2
Der Zufall ist oft der zuverlässigste Hinweis darauf daß es sich um ein hohes und kompliziertes Ordnungssystem handelt.
Wir lernen durch die einfache Analyse des Zan (Lebensspiels), daß die Zeit asymmetrisch, eingleisig ist. Wer versucht, die Zeit umgekehrt zu sehen, gerät sofort in Konflikt mit dem Prinzip der Unbestimmtheit. Die Dinge mögen vielleicht unerklärlich, unverständlich oder unvermeidlich sein, aber nichts im Universum ist unbestimmt. Dies ist grundlegend für das Verständnis höherer Systeme.
Die Spieltexte
Fellirian{7} war gerade dabei, „die vier Determinanten einer Einzelperson“ zu erklären: „Es sind die folgenden: Aspekt, Phase, Klasse, Position.“ Dann fügte sie hinzu: „Das Geschlecht ist keine Determinante. Nun ist es also so, daß wir, wenn wir alle vier Determinanten einer bestimmten Person kennen, dadurch in der Lage sind, mit hinlänglicher Genauigkeit vorauszusagen, wie sich diese Person unter verschiedenen Voraussetzungen verhalten wird.“
Fellirian war eine erwachsene weibliche Ler, die viele Rollen spielte und viele Beziehungen hatte. Im vorliegenden Falle übte sie das Amt des Gastvorträge haltenden Soziologen im Besucherbüro des Instituts für angewandte Wechselbeziehungen aus, einer Gesellschaft zur Konfliktforschung, die das wichtigste Organ für die Beziehungen zwischen Menschen und Ler darstellte. Fellirian begab sich einmal in der Woche von ihrer Wohnung tief im Inneren des Ler-Reservats zum Institut und erklärte den Besuchern, unter denen sowohl bemerkenswerte als auch weniger bemerkenswerte waren, eine fremde Kultur. Diese spezielle Zuhörerschaft hier schien nun zu der weniger bemerkenswerten Sorte zu gehören, und es war gegen Ende des Tages, und Fellirian langweilte sich.
„Der Aspekt“, so fuhr sie fort, „ist entfernt mit Ihrer Vorstellung von den Sternzeichen verwandt, außer daß er wesentlich vereinfacht ist. Wir benutzen nur vier: Feuer, Luft, Erde, Wasser. Diese entsprechen den vier Jahreszeiten.“
Es war Herbst auf der Erde, man schrieb das Jahr 2550. Fellirian lebte teilweise in zwei Welten, und in der menschlichen Welt, in der sie zu Gast war, schlug ihre Gegenwart trotz des geringen Vorgeschmacks, den sie am Institut bekam, etliche bürokratische Wellen. Auf diversen Dienstplänen, Namens- und anderen Listen und verschiedenen Personalübersichten war sie verzeichnet als „eine gewisse Fellirian Deren, weiblich, Ler, wohnhaft im Reservat, Alter 45, verheiratet (ortsüblicher Brauch), drei Kinder, zwei männlich, eins weiblich. Aufgabenbereich: Lehre der Bräuche. Abteilung: Besucherbüro. Leitender Beamter: W. Vance, Direktor. Nummer bei der Fruchtbarkeitsbehörde: (entfällt).“
Hätte sie lange genug darüber nachgedacht, so hätte sie innerhalb ihres eigenen kulturellen Bezugsfeldes einen weit längeren „vollen Namen“ mit einer noch längeren Liste von Titeln und Merkmalen angeben können. Ihr voller Name lautete in ihrer eigenen Umwelt Kanh Srith Fel Liryan Klan’ Deren Klandormadh; was übersetzt mehr oder weniger wie folgt hieß: Des Erdaspekts Dame Sternengrasfeld vom Stamm der Zähler, Familienoberhaupt und Vormutter. Aber sie übersetzte den Namen nie, so wie es bei ihnen allen der Fall war. Namen waren Namen; sie waren dazu da, auf Bedeutungen anzuspielen, nicht zu beschreiben. Für Freunde, bei gelegentlichen konventionellen Beziehungen der Erwachsenen untereinander und für Menschen war sie einfach Fellirian. Das genügte. Es gab ja keine andere; Ler-Namen wiederholten nie den einer anderen lebenden Person und, soweit dies möglich war, nie den von einer, die bereits einmal gelebt hatte, obwohl man zugab, daß letzteres seit geraumer Zeit immer schwieriger wurde und in Zukunft undurchführbar werden würde.
Für ihre Webgefährten zu Hause war sie im vertrauten Umgang Eliya, und für die Webkinder war sie Madheliya. Vormutter Eliya. Man nannte sie nicht mehr Fellir, denn das war ein Liebesname der Reifezeit. Morlenden, ihr innenverwandter Bruder und Mitgatte, nannte sie manchmal Fel, also beim Kindernamen, aber häufiger nannte er sie mit einem peinlichen Kosenamen Benon, was „Sommersprossen“ bedeutete. Die Angelegenheit war deswegen peinlich, weil die Sommersprossen auf ihren Schultern saßen, was zu Assoziationen führte, an die sie sich in ihrem gegenwärtigen Alter und in der gegenwärtigen Phase nicht unbedingt erinnern wollte.
Fellirians Phase war Kanh, die Kraft der Erde. Ihre Jahreszeit war der Frühling, und soeben sprach sie zu ihrem Publikum: „Damit wären wir bei der Phase angelangt: Damit wird in etwa das Alter bezeichnet, das man hat. Hazh ist ein Kind bis zu etwa zehn Jahren. Didh ist ein Jugendlicher: von zehn bis neunundzwanzig. Rodh bedeutet Mutter oder Vater, und starh ist ein Ältester. Wir sind rodhosi bis zum sechzigsten Lebensjahr und danach starosi, obwohl letzteres etwas willkürlich ist. Rein technisch gesehen sind wir an sich nur bis zum Ende der Fruchtbarkeitsperiode rodhosi.“
Fellirian hatte Kinder und lebte dennoch zu Hause, da ihre Kinder noch nicht im verwebungsfähigen Alter waren; daher stand sie in der Elternphase. Vom Geschlecht her weiblich, aber sexuell ein Neutrum. So erging es allen nach der letzten Fruchtbarkeitsperiode, dem sogenannten hanh-dhain{8}.
Fellirian, die dem Erdmodus angehörte, war ein im Frühling geborenes Kind. Ohne daß es allzu offensichtlich gewesen wäre, lebte sie zum Teil tatsächlich gemäß den theoretischen Eigenschaften einer Person dieses Modus, obwohl niemand sie als ein Opfer sprunghafter Aspektzwänge ansehen konnte. Der Frühling war auch ihre bevorzugte Jahreszeit; wie ihre eigene Art direkt war, war der Frühling eine direkte Zeit, in der die Dinge ihrer gebührenden Reife entgegengingen, es war eine sinnliche, direkte, praktische Zeit. Die gegenwärtige Herbstzeit mochte sie nicht so sehr, mit ihrer vom tanh, dem Luft-Aspekt, bestimmten Launenhaftigkeit, dem ständig umspringenden Wetter, das bald an den Sommer erinnerte und bald den Winter vorwegnahm.
„Es gibt theoretisch vier gesellschaftliche Klassen: Bedienstete, Arbeiter, Gesellen und Pflanzer, in der Reihenfolge vom niedrigsten zum höchsten; aber in der Praxis verwenden wir zur Zeit nur die oberen drei, und diese Determinante ist von geringerem Gewicht als die anderen.“
Einer der Besucher fragte: „Und welcher Klasse gehören Sie an?“
„Zu der der Arbeiter. Meine Webe ist Teil der Ler-Regierung. Meine Familie und ich sind in den Augen unseresgleichen Angehörige einer ziemlich niedrigen Klasse, aber ich empfinde deswegen weder Stolz noch Neid. Der Begriff der Klasse ist, so merkwürdig es klingen mag, nur auf Personen anwendbar, die innerhalb einer Webe, oder auch Familie, leben. Wenn man erst einmal einer der Ältesten geworden ist und von zu Hause weggeht, ist man klassenlos. Die Ältesten haben keine Klasse. Absolut keine.“
Sie sah einige Gesichter in der Menge, deren Ausdruck ihr nicht sonderlich gefiel. „Damit Sie mich nicht mißverstehen“, sagte sie, „muß ich hier ein paar Dinge erklären, wenn sie auch etwas abseits unseres eigentlichen Themas liegen. Ich bin nicht deswegen in der Regierung, weil meine Familie und ich der Arbeiterklasse angehören. Es ist vielmehr umgekehrt. Ich verdanke Klasse und Stellung sozusagen meinem Beruf.“ Sie wartete ab, ob jemand etwas erwiderte, aber niemand meldete sich. Gut.
Sie fuhr also fort: „Als letzte und vielleicht wichtigste haben wir die Determinante der Position. Worauf wir hierbei Bezug nehmen, ist die Stellung, die man als Kind innerhalb der Webe einnimmt.“ An dieser Stelle wies sie auf eine Karte neben sich, die die komplizierten Familienverhältnisse in der Kultur der Ler graphisch darstellte. Man hatte sich ihrer schon vorher bedient. „Wir können eine von fünf verschiedenen Positionen innehaben, mit einigen Untergruppierungen natürlich. Die Stufung läuft genau wie bei der Klasse von oben nach unten, so daß wir also folgendes haben: Hifzer, Zerh, Thes, Nerh, Toorh. Sie würden wahrscheinlich Bastard, Extra, Jüngerer Außenverwandter, Älterer Außenverwandter und, an höchster Stelle, Innenverwandter sagen. Diese Bezeichnungen behält man für immer. Es handelt sich um grundlegende Eigenschaften. Ich war eine Toorh, und ich werde immer als eine solche angesehen werden, ganz gleich, wie alt ich bin. Auch handelt es sich hierbei nicht um eine fließende Staffelung. Ein Nerh ist einem Toorh fast ebenbürtig, und ein Thes steht einem Zerh näher. Familien haben per definitionem keine Hifzers.“
Auf diese letzte Bemerkung hin begann die Gruppe unter sich sofort eine Diskussion, bei der die eine Partei insbesondere daran Anstoß nahm, daß die Position als Determinante gewichtiger sein sollte als die gesellschaftliche Klasse. Fellirian wußte nicht, warum sie dies diskutierten, denn es betraf sie selbst in gar keiner Weise; aber sie schaltete sich auf keiner Seite in die Diskussion ein. Sie hatte das Gefühl, als ob sie irgendwie eine von der einen Partei vertretene oder geteilte Meinung dargelegt hätte, und ihr war vor allem daran gelegen, weder mit der einen noch mit der anderen Partei der Menschen identifiziert zu werden. Als die Seiten sich deutlicher voneinander abzuheben und die Besucher sich untereinander zu polarisieren begannen, zog sie sich zurück und ging langsam auf die Seite zur Fensterbank, wo sie sich hinsetzte und nach draußen blickte.
Sie blickte zum Fenster hinaus, durch das vom Regen streifig gewordene, polarisierte Glas, durch die feuchten und verregneten Novemberlüfte hindurch bis hin zu dem nassen Land, das nun, da der Abend nahte, sich bläulich zu färben begann. Von ihrem Standpunkt aus, sie blickte etwa nach Nordosten, konnte sie auf dem Land selbst die sich klar abzeichnende Grenze zwischen den beiden Kulturen, der der Menschen und der der Ler, erkennen. Zur Linken das Reservat, ein 4200 Quadratmeilen großes Waldgebiet, in dem es den Ler nun gestattet war, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, was immer dies für Ziele waren; und zur Rechten das Endprodukt einer mehrere Jahrtausende alten menschlichen Kultur. Beide lagen auf dem gleichen Planeten, auf der Erde, im gleichen Jahr – 2550.
Zur Linken wirkte das Land ungepflegt, leer, von Baum und Busch überwuchert. Zur Rechten war, soweit sie durch den leichten Regen und Dunstschleier sehen konnte, alles sauber, ordentlich, gepflegt, planvoll angelegt. Zur fernen Linken und gerade noch an der Grenze der Sichtbarkeit beherrschte eine Fabrik die Landschaft: Sie schien ein nichtssagendes Gebäude quadratischen Grundrisses zu sein, das das im Inneren herrschende Treiben nur durch die kleinen Abzugsöffnungen auf dem Dach verriet, von denen einige feine Dampfwolken abgaben, während andere rasch verschwindende Rauchfetzen in die regnerische, sich verdunkelnde Luft schickten. Es sah schläfrig, träge aus; aber sie wußte, daß dieser Eindruck trog. Im Inneren herrschte unsichtbar ein reges Treiben wie in einem Ameisenhügel, wurden noch mehr von den leichtverderblichen Erzeugnissen hergestellt, die bei ihnen die Grundlage der Gesellschaft zu bilden schienen. Kaum jemand ging hinein oder kam heraus; der Materialtransport wurde auf unterirdischen Durchgangswegen abgewickelt, und die Belegschaft lebte in klimatisierten Zellen im Kellergeschoß. Die Bosse wie auch die, die von ihren Bossen herumkommandiert wurden; es war weniger kostspielig, ihren gesamten Lebensraum zusammenzufassen, als sie anderswohin zu transportieren und anderswo unterzubringen.
Weiter zur Rechten umfaßte das, was sonst noch durch das Fenster des Instituts zu sehen war, landwirtschaftlich genutzte Felder, einige kleinere Gebäude und etliche Schuppen, ein feines Netz von Zufahrtsstraßen und Schwebebahnen. Alles, was sie da sah, schmeckte nach nichts als Ordnung und Sauberkeit, roch nach einem alles bis ins kleinste planenden Geist; sie konnte nicht umhin, dies bis zu einem gewissen Grade zu bewundern: Indessen bestand ein Teil ihrer selbst auf einer anderen, chaotischeren Deutung, daß sich nämlich unter diesem tadellosen Ordnungssinn etwas Gefährliches verbarg. Je höher der Grad der scheinbaren Ordnung, um so feiner die Linie, die die willkürlich aufgezwungene Ordnung von der gnadenlosen Entropie trennte. Die Natur erscheint nur dem Unaufmerksamen als zufällig, dachte sie. Das war einer der Grundsätze der Ler. In Wirklichkeit war eine verborgene und feine Ordnung in den Wandlungen der Natur, ihren wellenförmigen Abläufen, ihren Zyklen der Zeit.
