwanzig bis zu dem Tag, an dem Pentandrun und Kevlendos die Urkunden der Derens ausgehändigt werden? Wir haben aber keine zwanzig Jahre mehr! Wir haben keine fünfzehn Jahre mehr!“ Sie hatte ihre Stimme lauter und eindringlicher werden lassen, jetzt aber wurde sie plötzlich fast zu einem Flüstern, als sie hinzufügte: „Wir haben nicht einmal mehr fünf.“
„Natürlich haben wir das. Wir haben Zeit bis in alle Ewigkeit.“
„Das haben wir nicht! Bis zum …“ Sanjirmil hielt inne. „Ich sage dir, das haben wir nicht, und was das angeht, so spreche ich als eine Huszan, weil ich es als Huszan des Inneren Spiels weiß. Glaube mir.“
„Ohne auch nur einen Grund für diese unziemliche Eile zu kennen, nichts außer ‚glaube mir’?“
„Du bist noch genauso starrköpfig wie früher!“
„Man ist nicht starrköpfig, wenn man nach Gründen fragt. Du mußt mir sagen, wieso du so sicher wegen der Zeitangabe bist – so sicher, daß du mir fast ein Datum nennen kannst. Wann wird das sein, und was wird dann geschehen?“
„Ich kann nicht ... Es stimmt, daß ich das Gesetz leichtfertig auslege, wenn es um meine eigenen Taten geht, aber trotzdem könnte ich dich nicht initiieren, wenn ich nicht wüßte, daß du dich gebunden hättest. Und zwar an mich.“
„Diese Art Zusicherungen kommen einem nicht so leicht über die Lippen; dieser Forderung ist genauso schwer nachzukommen, als ob man einen bodenlosen Abgrund mit Steinen zu füllen hätte. Dann handelt es sich hier also um einen zweiten Fall von Maellenkleth und Krisshantem? Sie wollte ihn auch nicht initiieren.“
„Soviel hast du von Kris erfahren? Aber er hat Mael nicht so gut gekannt, wie er dachte: Also ihm hat sie gesagt, daß sie das nicht tun würde! Aber mir sagte sie, daß sie ihn auf jeden Fall initiieren würde, ob mit oder ohne Erlaubnis! Sie ‚versprach’, das ganz bestimmt zu tun, o ja, obwohl ich den Ausdruck ‚drohen’ hier vorziehen würde.“
„Hätte sie das wirklich getan?“
„Sie sagte es jedenfalls. Aber zumindest blieb uns diese Peinlichkeit durch den Antritt dieser letzten Mission erspart.“ (Wie günstig, dachte Morlenden, wenn irgendein Wort von dem, was sie sagte, auch nur zur Hälfte wahr war.) „Es wäre jedoch schon soweit gekommen, keine Angst.“
Morlenden bemerkte kühl: „Dieses Spiel und seine Spieler werden mit jedem Spieler, den ich kennenlerne, interessanter.“
Ihre Antwort kam leise, und sie sah ihn so von unterhalb ihrer schweren Augenbrauen an, daß das untere Weiß ihrer Augen zu sehen war. Obwohl die Worte harmlos klangen, war die Wirkung bedrohlich, und Morlenden hatte den Eindruck, daß das auch beabsichtigt war. „Paß nur auf, daß dein Interesse nicht vor der Zeit zu groß wird.“
„Ich tue nur das, wofür wir von der Perwathwiy und von Pellandrey Reven bezahlt werden. Geh doch zu ihnen, wenn du dich beruhigen lassen willst; ich würde sogar mitgehen. Aber sobald wir etwas mehr wissen, werden wir Maellenkleth holen, und was auch immer dazu nötig ist, Wissen oder List, wir werden es schaffen, dessen kannst du sicher sein. Verstehe mich recht: Ich würde nicht einmal einen Becher voll von dem Ertrag unseres Toilettenhäuschens für ein Wort über das Spiel oder die Spieler an sich geben. Aber hier geht es um ein verschollenes Mädchen, das unter den merkwürdigsten Umständen weggegangen ist, die man sich denken kann, und dies bedarf der Aufklärung. Und um herauszufinden, wo sie sein kann, müssen wir wissen was sie war.“
„Wenn ihr sie findet, was werdet ihr mit dem, was ihr gefunden habt, tun?“
„Sie zurückbringen, wenn sie noch am Leben ist.“
„Und wenn sie als eine lebt, deren Geist zerstört ist?“
„Wie du weißt, kann sie wiederhergestellt werden, langsam, über Jahre hinweg oder rasch mit Hilfe der Multisprache, je nachdem, wie es die Umstände erfordern. Sie ist für uns in verschiedener Hinsicht wertvoll, und die Tatsache, daß sie eine große Persönlichkeit ist, ist nicht eben gering zu veranschlagen. Und sie ist eine von uns, die meiner Meinung nach in etwas verwickelt war, das über ihre Kräfte ging; und sie gehört zur künftigen Elterngeneration und wird als solche einmal wie wir die Last der Zukunft auf sich nehmen müssen. Und die Schönheit und der Geist, von denen ich soviel gehört habe? Sicher wäre es eine Verschwendung, alles einfach dahingehen zu lassen, zu verlieren, ohne einen weiteren Gedanken darauf zu verwenden. Nicht alles davon war das Ergebnis ihrer Erinnerungen – etwas davon muß auf der Ebene des Zellgewebes liegen und von daher über die Kinder bis zu uns gelangen.“
