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Zieht man von der Liebe alle irrationalen Elemente ab, ist das, was übrigbleibt, etwas Unerträgliches, Unvernünftiges, und sollte sich jemand die Mühe machen, danach zu streben, so ist das äußerst irrational.

Ibid

 

Mit Kaldhermans Beistand und Rat, der Hilfe eines schurkischen, schieläugigen Älteren, als Jaskovbey der Schmuggler bekannt, der an den Ufern des Flusses Yadh lebte, und einer Haltung gelangweilten Desinteresses auf seiten der Beamten des Piedmont-Bezirks, jenseits des Flusses nach Westen, bestieg Morlenden – der nichts Komplizierteres benutzte als Manthevdam, einen angenommenen Namen – in der Piedmont-Zentrale offen ein U-Bahn-Zug und erreichte mit einem Umsteigen im Oconee-Bezirk und einem weiteren an der Westküste eine Stelle in der Nähe der angesehenen Gegend des Hauses von Mevlannen Srith Perklaren. Nach drei Tagen.

Morlenden hatte die Instruktionen, wie er dorthin gelangen konnte, von Klervondaf erhalten, als sie von Nordosten nach Hause gingen: Von der alten Siedlung Santa Barbara nach Westen, weiter mit örtlichen Nahverkehrsmitteln, sodann überirdisch nach Jalama, wo die Route nach Norden abbog, und dann der Küste folgen. Es war nicht völlig ohne Risiko. Er betrat das kontinentale Raumflugzentrum durch das hintere Portal, das im großen und ganzen kaum bewacht war, was dem weitverbreiteten Glauben Rechnung trug, die Hauptsorge der Menschen läge nicht in den Möglichkeiten, die Erde zu verlassen, sondern im Sicherstellen weiterer Möglichkeiten, auf ihr selbst am Leben zu bleiben. In der Tat hatte das Raumprogramm in den letzten beiden Jahrhunderten ziemlich brachgelegen, und abgesehen von ziemlich furchtsamen, vorsichtigen Streifzügen im inneren Sonnensystem und selteneren Sondierungen in die äußeren Sektoren gab es wenig Aktivität. Sogar das Teleskop-Projekt, das sich, wie Morlenden fand, großartig anhörte, war halb eingeschlafen. Die Arbeit ging gemessenen Schrittes voran. Langsam. Und es gab keine Feinde, gegen die man es hätte schützen müssen …

Morlenden verließ die Bahn früh am Morgen und orientierte sich mit einem Rundblick. Er schaute nicht zurück. Den Morgen verbrachte er damit, Land hinter sich zu bringen, das der Weidewirtschaft, sporadischem Feldbau überlassen, jedoch bald zu abgeschieden und steil hierfür war, so daß selbst dieser Rest Zivilisation hinter ihm zurückblieb. Im schwindenden Licht des Nachmittags ging er über die einsamen Klippen weiter, über einem äußerst befremdlichen Meer, und sein Ziel war ein Haus, das in einem letzten Widerstandsnest der Wildnis an den Küsten des alten Amerika verborgen war.

Morlenden war wenig gereist, und nie zuvor hatte er Salzwasser gesehen (Fellirian hatte einmal das Grüne Meer gesehen, vor ihrer Verwebung. Er hatte gefragt: „Wie sah es aus?“ Und sie hatte geantwortet: „Nur ein großer See; und die andere Seite kann man nicht sehen. Oh – ja, es roch komisch, und es gab Wellen …“), und jetzt ging er in der Jahreszeit der Stürme am Ufer des größten Ozeans entlang. Er fand es faszinierend, neu und unendlich geheimnisvoll, aber auch fremd und beunruhigend. Dies war der Pazifik, und es war Winterszeit. Ein kalter Wind wehte vom Meer her, und obwohl er sich daran erinnern konnte, in der Ferne Palmen gesehen zu haben, war es ein kalter Wind, der ihn bis auf die Knochen frieren ließ. Der Himmel wirkte klar, aber ein milchiger Film war darin verwoben, eine unbestimmte Unbeständigkeit, als könne jeden Augenblick Sturm aufkommen oder Nebel oder Regen. Er hatte soviel über diese Gegend gehört. Und auf seinem Weg war er an den verfallenen Resten von Gebäuden und Niederlassungen vorbeigekommen, die vom salzbeladenen Wind zerfressen und abgeschmirgelt waren.