Aber immerhin ist es doch so, dachte sie weiter, daß plötzliche Ausbrüche selten und in weiten Abständen vorkommen. Das mußt du ihnen zugute halten. Die Vorläufer akzeptierten das reglementierte, verwaltete Leben, das die Überbevölkerung ihnen aufgezwungen hatte, und hatten es sogar geschafft, ihre Zuwachsrate auf einen winzigen Wert zu reduzieren. Aber sie alle waren die bewußten, historisch gesehen nicht allzu entfernten Nachkommen eines Zeitalters, an das sich die Milliarden Erdbewohner immer noch lebhaft als an die „Schwarze Hand von Malthus“ erinnerten. Die Tage der Hand. Sie hatten dafür gesorgt, daß sie nicht mehr so deutlich sichtbar war, aber sie war noch da: Die Schwarze Hand wartete hinter den Kulissen immer noch auf den Unvorsichtigen.
Da sie das Gesicht nach rechts gewandt hatte, wie sie so am Fenster saß, mußte sie nach hinten über ihre linke Schulter sehen, wenn sie das wenige sehen wollte, das von ihrem eigenen Land sichtbar war, dem einzigen Heim der Neuen Menschen, des Meta-homo Novalis, auf der Erde oder, was das betraf, im ganzen Universum, rund um das Reservat war ein Zaun, eine etwa acht Fuß hohe, gewöhnliche Absperrung. Er diente keinem anderen Zweck außer dem, eine Grenze zu markieren, denn es gab auf beiden Seiten wenige, die auf die andere Seite zu gelangen wünschten. In der Nähe des Zauns schien das innen liegende Land leer, verlassen, absichtlich barbarisch, halb wild, ja armselig zu sein; aber weiter hinten begann der Wald aus hohen, dunklen Kiefern, der die inneren Gebiete verbarg. Er sah uralt aus, ein Überbleibsel der großen Wälder, die einst den größten Teil des Kontinents bedeckt hatten; aber in Wirklichkeit war der Großteil des Baumbestandes in dem Reservat, in natürlichen Begriffen ausgedrückt, jung. Zweitwuchs. Vor allem die östlichen Gebiete des Reservats, wo sich neuerer Wuchs allmählich über die älteren, weiter westlich gelegenen Gebiete hinaus ausdehnte. Es war ein Waldgehege gewesen, von dem wenige wußten, bis zu dem Zeitpunkt, als sie danach gefragt hatten. Fellirian seufzte tief. Sie verspürte ein plötzliches Verlangen danach, wieder dort drinnen zu sein, in ihrer eigentlichen Identität, in ihrer natürlichen Umgebung. Dieser Raum in diesem völlig verbauten Institut war zu heiß, zu trocken, und es roch nach Plastik, einem Geruch, den sie nie als besonders unangenehm empfand, aber an den sie sich nichtsdestoweniger nie hatte gewöhnen können …
Chronologisch gesehen war Fellirian fünfundvierzig. In der Elternphase. Von ihrem Äußeren her machte sie jedoch auf die meisten der menschlichen Besucher, die mit ihr zusammenkamen, den Eindruck, als ob sie irgendwo vage das Alter einer Erwachsenen habe, in den späten Zwanzigern sei, vielleicht in den frühen Dreißigern. Eine ziemlich kleine, aber nicht zu kleine, zierliche Frau mit der üblichen zarten Figur der Ler. Irgendwann hatte sich ein fast unsichtbares, feines Liniennetz in ihrem Gesicht angesammelt; es waren Linien, die die zarte Schönheit des schlichten, beinahe elfenhaften Gesichts unterstrichen. Fellirian war keine Schönheit, weder nach ihren eigenen Maßstäben noch nach denen der Menschen, aber ihre Erscheinung wirkte beruhigend. Sie, die entspannt und im Frieden mit sich selbst lebte, strahlte eine Ruhe aus, die andere mit einschloß.
Ihrer eigenen Ansicht nach paßte ihre Erscheinung zu ihrem Alter, mehr oder weniger jedenfalls; sie dachte nicht allzuviel darüber nach. Sie war nicht eitel. Sie wußte, wie andere auf sie reagierten, hatte es immer gewußt. Sie war zufrieden; sie hatte ein recht erfülltes Leben gelebt, das in mancher Hinsicht besser und glücklicher gewesen war als das etlicher anderer.
Fünfundvierzig. Fast am Ende der zweiten Spanne. Dann ein weiteres der vielen Übergangsstadien, mit denen sie zeitlich die Abschnitte des Lebens zu markieren pflegten. In sexueller Hinsicht war sie jetzt, und zwar schon seit etwa fünf Jahren, tatsächlich ein Neutrum, obgleich sie sich ihren persönlichen Geschlechtstrieb unverändert bewahrt hatte. Nein, nicht unverändert. Er hatte noch zugenommen. Sie war eine der wenigen weiblichen Ler gewesen, die nach der zweiten Fruchtbarkeitsperiode noch eine dritte erlebt hatten. Sie war sehr zufrieden gewesen mit ihrem Zerh, dem Jungen Stheflannai. Dritte Fruchtbarkeitsperioden und Zwillingsbrüder waren für die Ler die einzige Möglichkeit, jemals den erbarmungslosen Algorithmen des Bevölkerungszuwachses zu entkommen. Und davor, dachte sie bei sich, war es Kevlendos gewesen, eines von unseren innenverwandten Kindern, das sich in dieser Jahreszeit mit dem Kind der anderen verweben wird, das Pentandrun-Toorh heißt. Und natürlich unsere Erstgeborene Pethmirvin, ein schmales, zerbrechliches Mädchen, das keinem von uns ähnelt. Sie waren fünf, zehn, fünfzehn Jahre alt. Noch zwanzig Jahre, und Kevlendos und Pentandrun würden sich verweben, um zu den künftigen Derens zu werden. Und was würde sie machen, Fellirian? Sie würden in Zukunft den Deren-Klan bilden; der Name, die Arbeit, der Familienbesitz – alles würde ihnen gehören. Sie selbst würde einfach – sie selbst sein, frei. Fellirian Srith. Frau Fellirian. Ein neues Leben. Sie würde allein leben können, wie eine Einsiedlerin, wie eine einsame mnathman{9}, oder mit ihrem vorherigen Webgefährten, wenn sie sich auch ein anderes Zuhause würden suchen müssen. Auf dem Grund und Boden der alten Webe konnten sie nicht bleiben – der ging auf die Kinder über. Vielleicht konnte sie auch in eine der Hütten ziehen, Kommunen, in die die meisten Ältesten schließlich zogen. Das Gegenstück der Ler zur Ehe war insofern gleich dem menschlichen Vorbild, als es ebenfalls einen Anfang hatte; es war ihm aber völlig ungleich insofern, als es auch ein vorherbestimmtes Ende gab. Es war ferner ungleich dem menschlichen Vorbild, als es weder erwünscht noch einem freigestellt, sondern vorgeschrieben war …
Fellirian hielt ihre Vorlesungen oder gelegentlichen flammenden Reden selten allein. Während der meisten Zeit ging der Direktor des Instituts ein und aus, kam zusammen mit den Besuchern, scherzte mit den Touristen, die zu dem Zweck gekommen waren, sich in Erstaunen zu versetzen und ihr Mißtrauen beschwichtigen zu lassen. Aber trotz allem, was er mit den Besuchern anstellte, gab Walter Vance offen zu, daß sein Hauptgrund dafür, an den Sitzungen teilzunehmen, der war, auf diese Weise einen der seltenen Augenblicke mit Fellirian verbringen zu können, die seit der mehr als zwanzig Jahre, die er mit dem Institut verbunden war, seine Freundin, Kollegin und Vertraute war. Ihre Beziehung hatte wie alle engen Beziehungen wahrscheinlich mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, aber wenigstens befriedigte sie ein grundsätzliches Bedürfnis, das beide in gleichem Maße teilten: Sie zogen es vor, es mit echten, wenn auch in verschiedenem Grade mit Fehlern behafteten Kreaturen aus Fleisch und Blut und dem Augenblick, statt mit einer Menge lebloser, von einem nachlässig programmierten Text geborgter Abstraktionen zu tun zu haben.
Mit Vertrauen und echter Zuneigung füreinander konnten sie Aspekte des Andersseins erforschen, ohne große Angst haben zu müssen, beleidigend zu wirken oder selbst beleidigt zu werden; es handelte sich um keine kleine Sache, denn der kulturelle Abstand zwischen Ler und Mensch war von einer anderen Größenordnung als die genetischen Differenzen, und er wurde jährlich größer. Als Vance Fellirian dazu überredet hatte, etwas Zeit für das Institut aufzuwenden, hatten sie nicht einen einzigen Ler, der damit beauftragt gewesen wäre, die eigenen Werte darzulegen; alles wurde von Menschen gemacht, die im wesentlichen guten Willens waren, aber wenig direkte Erfahrung mit ihrem Fach hatten. Sie sprachen geübt, sie hingen einer strengen Wissenschaftlichkeit an, aber ihnen fehlte das richtige Gefühl für den Gegenstand. Umgekehrt quälten sich die Ler mit fast dem gleichen Verfahren bei ihrer Betrachtung des Menschen ab. Da sie sich schmerzlich ihrer Verwundbarkeit wegen des langsamen Zuwachses ihrer Bevölkerungszahl bewußt waren, zogen sie sich in ihr Reservat und tiefer in sich selbst zurück. Vance und Fellirian konnten den Kurs, den mehrere Jahrhunderte genommen hatten, nicht aufhalten oder viel daran ändern, aber das wenige, das sie erreicht hatten, betrachteten sie als einen Wert, der beträchtlich über Null lag.
Vance saß nun zu einer Seite gelehnt auf einem Stuhl; ihn langweilten die endlosen, sich im Kreise drehenden Wortklaubereien der Besucher untereinander, ein Vorgang der Art, von der er definitiv zu viele innerhalb seines eigenen Instituts hatte ertragen müssen. Oben und unten. Während er darauf wartete, daß sie in die Wirklichkeit zurückkehrten und endlich Schluß machten, beobachtete er Fellirian, wie sie auf der Fensterbank saß und in die wolkenverhüllten und regenbespritzten Tiefen des Novembers blickte.
Seine Vorstellung von ihr war subjektiv, von der Erinnerung verfärbt, durch viele Gefühle leicht verzerrt, von denen einige Quellen entsprangen, die ihm verborgen geblieben waren, wie sehr er auch versucht hatte dahinterzukommen. Paradoxerweise hatte er festgestellt, daß Fellirian mehr objektive Vorstellungen hatte als er, selbst dort, wo es um gewohnte und bekannte Dinge ging. Er hatte gedacht, daß das totale Gedächtnis das Bild der Gegenwart noch mehr trüben würde, aber im Gegenteil festgestellt, daß es für Fellirian die Gegenwart klarer machte. Die Bilder waren ganz deutlich.
In dem Licht in dem Raum und in dem gedämpften, trüben Tageslicht, das durch die Fenster hereinkam, sah er eine anmutige Ler-Frau unbestimmten Alters auf der Fensterbank sitzen, die das typische Allzweckgewand der Männer wie der Frauen trug, und zwar in der Ausführung für den Winter, nämlich den Zimpleth. Das war im wesentlichen etwas, was einem losen, zwanglos geschnittenen Hemd mit sehr langem Rückenteil ähnelte, das bis zu den Knöcheln reichte. Es umfloß weich die Umrisse ihres Körpers und endete an den Armen in weiten Ärmeln, die nicht ganz bis zu den Handgelenken reichten. Unter dem Zimpleth war außer Fellirian nichts, aber auf irgendeine Weise war es gelungen, die Gestalt innerhalb der Umrisse völlig zu verhüllen. Sie war barfuß, aber das war im Augenblick kaum zu sehen, da sie die Beine unter sich gefaltet hatte. Er erkannte an ihrem Profil, daß sie immer noch das Antlitz hatte, das er von jeher kannte, ein ausgelassenes, freches, schelmisches Gesicht mit einer starken Nase, die nur ein wenig zu groß war für das Gesicht, und einem breiten, üppigen, weichen Mund, der heimlich zum Lachen neigte. Ihre Haut war von heller Farbe, auf die ein dunkler Ton nur einen ganz leichten Schatten warf. Das Haar war ein neutrales Dunkelbraun, ganz fein und glatt und im Nacken zu einem einzigen Zopf zusammengebunden, der bis zur Mitte des Rückens fiel.
Vance hatte Fellirian kennengelernt, als er an das Institut gekommen war; sie waren an Jahren etwa gleich alt. Seit der Zeit, da er sie kennengelernt hatte, hatte er viele Seiten von ihr gesehen; er hatte sie als Heranreifende gesehen, als sie in seinen Augen promiskuitiv und zu sehr auf ihre Sexualität fixiert gewesen war. Aber auch als eine rodhosi, eine in der Elternphase – ernst und praktisch war sie da gewesen und als Oberhaupt des Klans vollkommen von der Führung der Geschäfte in Anspruch genommen. Jetzt befand sie sich an der Grenze zum wahren Ältestentum. Die Lebensspannen der Ler reichten bis zu einhundertzwanzig Jahren und darüber; die Hälfte ihres Lebens erschöpfte sich in den ersten drei Phasen und der Rest in der letzten Phase. Sie vertraten die Ansicht, daß man erst mit dem Erreichen des Ältestentums man selbst wurde, wenn, wie sie es ausdrückten, alles, was ablenkte, wegfiel und die Substanz offenbar wurde. Bei Fellirian war es so, daß sich aus ihr selbst ein Geschöpf herausentwickelte, daß individueller und einzigartiger war, als er es sich je vorstellen wollte.