„Aber sie hat keine Familie, die sich um sie kümmern kann, die sich die Zeit nehmen und die Mühe machen könnte, sie wiederaufzubauen. Du weißt, daß der Wiederaufbau eines freiwillig Vergessenden viel schwerer ist als das Aufziehen des ursprünglichen Kindes, denn bei einem freiwillig Vergessenden sind Instinkt und Lernbereitschaft nicht so ausgeprägt.“
„Sie ist in einem solchen Alter, daß, wenn alles andere versagen sollte, wir Derens sie zu uns nehmen würden. Oder die Hulens vielleicht. Ich bin nicht sicher, ob das nach Kris’ Geschmack wäre, denn für ihn wäre sie trotzdem verloren, aber, nun ja …“
„Die Hulens? Diese Vogelscheuchen, Rowdys, Wanderer, Vagabunden, Nomaden!“
„Ich kann nichts über ihre Methoden sagen, aber das, was sie an Kris weitergegeben haben, schien mir eindrucksvoll genug. Sicher, er ist zurückgezogen und ein Einzelgänger, aber in den grundlegenden Umgangsformen kennt er sich vorzüglich aus. Er mußte schließlich von jemandem lernen, und da er nur losen Kontakt mit den Hulens hatte, muß der Umgang mit ihnen doch irgendwie von Wert sein.“
„Morlen, was haben wir verloren, daß ich dich jetzt nicht erreichen kann?“
„Jetzt? Wir können doch nicht verlieren, was wir nie hatten, Sanjir. Was das übrige betrifft, so verlieren wir nicht mehr, als andere in etwas anderen Umständen schon verloren haben. Verstehe mich bitte nicht falsch: Ich denke an die Zeit zurück, die wir zusammen waren. Sie läßt sich für mich wirklich mit nichts anderem vergleichen. Aber die Zeit ist vorbei, und die Voraussetzungen haben sich geändert. Du und ich, wir sind beide Toorh, und wir haben anderen gegenüber Verpflichtungen, ganz gleich, wie wir empfinden mögen. Ganz zu schweigen von anderen Gefühlen, die bei uns vielleicht inzwischen aufgekommen sind. Deine bei dir und meine bei mir. Würdest du wollen, daß ich einfach mit irgendeinem davonliefe?“
„Dann willst du also bei deiner Torheit bleiben?“
„Selbst wenn ich unparteiisch und nur auf meinen Gewinn aus wäre, würde ich weitermachen. Mein Wort ist mein Wort. Aber da ist noch mehr. Diese Maellenkleth wurde offensichtlich von genau den Leuten mißbraucht, die sie vor den Schrecknissen der größeren Welt hätten beschützen sollen, ob sie es nun wollte oder nicht. Sie war noch ein Kind – es war nicht ihre Aufgabe, als Spionin zu dienen. Das ist nicht die Sache der Jungen und Eifrigen, sondern der Ruhigen und Erfahrenen. Ich weiß, daß es dort draußen um hohe Einsätze geht, um das Gewinnen und Verlieren ganzer Welten. Vielleicht hier drinnen auch. Aber ich habe meine eigenen Werte, meine eigenen Interessen. Und es scheint viel zuviel im Gange zu sein, als daß man zulassen könnte, daß es nur deswegen im Verborgenen bleibt, weil es sich vielleicht um ein heikles Kultdogma handelt! Ich bin zumindest mir selbst, da ich diese Person jetzt anscheinend gefährde, die Wahrheit schuldig, und natürlich verdient es auch die Perwathwiy, das zu bekommen, wofür sie bezahlt hat. Deshalb will ich herausbekommen, wie Maellenkleth dahin geriet, wo sie nun ist.“
„Obwohl du weißt, daß du dich an der Schwelle zu Dingen befindest, deren Zeuge du zu diesem Zeitpunkt noch nicht werden darfst?“
„Allerdings. Genau das weiß ich. Aber habe keine Angst; ich bin von Natur aus verschwiegen und werde jedes Geheimnis, das ich aufdecke, für mich behalten.“
„Du nimmst an, daß du sie einfach so am Wegesrand findest, wie Steine auf einem Pfad?“
„Natürlich! Eine ausgezeichnete Art, es auszudrücken! Ich hätte es nicht besser sagen können, verschiedene interessante Steine dieser Art umgedreht, Dinge, von denen ich eigentlich annehme, daß man sie nicht einfach so verstreut herumliegen läßt.“
„Morlenden, Morlenden, ich bitte dich dringend, dich zurückzuhalten, ich warne dich! Wir sind kein Rätsel, das gelöst werden muß, kein Rätsel, das der Neugierige entschlüsseln sollte …“
„… sondern ein Geheimbund, vor dem wir uns zu fürchten haben? Während ihr seelenruhig über uns anderen steht? Das mußt du schon etwas genauer erklären!“