Es hieß, Mevlannen verbringe ihre Tage auf der Erde, wenn sie nicht arbeitete, in einer Hütte, die auf einem der örtlichen Berge erbaut war. Pico Tranquillon hieß er in der älteren menschlichen Sprache jener Gegend. Ein eigenartiger Name, dachte Morlenden, während er sich beim Gehen umschaute. Ein stiller Gipfel über einer ruhigen See. Das bedeutete der Name. Aber die See war nicht ruhig; die Brandung rollte dahin, manchmal brüllend, manchmal grollend, jedoch beständig an Muscheln und kleineren Felsen in den Untiefen mahlend. Es hob und senkte und kräuselte sich, dieses ruhige Meer – wie etwas Lebendiges. Morlenden vermied es, allzu lange in die schimmernden Fernen zu blicken, hin zum perlgrauen Horizont. Diese einsame Gegend gefiel ihm.

Und der stille Gipfel? Der Wind zerrte an seinem Mantel, und jetzt nahm er zu, peitschte die wilden Gräser und säuselte um die zerzausten Bäume, dunkle Zypressen. Der Himmel sah zu, unbeständig, jetzt bereit, sich augenblicklich zu verwandeln und zu verändern. Am Gipfel der Stille gab es überhaupt nichts Stilles; es sei denn, das wellenartige Ruhen des Landes und seines Lebens war damit gemeint, der Eindruck steten Verharrens inmitten ständiger Veränderung.

Und er ging weiter im schwindenden Nachmittag, und allmählich fühlte er sich unbehaglich. Unablässig fauchte der Wind vom kalten Ozean heran. Er hatte schon kälteres Wetter erlebt, manchmal sogar trotzdem im Freien geschlafen, damals, im Reservat. Er hatte oft Schnee gesehen und wußte, daß er hier selten war, dennoch war es ungemütlich. Ein Hauch von Nichtwillkommensein lag darin. Der Wind, das unvorstellbar große Meer mit seinen Geheimnissen, die gnadenlose Brandung und ihr beständiges Grollen, der Jodgeruch der nahen See, unentrinnbar. Und er fühlte sich auch in seiner Rolle als Träger schlechter Nachrichten nicht wohl. Und zweifellos würde sie einen jüngeren Tlanh erwarten; bekommen würde sie einen Halbälteren in der Elternphase lange nach dem Wechsel, einen, der sich darüber hinaus erschöpft zu fühlen begann, in Spinnweben verstrickt, in einem Labyrinth von Intrigen und nochmals Intrigen umgarnt. Es könnte unangenehm sein. Und er konnte sich nicht vorstellen, wie das Mädchen allein hier draußen lebte.

Der Pfad – dereinst, vor langer Zeit, eine Straße – hatte ihn von den Strandklippen landeinwärts geführt, über verlassene Felder, auf denen gelbes, wildes Getreide im Nachmittagslicht glänzte und wogte. Er sah Ruinen; Gebäude, Ställe. Dies hier war einmal eine blühende Landwirtschaft gewesen. Vor langer Zeit. Jetzt waren sie alle verschwunden. Draußen, an der Spitze der Landzunge im Westen und linker Hand, konnte er die Konturen einer weiteren Ruine ausmachen: ein Gebäude, das schon lange in sich zusammengefallen war. Pfeiler ragten aus dem Wasser. Falken patrouillierten in der Luft, Klapperschlangen hüteten den Boden. Eine unerträgliche Einsamkeit und Schönheit herrschte hier; er konnte sie sehen, jedoch nicht in Worte fassen. Beschreibungen wären ungenügend. Es bedurfte eines Legendenmannes, um ein furchtbares Drama in dieser Landschaft zu inszenieren, denn nur in eine Handlung eingebettet war die wahre Gestalt dieses Ortes nachzuzeichnen. Jetzt lag eine beherrschende Melancholie in der Luft, im Licht. Man fühlte sich zu heroischen Taten gedrängt, aber auch zu tiefem Grübeln. Ja, vielleicht war es das Licht, ein seltsames Porzellanlicht, von der See halb gefiltert. Oder der Wind, der sich jetzt, von Zeit zu Zeit regelrecht aufheulend, spürbar erhob. Morlenden zog seinen Mantel fester um die Schultern, streifte die Kapuze über den Kopf, befestigte sie und folgte dem Pfad weiter hügelan. Gelegentlich blieb er stehen, um wieder zu Atem zu kommen.