Zwanzig Jahre. Sie hatten gut zusammengearbeitet, viel voneinander gelernt. Sie waren enge Freunde geworden, und das Vergnügen an der Gesellschaft des anderen war so gewachsen, wie das bei nur wenigen anderen Personen dieser Art in der Geschichte des Instituts der Fall gewesen war. Nichts war zwischen ihnen geschehen, was tiefer als Freundschaft oder intimer als ein Händedruck gewesen wäre, der Vance übrigens jedesmal merkwürdig und unwirklich vorkam. Man konnte sich so lange einreden, daß die Ler einfach Menschen von kleinem Wuchs und fast kindlichem Aussehen waren, bis man die Hand sah und fühlte. Der innere Daumen war kleiner und feingliedriger als der menschliche Daumen, und der äußere gegenstehende Daumen, der sich aus dem kleinen Finger entwickelt hatte, war kräftiger als das Original. Diese Veränderung ließ die Ler-Hand zu lang und schmal erscheinen, und sie fühlte sich falsch an. Außerdem schien ihnen die Vorstellung der „Händigkeit“ vollkommen zu fehlen. Die Ler schrieben mit jeder Hand gleich gut, da sie das Schreibgerät mit jedem Daumen halten konnten. Und doch fühlte sich Vance auch nach zwanzig Jahren immer noch seltsam berührt, wenn er Fellirian beim Schreiben irgendeiner dienstlichen Notiz den Stift mit einem äußeren Daumen festhalten und diesen dann in die Schreibrichtung führen sah.
War die Hand auch zum Symbol für das besonders Fremdartige geworden, war sie auch das eine, was sich von den vielen Unklarheiten deutlich abhob, so waren die tatsächlichen Gegebenheiten direkter zum Vorschein gekommen, als er ihren innenverwandten Bruder und (damals) zukünftigen Mit-Gatten kennengelernt hatte. Auch dies beunruhigte Vance unwillkürlich in einer Weise, die er nicht ganz verstehen konnte; die innenverwandten Geschwister hatten keine gemeinsamen biologischen Eltern, wurden jedoch zusammen erzogen. Sie standen sich altersmäßig immer nahe; Altersunterschiede von mehr als einem Jahr kamen so selten vor, daß es sich nicht lohnte, sie zu erwähnen. In mancher Hinsicht waren sie sich näher als Bruder und Schwester bei den Menschen. Ja, in der Tat näher, da die Ler kein Inzest-Tabu kannten. Dieser Umstand griff den alten Streit von der Natur gegen die Erziehung, der Genetik gegen die Kultur auf und kehrte ihn gegen sich selbst. Die innenverwandten Geschwister waren sich ähnlich und unähnlich zur gleichen Zeit.
So Morlenden: ziemlich ähnlich und vollkommen verschieden. Auf eine kaum spürbare Art, die jenseits von Vances Begriffsvermögen lag, war er ganz wie Fellirian, was Ausdrücke, Redewendungen, Gesten betraf. Aber er sah ganz und gar nicht so aus wie sie. Verglichen mit Fellirians weichen Gesichtszügen hatte Morlenden feste, nahezu gemeißelte Züge. In den Augenwinkeln war die Spur einer Andeutung einer Hautfalte, und sein Blick war direkt und beunruhigend nachdenklich. Aber er war weder streng noch schroff, sondern vielmehr ungezwungen und manchmal zu munteren Streichen aufgelegt. Seine Haut war dunkler als die von Fellirian, von einer Tönung, die eher an den nordamerikanischen Indianer denken ließ als an den Orientalen. Sah man sie getrennt voneinander, so erblickte man in demjenigen, der gerade da war, Spiegelungen des anderen. Vance hatte inzwischen begriffen, daß dies bei allen innenverwandten Geschwistern ähnlich war. Vance konnte sich nicht vorstellen, fünfundvierzig Jahre lang neben der gleichen Person zu liegen, zusammen aufzuwachsen, gelegentlich nach der zwanglosen Art der heranreifenden Ler miteinander zu schlafen und schließlich den Übergang zum zweifachen Familienoberhaupt zu vollziehen. Die Menschen lebten die meiste Zeit in Schlafstädten und hielten die Geschlechter getrennt. Alles andere hatte sich als unpraktikabel erwiesen.
Wie alle tiefgreifenden Erlebnisse hatte Vance die Bekanntschaft mit Morlenden dazu veranlaßt, seine Ansichten sowohl von Fellirian als auch von der Frau zu überprüfen; sowohl in bezug auf die sekundären Geschlechtsmerkmale als auch auf die Erziehung gab es fast keine Geschlechtsunterschiede zwischen ihnen. Wenn sie angezogen waren, verschwanden die Unterschiede vor dem menschlichen Auge fast völlig. Er glaubte, daß es diese Eigenart war, die die Menschen am meisten störte; ein innerer Trieb. Uns gelüstet es nicht nach dem anderen Geschlecht, sondern nach Jugend und Unschuld. Der Gedanke war da, bevor er Zeit hatte, ihn im Keim zu ersticken. Er weigerte sich, ihn weiterzuverfolgen, selbst ihn zu widerlegen; der Gedanke führte in eine ganze Welt, ein Universum von Häresien und verbotenen Spekulationen … verboten jedenfalls einem Mitglied einer Kultur, die nicht aus religiösem Wahn, sondern aus der Notwendigkeit heraus gezwungenermaßen puritanisch geworden war. Von allen Methoden der Empfängsverhütung hatte nur die Abstinenz den doppelten Effekt von hundertprozentiger Wirksamkeit und garantiert ausbleibenden Nebenwirkungen. Blieben sie wirklich aus? Nicht ganz. Es gab offensichtlich Nachwirkungen, auch wenn sie im Geist und nicht unbedingt im Körper zu finden waren. Vance sperrte auch diesen Gedanken ab. Sein Geist bewegte sich heute auf beunruhigenden Bahnen; vielleicht war dieses launische herbstliche tanh-Wetter daran schuld …
Das allgegenwärtige leise Stimmengewirr unter den Besuchern war in den letzten Sekunden immer schwächer geworden und schließlich ganz verstummt. Vance fiel es jetzt auf; Fellirian hatte es trotz ihrer scheinbaren Unaufmerksamkeit ebenfalls bemerkt und kletterte mit einer fließenden, graziösen Bewegung, die Vance immer schon an ihr aufgefallen war, von der Fensterbank herunter. Sie ging zu dem Stuhl hinüber, den sie manchmal benutzte, setzte sich aber nicht darauf, sondern blieb ruhig stehen und nickte den Besuchern zu, um ihnen zu bedeuten, daß sie bereit sei fortzufahren.
Ein Mitglied der Besuchergruppe, eine nervös-aggressive Frau unbestimmbaren mittleren Alters, die die moderne schwere Kleidung mit ihren Falten und Fältelungen mit Gleichgültigkeit trug und die Gummiüberzüge über ihren schweren Schuhen anbehalten hatte, stand auf und räusperte sich.
„Es ist mir etwas peinlich“, begann die Frau, „aber ich weiß nicht, wie ich Sie anreden soll, so direkt.“ Sie hatte während des Vortrags das gleiche gesehen wie die anderen, und sie konnte sich die Familienstruktur der Ler genausogut vorstellen wie irgendeiner der übrigen Anwesenden auch; trotzdem fühlte sie sich in der Gegenwart eines tatsächlichen Mitgliedes eines solchen Familienverbandes nicht ganz wohl. Die Familie war in der menschlichen Gesellschaft mittlerweile zu einer Seltenheit geworden. Die Stimme, die die provisorische Einleitung gesprochen hatte, war beladen mit der sprachlichen Rauchigkeit des Balkans.
Fellirian lächelte freundlich und versuchte auf diese Weise, die Frau einigermaßen zu beruhigen. „Nun, auf jeden Fall nicht mit Frau Deren. Ich würde sagen, die Anrede, die dem am nächsten käme, wäre ‚die weibliche Hälfte eines Ganzen, die zu einem Herrn Deren gehört’. Ich bin eine Innenverwandte. Ich behalte den Nachnamen der Webe. Aber für hier und jetzt ist ‚Fellirian’ völlig in Ordnung. Das ist die Anrede, die wir selbst gebrauchen.“ Ihre Stimme war eine angenehme und klare Altstimme, die das zu dieser Zeit gebräuchliche Modanglisch ohne erkennbaren Akzent oder Regionalismus ausdrückte. Dennoch lag etwas Flüchtiges in der Art, wie sie ihre Wörter wählte und aussprach, was darauf schließen lassen konnte, daß das Modanglische für sie eine Fremdsprache war, ganz gleich wie gut sie es sprach. Und eine Fremdsprache war es für sie in der Tat.
Die Frau seufzte und sagte nach einer spürbaren Pause: „Also gut. So sei es denn. Das hört sich ja recht leicht an, wenn ich mich bisher auch nie daran habe gewöhnen können, die Leute mit dem Vornamen anzureden. Aber ich verstehe. Wenn Sie ihn in Ihrer eigenen Umgebung gebrauchen, wird er immer noch formell genug sein, könnte ich mir denken.“
Fellirian stimmte freundlich zu. „In der Tat. Wir kennen eine ganze Reihe von Formalitäten im Umgang miteinander, kleine Unterscheidungen, die manchmal Verwandtschaftsgruppen oder den relativen gesellschaftlichen Rang widerspiegeln. Nur keine Angst! Auch wir machen Fehler.“
„Diese Dinge sind die Ursache für viele Mißverständnisse, da stimme ich zu. Nun denn, kommen wir zu den Dingen, die uns näherliegen. Fellirian, Sie vertreten hier Ihr Volk als Volk, so daß diese Frage vielleicht etwas unangebracht scheint. Aber in meinem Bezirk{10} haben wir wenig Kontakt mit Ihrem Volk. Eigentlich so gut wie gar keinen. Und natürlich hört man so allerhand. Unsere Behörde muß sich mit diesbezüglichen Fragen immer wieder auseinandersetzen.“
Fellirian fühlte sich unbehaglich. Es war eine lange Einleitung. Sie nickte und sagte: „Bitte fahren Sie fort.“
„Ich finde das, was ich hier gesehen habe, sehr verwirrend. Draußen in der Welt wird allgemein angenommen, daß Sie uns irgendwie überlegen sind, daß Sie einen … äh … entwicklungsmäßigen Vorsprung uns gegenüber haben. Kurz gesagt, Sie werden sehr gefürchtet. Doch hier sehe ich eine Gesellschaft vor mir, die in Stammesverbänden lebt und Landwirtschaft betreibt, die anscheinend weder etwas für Aggressivität noch für Technologie übrig hat. Ganz zu schweigen davon, daß sie eingeschlossen und zahlenmäßig unterlegen ist. Kurz gesagt, es sieht nicht so aus, als ob Sie mit uns konkurrieren würden. Keine Konkurrenz, keine Gefahr. Können Sie diesen … Widerspruch irgendwie erklären?“
Fellirian sah etwas, was sie auf der Hut sein ließ. Zu Beginn ihrer Frage war die Frau zögernd und verlegen gewesen, hatte den Eindruck eines Bürokraten eines ländlichen Bezirks irgendwo in einem zerrissenen Europa erweckt. Doch als sie schließlich ihre Frage formuliert hatte, war ihr Selbstvertrauen merklich gestiegen, und eigentlich hatte sie sie bereits selbst beantwortet. Irgendwo in Fellirians Hinterkopf klickte es. Sie spürte eine plötzliche Beklemmung. Das Ganze war ein Trick; die Frau diente als Köder. Irgend jemand wartete darauf, wie sie antworten würde.
Zögernd begann sie: „Wenn Sie wollen, daß ich den aristotelischen Weg einschlage und ja oder nein sage, dann muß ich, wenn ich es recht überlege, nein sagen.“
„Nein? Nicht überlegen?“
„Ich weiß von meiner Geschichte her, daß dies das Ziel derer war, die das menschliche Erbgut beeinflußten, um uns entstehen zu lassen. Das ist richtig. Sie hatten es auf den Übermenschen abgesehen, sicher. Das ist ein alter Traum. Wir sind dagegen selbst nicht immun. Aber sie waren damals nicht völlig Herr der Lage. Damals nicht und heute nicht. Zum Beispiel konnten sie nicht die Botschaft des genetischen Codes lesen, um dann die richtigen Teile daraus nach Maß zu verändern. Sie konnten größere Segmente erschüttern oder verdrehen oder veredeln und dann nach lebensfähigen Formen durchsuchen. Wie Sie vielleicht wissen, bedeutet Mutation nichts weiter als Veränderung. Ich kann das gar nicht stark genug betonen. Es geht dabei nicht um eine bestimmte Menge, die einer anderen Menge unter- oder überlegen ist. Nur anders. In der Natur ist ein feinstrukturiertes Rückkoppelungssystem mit der unmittelbaren Umgebung und mit anderen, bei höheren Formen die Kultur, darauf ausgerichtet, die organischen Formen zu stabilisieren und die Feinabstimmung vorzunehmen. Aus ihrem Programm der künstlichen Eingriffe gingen tatsächlich verschiedene Formen hervor, von denen alle mehr oder weniger lebensfähig waren. Sie nahmen uns, weil wir am wenigsten fremdartig aussahen. So einfach ist das. Ich fürchte, daß, als unsere Erstgeborenen erwachsen wurden, sie mehr als enttäuscht von uns waren. Und als sie entdeckten, daß Menschen und Ler keine Nachkommen zeugen können, waren sie sicher doppelt enttäuscht.“
„Überhaupt keine? Das wußte ich nicht.“
„Wir sind eben anders, das ist eine Tatsache. Die Empfängnis findet statt, aber die Leibesfrucht der Frau stirbt nach achtundvierzig Stunden ab. Ganz gleich, was Sie versuchen. Wir sind gewissermaßen die Tür zu einer anderen Entwicklungsmöglichkeit; aber es ist eine Tür, die Ihnen nicht offensteht. Auch uns nicht. Aber in mancher Hinsicht ergänzen wir uns gegenseitig, darum halten wir durch. Wir sind stark bei den intuitiven Denkmustern, Sie aber sind uns weit überlegen auf dem Gebiet der Deduktion. Ich könnte ferner darauf hinweisen, daß Sie körperlich stärker und fähig sind, eine breitere Skala klimatischer Bedingungen durchzustehen. Während wir anscheinend etwas besser mit gedrängten Raumverhältnissen fertig werden. Wußten Sie das? Ein großer Teil der menschlichen Aggression entsteht nicht durch irgendeine genetische Anfälligkeit, sondern durch schlichte Überfüllung. Nicht erst seit kurzem, wollte ich sagen. Sie erreichten den Zeitpunkt früh in Ihrer Vorgeschichte. Vor zehntausend Jahren.“
„Sie scheinen sich in unserer Geschichte recht gut auszukennen.“
Fellirian antwortete darauf diplomatisch. „Wir hofften, aus Ihren Erfahrungen zu lernen. Sie sind die Vorläufer. Wir haben kein anderes Vorbild zur Verfügung.“
Ohne es zur Konfrontation kommen zu lassen, hatte Fellirian die Überhand über die Frau gewonnen, als habe sie tatsächlich für jemand anders die Provokateurin gespielt. Sie konnte ihre Antwort nicht zurückweisen, ohne die zugrundeliegenden Motive zu offenbaren.