„Ich kann nicht, ich kann es einfach nicht. Ich würde viel verlieren, angefangen bei dir. Das wirst du mit der Zeit noch einsehen und auch, warum es so ist, obwohl ich von ganzem Herzen wünsche, daß es nicht dazu käme.“
„Also gut“, sagte er beinahe grimmig. „Ich habe sie wohlverstanden, alle deine Warnungen. Aber ich mache weiter.“
„Wie weit?“
„Bis zum Schluß.“
„Dann kann ich nicht die Verantwortung übernehmen, kann dir in nichts verpflichtet sein.“
„Wofür?“
„Für das, was vielleicht geschehen wird … man vermutet, daß Maellenkleth in eine raffinierte Falle gegangen ist, in eine, die noch nie zuvor jemandem gestellt wurde. Vielleicht ist sie sogar jetzt für dich gestellt, falls du ebenfalls hingehst.“
„Ich werde es darauf ankommen lassen und mich auf mein Geschick verlassen. Sie hat es darauf ankommen lassen und ist hingegangen, einfach so; ich kann nicht weniger tun, bei dem wenigeren, das ich zu verlieren habe.“
Diesen letzten Worten hatte Sanjirmil nichts mehr zu entgegnen, und so saß sie eine ganze Weile da, ohne etwas zu sagen; ihre Augen waren völlig dem blinden, tastenden Suchen hingegeben, bar jeden Ausdrucks. Schließlich stand sie müde vom Bett auf, als ob sie irgendeinen schweren inneren Kampf durchgefochten hätte. Sie bewegte sich zu der Stelle hin, wo Morlenden auf der Bettkante saß und beugte sich vor. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, welche heiß und trocken waren, und drückte sein Gesicht gegen ihren Leib. Ihre Muskeln waren gespannt wie ein Seil. Sie zitterte.
Sie zog sein Gesicht zu sich empor, indem sie es gegen ihre Brüste drückte, und sah ihm dann mit einem glühenden Blick in die Augen, von dem Morlenden nicht wußte, ob er ihn unbestimmt lange ertragen könnte, so intensiv war er. Langsam sagte sie: „Ich werde dich nicht fragen, ob du mit mir schlafen willst; ich will dich immer noch, ich erinnere mich noch zu gut an die Vergangenheit, und ich weiß auch, daß du jetzt unerreichbar bist für mich. Aber ich werde dich um einen letzten Kuß bitten.“
„Einen letzten Kuß?“
„Einen Kuß vor dem Schlafengehen, auf daß wir einander so in Erinnerung behalten mögen, wie wir einst waren.“
Sie beugte sich weiter hinab und preßte ihre Lippen auf die seinen, wie ein Kind, mit entspannten Lippen; sie machte keinen Versuch, sie zu formen. Während sie sich berührten, spürte Morlenden, wie das Bild der Vergangenheit in seiner Erinnerung auftauchte, wie es immer plastischer wurde, wie es mit der Gegenwart eins wurde. Bei all ihrer Aggressivität und Streitlust, so erinnerte er sich genau, war Sanjirmil doch von Anfang an scheu beim Küssen gewesen, nicht auf neckische, falsche Art scheu, sondern ganz wahrhaftig, so als ob sie Angst davor hätte, ein Stück ihrer selbst zu geben, Angst selbst davor, sich einem Kuß hinzugeben, geschweige denn dem, was danach kommen würde. Es war das gleiche, aber auch ganz genau das gleiche, der weiche, entspannte Mund, bei dem kaum die Lippen geöffnet waren, und sie ihre Zunge erst anbot, als er sie mit der seinen berührte. Morlenden erinnerte sich an die Vergangenheit, ihrer beider Vergangenheit, nur zu gut. Aber was die Gegenwart betraf, so empfand er nichts außer ein paar leichten, flüchtigen Gefühlen, die keine Gestalt und keinen Namen hatten, abgesehen davon, daß sie mit einer Traurigkeit, einem gewissen Bedauern verwandt waren. Sie atmete einmal tief durch ihre schmalen Nasenlöcher, hielt dann inne, wandte sich abrupt um und blies die Kerze aus. Morlenden spürte etwas Feuchtes auf den Wangen; er brauchte nicht das Salz zu schmecken, um zu wissen, daß es Tränen waren, wenngleich er ein Schluchzen von ihr weder gefühlt noch gehört hatte. Es war jetzt vollkommen dunkel in dem Raum, und er konnte sie nur am Geräusch ihrer Bewegungen verfolgen, am Rascheln ihres Unterhemdes, am Schlurfen ihrer bloßen Füße über den unebenen Holzboden, am Griff ihrer Hände, und er hörte das Bett knarren, als es ihr Gewicht empfing. Dann paßte sich das Schweigen der Dunkelheit an, Morlenden begab sich unter seine eigenen Decken und fiel beinahe sofort in den Schlaf, während ein letzter Gedanke wie ein gewaltiges Schott hinter dem Damm auftauchte: Ja, das Bett knarrte, aber nur gerade soviel wie damals. Auch bei uns knarrte es, bei Sanjir und mir, als wir das Körpergewicht des anderen empfingen; das Knarren dauert noch immer an.