Er hatte sich einen guten Teil des Wegs zum Gipfel hinaufgearbeitet, als das Licht schwächer wurde, ein Verdichten in der Luft. Die Schatten wurden tiefer, breiteten sich aus, wuchsen. Wolken erschienen am Himmel über ihm, fein, dicht über dem Boden, vage, lachs- und rosafarben, Tönungen eines unmöglichen, flüchtigen Gelbs. Er fühlte sich unbehaglich, obwohl er in seinem Leben bereits manche einsame Meile gegangen war. Und jetzt hörte er von irgendwo tief unter sich, aus weiter Ferne, herangetragen vom Wind, ein seltsames Heulen. Wie ein Hund, dennoch anders, voll idiotischen Gelächters. Er fröstelte, und nicht des Windes wegen. Er war dort vor nicht allzu langer Zeit gegangen. Ein unheimlicher Ort für das Mädchen, voller Gespenster und Geister.

Er hatte sein Ziel erreicht und merkte es gar nicht gleich. Morlenden war dem Serpentinenweg gefolgt, der sich den Berg hinaufwand, und plötzlich gab es diesen Weg nicht mehr, plötzlich befand er sich in einem flachen Tal zwischen Gipfel und einer niederen, westlichen Anhöhe. Er konnte nach Norden sehen, über hügeliges, schattiges Land, über Täler und dahinter aufsteigende Hochebenen, das sich jetzt wie eine Schüssel mit Dunkelheit füllte. Die Wolken hingen tief am Himmel und glitten rasch dahin, sanft wogend und hektisch wirbelnd.

Und vor ihm, im Schutz der Anhöhe des Pico Tranquillon, ragte eine winzige Steinhütte auf, und gelbes Licht ergoß sich durch kleine Fenster in den dunkler werdenden Abend und die Nacht heraus. Eine dünne Rauchfahne wurde vom steinernen Kamin gerissen. Ein seltsames kleines Haus war es, ein Haus, in dem gewiß kein Ler wohnen würde, aber einen Augenblick lang erschien es ihm als das Lustigste, was er je gesehen hatte. Und weiter oben, mehr dem Gipfel zu, entdeckte er weitere Ruinen: leblose Betonhüllen, das verbogene Metallgerüst eines Geräts darüber. Der Wind säuselte um Metall, als würde er es hassen, nutzte es nur wenig langsamer als die Felsen ab. Morlenden eilte zur Tür, klopfte.

Er hatte nicht erwartet, daß Mevlannen, die Schwester Maellenkleths, letzterer ähnlich sah. Schließlich war es der Nerh, Klervondaf, gewesen, der ein Elternteil mit Maellen gemeinsam hatte. Sie würde eine Fremde sein, sie hatten leibhaftig verschiedene Eltern. Die Person, die ihm in der geöffneten Tür gegenüberstand, war ein Ler-Mädchen passenden Alters, um Zwanzig, aber es sah älter aus. Ihr Haar war, soviel er sehen konnte, dunkel, ihre Haut blaß, die Augen waren ziemlich hell. Ihr Gesicht war klar und scharf geschnitten; ein gewaltiger Kontrast zu Maellens gerundeter Weichheit. Aber es lag nichts Raubtierhaftes darin, ebensowenig wie bei Sanjirmil. Hier rührten die scharfen Linien von Zartheit und Zierlichkeit her, nicht von abwehrend angespannt und verkrampft gehaltenen Muskeln.