„Gibt es noch andere Unterschiede?“
„Die Leute machen viel Aufhebens um unser Erinnerungsvermögen. Es handelt sich dabei um das totale Gedächtnis. Ich gebe zu, daß es sich wie ein Vorteil anhört, aber es hat auch seine Nachteile. Zum Beispiel besitzen wir nicht so etwas wie Ihr Unterbewußtsein. Bei Ihnen dient dieses als ausgleichendes Organ für gegensätzliche Erfahrungen. Wir dagegen müssen uns mit den gleichen Dingen direkt auseinandersetzen. Dazu ist ein hoher Geschicklichkeitsgrad und damit volle geistige Gesundheit erforderlich. Natürlich erreichen nicht alle das höchste Geschicklichkeitsniveau. Die Leute beneiden uns heute um unsere niedrige Geburtenrate, aber man kann sie im Grunde nur als schwerwiegenden Nachteil betrachten. Und nicht nur das, denn obendrein ist unser Menstruationszyklus auch noch sehr kurz. Zweimal, selten dreimal, tritt er auf, und dann ist alles vorbei{11}. Dadurch ist das Verhältnis bei uns im Grunde eins zu eins, was von Anfang an Nullwachstum bedeutet.“
„Darf ich fragen, welche Wachstumsrate Sie heute haben?“
„Eins zu eins Komma null fünf oder eins zu eins Komma null sechs. Alle sechshundert Jahre tritt eine Verdoppelung ein. Die Rate wurde zuerst künstlich höher gehalten, aber in den letzten beiden Jahrhunderten ist sie um diese Zahl herum konstant geblieben. Unsere Heiratsbräuche zielen darauf ab, ungewöhnlich fruchtbare Typen breiter zu streuen, so daß sich der Zuwachs gut verteilt.“
Fellirian hielt inne. Es gab keinen Kommentar dazu. Sie fuhr also fort. „Das bedeutet nun, daß durchschnittlich eine von sechs Weben ein zusätzliches Kind hat. Darauf haben wir die Rate herabgesetzt. Unsere Gesellschaft ist sehr kompliziert, und jede Webe hat im Verhältnis eins zu eins Komma zwei fünf einen zusätzlichen Nachkommen. Sie können sich nicht vorstellen, wieviel räumliche Veränderung eine solche Aufzucht von Kindern mit sich bringt. Ich gebe allerdings zu, daß ein großer Teil des Problems aus unserer Art, mit den Dingen fertig zu werden, resultiert. Denn wenn Sie vier Kinder in einem bestimmten Alter haben, Paare, die fünf Jahre auseinander sind, dann müssen sie als Partner in eine Webe. Wenn keine da ist, muß eine für sie geschaffen werden. Von den Weben werden traditionell festgelegte Berufe ausgeübt, und diese können, wenn sie einmal festgelegt sind, innerhalb des sich in der Webe abspielenden Lebens nicht geändert werden. Dies bürdet uns einen sozialen Wandel auf, der stärker ist, als unsere Gesellschaft dies eigentlich verkraften kann. Meiner Meinung nach könnten wir eine noch geringere Rate vertragen.“
„Sie sagten vorhin, daß Sie in der Elternphase stünden. Sie haben geboren?“
Fellirian zuckte – innerlich, wie sie hoffte – bei der Formulierung der Frage zusammen. Sie hatte jedoch Verständnis dafür. Nicht viele Menschen „gebaren“ – wie die Frau es ausgedrückt hatte – heutzutage. Und die Restriktionen der Fruchtbarkeitsbehörde waren bei weitem die schlimmsten Verordnungen von allen. Sie erwiderte: „Ja. Meine Webe ist eine von denen, die im Verhältnis eins zu sechs fünf Kinder haben. Bei mir trat eine dritte Fruchtbarkeitsperiode ein. Ich habe drei Kinder bekommen, die alle gesund und munter sind. Ihr Alter ist fünfzehn, zehn und fünf. Ein Mädchen und zwei Jungen, in dieser Reihenfolge. Sie heißen Pethmirvin, Kevlendos und Stheflannai, ebenfalls in dieser Reihenfolge. Aber seien Sie versichert: Meine Brutzeiten sind vorüber.“
Sie machte eine Pause, um den Gedanken wirken zu lassen. Solche Ideen rein theoretisch zu diskutieren war eine Sache, aber so etwas persönlich oder als eine hier und jetzt stattfindende Wechselbeziehung zwischen zwei Personen zu akzeptieren, war etwas anderes. Sie wartete. Fellirian war geduldig. Sie kannte die Menschen durch ihren langen Umgang mit ihnen gut und sah keinen mit Geringschätzung an. Sie steckten immer voller Überraschungen, denn das innere Selbst stimmte nicht immer mit dem Äußeren überein. Dennoch, so fiel ihr ein, sind wir auch darin nicht einmal so verschieden … Außerdem wußte sie sehr gut, daß die Worte in einer eingleisig verlaufenden Sprache sehr leicht täuschten; da sie nicht den von ihnen symbolisierten Wirklichkeiten entsprachen und in den Bedeutungen beträchtlich variierten, konnten Wörter dem Langsamen leicht einreden, daß er dem Schnellen gleich sei, und gleichermaßen bremste der Schnelle leicht seine Geschwindigkeit bis auf ein Kriechen.
Die Frau überlegte, lavierte, zögerte, schlug einen anderen Kurs ein. „Sie erzählten uns vorhin etwas über die Ler-Familie, aber kaum etwas darüber, warum so ein Gebilde entsteht. Gibt es einen genetischen Grund dafür?“
„Höchstens einen antigenetischen. Wir haben eine niedrige Bevölkerungszahl und eine hohe Mutationsrate; daher wollen wir eine homogene Bevölkerung. Auch haben wir festgestellt, daß die Familie mit der Zeit größer, stärker gegliedert, wichtiger wird. Was wir heute haben, dient der Kreuzung untereinander in durchaus vernünftigem Rahmen, schafft soziale Stabilität, ermöglicht einen kontrollierten Wandel und ist bis jetzt der beste Kompromiß angesichts unserer speziellen Aktiva und Passiva. Ich will an dieser Stelle noch hinzufügen, daß es eine unvorhergesehene Folge der von den Weben angewandten Kriterien gibt: Mit den Jahren tendiert eine Webe dazu, mit einer anderen in Resonanz zu kommen, so daß derartige Gruppen schließlich das bilden, was wir ‚partielle Oberfamilie’ nennen – bis diese durch das Ende einer der beteiligten Weben oder durch das Aufkommen einer Blutrache wieder aufgehoben werden. Auf diese Weise ist meine Webe in Resonanz mit dem Klanh Moren: Der Thes der einen Webe wird zu einem der künftigen Elternteile der anderen.“
„Sie verwenden nicht die menschliche Terminologie, um die Beziehungen in Ihrer Familie zu beschreiben?“
„Nein. Auch nicht die Inhalte.“
„Dann muß der Sinn der Resonanz der sein, die Variabilität zu vermindern. Sie verstärkt die Ordnung, statt das Zufallsprinzip, dem Sie an sich zu huldigen scheinen, weiterzuführen.“
„Das ist richtig. Wir sind uns des Problems bewußt. Ja, es wurde bereits in Erwägung gezogen, ein solches Verhaltensmuster für unerwünscht zu erklären und zu untersagen. Aber das ist zur Zeit nicht der Fall. Einer der Gründe dafür, warum die derzeitige Praxis weitergeführt wird, ist der, daß bei einer derart geringen Bevölkerungszahl, wie sie bei uns besteht, wir alle ohnehin verhältnismäßig eng miteinander verwandt sind. In Ihren Begriffen ausgedrückt heißt das, daß wir alle mindestens Cousins sechsten Grades oder so sind. Im Moment hat die Resonanz einer Oberfamilie mit einem Webpaar keinen nennenswerten Effekt. Eine Dreiergruppe, die über mehrere Generationen hinweg aufrechterhalten würde, wäre und ist natürlich nicht gestattet. Ich nehme aber an, daß später, wenn unsere Bevölkerungszahl viel höher ist, das heißt in die Hunderttausende geht, Resonanz jeglicher Art verboten sein wird. Es ist zwar, wie Sie sagten – die Resonanz bewirkt eine größere Ordnung. Aber Sie müssen auch sehen, daß unsere ältesten Weben heute, was die künftigen Erwachsenen betrifft, erst in der vierzehnten Generation stehen.“
Die Frau wirkte verlegen. Sie zögerte, als wartete sie auf irgend etwas, verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, wodurch an ihren Kleidern vorübergehende schwere Falten kamen und gingen. Ihre Kleider waren aus einem schweren, steifen, dunklen Material, das ein wenig glänzte und mehr für Möbel oder Vorhänge bestimmt zu sein schien als für Kleidungsstücke. Überdies war das Ganze auf eine Weise gemacht, die voller Plissees, Falten, Biesen, Abnäher war und den Eindruck zusätzlicher Fülle erweckte. Die Frauen trugen Röcke, die auf unelegante Weise bis unter die Knie fielen, während die Männer an deren Stelle schwere, übergroße Hosen trugen. Die Oberbekleidung, welche aus mehreren Lagen von Unterhemden, Hemden, Westen und diversen Accessoires bestand, war ähnlich und in dem gleichen Stil. Fellirian beobachtete die Frau genau, wobei sie die anderen im Augenwinkel behielt. Die Frau schien auf ein Stichwort zu warten.
Ein nicht weit von der Frau entfernt sitzender Mann räusperte sich und fragte höflich: „Vierzehn? Mehr nicht?“
Die Frau setzte sich anscheinend sehr erleichtert wieder auf ihren Platz. Fellirian antwortete: „Ganz recht, vierzehn. Die Generation, der ich selbst bei den Derens angehöre, ist erst die elfte Generation. Unter den alten Familien sind wir relative Neulinge.“
„Lassen Sie mich darüber nachdenken“, sagte der Mann halb zu sich selbst. „Das würde bedeuten, daß, pro Generation dreißig Jahre gerechnet, der Erstgeborene der ältesten Generation um 2050 oder 2060 geboren wurde. Stammt aber die Familienstruktur der Weben nicht von einem späteren Zeitpunkt, nämlich aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert?“
Bei Fellirian verstärkte sich das Gefühl der Beklemmung. „Richtig. Aber die beiden Dinge schließen sich nicht gegenseitig aus. Die Weben wurden zuerst in einem begrenzten Rahmen von denen ausprobiert, die an sie glaubten. Etwas später wurden sie dann vom ganzen Volk übernommen.“
„Existieren diese Weben heute immer noch?“
„Ja. Die beiden Spieler-Weben, die Perklarens und die Terklarens. Sie waren damals keine Spieler, wissen Sie, sondern eigentlich Mitglieder eines besonderen geistlichen Ordens, wenn ich mich recht entsinne. Nun, ich glaube, die Perklarens stehen im Ghen Disosi, in der vierzehnten Generation. Die Terklarens stehen in der dreizehnten, obwohl infolge von Disresonanz einzelne Mitglieder der entsprechenden Altersstufe etwa zehn Jahre älter sind.“
„Und die Vierzehn hat bei Ihnen viel von der gleichen nonnumerischen symbolischen Bedeutung, die die Zehn etwa bei uns besitzt.“
„Ja … da ist eine Ähnlichkeit, eine Entsprechung.“
„Merkwürdig. Ich habe von einem Buch gehört, das Die Weisheit der Propheten heißt, in dem von ‚Zeichen und Wundern im Hause der letzten einzelnen Generation’ die Rede ist.“
Fellirian erlaubte sich die Beschreibung eines Bogens, der von der Bestätigung bis hin zur Doppeldeutigkeit reichte. „Ich habe auch von dem Buch gehört, das Sie anführen. Sie dürfen jedoch nicht vergessen, daß seine Herkunft umstritten ist. Soviel ich weiß, ist es nie von einer theosophischen Gesellschaft unseres Volkes als Kultdogma akzeptiert worden. Und natürlich sind Prophezeiungen immer etwas Zweideutiges.“
„Sie stimmen nicht mit dem Inhalt von Weisheit überein?“
„Ich habe hier am Institut ein Exemplar in Händen gehabt, als ich eine Heranreifende war. Mir waren die darin dargelegten Ideen ziemlich zuwider. Es legt einen starken Akzent auf die Idee der fortlaufenden Entwicklung, welche falsch ist, und es führt einen Konkurrenzaspekt in die Angelegenheiten zwischen den Bewohnern der Erde ein, der kaum glaubhaft ist.“ Fellirian fühlte sich durch die Umstände, unter denen die Frage gestellt worden war, bedroht. Nie zuvor hatte sie sich einer solchen Situation gegenübergesehen. Die Intuition warnte sie; sie konnte jedoch nicht widerstehen, einen letzten Seitenhieb loszulassen, nur um die Sache deutlich zu machen. „Sie sind, Sir, zweifellos vertraut mit einem ähnlichen Werk, das Verträge der Ältesten von Zion heißt, glaube ich. Für mich persönlich gehört Weisheit in die gleiche Kategorie. Ja, bei Weisheit hatte ich sogar das Gefühl, daß dort ein fremder Geist am Werke war, der nicht mit dem meinen vereinbar ist.“
„Sie halten Weisheit nicht für ein Ler-Werk?“
„Ich kenne nicht die Anzahl der Daumen an der Hand desjenigen, der es geschrieben hat. Ich spreche von den Idealen des Autors, was in den geistigen Bereich füllt. Und auf jeden Fall weiß ich von keinen Wundern. Die Spieler-Weben leben beide ziemlich zurückgezogen und verschlossen. Sie kümmern sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten, also wohl um das Spiel. Und nun bin ich auch wiederum kein Teilnehmer an dem Spiel, so daß sie also sehr leicht ein Wunder vollbringen könnten, ohne daß ich es bemerken würde.“ So, daraus laß den erst mal klug werden, dachte sie.