Des Morgens, im grauen Licht eines regnerischen Morgens, erwachte Morlenden und sah, daß Sanjirmil immer noch schlief und langsam und tief atmete. Er glitt vorsichtig aus dem Bett und suchte leise seine Sachen und seine Kleider zusammen, um sie nicht aufzuwecken. Er wollte nichts mehr von der bedrückenden Unterhaltung wissen, die sie am Abend vorher geführt hatten.
Nachdem er sich noch ein letztes Mal umgesehen hatte, um sich zu vergewissern, daß er nichts vergessen hatte, hielt er inne, da er Sanjirmil noch ein letztes Mal ansehen wollte, Sanjir, die er vor langer Zeit im Walde getroffen hatte, Ajimi, deren Geliebter er gewesen war, und die neue und irritierende Sanjirmil … Terklaren, ja, die erwachsene auch, die von Fallen und Drohungen und noch mehr Rätseln sprach. Sanjirmil lag auf der Seite, nur halb zugedeckt, halb zusammengerollt; die Lippen leicht geöffnet, immer noch tief im Schlaf. Er sah genauer hin und erinnerte sich. Schlafend verlor ihr Gesicht im Jetzt viel von seiner ungewohnten Strenge und wirkte wieder weich und kindlich, ein Gör, ja, aber auch ein Gör, das sehr einsam war, sehr viel Angst vor der ihm aufgezwungenen Einzigartigkeit hatte. Die Adlernase verlor viel von ihrem raubtierhaften Schwung. Wenn es entspannt war, war es ein Gesicht, in dem sich Wünsche und Leidenschaften abzeichneten, und es kam dann nahe daran heran, ganz lieblich zu sein; ein ganz klein wenig schräg in den Augenwinkeln, war dieses Gesicht gleichzeitig fein und markant, ruhig und glatt wie das Gesicht irgendeines wilden Tieres im Zustand der Ruhe. Er merkte, daß es jetzt kein Geheimnis mehr war, wie sie zusammengekommen waren, als sie sich kennengelernt hatten; Sanjir war in der Tat eine Klasse für sich. Auffallend, gebieterisch; sie wäre selbst inmitten einer Menge sehr schöner Mädchen noch außergewöhnlich gewesen.
Er ging noch näher heran, vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, und er betrachtete ganz aus der Nähe ihre Augen, die immer noch geschlossen waren. Er glaubte, unter den Lidern irgendeine Bewegung zu entdecken, so als ob sie gerade einen Traum hätte. Er fragte sich vergeblich, was für ein Traum das wohl sein mochte. Näher. Hinter den geschlossenen Augenlidern war eine Bewegung, aber wie er sie beobachtete, konnte Morlenden sehen, daß die Bewegung unter den weichen, schwarzen, glänzenden Wimpern nicht die unstete, hin und her wandernde Bewegung einer gewöhnlichen Person während des Traums war, sondern eine Variante des gleichen tastenden Suchens, das er schon an ihr bemerkt hatte. Die Augen tasteten die „Umgebung“ nach Art eines Rasters ab: eine Querlinie, dann ein wenig tiefer der Neuansatz, bis zum untersten Teil des Gesichtsfeldes, dann wurde das Ganze wiederholt. Jetzt trat eine Verlangsamung ein, und er konnte die einzelnen Teile der Bewegung sehen, wozu er vorher nicht in der Lage gewesen war. Wirklich merkwürdig, daß sie so davon geprägt war, daß sie sogar auf diese Weise träumte. Wovon träumte sie gerade? Vom Inneren Spiel? Gleichzeitig bemerkte er, daß ihre Lippen sich ebenfalls bewegten, als spräche sie im Schlaf, aber er hörte keinen Laut. Er beugte sich weiter hinunter und versuchte, etwas zu hören, den Modus herauszubekommen, genau zu lauschen, da er wußte, daß er selbst, falls sie die Multisprache spräche, kaum in Gefahr wäre, weil es seinerseits keinerlei Synchronisierung und keinerlei Hingabe geben würde. Ihn konnte es nicht erwischen.