Ihr Haar war glatt, dunkelbraun, sehr fein, seidig, und länger getragen, als es für ein Mädchen ihres Alters ziemlich war … Dann fiel ihm ein, wo sie die letzten fünf oder sechs Jahre verbracht hatte. Ihre Haut war von bleicher, schnee-cremiger Farbe, leicht gefleckt von winzigen Sprenkeln. Die Nase war gerade und schmal; dies erinnerte ihn am meisten an Taskellan. Das Winter-Überhemd, das sie trug, verbarg das meiste von ihrem Körper, aber an dem langen, schlanken Hals und dem feinen, zarten Schlüsselbein konnte er sehen, daß sie dünner war als der Durchschnitt, der zu einer robusteren Figur tendierte.

Hinter dem Mädchen war eine Feuerstelle, und darin brannte ein helles Feuer; kein traditioneller Herd, sondern eine massive, aus Steinen gefertigte Feuerstelle, vermutlich menschlicher Bauart – obwohl Morlenden nie eine solche gesehen hatte. Diese Feuerstelle und ein paar Öllampen schienen die einzigen Lichtquellen zu sein. Das Mädchen, das von hinten her vom warmen Leuchten umrahmt wurde, sah ihn mit unverhohlener Neugier an.

„Mir wurde vom öffentlichen Nachrichtendienst mitgeteilt, daß ein Besucher unterwegs sei …“, begann sie zaghaft, als beschreibe sie ein Phänomen, anstatt jemanden direkt anzusprechen. „Und nun steht ein solcher vor meiner Tür, am Abend, offenbar ein Reisender, einer der aussieht, als wolle er auf die Salz-Pilgerfahrt gehen. Doch hier gibt es kein Salz.“

Er antwortete: „Ich bin Morlenden Deren, und ich bin der Besucher, der dir angekündigt wurde. Der Name, unter dem ich für gewöhnlich gereist bin, sowie die Kleidung stellen nur eine reichlich armselige Verkleidung dar.“

„Ich bin Mevlannen Srith Perklaren.“ Die Stimme war trotz ihrer Indirektheit gleichmäßig und schlicht, kühl und reserviert. Es war die Stimme eines Menschen, der gelernt hatte, in Zurückgezogenheit zu leben und Einladungen nicht beiläufig auszusprechen. „Bin ich es, die du suchst?“

„Du bist es. Darf ich eintreten? Es gibt vieles, über das wir reden müssen.“

Sie trat von der Schwelle zurück und bedeutete ihm mit der rechten Hand einzutreten. Diese Geste war in derselben Untersprache gehalten wie ihre Worte, Zurückhaltung, Skepsis. Doch lagen auch Hunger und Einsamkeit darin. Morlenden sah es, und er bedauerte die Nachricht, die er zu überbringen hatte, zutiefst. Noch mehr bedauerte er, daß er zu früh geboren wurde: Er schätzte ihre anmutigen, zurückhaltenden Gesten sehr. Alles für nichts. Er trat über die Schwelle; die Tür schnappte hinter ihm zu.

Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, um seinen Mantel zu nehmen, und er glitt heraus und übergab ihn ihr. Er kam schonungslos zur Sache. „Für mein Kommen gibt es einen doppelten Grund: zum einen, um dir schlechte Nachricht zu bringen, und zum anderen, um von dir eine Erklärung zu bekommen … Vorausgesetzt, du glaubst, daß ich wirklich jemand bin, dem du dich anvertrauen darfst.“

Sie hängte seinen Mantel auf einen Haken in der Wand neben der Feuerstelle. „Als die Nachricht kam, dachte ich mir, daß es etwas Schlimmes sein könnte“, sagte sie ruhig und wandte sich ihm wieder zu. „Du weißt, daß niemals jemand hierher kommt. Niemals. Zuerst wollte ich mich auf den Heimweg machen, aber wie sich die Dinge kürzlich entwickelt haben …“

„Einiges davon verstehe ich. Ich war beim yos der Perklarens. Und jetzt sehe ich, daß du in deinem eigenen yos eine Fremde bist.“

„Das stimmt. Aber sind wir das nicht das eine oder andere Mal alle? Aber laß das. Ich habe ein gutes Abendessen. Wirst du hier bei mir essen und heute nacht bei mir schlafen?“