„Ausgezeichnet, ausgezeichnet“, sagte der andere. „Sie haben das Problem jenseits jeden möglichen Zweifels für mich geklärt, in jeder Hinsicht. Ich habe nun allerdings noch ein paar Fragen, aber sie sind nicht von Bedeutung.“
„Wieso, ich bin dafür da, sie zu beantworten.“
„In unseren Augen halten Sie einen in mancher Hinsicht primitiven Lebensstil aufrecht. Ich möchte hier dabei kein relatives Urteil abgeben, sondern lediglich etwas beschreiben. Sie haben zum Beispiel außer der gemeinsamen Feuerstelle in Ihren Häusern keine Möglichkeit, die Temperatur zu regulieren. Und die Feuerstelle ist auch nur im Winter von Nutzen. Verkehrsmittel sind bei Ihnen praktisch unbekannt, während sich eine ganze Reihe hochentwickelter Maschinen nicht mehr als fünfzig Meilen vom Kern des Reservats entfernt befindet. Für den Beobachter hat es, höflich ausgedrückt, den Anschein, als hätten Sie eine Vorliebe für primitive Lebensformen. Darf ich fragen, warum? Ich finde das sehr merkwürdig.“
Fellirian zögerte einen Augenblick und begann dann: „Die ersten lebten mitten unter Ihnen und teilten mit Ihnen Ihre Sitten und Gebräuche. Aber bald ergab es sich, daß sie zwei Dinge glaubten: Daß Ihre Kultur Ihre Bedürfnisse widerspiegelt und nicht die Bedürfnisse aller Geschöpfe, also auch nicht die unsrigen. Und daß Sie in vielen Fällen den weitverbreiteten Gebrauch von Artefakten eingeführt hatten, ohne die sich daraus ergebenden Folgen zu bedenken. Die klassische Untersuchung auf diesem Gebiet, das Automobil betreffend, konzentriert sich nicht darauf, wie dieses Ihr vorheriges Wertesystem beeinflußt hat, sondern auf die meßbare Vergrößerung Ihrer Städte, eine Vergrößerung und gleichzeitig Senkung der Dichte, die in Ihrer Gesellschaft auf Jahre hinaus tiefgreifende, unsichtbare Veränderungen bewirkt hat. Diese Dinge resultierten übrigens höchstwahrscheinlich nicht aus der Bevölkerungszunahme. Sogar in diesem Jahrhundert spüren wir noch die Nachwirkungen aus dieser Zeit. Es war damals offensichtlich, daß Artefakte enormen Einfluß auf eine Kultur haben, vieles in ihr verändern können. Die Vorhersage solcher Auswirkungen ist eine geheimnisvolle Wissenschaft und in manchen Fällen nicht wesentlich zuverlässiger als das Lesen in Teeblättern. Daher wurden wir vorsichtig. Wir werden gemeinhin des Konservatismus beschuldigt. Dem ist nicht so. Wir sind lediglich auf der Hut. Wir wünschen Wandel und Fortschritt, aber wir wünschen auch, daß wir als die Objekte eines solchen Wandels eine gewisse Kontrolle über das Ausmaß des Wandels haben. Ist das etwa nicht vernünftig? Daher zogen wir in die Wälder und hielten uns fern von der Zentralheizung. Und von den Autos. Sie schaffen ein immer stärkeres Bedürfnis nach mehr Platz. Wir haben heute Platz zum Leben und zum Atmen. Warum sollten wir ihn gegen flüchtige und egoistische Annehmlichkeiten eintauschen?“
„Das hört sich kritisch an.“
„Durchaus nicht. Sie waren sich der Konsequenzen nicht bewußt. Auch wir wären uns ihrer nicht bewußt gewesen, hätten wir nicht Ihr warnendes Beispiel vor Augen gehabt. Aber es handelt sich natürlich noch um mehr. Wir möchten unsere eigene Entwicklung durchmachen und nicht die Ihre kopieren. Um so etwas zu finden, mußten wir weit zurückgehen, bis hin zur Primitivität, wenn Sie so wollen.“
„Haben Sie gefunden, was Sie suchten?“
„Damit kann man erst nach vielen Spannen rechnen.“
„Wann wird das sein?“
„Weder zu meinen Lebzeiten noch zu denen meiner Kindeskinder.“
Der Mann nickte, als habe er verstanden, und setzte sich wieder hin. Ein anderer trat an seine Stelle. Der letzte war etwas jünger als die ersten beiden und geschliffener, nahezu lässig. Fellirian hatte das Gefühl, auf einmal aus dem Brennpunkt des Interesses getreten zu sein. Nicht daß dieses Interesse nun zurückgenommen worden wäre, aber sie wurde nicht länger abgeschätzt. Ja, das war das Wort. Abgeschätzt. Was war die Quelle? Sie warf flüchtig einen unauffälligen Blick in den Raum. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß irgend etwas nicht stimmte.
Vance holte tief Luft; auch er war erleichtert. Obwohl die beiden Besucher die Grenzen des allgemeinen Anstandes nicht überschritten hatten, fand er doch, daß sie zu weit gegangen waren. Jetzt dieser nächste Bursche – er war wahrscheinlich ein ganz normaler Bursche. Mit Sicherheit wirkte er so, obgleich es nicht außerhalb des Möglichen lag, daß auch er das Spiel der vorherigen beiden spielte. Zwei zum Provozieren und einer, um die gesteuerte und genau bemessene Entspannungsphase zu gewährleisten. Dies gehörte immerhin zu den Methoden der Historiker. Der hier schien ein ganz kleiner Streber auf Reisen zu sein. Vance wußte insgeheim, daß solche Unternehmungen überflüssig waren; soviel hatte er selbst bei seinen eigenen wenigen Reisen mitbekommen. Die Erde – oder jedenfalls etwa fünfundneunzig Prozent von ihr – war so gleichförmig, wie es die klimatischen Unterschiede erlaubten. Das frühere Bulgarien unterschied sich heute nicht wesentlich von dem, was einst New Jersey gewesen war; Vance ertappte sich bei der Frage, ob sie sich je voneinander unterschieden hatten. Orte mußten sich doch wohl voneinander unterscheiden? Das Licht war doch anders, die Gerüche, die Beschaffenheit des Bodens? Vance dachte noch weiter: Wenige bekamen heutzutage den freien Himmel zu Gesicht, und wenn, dann ignorierten sie ihn so weit wie irgend möglich. Die übrigen objektiven Erfahrungen hatten sich in ähnlicher Weise vom Natürlichen wegbewegt. Vance dachte an Fellirian und an das, was er von ihr wußte; ihre Wahrnehmungen waren so feingeschliffen, daß sie von ihren nächsten Nachbarn, den mit ihrer Webe in Resonanz stehenden Morens, behaupten konnte, daß sie geradezu in einem anderen Land lebten, dessen Fremdartigkeit sie immer wieder in Erstaunen versetzte. Die Morens lebten etwas mehr als eine Meile entfernt. Dieses Erkennen von mikroskopisch kleinen Provinzen war bei ihnen üblich; ja, es war eine kleine Kunstform, der mit Fleiß nachgegangen wurde, wenngleich auch mit der Erkenntnis, daß eine ihrer Beschränkungen darin lag, daß die „Provinzen“ mit zunehmender Entfernung vom Betrachter rasch größer wurden. Der Zweck dieser Kunst bestand letztlich darin, jedermanns Empfindungen in Einklang zu bringen und ihre ganze Welt in mikroskopisch kleine Provinzen aufzuteilen, und zwar als reine Erkenntnisübung.
Vance warf einen flüchtigen Blick auf die Besucherliste, um zu sehen, ob sich auf ihr ein Hinweis darauf fände, wo die Fragesteller herkamen. Er sah vergeblich nach; die ganze Liste bestand aus programmierten Namen, die natürlich nicht den geringsten Hinweis auf die nationale oder ethnische Herkunft gaben. Vance verspürte auch einen gewissen Ärger. Er war der einzige Mensch in dem Raum, der keinen programmierten Namen hatte. Wahrscheinlich hielten ihn die Besucher heimlich für einen von den Obstruktionisten.
Der jüngste Fragesteller schien ganz nett zu sein, ja sogar schüchtern, weil er ihnen ihre Zeit stahl. „Sie müssen meine Neugier entschuldigen“, sagte er, „aber der Vortrag heute hat mich fasziniert. Ich habe nur eine Frage, die mir nicht aus dem Kopf will: Was tun Sie zu Ihrer Unterhaltung? Ich könnte mir vorstellen, ab und zu im Freien zu übernachten, aber nach gewisser Zeit hätte ich sicher das Gefühl zu ersticken, wenn ich nichts anderes zu sehen bekäme als Wald und nichts anderes zu tun hätte, als zu überleben.“
Die Frage war taktlos und die Formulierung dürftig, aber Fellirian glaubte zu verstehen, worauf der junge Mann hinauswollte. Sie sah für einen Augenblick zur Seite, durch das Fenster und in den sich immer mehr verdunkelnden Abend hinein. Sie fühlte, wie eine Welle der Müdigkeit über sie hinwegging, und wünschte sich, auf dem Nachhauseweg zu sein. Als sie sich wieder umwandte, hatte ihre Stimme etwas von einem geselligen Lachen: „Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, wieviel Zeit es kostet, primitiv zu sein.“ Sie lachte wieder. „Die Kinder müssen unterrichtet werden, dann ist da das Gewerbe des Klanh, dann die Haushaltspflege, es muß saubergemacht, gewaschen, der Garten gepflegt und das Vieh gehütet werden. Die persönlichen Aufgaben jedes einzelnen. Wasser muß geholt werden. Letzteres ist der Grund für die alte Tradition, jeden yos in der Nähe fließenden Wassers zu bauen. Unterhaltung? Wenn ich heute abend nach Hause komme, werde ich keine brauchen.“ Sie wurde wieder ernster. „Bitte halten Sie uns nicht für einen sturen Haufen, der an nichts als Arbeit denkt, sich in Haus und Hof schindet. Wir haben auch unsere Späße und Spiele, mit denen wir uns die Zeit vertreiben; manche von ihnen sind sehr kompliziert. Und es gibt noch vieles mehr; wir erzählen uns gegenseitig Geschichten, singen, tanzen. Pflegen Freundschaften – und Feindschaften ebenfalls. Allein letzteres ist ein ganzer Zyklus für sich. Ich komme oft hierher, so daß ich mich mehr bei Ihnen zu Hause fühle, aber obwohl das so ist, finde ich die Art von Unterhaltung, die Sie haben, ganz merkwürdig. Ich würde einschlafen, wenn ich nur ein paar dieser Sachen ausprobieren würde.“
„Es hat nicht den Anschein, als ob Sie sich langweilten.“
„Nein. Wir haben versucht, unsere Angelegenheiten so zu ordnen, daß wenigstens die Langeweile ein Feind ist, den wir nicht zu fürchten brauchen. Die Langeweile führt zu revolutionären Wünschen, nicht die Not, so ist das. Und Änderungen, die aus Langeweile entstehen, bringen nie einen Fortschritt. Sie machen nur alles schlimmer. Nein, ich spreche hier für mich selbst und für die, die ich kenne – ich will keine Veränderung. Nur mein eigenes Leben leben.“
Fellirian wollte noch mehr sagen, aber irgend etwas gebot ihr Einhalt, und sie verstummte. Im Moment hatte sie das unangenehme Gefühl, daß sie vielleicht mehr gesagt hatte, als es ihre Absicht gewesen war. Egal, es war zu spät. Die Worte flogen jetzt schon wie die Vögel dahin. Aber sie glaubte jetzt, die Quelle des beklemmenden Gefühls zu kennen, das sie während der Sitzung gehabt hatte: Ja, sie war sicher, obgleich sie es nicht beweisen konnte. Sie war abgehört worden. Die Fragesteller hatten einem anderen als Köder gedient, der hinter den Kulissen gestanden, mitgehört, mitgeschnitten hatte. Sie nickte dem letzten Fragesteller zu, wie um ihm deutlich zu machen, daß ihre Antwort zu Ende war. Nachdem er seinen Dank bezeugt hatte, setzte er sich wieder auf seinen Platz. Fellirian musterte die anderen. Sie hatten das Interesse am heutigen Gegenstand und das an den Ler und am Institut verloren. Sie waren jetzt nur noch darauf bedacht zu gehen. Das war ein Gefühl, für das sie Verständnis haben, das sie sogar teilen konnte. Auch sie war nur noch darauf bedacht zu gehen. Nun hatten sie also die berühmten Neuen Menschen gesehen. Na, so etwas Besonderes waren sie eigentlich gar nicht, oder? Das einzige woran sie wirklich interessiert gewesen waren, wenn sie sich auch einige Mühe gegeben hatten, es zu verbergen, war das Sexualverhalten der Heranreifenden, das sich ihrer Meinung nach nicht von bloßer Promiskuität unterschied. Und natürlich konnte Fellirian ihnen das, was ihnen am wichtigsten gewesen war, nicht bieten.