Da war es, und er fing einen Bruchteil davon auf, eine eigenartige Form, einen ungewöhnlichen Modus, den er nicht ganz genau erkennen konnte, etwas, das dem Modus des „Eins-zu-vielen“ ähnelte, aber mit einem eigenartigen Zusatz, einem gewissen Etwas, einer Synkopierung der Rhythmen, beinahe so, als kontrollierte sie auf irgendeine Weise die Handlungen eines anderen, mehrerer anderer, von dreien. Er bekam auf einmal rasche visuelle Eindrücke. Die visuellen Eindrücke blieben haften. Und jetzt, da er die ganze Kraft dessen, was sie im Schlaf aussandte, empfing, wurde Morlenden in einem eisernen Netz der Multisprache vom Typ der alles überwältigenden Befehlsgewalt festgehalten, und er sah und spielte seine Rolle und verstand nicht, was er sah und tat, aber er spielte mit großer Eindringlichkeit die Persona, die durch Sanjirmil übertragen wurde, weil er nicht anders konnte als genau die Instruktionen zu befolgen, die ihm gegeben wurden. Er hatte nicht die Wahl zwischen Ungehorsam oder Überlegen; und er hörte nicht, weil Sanjirmil durch den Ton und die Modulation und das Erbe des Volkes irgendwie ihre eigene Persona direkt in seinen Geist eingebracht hatte, und er setzte Spielfertigkeiten ein, von denen er nicht wußte, daß er sie besaß. Ein einziger Wille durchdrang alles, eine Kraft erfüllte ihn mit Energie, mit Schwung, mit Geschicklichkeit und Macht: Hölle und Tod strömten ihm die Arme entlang bis in seine Hände, die währenddessen wie rasende Schmetterlinge über eine Schalttafel flogen, die ihn einzukreisen schien, ringsum, wohin er auch greifen mochte. Es war natürlich das Spiel, und er konnte es über sich sehen; er war zurückgelehnt, sah nach oben, tastete mit den Augen eine Decke ab, die gänzlich aus einer leicht geschwungenen Schautafel bestand, auf der es wimmelte von Mustern aus Licht, Farbe und Dunkelheit, wobei sich die Formen und Muster mit schrecklicher Dringlichkeit und Direktheit wandelten, entfalteten, sich verlagerten. Etwas war im Kommen, und sie löschten es aus mit einer Bewegung, die den Rest dazu brachte, zu erzittern und sich zu verlagern und Teile von sich abzustoßen. Wellen des Wandels, der Zerstörung und des sich wieder Ordnens strömten über das Feld. Da war noch mehr, und es ging weiter mit wachsender Intensität, aber er spürte nichts als Zuversicht, Triumph, den Anschein von etwas, was endlich Wirklichkeit wurde, er hatte das Gefühl, siegreich zu sein, irgend etwas anderem eine Vorstellung aufzuzwingen, und dann kam ein furchtbarer Schlag, den sie alle zusammen ausführten und der die mehrfache Verkörperung zurückfahren, zurückschrecken, vor Entsetzen weichen ließ, aber sie konnten nicht darüber nachdenken; sie mußten weiter. Er verspürte das Frohlocken, das sie, die steuerte, ausstrahlte, und er erfreute sich daran: Triumph, Selbstbehauptung, die absolute Freude darüber, die ungeheuerlichsten Verbrechen und Grausamkeiten gegenüber dem meistgehaßten Feind zu verüben, über etwas, was man haßte und fürchtete und vor dem man sich vor nicht allzu langer Zeit noch versteckt gehalten hatte. Als sich langsam wieder ein Gleichgewicht einstellte, geschah dann etwas, was ihm unverständlich war. Eine lange gespeicherte, in den Gefängnissen der gefühllosen Materie gefangene, starre Energie sprang jetzt in Freiheit und floh schreiend gen Himmel; es gab Feuer und Gemetzel.
Morlenden wußte, daß er irgendwie auf die Steuerung, den Willen positiv reagierte, aber bis jetzt hatte er noch nicht versucht, sich selbst zu behaupten. Jetzt tat er es. Es hatte lange genug gedauert. Und er sah sich selbst jetzt als Weisen, als Gouverneur, als ausgleichende Kraft gegenüber Exzessen, als Barriere vor Impulsen, die noch heftiger waren als die, die er schon gesehen hatte. Wie das Öl auf den Gewässern suchte er mittels Feedback das, was sie alle taten, zur Ruhe zu bringen; schließlich – war er etwa nicht vom Aspekt Feuer, hatte er denn nicht auch einen Willen? Da war ein Konflikt, hier konnte es nur um Feuer gehen – und dann Schluß.
Erschüttert zog er sich von dem schlafenden Mädchen zurück, und jetzt war er wieder in der realen Welt. Oder etwa nicht? Er sah und verstand nicht. Jetzt erinnerte er sich wieder, und immer noch begriff er nicht. Er sah wieder auf Sanjirmil hinab. Sie bewegte sich unruhig im Schlaf und murmelte jetzt etwas, das unverständlich war, das tastende Suchen ihrer Augen hörte auf. Sie hatte einen Traum durchlebt, den nur sie kannte, und Morlendens Hände zitterten, und es kribbelte darin, als ob er einen elektrischen Schock erlitten hätte. Das war das Spiel gewesen, ganz bestimmt war es das gewesen, aber in einer Form, die er nie gesehen hatte, an einem Ort, den er sich nicht vorstellen konnte. Er versuchte sich zu erinnern: Das Bild war verschwommen und verzerrt durch den Traum eines anderen, aber er konnte es im Groben erkennen – er hatte sich innerhalb einer verstellbaren Liege befunden, die den Umrissen seines Körpers folgte und leicht geneigt war; seine Hände lagen an den massiven, um ihn herum angeordneten Schalttafeln. Aber all dessen war er sich kaum bewußt gewesen, da er total von der Konzentration auf den gigantischen Spielschirm in Anspruch genommen war, der sich über ihm wölbte, über ihnen allen, und die winzigen Geschöpfe noch kleiner erscheinen ließ, die die fliegenden Gestalten manipulierten, welche davonjagten und sich auf der Oberfläche verwandelten. Morlenden konnte sich nicht vorstellen, was es war, was er da gesehen hatte, worin er da gesteckt hatte. Die Umgebung war abstrakt und fremd. Aber es konnte keinen Irrtum geben über die Zuversicht, die Arroganz der Senderin, des Mädchens, das da vor ihm lag und dessen Anspannung sich jetzt wieder lockerte, das wieder in tieferen Schlaf zurücktrieb, der beinahe angenehm zu nennen war, von exotischer Form und Farbe; unschuldig träumte sie in den grauen Morgenstunden eines regnerischen Wintertages. Sie bewegte sich ein wenig, wobei sich ihre Lage etwas veränderte, ihre Decken in Unordnung gerieten, die nun ihren Duft ausströmten, immer noch denselben herb-süßen, betörenden Duft des warmen, heranreifenden Mädchens, wild, nur Körper. Morlenden zitterte heftig wegen der Gegensätze, die Sinne und Erinnerungen in ihm entstehen ließen. Rasch schloß er seinen Überwurf und schlüpfte, so schnell er konnte, aus dem Raum. Und als er sorgfältig die Tür hinter sich zuzog, draußen in dem kalten und zugigen Flur, da wußte er, daß, wie unerschrocken auch immer die Worte geklungen hatten, die er gebraucht hatte, er doch große Angst hatte vor diesem unbekannten, diesem unbegreiflichen Wesen, das in dem geschmeidigen, braunen Körper von Sanjirmil, die einst Ajimi war, konzentriert war.