„Das hatte ich gehofft. Ich bin noch nie so weit gereist.“

Sie wandte sich von ihrem Platz am Feuer ab. „Dies hier ist einer der wenigen Orte, an dem die Welt, wie sie früher einmal war, bewahrt wurde. Für gewöhnlich heißt es von diesen Landstrichen an der Küste, die Schöpfung bestehe hier noch fort. Mael war hier … und fand es großartig. Meine Arbeitskollegen halten es für eigenartig, daß ich allein auf dem Pico Tranquillon lebe, aber es paßt zu mir. Sie fürchten die Einsamkeit, während ich sie brauche. Einsamkeit. Hier werde ich nicht belästigt. Wenn ich niedergeschlagen bin, habe ich die Freiheit, am Fenster zu sitzen, das Meer und den Himmel zu betrachten und zu träumen … Du weißt, daß ich Ingenieurin bin, aber wäre ich nur das und nichts sonst, so wäre ich, glaube ich, eine ziemlich schlechte Ingenieurin.“

Morlenden sah sich in der winzigen Hütte um. Er nickte zustimmend. „Ja, ich verstehe. Du hast dir ein gemütliches Heim geschaffen. Ich hätte nicht gedacht, daß es so etwas hier draußen geben könnte.“

„Ich habe mich darum bemüht, ein yos hierher zu bekommen, aber die Revens wollten nichts davon hören … Also habe ich mir diese Hütte gebaut. Es ist die Nachbildung einer menschlichen Hütte; ich habe mich einfach an den Gebäuden orientiert, die ich an dieser Küste gesehen habe. Es ist schon seltsam, denn in den alten Zeiten wurden auf diesem Land stets die neuesten Dinge ausprobiert … Und jetzt ist es der einzige Ort auf dem ganzen Kontinent, auf dem noch eine Spur der alten Verhältnisse zu sehen ist.“

Morlenden pflichtete ihr bei und bemerkte ihre Hände. Mit diesen zarten Näherinnenhänden, diesen blassen, schlanken Fingern? In ihr steckte mehr, als man auf den ersten Blick bemerkte. Aber er hatte es gewußt. Zuviel Ozean, zuviel tiefer Raum, eine zu fremdartige Gesellschaft, die Gesellschaft von Menschen. Mevlannen hatte sich einem Meereswechsel unterzogen.

Sie sagte: „So. Wir haben die ganze Nacht, um uns zu unterhalten. Und ich lese in deinem Gesicht, Morlenden Deren, daß ich durch das, was ich hören werde, unglücklich sein werde. Also essen wir. Komm, setz dich.“ Sie sah ihn schelmisch, scheu und mit einer unterschwelligen Wehmut an. Als spüre sie, was er für sie empfand. „Ich weiß gut genug, daß wir nicht einmal zufällige Liebende sein könnten, nicht einmal für eine Nacht, aber wenn du willst, kannst du mir eine Zeitlang einen Teil dessen leihen, was ich aufgegeben habe. Jetzt ist es verloren. Ich brauche das Gespräch, die Wärme der Meinen … Zuviel habe ich gesehen. Schweigen und Verschwörung …“ Sie unterbrach sich und bewegte sich mit einer eigenartigen, geschmeidigen Anmut um den Tisch herum, mit einer langsamen, fließenden, tanzartigen Bewegung, die das Überhemd um ihren schlanken Körper wirbeln ließ.

Morlenden saß an einem schlichten Tisch, der Bänke in seine Form mit einbezog. Er sah handgehobelt, grob gefertigt aus. Sie hatte gesagt, sie habe diese Hütte selbst gebaut. Den Tisch offenbar auch. Sie war geschickt, diese Mevlannen, trotz ihrer Zierlichkeit und Schlankheit …

Nach dem Abendessen, das sie schweigend einnahmen, saßen sie mit gekreuzten Beinen am Feuer, wie Schneider, und tranken dampfenden Kaffee, für Morlendens Geschmack ein streng schmeckendes, bitteres Getränk. Mevlannen hatte es auch stark mit Branntwein versetzt. Das Mädchen schien daran gewöhnt, und während er trank, fühlte er, daß es tatsächlich seine Müdigkeit und Befürchtungen vertrieb.