Vance stellte mit einem Blick auf die Uhr fest, daß es für die Besucher an der Zeit war zu gehen; tatsächlich hatten einige von ihnen ebenfalls auf die Uhr gesehen, wie Vance bemerkt hatte. Sie ihrerseits hatten ihn beobachtet und machten alle Anstalten aufzubrechen; Stühle wurden gerückt, Mäntel und Überzieher zurechtgezogen und Überschuhe aus Gummi wieder übergestreift. Nach ein paar mechanischen Abschiedsworten und anerkennenden, manchmal unbeholfenen Bemerkungen machten sich die Mitglieder der Besuchergruppe fertig und verließen einer nach dem anderen den Raum. Der letzte, der hinausging, machte noch eine höfliche Bemerkung Vance gegenüber und schloß hinter sich die Tür. Im Sitzungsraum kehrte wieder Schweigen ein.
Fellirian stand bei ihrem Stuhl, Vance an der Tür. Schließlich schien Vance etwas einzufallen. Er drehte sich um und schaltete die Deckenbeleuchtung erst kleiner und dann aus. Dies geschah aus Rücksicht auf Fellirian, die sich bei jeder Beleuchtung außer natürlichem Licht oder dem gelben Schein von Öllampen und Kerzen immer mehr oder weniger unwohl fühlte. Jetzt wußte sie diese kleine Aufmerksamkeit zu schätzen. Das weiche, blaue Licht des späten November trat an die Stelle des harten Deckenlichts, ergoß sich in den Sitzungsraum. Draußen gingen in einiger Entfernung allmählich die Lampen an und durchdrangen vielversprechend die Dunkelheit. Fellirian rückte ihren Stuhl näher an die Fenster heran und setzte sich.
Vance blieb einen Moment zögernd an der Tür stehen. Dann sprach er plötzlich in das Interkom und bestellte unten in der Kantine zwei Becher heißen Tee. Als er das getan hatte, drehte er sich wieder zu Fellirian um, die gerade dabei war, in ihrer Gürteltasche zu wühlen, die sie von dort geholt hatte, wo sie auch ihre anderen Sachen abgelegt hatte. Sie nahm eine kleine, hohle Pfeife heraus, die sie mit einem hellbraunen Tabak stopfte. Vance näherte sich, zog ein Feuerzeug, hielt es ihr entgegen und trat dann einen Schritt zurück, um zu beobachten, wie das Feuer in dem Pfeifenkopf anging. Zufrieden lehnte sie sich danach zurück, legte einen Arm auf das Fensterbrett und blies eine große blaue Rauchwolke an die Decke.
„Ich weiß, ich weiß“, sagte sie. „Eure Entlüftungsanlage wird dadurch verschmutzt.“
„Nein, nein, laß dich nicht stören. Mir macht es nichts aus. Laß sie ruhig verschmutzen. Die meisten von den Besuchern hätten liebend gerne ebenfalls geraucht und waren nur zu schüchtern.“
„Zu schüchtern, um mir auf die Pelle zu rücken, waren sie nicht.“ Sie hielt inne. „Aber was soll’s.“ Sie wandte sich für einen Moment zum Fenster, um in das sich verdunkelnde Blau des Abends, das allmählich eine violette Tönung annahm, hinauszusehen. Nach einer Weile wandte sie sich wieder um. Vance hatte sich einen Stuhl in ihre Nähe geholt und wartete jetzt.
Fellirian seufzte tief, als formuliere sie noch an den Worten, die sie auszudrücken wünschte. Dann begann sie: „Walter, du hast doch Kontakte nach draußen, zur eigentlichen Welt. Ich meine, zur Bezirkszentrale. Was tut sich da eigentlich? Unsere Besucher haben etwas Merkwürdiges an sich, etwas Inszeniertes, was früher nicht da war; die letzten paar Besucher- und Praktikantengruppen waren reichlich hektisch, viel nervöser als die Touristen, mit denen wir üblicherweise zu tun haben. Sie scheinen voller merkwürdiger Widersprüche zu stecken, etwas zu verdrängen; alles spielt sich unter der Oberfläche ab, nichts ist offen. Als ob sie einen Verdacht hätten, aber sich nicht einmal trauen würden, ihm nachzugehen. Ich habe die Feindseligkeit dieser letzten Gruppe ganz deutlich gespürt, die Blicke, die Aufmerksamkeit, die sie meinen Bemerkungen geschenkt haben, die Fragen, die sie gestellt haben. Da muß etwas dahintergesteckt haben; irgend jemand hat da bei mir vorgefühlt. Aber weshalb? Sie wissen doch, diese ekelhaften Sicherheitsbeamten, daß sie ruhig direkt fragen können – ich würde frei meine Meinung sagen. Ich bin kein Intrigant, kein Mitglied von Geheimbünden.“
Vance bemerkte ihre Empörung, sagte aber nichts. Statt dessen meinte er: „Es tut sich seit kurzem einiges im Bezirk, aber bis jetzt habe ich nicht ermessen können, wie weit das alles geht und worauf die Veränderungen gerichtet sind.“ Er hielt inne. „Und du weißt ja, wie die Stimmung bei der Masse der Leute ist. Das reicht von regelrechter Paranoia über Neid bis hin zur Verbitterung. Am häufigsten heißt es, daß ihr ‚eine Bande von sexuell überaktiven Mutanten seid, die nichts zur Rettung der Welt beitragen wollen …’.“
Fellirian unterbrach: „Pah, sexuell überaktiv! Ich wünschte, es wäre zur Zeit so! Aber das ist vorbei … wir hatten Glück mit dem dritten Kind, aber … Nun ja, es ist eben vorbei, so wie es uns allen geht. Bestimmt wissen sie über diese Seite von uns genausogut Bescheid.“
„Eure unfruchtbare Reifezeit ist es, was sie stört. Uns stört“, fügte er hinzu. „Wir kennen so etwas nicht. Und in diesem Jahrhundert ist die Geburt von Bastarden ein Kapitalverbrechen, weißt du. Mehr als das, es ist so schlimm wie zwei …“
„Die Eltern werden beide depersonifiziert. Ich weiß. Aber wir sind nicht weniger streng mit denen, die den Partner außerhalb der Webe suchen und empfangen, wie es bei uns heißt. Aber alles übrige ist einfach Unsinn. Sie sollten mich einmal Holz hacken sehen oder sich Morlenden anschauen, wenn er durch den Wald läuft bis in die entlegensten Gegenden, um alles in Ordnung zu halten. Oder Kaldherman und Cannialin und Pethmirvin, wenn sie Tag und Nacht im Schuppen damit beschäftigt sind, für unsere Urkunden einen neuen Stapel Papier herzustellen oder Einträge, Querverweise schreiben. Ich fühle mich nicht wie ein Übermensch; ich fühle mich wie ein überarbeiteter Bürokrat in einem von euren riesigen Beamtenapparaten.“
Der Tee kam in einem automatischen, in eine Wandnische eingebauten Speiseaufzug nach oben in den Konferenzsaal. Vance ging hinüber und holte die Tassen heraus. Sie dampften noch. Als er zurückkam, sagte er: „Ja, ich habe auch das Gefühl, daß sich etwas tut. Ich weiß das auch noch von einigen anderen … aber bis jetzt ist es mir nicht gelungen, es an irgend etwas Konkretem festzumachen, an einem politischen Machtwechsel etwa. Für mich ist es einfach ein momentaner Stimmungswandel. Etwas Nervenkitzel, ein bißchen Abenteuer, etwas, worüber man sich erregen kann. Das kommt von dem Druck, weiß du. Wir brauchen etwas zum Ausgleich. Wir schinden uns und wissen dabei doch ganz genau, daß unsere größten Anstrengungen doch nur etwas Vorübergehendes sind, das uns einen Monat oder ein Jahr über Wasser halten soll. Wir erleben eine Krise nach der anderen, eine Knappheit nach der anderen. Man kann das Ganze in Gang halten, aber das nutzt sich ab. Selbst hier, so zurückgezogen wir hier sind, spüre ich das jeden Tag.“
Fellirian sah zum Fenster hinüber, als suche sie in dem verdunkelten Himmel, dem Regen, den in die Nacht entgleitenden Ausblicken auf Lichter und glänzende Straßen nach einem Fingerzeig. Als sie sich wieder umwandte, fragte sie: „Und du hast nichts gehört?“
„Absolut nichts. Wie du weißt, hatte ich früher gute Beziehungen zur Bezirkszentrale. Der alte Vaymonde war kein großer Vorsitzender, sagt man – kein Charisma. Aber er hat bestimmt die Infrastruktur aufrechtgehalten. Hat immer mit den Abteilungsleitern geredet. Man hatte ihn gern, er wurde nicht nur toleriert.“
„Ich kann mich gut an ihn erinnern. Einer der wenigen, die im Dienst sterben sollten.“
„Ja. Bis zum Schluß auf dem Posten. Weißt du, man erzählt sich da so eine Geschichte des Inhalts, daß … Aber was soll’s. Aber als Denver diesen neuen Vorsitzenden einsetzte, diesen Parleau, da ist von meinen Quellen eine nach der anderen versiegt. In den Ruhestand gegangen, ausgeschieden, versetzt. Alle weg. Nichts Schlimmes; er will eben nur seine eigenen Leute. Aber ich behalte ihn genau im Auge, diesen Parleau. Es heißt, daß er einer von diesen Favoriten ist, von irgendwo im Westen herkommt, aus der Mojave-Gegend oder aus Sonora oder sogar Niederkalifornien. Aus einer von diesen Wüstengegenden – Sonnenenergie und Bergbau. Das ist so ein Typ, der keinen Spaß verträgt: immer beschäftigt, Überstunden, ein aufgeräumter Schreibtisch, erst die Arbeit, dann das Vergnügen, die Erfordernisse der Gesellschaft, alles das. Und in der Zentrale heißt es heutzutage, daß neue Besen …“
„… gut kehren. Hu! Erzähl’ mir bloß nicht noch mehr von diesen Besengeschichten. Die eine ist schon reichlich abgenutzt.“ Sie nippte an ihrem Tee, nickte. „Ja, ich verstehe. Und ich weiß auch, daß es außerdem schwieriger geworden ist, aus dem Reservat herauszukommen. Immer mehr Papiere, Formulare, Registrierungen, Passierscheine. Alles natürlich lang und breit begründet: Das ist schließlich das Herz einer Bürokratie – alles hat seinen Grund. Natürlich könnte ich auch sagen, daß die wahren Gründe nie genannt werden und manchmal selbst dem Beamten unbekannt sind; vielen würde es gar nicht gefallen, wenn sie sie wüßten. Aber selbst dann – genug. Ich bin gegenüber diesen Dingen wegen meiner neuen Rolle sehr empfindlich – die Webgenehmigungen, die Namenszulassungen, die Anmeldung der Kinder. Nähe erzeugt Mißtrauen.“
Sie hielt einen Moment inne, nippte an ihrem Tee, drehte sich um und blickte abermals durch die Fenster in die Ferne. Sie drehte sich wieder um und sagte dann: „Außerdem ist es kaum den Ärger wert. Wir haben zum Glück wenig Ärger außerhalb des Reservats. Und ich habe Sachen gehört, die ich nicht unbedingt direkt überprüfen möchte. Wir hatten einige Vermißte …“
Vance sah das Oberhaupt der Deren-Webe scharf an. „Das hast du noch nie erwähnt …“
„Nein.“
„Wer waren sie?“
„Nicht so viele. Keiner, den ich persönlich kenne. Älteste, nach dem zu urteilen, was man so hört. Und das ist alles ganz vage, weißt du. Alles aus vierter Hand. Bis jetzt waren es anscheinend nur Älteste, die aus allen möglichen Gründen verschwunden sein können. Der Kult der letzten Heilung glaubt an den natürlichen Tod allein in den Wäldern. Die sieht keiner mehr wieder. Wenn nun aber jemand in der Brutphase oder ein Heranreifender davon betroffen sein sollte, dann wären die Leute sicher mehr interessiert.“
„Wie interessiert?“
„Das könnte ich im Moment nicht sagen. Wenn es vorsätzlich geschähe und eine menschliche Stelle damit zu tun hätte, dann würde es meiner Meinung nach bestimmt eine Reaktion geben. Was für eine, das ist noch die Frage. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir euch drohen könnten; wir haben weder die Macht noch die Waffen dazu, und selbst wenn wir sie hätten, wüßte ich jedenfalls nicht, wie ich sie benutzen sollte. Du kennst das Gebot von Demirel – benutze nichts als Waffe, das die Hand verläßt. Keine Gewehre, keine Lieferungen.“
„Aber ihr habt Butter, die ihr uns entziehen könntet.“
„Der Input, durch das Institut? Oh, dafür müßte es schon sehr ernst werden. Ich wünsche jedenfalls keine Konfrontation dieser Art.“
„Ich auch nicht, Fellirian. Wir haben viel von euch gelernt.“
„Nicht genug, wenn ihr es nicht in die Praxis umsetzt.“
„Gebt uns Zeit. Alte Gewohnheiten sind zäh.“
„Ihr habt die Zeit gehabt: vierhundert Jahre mit dem Rücken zur Wand. Zwanzig Milliarden Menschen! Ich wüßte nicht, was ich mit so vielen machen sollte. Allein die Vorstellung davon ist ein Alptraum; wir hätten gar nicht genug zulässige Namen!“
„Darüber machst du dir Sorgen?“
„Das ist die Deren in mir, die das sagt. Die Verwaltungsbeamtin, die Urkundsbeamtin. Denk nur an die ganzen furchtbaren Namen, die man benutzen müßte – die guten wären ja sofort verbraucht. Dann würde es Mädchen mit dem Namen Gallflanger und Jungen mit dem Namen H’wilvsordwekh geben.“
„Immer nur eine Fellirian.“
„Immer nur eine. Solange ich lebe, kann niemand anders, ganz gleich, welchen Aspekt er hat, diesen Namen erhalten. Aber eine Webe könnte mit der ganzen Arbeit gar nicht nachkommen, und die Leute könnten es auch nicht; statt dessen würde es die Erst-Derens, die Zweit-Derens, die Dritt-Derens geben … nichts für mich, solche Vervielfältigungen. Ich liebe es, einzigartig zu sein, auch wenn das, was wir machen, nicht die begehrenswerteste Rolle in der Gemeinde ist.“
Vance kam auf ein früheres Thema zurück: „Du hast also das Gefühl, daß man sich euch gegenüber feindselig verhält?“
„Das haben wir immer. Es ist nicht die Frage, ob diese Feindseligkeit besteht oder nicht; sie besteht, und manchmal ist sie eben stärker. Immer höher als Null.“
„Ist dir auf eurer Seite irgend etwas bekannt, was dem Feedback, das ihr gegenwärtig bekommt, Nahrung gegeben haben könnte?“
„Nein. Das ist es ja, was diese Zeit so beschwerlich macht. Wohlbemerkt, ich sage nicht, daß nichts im Gange ist; nur daß ich nichts Genaues weiß. Aber ich weiß wiederum eine ganze Menge. Und wir halten die Augen offen. Morlenden sollte heute am späten Abend oder morgen zurück sein. Ich werde ihn fragen. Er kommt herum und erfährt mehr als wir übrigen. Er macht alles Unangenehme, weißt du. Und du. Du mußt dir auch einen Spitzel in der Hauptverwaltung anschaffen. Wollen wir das nächste Mal unsere Erfahrungen austauschen, wenn wir uns wiedersehen?“
„Wahrscheinlich tut sich hier nichts, was nicht etwas Sonne wieder in Ordnung bringen könnte.“
„Ja, tatsächlich, es könnte an der Jahreszeit liegen. Mir geht es im trüben Herbst auch nie so gut. Es ist nicht meine Jahreszeit.“ Fellirian wurde stumm und nippte wieder an ihrem Tee. Es war nichts mehr da. Sie machte sich wieder an ihrer Pfeife zu schaffen. Sie war ausgegangen. Fellirian blickte auf. Es war an der Zeit zu gehen.