Er eilte durch den Flur und dann die Treppe hinunter, die leer war wie am Abend zuvor, halb dunkel, beeilte sich, weil er eine drückende Gefahr spürte, eine mörderische Bedrohung, ein beunruhigendes Drängen, das ihn dazu veranlaßte, sofort hinauszugehen. Die Alternative zu der Suche nach Maellenkleth war die, so schnell er konnte aus der Angelegenheit herauszukommen. Plötzlich wollte er gar nicht mehr wissen, wie Maellenkleth dorthin gekommen war, wo immer sie sich jetzt aufhielt; er wollte das Ganze vergessen und alles Geld der Perwathwiy und allen ihren Anhängern zurückgeben.
Aber als er unten angekommen war, fühlte er, wie ihm der Verstand zurückkehrte, die alte Vernunft, die vertraute Entschlußkraft und die alte Neugier und das Selbstvertrauen. Er betrat das Refektorium und sah wieder Leute, und wenn sie auch nicht sprachen, da sie geschworen hatten zu schweigen, beruhigte es ihn doch. Er dachte an Fellirian und ihre Gelassenheit, ihr gemessenes Tempo, ihre ruhige Entschlossenheit, sich dem hier zu unterziehen, obwohl sie doch in vielem die gleichen bösen Ahnungen hatte wie er. Der Gedanke an seine Partnerin, innenverwandte Schwester, Mitgattin, Kameradin und, selten, Geliebte, ernüchterte ihn. Er ertappte sich plötzlich dabei, daß er wünschte, von der Vergangenheit, der Erinnerung frei zu sein. Und dann von dieser mit einem Mal ungewissen Zukunft; fest entschlossen zu sein. Er sah sich um und erblickte ein paar Gäste an ihren Tischen, die alle aus Respekt vor den Mitgliedern der Granithütte im Ritual des Schweigens befangen waren, genau wie die Mitglieder selbst, von denen ein paar anwesend waren. Einer war der Koch, der lässig hinter der Theke stand und so ordentlich Würste briet, als ob dies die wichtigste Aufgabe von der ganzen Welt sei. In diesem Moment begriff Morlenden, daß es in der Tat genau das war.
Er ging durch das Refektorium und stellte sich an die Theke, wobei er eine einfache Holzschüssel hielt, die groß und ausgehöhlt war. Auch begriff er jetzt, daß es unnötig war, viel zu reden; denn wenn man mit einer Schüssel in der Hand vor einer Theke stand, war dies ebenso klar wie ein gesprochenes Wort: Vielleicht war das Reden wirklich etwas, das man nicht brauchte, wie das hohle Rasseln der Eicheln in einem Krug.
Der Koch belud seinen Teller mit einer großzügigen Portion Würste und Pfannkuchen, wobei er in die Richtung des in der Nähe stehenden Buttergefäßes nickte, und fuhr mit seiner Arbeit fort. Morlenden bediente sich, suchte sich einen Tisch und schlug sich den Bauch voll, da er wußte, daß er mit dem, was er hier aß, den ganzen Tag würde auskommen müssen. Er dachte darüber nach, während er so saß und aß, daß Sanjirmil mit dem, was sie über die Mitglieder der Granithütte gesagt hatte, vielleicht recht gehabt hatte, aber zugleich mochte das angebliche Bewahren von Geheimnissen auch nur eine Ausrede dafür sein, dieses unübertreffliche Essen zu genießen. Das war ein Geheimnis, das es wert war, bewahrt zu werden. Er sah noch einmal hin und bemerkte, daß innerhalb seiner Sichtweite alle wohlgenährt waren, kein Zweifel. Er hatte Visionen riesiger Platten mit gebratenem Fleisch, von dem der Bratensaft heruntertropfte, von Bierkrügen, und er lachte innerlich, als er auch daran dachte, was als Bezahlung von einem erwartet wurde: Meditation über die merkwürdigen, strikten Gebote der Lehre von den Gegensätzen. Stell dir bloß vor, dachte er, tu einfach das, wovor du dich am meisten fürchtest; darin liegt die wahre Freiheit. Und dann dachte er noch einmal darüber nach, und es kam ihm gar nicht mehr so merkwürdig vor. Vielleicht würde er in den Bänden der Granithütte noch einmal einen Eintrag machen. Aber was immer geschehen würde, er beschloß, auch die anderen einmal hierherzubringen. Zumindest wegen des Essens. Was die anderen betraf, so war er sich sicher, daß es allein Cannialin wirklich gefallen würde. Sie liebte die Ruhe. Fellirian redete einfach zu gern, und Kal war ein hoffnungsloser Fall.