Mevlannen blickte ausdruckslos ins Feuer. „Jetzt“, sagte sie unvermittelt, „jetzt kannst du mir deine schlechten Nachrichten überbringen.“

Er begann zögernd. „Es ist Maellenkleth … Sie hatte einen Unfall.“ Er hielt inne. Dies würde nirgendwo hinführen. Er konnte die ganze Nacht darum herumreden und es ihr nie sagen. Sie mußte es wissen. Direktheit wäre das beste. Diese Schnitte waren tief, aber sie würden schneller heilen.

„Vor ein paar Monaten wurde Maellenkleth draußen von Menschen gefangengenommen. Sie müssen etwas mit ihr angestellt haben, das sie sehr geängstigt hat. Sie unterzog sich dem freiwilligen Vergessen.“

Mevlannen starrte weiterhin ins Feuer, ohne sich eine Regung anmerken zu lassen. Mit einem knappen Kopfnicken bestätigte sie, daß sie ihn gehört hatte.

Er fuhr fort: „Wir, die Derens, wurden von der Perwathwiy Srith beauftragt, sie ausfindig zu machen, festzustellen, was mit ihr geschehen ist. Aber sie wollten uns nichts sagen, keiner von ihnen … Wir suchten Krisshantem auf, einen hifzer. Er war ihr letzter Liebhaber, und gemeinsam mit ihm befreiten wir sie. Unter Krisshantems Anleitung gaben wir ihr ein Heilmittel. Auf dem Weg zurück zum Reservat versuchten uns ein paar Agenten daran zu hindern, unser Ziel zu erreichen. Wir entkamen. Sie intensivierten die Jagd. Am Zaun stellten sie uns. Sie wurde von dem Geschoß eines Lenkdrahtgewehrs getroffen. Sie starb bald darauf, nachdem wir uns an jenen rächten, die eine geächtete Waffe gebrauchten.“

Mevlannen nickte wieder. „Wer vollzog die Riten? Sie war vom Wasser-Element.“

„Dies wußten wir, und wir haben es gemacht. Die Derens. Taskellan war Zeuge für die Perklarens oder vielmehr für das, was von ihnen übrig ist.“

„Was geschah mit Kler und Tas? Sag es mir.“

„Klervondaf lebt in der Webe von Plindestier. Wir haben Taskellan aufgenommen. Er war zu jung, er brauchte eine Webe; ein Heim. Warum waren deine Eltern nicht zu Hause? Warum sind sie nicht gekommen? Deine Webe ist voller Rätsel, aber dieses ist mir am unbegreiflichsten.“

„Haben sie dir nichts gesagt? Die Perwathwiy? Sanjirmil?“

„Nein. Ich habe ein paar Informationen über Mael aus ihnen herausgelockt, aber es war nicht viel und betraf nur sie. Ich habe mit Sanjirmil gesprochen, aber sie drückte sich mit ihren Worten unverständlicher aus als die anderen mit ihrem Schweigen.“

„Ich verstehe. Ja, ich hätte es mir denken können. Sie konnten es dir nicht sagen. Ja, es stimmt … Die Perklaren-Eltern waren nicht zu Hause, als sie zu Hause hätten sein sollen, und sie konnten Mael nicht die letzte Ehre erweisen. Ich weiß, warum; ich verstehe es. Es mußte so sein. Es gab keine Wahl.“

„Du weißt es also.“

„Ja. Nur zu gut. Deshalb reise ich nicht. Ich nehme an, daß ich noch tiefer darin verwickelt bin als die arme Mael. Sie war unser tapferer Soldat, sie hat gearbeitet und gearbeitet, während wir uns die ganze Zeit im Hintergrund hielten …“

„Mit ihren letzten Worten trug mir Maellenkleth auf, eine Matrix von dir zu holen, zurückzukehren und sie Sanjirmil zu übergeben. Weißt du auch, was das zu bedeuten hat?“

Sie fuhr auf, eine abrupte Bewegung, Bestürzung auf ihrem Gesicht. „Die Matrix? Jetzt? Bist du dir deiner Sache ganz sicher?“

„So sicher wie nur wenig anderer Dinge. Sie starb, ein Teil der alten Persönlichkeit kam zum Vorschein, gerade genug, um das herauszubekommen. Wirst du sie mir aushändigen, und wirst du mir sagen, was so wichtig ist, daß ein Mädchen zweimal zu früh stirbt, um es zu schützen?“