Vance verstand den Wink und sagte: „Also gut, so soll es sein. Mach dir keine Sorgen. Ich wüßte im Moment keinen Grund dafür. Kommst du nächste Woche?“
„Ich würde nächste Woche gerne überspringen, wenn es irgendwie ginge. Wenn es dir nichts ausmacht. Warum siehst du nicht zu, ob du nicht jemanden findest, der mich hier bei den Besuchern vertreten kann. Zum Beispiel diese Maellenkleth Srith Perklaren. Oder das Mädchen von den Shuren, Linbelleth … Sie sind beide jung, aber sie haben das schon mal gemacht. Ich bin mit meiner Arbeit in der Webe weit zurück, und ich möchte gerne etwas aufholen. Das ist auch der Grund, weshalb Morlenden in letzter Zeit so oft auf dem Feld gewesen ist; wir haben alles, was diesen Sommer geschehen ist, aufarbeiten müssen. Das ist wichtiger, als du denkst. Und wir haben uns unverantwortlich benommen diesen Sommer über, wir haben herumgefaulenzt und mit den Kindern gespielt und im Garten gearbeitet. Wir sind im Rückstand. Morlenden ist darum schon wochenlang hintereinander fort gewesen. Er fehlt mir langsam.“
„War das früher nicht so? Ich dachte, ihr wäret immer sehr vertraut miteinander gewesen …“
„So war es. Aber du weißt auch …“ – und hier geriet sie unversehens in ihre eigene Sprache, die Single-Sprache – „Toli lon Tooron Mamnatheno Kurgandrozhas: Nur die innenverwandten Geschwister wissen, was Inzest ist. Wir sind zu vertraut miteinander. Wir sehen den anderen als selbstverständlich an. Es ist die Art und Weise. Wir haben uns immer viel gestritten, als wir noch klein waren; wir haben uns in Konkurrenzkämpfen aneinander gemessen. Aber bei alldem wußten wir doch immer, was später kommen würde, so daß wir nach jedem Streit wieder das Kriegsbeil begruben. Wir konnten uns nie den Luxus erlauben zu sagen: ‚Also, hebe dich hinweg, Puterschwanz, mit dir habe ich von nun an nichts mehr zu schaffen.’ Nein. Wir wußten immer, daß, was immer geschah, was immer mit Freunden und Liebhabern war, letzten Endes die Fruchtbarkeitsperiode uns gehören würde, genau wie der Besitz des Klanh … und so ist es fünfundvierzig Jahre lang gewesen. Die meiste Zeit haben wir in einer Ecke zusammen gelegen. Zwischendurch kurz weg wegen der Verwebung der Zweiteltern. So sahen wir auch immer unsere Zukunft für selbstverständlich an; wenn es an der Zeit wäre, würden wir unserer eigenen Wege gehen, denn darauf hatten wir ja so lange gewartet. Aber nach Kaldherman und Cannialin und meiner dritten Fruchtbarkeitsperiode … da wurde es anders. Wir stellten fest, daß wir uns zusammen eigentlich irgendwie wohler fühlten. Darum sind wir übereingekommen, daß wir zusammenbleiben, wenn die Webe sich auflöst. Dadurch stellt sich aber ein weiteres Problem: Wohin gehen wir dann?“
„Von all den Dingen, zu denen du dich nicht entschließen kannst …“
„Morlenden will in eine Ältesten-Hütte eintreten, die, wie man sagt, etwas von einem fordert. Eine, in der man ‚über die Natur nachdenkt’, wie ihr es nennen würdet, oder vielleicht sogar in die Buchenholzhütte, zu den Genetikern. Ich selbst wäre schon zufrieden, wenn ich nur irgendwohin gehen könnte, wo ich einen Garten pflegen, essen und trinken und am Feuer im Gemeinschaftsraum erfundene Geschichten erzählen kann. Aber er ist vom Feuer, und ich bin von der Erde. Aspektkonflikt. Aber manchmal denke ich auch, daß Olede-Kadh nur Spaß macht. Wenn es erst mal soweit ist, ist er sicher nicht halb so streng, wie er gern tut.“
„Ihr werdet euch sicher entschieden haben, wenn es an der Zeit ist – immerhin habt ihr zwanzig Jahre Zeit. Es ist ja nicht so, als ob es schon morgen sein müßte. Auf jeden Fall ist eure Zukunft entweder gesichert, oder sie wird es sein. Was dagegen meine betrifft …“
„Hat die Fruchtbarkeitsbehörde auf deine Anfrage noch nicht geantwortet?“
„Noch nicht, nein.“
„Darauf kann ich leider nur sagen, wie leid mir das tut. Ich würde dich gern mit einer Familie sehen, so wie du mich die ganzen Jahre mit einer gesehen hast.“
„Ich auch. Aber die Zeit vergeht.“
„Das ist wahr. Ich habe gehört, daß sie nur die Besten akzeptieren …“
„Wenn es da drüben so wäre, dann hätte ich jetzt sicher ältere Kinder als eure Pethmirvin, aber die denken wohl anders. Da haben sich mittlerweile im großen und ganzen die übelsten Kriecher und Speichellecker festgesetzt. An meine Zeugnisse kommt kein anderer heran. Aber dieser Posten hier am Institut ist noch nie beliebt gewesen … und dann ist da noch die Sache, daß man mir den programmierten Namen verweigert hat, als ich noch in der Ausbildung war. Das ist nie ein Geheimnis gewesen, aber ich wußte damals, daß ich ein Risiko einging …“
„Du weißt, Walter, wenn du eine von diesen abscheulichen, im Nullachtfünfzehn-Verfahren hergestellten Plaketten angenommen hättest, die nicht besser als eine Nummer sind, dann wärst du nicht hiergeblieben, und das ist vielen von uns einiges wert. Viele von uns arbeiten jetzt gern hier, während wir es vorher nur aus einem Pflichtgefühl heraus taten. Es gibt einen Unterschied im Input und einen ganz beträchtlichen im Output. Das sollten sie dir hoch anrechnen.“
„Du würdest dich wundern, was sie alles ausgraben, um es einem vorzuhalten, wenn es soweit ist. Weißt du, was man drüben in der Aufsichtsbehörde und in der allgemeinen Prüfstelle sagt? Daß, ganz gleich, wer es ist, wie gut es für ihn aussieht, sie immer noch etwas finden können, um ihm eine ungenügende Beurteilung zu geben. Es ist immer nur die Frage, wie weit sie gehen wollen.“
Fellirian sah für einen Moment von Vance weg, wobei etwas, das zu schnell war, als daß man es hätte sehen können, durch ihr schlichtes, offenes Gesicht zuckte, ein Etwas, ein Gefühl, das Ärger nahekam. Vances Bemerkungen waren genau wie der Nachdruck, den er hier und jetzt auf sie legte, in sich nicht falsch. Eine Welle des Unbehagens erhob sich tief in ihrem Geist, flaute wieder ab. Sie alle wußten über bürokratische Systeme Bescheid, und sie beide wußten, daß jedes System, das auf die Klassifizierung der Leute gerichtet war und sich öffentlich der Objektivität rühmte, auf die schlimmsten und krassesten Formen der Subjektivität zutrieb. Sie wußten Bescheid? Das war auf beiden Seiten des Zauns gleichermaßen bekannt.
So neutral sie konnte, bemerkte sie: „Ich hoffe trotzdem weiterhin das Beste für dich.“ Nachdem sie so gesprochen hatte, wandte sie sich wieder dem Fenster zu, wobei sie dieses Mal aufstand. Sie blickte nachdenklich lange Zeit nach draußen und wandte sich dann um und holte aus einer Nische neben der Tür ihre Oberbekleidung. Sie zog den Winterumhang über die Schultern und stieg in die Winterstiefel aus weichem, schmiegsamem Leder, das mit Stoff gefüttert war.
„Es wird Zeit, daß ich gehe. Die Mono ist schon da und wartet auf solche Nachzügler wie mich.“
„Natürlich, Fellirian. Ich verstehe, was die beiden anderen betrifft, die du erwähntest. Kein Problem. Wir sehen uns dann in ein paar Wochen. Wenn du wiederkommst, plaudern wir wieder ein wenig bei einer Tasse Tee.“
„Oh, ich komme bestimmt wieder. Ich sehe mir die Besucher genauso gern an wie sie mich.“ An dieser Stelle hielt sie inne, als versuche sie, einem schwierigen Gedanken eine erträgliche sprachliche Formulierung zu geben. „Aber du weißt ja, daß ich in meiner eigenen Umgebung wieder auftanken muß. Du und ich, wir sind alte Freunde. Aber gerade deswegen übersehen wir die Tatsache, daß wir uns im Grunde sehr fremd sind, daß wir die Welt sehr verschieden auffassen. Und obwohl das so ist, bin ich … aber schweigen wir darüber. Bis zum nächsten Mal also?“
„Bis zum nächsten Mal. Ich werde warten.“
Fellirian drehte sich um und ging durch die zur Seite gleitende Tür, die sich hinter ihr schloß und Direktor Walter Vance allein im Sitzungsraum zurückließ. Eine beträchtliche Zeit lang saß er ruhig in dem trüber werdenden Abendlicht, das nun fast dunkel war, allein da. Er dachte dabei an nichts Besonderes, zwang sich zu keinem spezifischen zusammenhängenden Gedanken. Er ging zum Fenster hinüber und blickte hinaus in die gleiche abendliche Landschaft, die Fellirian nicht lange vorher betrachtet hatte. Das Licht war nun ein tiefes, keiner bestimmten Quelle entspringendes Blauviolett am Ende eines weiteren regnerischen Novembertages, der tief in dem war, was er als Kind als den Boden des Jahres angesehen hatte. Nackte, tropfende Zweige. Glänzendes, silbriges, Licht reflektierendes Pflaster. Flache, von einem leichten, unbeständigen Wind gekräuselte Pfützen, deren Spiegelungen durch den Fall launenhafter Regentropfen in Scherben brachen. Der Zug der Monobahn, die in die entferntesten Gegenden des Reservats führte, stand noch wartend an der Haltestelle. Vance sah zu, wie eine von Kopf bis Fuß vermummte Gestalt, die etwas schmächtiger als ein Mensch auf diese Entfernung hin aussah, ohne Hast zur Mono am Bahnsteig hinüberging. Die Gestalt schob eine Tür beiseite, stieg in einen Wagen ein und verschwand aus seinem Blickfeld. Die hellen, pastellfarbenen Wagen standen unbeweglich da und verströmten zitternde, zögernde Rauchfetzen aus den Heizgeräten in die feuchtkalte Luft.
Dann bemerkte er, daß sich die Mono bewegte, sich bereits bewegt hatte, und sie hatte so unmerklich damit begonnen, daß es ihm entgangen war. Ihre Geschwindigkeit nahm zu, und sie glitt leicht über das eine Gleis aus flachgehämmertem Beton dahin. Sie bog nach Nordwesten ab und fuhr durch ein Kiefernwäldchen. Eine Zeitlang konnte er die Bewegung hinter den Bäumen verfolgen, indem er die Lichter beobachtete, aber schließlich verschwand sie hinter einer sich dazwischenschiebenden kleinen Anhöhe gänzlich aus der Sicht. Vance sah von dem Fenster weg, ging zum Speiseaufzug und bestellte noch etwas Tee. Dann kehrte er an seinen Platz zurück und wartete. Er wußte, was kommen würde.