Erfrischt und in ruhigerer Gemütsverfassung stand er vom Tisch auf, stellte seine Schüssel an einen eigens dafür reservierten Platz und verließ das Refektorium und das Gemeinschaftshaus: Beim Hinausgehen ließ er noch ein paar Münzen, die er in seinem Beutel gehabt hatte, dort. Ja, tatsächlich, dachte er. Ein angenehmer Ort. Da kann man gut einmal hingehen. Und vielleicht auch leben? Darüber würde er noch nachdenken müssen. Er redete nicht minder gern als Fellirian.
Draußen war ein kalter, bewölkter und immer noch regnerischer Tag. Ein abscheulicher Tag, um lange durch die Wälder zu wandern. Aber bald kam er wieder in Gang und verfiel in den auf manchem Pfade quer durch das Reservat geschulten Schritt. Er folgte Pfaden, die jetzt in den Boden des regenfeuchten Waldes eingedrückt waren; die Bäume waren mit einer funkelnden Haut klaren Wassers überzogen, von der es hell tröpfelte, die Kiefern waren von silbrigem Leuchten umgeben.
Er hielt sich in südwestlicher Richtung und begann nach nicht allzulanger Zeit vertraute Einzelheiten zu erkennen. Nun, da er etwas besser wußte, wo er war, und da er näher am heimischen Herd war, als er gedacht hatte, beschleunigte er seinen Schritt so sehr er nur konnte und so sehr es eben ging angesichts der Unzuverlässigkeit des Weges, der jetzt bis auf die nackte Erde ausgewaschen war. Aber während des Verlaufs dieses grauen Tages, während er die leeren Waldungen und Felder durchwanderte, verließ ihn allmählich das zeitweilige Wohlgefühl, das er gewonnen hatte, um durch etwas von dem Unbehagen ersetzt zu werden, das er in der Nacht zuvor empfunden hatte, als er mit Sanjirmil zusammengewesen war. Nicht die Angst, wie er sie am frühen Morgen empfunden hatte. Nein, das nicht. Mehr ein Unbehagen, und es nahm noch zu. Aber er bekam wieder ein Gefühl der Vorahnung, und als es früher Nachmittag war, beobachtete er sorgfältig den hinter ihm liegenden Weg, da er sich der Vorfalle am yos der Perklarens und am Baumhaus von Maellenkleth und Krisshantem erinnerte. Er sah nichts, hörte nichts, an dem er wirklich etwas hätte erkennen können, stellte nichts fest, was unzweifelhaft auf einen hinter oder neben ihm lauernden Verfolger hingedeutet hätte, aber das Gefühl ließ ihn nicht los, daß er von jemandem beschattet wurde, der sich hervorragend darauf verstand, vielleicht Kris Konkurrenz machte in bezug auf die Fähigkeit, in einer gewissen Entfernung zu folgen und trotzdem den Kontakt zu halten. Kris hätte diese Fähigkeit niemals ausgenutzt; er hätte sich immer direkt genähert, leise, aber direkt.
Wie er jetzt so darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß dieses intuitive Gefühl, daß ihm jemand folgte, eingesetzt hatte, kurz nachdem er die Granithütte verlassen hatte, und daß es geblieben war und sich im Laufe des Tages verstärkt hatte. Er fing an, sich mehr in der Nähe des Dickichts zu halten, und versuchte so, seine Position zu verbergen und immer noch leiser zu gehen. Zuerst hatte diese Absicht keinen meßbaren Effekt, aber nach einer Weile nahm das Gefühl, verfolgt zu werden, doch ein wenig ab. Es fiel allerdings nicht gänzlich weg, sondern wurde lediglich etwas eingeschränkt; als ob er durch sein ausweichendes Verhalten den Wahrscheinlichkeitsbereich um ihn herum vergrößert und sein Schatten sich etwas weiter zurückgezogen hätte, aus Unsicherheit darüber, wo er genau war. Doch er verfolgte ihn immer noch.