„Ja … Ich werde es dir erzählen. Alles. Sie hätten es tun müssen, von Anfang an. Ein Fehltritt, und du könntest das Werk vieler Generationen zunichte machen. Sie hätte dich einweihen sollen.“

„Krisshantem hat mich das Äußere Spiel gelehrt.“

„Bei weitem nicht gut genug, aber es wird dir verstehen helfen.“

„Warum dann nicht mehr?“

„Sie haben wahrscheinlich befürchtet, du würdest draußen Stressies auslösen.“

„Stressies?“

„Chemische Streß-Monitoren. Sie registrieren Angst und dergleichen auf chemischem Wege. In deinem Geruch, deinem Atem. Sie sind überall und im Osten natürlich besonders zahlreich. Sie reagieren auch auf uns. Wir rufen sogar stärkere Anzeigen hervor. Deshalb wollten sie es dir nicht sagen. Du mußt beeiden, es freiwillig zu vergessen. Das Wissen muß geschützt bleiben.“

„Ich würde kein Geheimnis enthüllen, genausowenig, wie Maellen das getan hat.“

„Ganz recht, ganz recht. Daran zweifle ich nicht. Aber wir konnten es einfach nicht riskieren, viele ins Vergessen zu schicken. Und wenn ein Hundertfüßler genug Beine verliert, so wird auch er nicht mehr gehen können. Und natürlich kann man gewisse Dinge verfolgen.“

Das Mädchen erhob sich jetzt, füllte die Tassen neu und kehrte auf ihren Platz vor dem Feuer zurück. Sie zeigte keinerlei Emotion, die Morlenden hätte identifizieren können, aber ihre Augen waren feucht und reflektierten den hellen Feuerschein. Schnell blinzelte sie. Ein Scheit im Feuer fiel zusammen, schickte einen Funkenwirbel in den Kamin hinauf. Draußen nahm der Wind ein beständiges Stöhnen an, und Morlenden konnte den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln hören.

Mevlannen schaute auf. „Ich werde dir sagen, was ich weiß. Dann die Matrix. Dann wirst du es verstehen. Ich werde dich nicht mehr im dunkeln herumtappen lassen. So bist du viel zu gefährlich. Aber du mußt mir einen Eid auf deinen Namen leisten, daß du freiwillig vergessen wirst, um es zu schützen.“

Morlenden zögerte, vom Rätselhaften angezogen, gleichzeitig aber auch von der Vorstellung des freiwilligen Vergessens abgestoßen. „Dann soll es also sein“, sagte er schließlich. „Auf meinen Namen, den kein anderer je getragen hat.“

Mit Augen, so hell und durchdringend wie Feuernadeln, musterte sie ihn eindringlich. Sie waren von sanfter, blaßblauer Farbe, fast grau, aber des Feuerscheins und der Intensität des Augenblicks wegen sah er die Farbe nicht. Er fühlte, daß sie ihn taxierte, fühlte es deutlich wie nie zuvor. Offenbar sah sie, was sie zu sehen wünschte. Sie atmete tief ein.

„Sehr gut … Aber jetzt weiß ich nicht, wie ich es dir richtig erklären soll, denn ich bin keine gute Geschichten-Erzählerin. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Ich habe, ebenso wie Mael, mein ganzes Leben damit gelebt. Und bei einigen der neueren Teile, die entstanden sind, nachdem ich hierhergezogen bin, kann ich nur Mutmaßungen äußern. Nun, sie werden definitiv genug sein. Weißt du, Mael hätte der Matrix wegen persönlich hier herauskommen sollen, wenn die Zeit reif war. Es gab keine andere Möglichkeit; sie allein, wenn die Zeit gekommen war. Und so weiß ich durch das, was du gesagt hast, und es ist die Wahrheit, daß die Zeit gekommen ist, jedoch schneller als erwartet. Vielleicht kannst du mir später sagen, warum dies so ist.“

Morlenden setzte sich zurück. „Ich werde tun, was ich kann. Und jetzt bin ich bereit.“