Der Raum war fast dunkel. Es wurde fast unmerklich dämmriger, fast nachtschwarz, und die Nacht rückte noch ein Stückchen weiter vor. Vance wartete. Er wartete nicht, weil er ein geduldiger Mann war oder weil er die hohe Kunst des Betrachtens der Zeit von Fellirian gelernt hatte. Oder weil er von besonders ruhiger Wesensart gewesen wäre; er wartete vielmehr deshalb, weil er auf den Eintritt eines ganz bestimmten Ereignisses wartete. Eine Zeitlang deutete nichts darauf hin, daß sich auch nur irgend etwas ereignen würde. Aber schließlich brach ein winziges Geräusch die Feierabendstille des Gebäudes. Es war ein leiser Ton an der Decke, ein unbestimmtes Klicken, dessen genaue Quelle nicht auszumachen war. Vance hörte es. Er sah nicht auf.
Mit müder Stimme sagte er anscheinend ins Leere hinein: „Mit wem spreche ich heute?“
Die Stimme antwortete absolut naturgetreu, gerade so, als käme sie aus Hals und Mund einer dort in dem Raum physisch anwesenden Person; die technischen Geräte übertrugen sogar die kleinsten Eigenheiten der Modulation, die bei Lautsprechern gewöhnlich fehlten. Es war eine hörbar atmende, ein wenig kratzige Stimme, eine Stimme voller Selbstvertrauen. Eine aalglatte Stimme. Eine Stimme, wie der sie hat, der alle hohen Karten in der Hand hält.
Sie sagte: „Ganz schön schlau. Als ob Sie das vorher auch immer gewußt hätten und ich jetzt genauso verfahren müßte. Wunderschön, Direktor. Aber Sie wissen, daß der Name nie genannt wird. Und was macht das schon? Wir sagen sowieso alle das gleiche.“
Vance erwiderte darauf: „Wie gewöhnlich haben Sie recht. Ich wollte nur wissen, ob ich einmal einen Unerfahrenen erwischen würde, nur einmal.“
Die Stimme lachte in sich hinein, echter Humor, den sie sich zu teilen herabließ. „Kaum, Sir. So arbeiten wir nicht. Sie können sich nicht vorstellen, wie unsere Ausbildung aussieht, durch was für Prüfungen wir hindurch müssen. Streng ist einfach nicht das richtige Wort dafür! Wir haben sogar einen Simulator zur Wiedergabe genau dieser Umgebung, zu unserer Vorbereitung, um diese kleinen Fragen, diese schlauen Täuschungsmanöver aufzuschnappen. Aber, Direktor, ich versichere Ihnen, daß wir es mit richtigen Meistern zu tun haben; die sind wirklich ganz schön schlau, heimtückischer als ein Bürovorstand in den Zeiten, in denen das Budget gekürzt werden soll. Aber genug vom Gewerbe des armen Überwachungsbeamten, ja? Kommen wir zur Sache. Also ich muß Ihnen zu einer außergewöhnlich guten Leistung an diesem Abend gratulieren, ja wirklich. Die Bemerkungen über den neuen Kollegen in der Bezirkszentrale, den neuen Vorsitzenden. Er wird bestimmt hocherfreut sein, und wenn ich Ihnen ein Geheimnis verraten darf – er ist in der Regel über reichlich wenig erfreut. Versteht überhaupt keinen Spaß, dieser Mann. Also, wenn Sie noch ein kleines bißchen üben, könnten Sie es, glaube ich, noch zum Agent provocateur bringen. Zum Provoc. Oder war das Ihr Ernst? Unmöglich. Aber das wird denen gefallen, ganz bestimmt. Der Vorsitzende mag eine Prise Feindseligkeit, in Maßen natürlich. Er meint, daß das seinen Direktoren so etwas Beißendes gibt.“
„Das glaube ich.“
„Ich muß Ihnen nun leider mitteilen, daß wir diese Leitung jetzt wahrscheinlich sperren werden.“
„Und so stimmen Sie also mit dem überein, was ich Ihnen zuerst gesagt habe.“
„Ja, ja, natürlich. Das war auch nicht Zweifel an Ihrem Wort, Direktor Vance, nur eine Routineüberprüfung. Was wir heute bekommen haben, war schon oben in der Abteilung für direkte Zeitanalyse. Dort ist man der realen Zeit voraus – oder jedenfalls fast. Die müssen immer über alles nachdenken da oben, nicht wie wir hier in der vordersten Linie, immer schußbereit sozusagen. Also die stimmen darin überein, genau wie wir beide, wenn ich das Pronomen einmal so locker gebrauchen darf. In dieser Fellirian gibt es kein Erz zu veredeln, weder für eine Drachme noch für ein Skrupel. Sie scheint heute unter ziemlich starkem Streß gestanden zu haben, aber er war gleichmäßig stark; keine Sprünge, wenn besonders ausgewählte Themen berührt wurden. Wir stimmen vollkommen mit ihr darin überein, daß sie von keiner Verschwörung weiß.“
„Soviel bezüglich dessen, was sie oder ich weiß. Gibt es denn nun eine Verschwörung oder nicht?“
„Aha! Fragen von Seiten des Antwortenden! Sie werden auch noch mal Überwachungsbeamter. Aber Verschwörungen? Zu diesem Zeitpunkt könnte ich das noch nicht sagen. Es gibt Anomalien, Eigentümlichkeiten. Sie brauchen sie noch nicht zu kennen.“
„Oh.“
„Diese Leitung wird also hiermit aufgehoben. Desaktiviert. Wenn Sie eine Beurteilung des gelaufenen Verfahrens schicken möchten, benutzen Sie bitte Formblatt acht-vier-vier-A, Anschrift zu Händen von F-sechs-drei-zwei. Ich kann Indexpunkte genauso gut gebrauchen wie Sie, wie überhaupt jedermann in dieser Welt der Konkurrenz.“
„Wo wir gerade von Punkten sprechen – wann werden meine eingetragen?“
„Sie sind schon von der Gratifikationsabteilung gutgeschrieben worden. Sie bekommen bald den Beleg. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Sechser!“
„Sechs? Man stellte mir zwanzig in Aussicht!“
„Wer hat Ihnen zwanzig in Aussicht gestellt? Ich … tja, für diese Art Arbeit sieht man fast nie mehr als einen Zweier. Schließlich kann man negative Beweise alle Tage führen, nicht wahr?“
Vance hatte keine Antwort darauf. Die Stimme hielt inne, um dann fortzufahren: „Haben Sie noch irgendwelche abschließenden Bemerkungen zu machen, bevor ich die Leitung lahmlege? Es ist jetzt bald Zeit.“
Vance spürte beinahe schmerzhaft eine plötzliche Woge der puren Wut, der Frustration, des Ärgers in sich aufsteigen, die rasch anwuchs, jetzt ein Stachel aus reiner Emotion war; aber sie verging, und das System des inneren Ausgleichs übernahm bei ihm wieder die Kontrolle, ohne daß er sich dessen allzu bewußt gewesen wäre, und hinterließ nur einen bitteren Nachgeschmack. Wie jeder andere in dieser Zeit verstand sich Vance hervorragend auf die Beherrschung der eigenen Gefühle. Er hatte sie jahrelang beherrscht, vor dem System und vor einzelnen Personen wie zum Beispiel Fellirian. Zu der körperlosen Stimme sagte er: „Vielleicht wird man das jetzt für allzu kühn halten, aber ich muß doch sagen, daß das Bespitzeln der ältesten Freunde, die man hat, eine entwürdigende Handlung ist, die gewaltiger Entschädigung bedarf. Ich hoffe, Sie haben nicht noch mehr von dieser Art Zusammenarbeit anzubieten.“
„Ein offenes Wort fällt in offene Ohren.“ Es entstand eine Pause. Dann begann die Stimme wieder: „In der Analyse heißt es, Sie erhalten einen Gratifikationspunkt für Ehrlichkeit minus zwei für zu starke Zugeständnisse an einen vorgestellten Statusgruppenwert.“ Die Stimme verhärtete sich. „Und Sie sind einfach zu weich auf dem Gebiet, wissen Sie. Wir jedenfalls wissen das. Aber Sie erhalten letztlich immer noch einen Fünfer für die heute geleistete Arbeit. Überdurchschnittlich. Machen Sie weiter so.“
„Danke, das werde ich.“
„Ich möchte Ihnen noch einen letzten Rat geben. Ein paar Richtlinien, wenn Sie so wollen. Die erste ist folgende: Wenn einer verkaufen will, kann man seinen Preis bis auf seinen tatsächlichen Wert drücken. Wir hätten dieses Unternehmen auch gänzlich ohne Ihre Hilfe durchführen können. Aber dann hätten Sie nichts bekommen. Vielleicht einen Minuspunkt, wer weiß. Betrachten Sie sich als glücklich, daß wir Sie überhaupt gefragt haben. Sie kennen die Regeln: Wir brauchen nicht zu fragen. Das zweite ist folgendes: Sie haben daran geglaubt, daß die Ler-Dame von keiner Verschwörung wußte. Deshalb war Ihre Hilfe nichts, über das geringschätzig zu urteilen wäre. Eine Kontrolle bei einer kleinen Überwachungssache, bei der die Freunde in der Tat unschuldig sind. Was kann das schon schaden? Wir arbeiten mit Streichungen, mit dem Ausscheiden des Unwahrscheinlichsten. So wurde nun also Ihre Freundin durch ein kleines bißchen Einsatz aus dem Kreis der Verdachtspersonen gestrichen. So steht es in dem Bericht. Das sollte Sie doch beruhigen. Und dann noch dies: Sie sind Direktor des Interface-Instituts, und die Neuen Menschen, die Ler, wie sie sich selbst nennen, sind für Sie hochinteressant. Aber für uns, die wir die gefährliche Welt lenken müssen, stellen sie eine größere Gefahr dar als der Cro-Magnon-Mensch einst für den armen Neandertaler. Wir haben nie eine fremde Rasse im Weltraum gefunden, Direktor; wir haben sie uns selbst erschaffen – und diese Leute sind fremdartiger als alles, was wir je auf einem anderen Stern erwarten konnten. Flossen, Pelze, Hände, Pfoten, Schwimmhäute; Wesen, die in der Luft leben oder im Wasser, Wesen, die Ammoniak verarbeiten. Mit solchen Rassen würden wir fertig werden. Mit diesen hier nicht. Und bei diesen wollen wir kein Risiko eingehen.“
„Sie sind in vielem ähnlich wie wir. Fast gleich im Grunde. Könnte es sein, daß wir uns selbst nicht ausreichend verstehen?“
„Immer ein Problemkomplex zu seiner Zeit. Die Überwachungsstelle befaßt sich nicht mit der Forschung.“
„Sicher, aber …“
„Guten Abend, Direktor.“
„Guten Abend.“ Für Vances Ohren deutete nicht das geringste darauf hin, daß die Leitung wirklich gesperrt worden war. Nach den letzten Abschiedsworten des namenlosen Überwachungsbeamten herrschte nur Schweigen. Vance konnte nicht sicher sein, in welchem Moment sie abgeschaltet wurde. Wenn sie sie abschalteten. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging müde zum Speiseaufzug hinüber. Der Tee war inzwischen kalt.
Sie waren Geisterstimmen in der Nacht; wo sie waren, war gleichgültig, mußte gleichgültig sein. Sie konnten irgendwo sein; anscheinend waren sie überall. An dem Ort, an dem sie waren, war immer Nacht, immer künstliche Beleuchtung. Es gab keine Fenster. Eine Schicht löste die nächste ab. Ankommende Angehörige sahen die Bestimmungen durch, lasen die Anmerkungen, unterzeichneten Formulare. Gehende Angehörige unterzeichneten ebenfalls Formulare. Eine Schicht löste die nächste ab. Und die Stimmen waren so oft durch die Leitungen gehallt, daß Mechaniker, wenn sie in die unterirdischen Anlagen mit den Kabeln kamen, manchmal hörten, wie auf vermeintlich stillgelegten Leitungen ein unerklärlicher Sprechverkehr weiterlief. Sie nannten diese verhallenden Stimmen „Kupferstimmen“, die Abdrücke vergangener und vergessener Überwachungsbeamten, die immer noch durch die Leitungen wanderten. Stimmen in einer ewigen Nacht.
„Sektor zehn. Bitte sprechen Sie.“
„An Zwei-Alpha, Überwachungsdienst. Ein schriftliches Protokoll folgt auf meinen gesprochenen Bericht. Geht jetzt ab, Empfang bitte bestätigen.“
„Ist angekommen, Zwei-Alpha.“
Es entstand eine Pause, während der die Leitung jedoch offen und in Aktion blieb.
„Und Zehn hier.“
„Zwei-Alpha. Bitte sprechen Sie.“
„Betrifft Ihr schriftliches Protokoll; ist zur Kenntnis genommen. Eval wünscht, daß Vance bei der ersten Gelegenheit, bei der es nicht allzusehr auffällt, auf einen unschädlicheren Posten versetzt wird. Negative Eile. Versetzungskategorie Delta. Er wird unzuverlässig. Zu spezialisiert. Braucht ein breiteres Aufgabenfeld. Ferner empfehlen wir, daß keine Passiva dieser Art mehr vorkommen, die für nicht weniger als dreißig Tage zugelassen sind, wissen Sie, wie gemäß Plan neunundzwanzig, Rubrik zwanzig, Zeile fünfzehn.“
„In Ordnung. Ist schon angekommen. Wir stellen die obligatorischen Punkte auf und erstatten dann Meldung.“
„In Ordnung. Also plangemäß. Zehn Ende.“
Und für eine Weile war auf einem bestimmten Nachrichtenkanal, auf Drähten, auf Laserstrahlen in leeren Röhren, auf Wellenführungen, durch die nichts außer Mikrowellen ging, überall Schweigen. Die Leitung war tot. Aber an den Enden solcher Kanäle herrschte mitnichten Ruhe.