Das erste Ergebnis seiner Bemühungen trat direkt und unmittelbar ein; ein langer Weg wurde noch länger; und als er wahrhaftig wieder in der Gegend war, die er als sein heimatliches Territorium betrachtete, in der Nähe des Anwesens der Derens, begann es sich wieder in die Dunkelheit hinein zu verflüchtigen. Später Nachmittag. Sein einziger Trost war die Tatsache, daß der Regen und der zeitweilige Nieselregen aufgehört hatten. Der Boden war außerordentlich rutschig in diesem aus Lehmhügeln bestehenden Feuersteinland; roter Lehm, der an den Stiefeln klebte, wenn er nicht gerade drohte, den Wandernden zu einem häßlichen Fall zu bringen. Aber die Luft war so rein wie Frühlingswasser, gewaschen, sauber, süß duftend, und die Bewölkung verzog sich allmählich. Es zeigten sich einzelne Stellen von strahlendem Blau, und entlang der Grenzen im Westen zuckte hinter den Feuersteinbergen ein Blitz. Am nächsten Morgen würde es wieder klar sein. Und plötzlich bemerkte er, daß das Gefühl des Verfolgtwerdens genauso schnell wieder verschwunden war, wie es gekommen war, daß es weg war und das schon seit geraumer Zeit. Schön. Vielleicht war es sowieso nur eine Einbildung gewesen, die leichte Nahrung gefunden hatte nach dem nächtlichen Vorfall, als Sanjirmil im Traum gesprochen hatte. Oder vielleicht hatte er einen eventuellen Verfolger auch bei all den Umwegen, die er gemacht hatte, abgeschüttelt. Vor sich sah er – durch die Lederblatteichen hindurch, von denen einige noch braun verfärbte Blätter entlang den dunklen und gekrümmten Ästen trugen – sein eigenes Toilettenhäuschen, und dahinter war die Erhebung, die das yos der Derens aus dieser Richtung vor dem Blick verbarg. Es gab ihm ein gewaltiges Stück mehr Sicherheit, wenngleich die logische Seite seines Gehirns weiter darauf bestand, ihn daran zu erinnern, daß er in Wirklichkeit hier auch nicht sicherer war als irgendwoanders.
Morlenden machte einen Umweg am Toilettenhäuschen vorbei, bevor er sich den Hügel hinunter zum yos begab, und als er seinen Umweg beendet hatte, ging er langsam weiter den schlüpfrigen Pfad hinunter, wobei er mißmutig darüber nachdachte, daß er eigentlich die rituelle Waschung unten in dem Trog vornehmen mußte und daß es ganz gewiß kalt sein würde. Er schauderte bei dem Gedanken daran. Vielleicht würde er Fellirian belügen, die sicher nicht lockerlassen würde. Nein, das würde auch nicht gehen; das würde sie schon schnell genug herausbekommen, und sie würde Kaldherman zu Hilfe rufen, und sie würden ihn eintauchen, während Cannialin daneben stehen und ihr übliches Lachen erschallen lassen würde. Aber jetzt war es kalt. Heute nacht würde es mit Sicherheit frieren. Unten im Hof, hinter dem Topf mit dem yos-Baum, einer überalterten Schwarzweide, erblickte er Fellirian und Pethmirvin, wie sie langsam auf das yos zugingen; ihr Atem dampfte in der kalten, feuchten Luft. Fellirian sah ihn, gab Peth einen leichten Stoß in die Seite, und beide winkten. Morlenden winkte ebenfalls, und ihm fiel ein, daß er gleichzeitig auf seine alte Feindin, die Wurzel, aufpassen mußte. Da war sie schon, und dieses eine Mal war er ihr entgangen, aber während er zu Fellirian und Pethmirvin hinüberschaute, die da winkten, und der Wurzel auswich, war er auf dem regenglatten Pfade und dem roten Lehm gestolpert und begann auf urkomische Weise abzurutschen, wobei er mit beiden Armen wild in der Luft herumfuchtelte, um das Gleichgewicht zurückzuerlangen. Inmitten dieser höchst unwürdigen Eskapade hatte er plötzlich das Gefühl, ganz in der Nähe ein scharfes, hölzernes Geräusch zu hören, dem Schlag einer Axt nicht unähnlich, aber in diesem Moment passierte zuviel, als daß er seiner Wahrnehmung hätte sicher sein können. Weitaus merkwürdiger war die Tatsache, daß er nicht fiel, sondern in der Luft hing, in der Tat ein eigenartiger Vorfall, bis er mit einem Frösteln bemerkte, daß er mit einem langen Metallpfeil, der zu einem unbestimmten grünlichen Braun anodisiert war und so mit dem Hintergrund verschmolz, an eine Eiche genagelt war. Morlenden hatte ein eisiges Gefühl in den Adern, denn der Pfeil war durch die Kleidung unter einer Achselhöhle durchgegangen und mit solcher Kraft in den Baum gefahren, daß, als Pethmirvin und Fellirian herbeigeeilt waren, sie alle zusammen ihn nicht wieder herausziehen konnten. Morlenden machte sich schließlich los, und kurz darauf kam Kaldherman. Er kehrte zu dem Schuppen hinter dem yos zurück, holte eine große Machete, die sie normalerweise gegen das rund um das yos wachsende, immer wieder vordringende Dickicht einsetzten, und ging sofort in das Unterholz hinein, in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Daß er nichts fand außer ein paar vagen und alten Spuren, die sich bald im Gestrüpp verloren, überraschte niemanden.