Die blaue Blume der Romantik und der Heilige Geist
»Was schreibst du da?« Ich beugte mich über Mathias, der brummend an seinem Schreibtisch saß.
»Ich darf in der Stunde keine Brausestengel lutschen!«
»Warum mußt du das schreiben?«
»Mensch, Mulchen, schtell di doch net so an! Weil i a paar glutscht hab, deshalb. D’Frau Kuchschmidt verschteht au kei bißle Spaß, und jetzt muß i’s zehnmal schreibe.«
»Man lutscht auch keine Brausestengel in der Schule, Mathias!«
Er seufzte.
»Des weiß i jetzt ja! Mensch, Mulchen, hasch du denn gar nix mehr zum Schaffe? Musch du immer gucke, was i mach? Des isch ja furchtbar!«
»Ich hab mit Frau Kuchschmidt gesprochen, sie ist nicht zufrieden mit dir, weil du frech bist und deine Hausaufgaben hinschlampst!«
»So? Aber daß i dr Beseht bin im Schport und am schnellste renn und a Urkunde krieg, des hat se dir natürlich net gsagt!«
»Nein, aber daß wir Diktate üben müssen, weil deine Rechtschreibung haarsträubend ist. Komm, wir schreiben gleich eins!«
»Was? I hab no net amal die Brauseschtengel fertig. Heut geht’s net und morge au net, weil i da nämlich bei dr Schuluntersuchung bin, und dr Vati muß mi hinfahre.«
Am nächsten Morgen trabte er aufgeregt von einer Ecke der Wohnung in die andere.
»Warum kommt er denn net? Er hat’s mr doch verschproche! O, Mulchen, wie kann dr Vati mir des antun, wo doch um zehn Uhr d’Mädle drankommet.«
Es langte noch. Manfred brachte ihn hin und wieder zurück.
Der Vater lachte, der Sohn blickte schmerzlich verklärt und trug den Arm streng angewinkelt.
»O, Mulchen, was hab i leide müsse. Mei Arm braucht a Schlinge. Da hat se fürchterlich reigschtupft und drei Gläser mit Blut rausgholt. Und dann hält se mir sowas an mein Finger, und ich denk an nix Bös, auf eimal schnappt da a Messer raus und fährt in mein Finger, da bin i so furchtbar erschrocke, daß i richtig hab schreie müsse.«
»Mathias, du bist ein Hypochonder!«
»Ja, Mulchen, du hasch recht, des bin i. Isch des a arg schlimme Krankheit?«
Am Nachmittag, als ich ihn endlich zum Diktat überredet hatte, sah er mich mit großen, traurigen Augen an, strich sich mit den Fingerspitzen leicht über die Stirn, wie es die Omi zu tun pflegte, wenn sie an Migräne litt und sagte:
»I tät furchtbar gern a Diktat schreibe, aber’s geht net, leider. Wenn i d’ Auge zudrück, dann hab i a ganz heißes Gfühl im Kopf.«
»Dann laß sie halt offen!«
»Und wenn i von hinte mein Arm anlang, dann hab i a schrecklich feschts Gfühl.«
»Was brauchst du dir von hinten an deinen Arm ranfassen? Du willst dich bloß vorm Diktat drücken!«
»O, Mulchen, wie kannsch du bloß so was sage? Ehrlich, mei Kopf platzt!«
»Komm mit ins Badezimmer. Ich schmier dir Salbe drauf, dann platzt er nicht mehr.«
Er nahm die Behandlung mit Niveacreme gern auf sich und reichte auch noch beide Arme her, damit ich sie einreibe.
Kaum saßen wir wieder am Schreibtisch, da ging das Gequengel von neuem los.
»Och, des isch ja furchtbar! Jezt hab i lauter schrecklich rutschige Gfühl! I muß nunter ins Höfle, damit’s d’ Sonn trocknet!«
Weg war er.
Meine vermehrte Aufmerksamkeit machte ihm zu schaffen und bot Grund zu Verdruß. Auf einmal hatte das Mulchen Zeit, steckte die Nase in alles hinein, wollte Schulaufgaben überwachen und Diktate üben, er aber war Freiheit gewöhnt.
Zu seiner großen Erleichterung nahm Andreas eine Zeitlang meine Aufmerksamkeit in Anspruch, indem er mir seinen Herzenswunsch offenbarte.
»Ach, Mulchen«, bat er, »i hätt so gern a eigens Zimmer! Weisch, mit ‘m Mathias isch’s manchmal richtig schwierig. Der will schpiele und Krach mache, und i will lese und Ruh habe, und dann schtreitet mir. Vorher hab i nix sage wolle, weil du so viel hasch lerne müsse. Aber i hab mir überlegt, da isch doch obe die Dachkammer, wo dr ganze Gruscht drin schteht, meinsch net, mr könnt...«
Und wie wir konnten!
Umräumen gehört zu meinen liebsten Tätigkeiten. Manfred weiß es aus leidvoller Erfahrung. Es ist wie eine Krankheit, die mich plötzlich überfällt. Ich sitze am Klavier und spiele ein Präludium von Bach, auf einmal, mittendrin, aus unerforschlichen Gründen wird es mir klar, daß das Klavier nicht länger an dieser Stelle stehen kann. Ich erhebe mich und schaue das Zimmer an und weiß nicht, wie ich es ausgehalten habe, so lange in dieser unerfreulichen und praktischen Möbelanordnung zu leben. Ich gehe durch die Wohnung und kann nur den Kopf schütteln. Diese Krankheit ist übrigens ein Erbstück. Meine Mutter litt unter ganz starken Anfällen. Sobald sich die ersten Anzeichen bei ihr bemerkbar machten, und sie mit nachdenklichem Blick durch die Zimmer streifte, einen Stuhl hierhin und einen Sessel dorthin stellte, waren wir Kinder bereits angesteckt und begannen in unseren Zimmern die Bilder umzuhängen. Nur mein Vater blieb immun gegen die Krankheitskeime und reagierte mit Verdruß auf den Ausbruch der Epidemie in seinem Haus.
So warteten wir, bis er einen Nachmittag lang unterwegs war und schritten dann unverzüglich zur Tat, denn nur so konnten wir genesen. Mutti gab an, wie sie sich die Neugestaltung des Raumes vorstellte, und wir Kinder leisteten ihr freudig Beistand. Kehrte der Hausvater endlich zurück, so empfing ihn eine erschöpfte, aber geheilte Familie.
»Ist es nicht wunderschön geworden, Paul-Gerhard?« Mutti hatte sich bei ihm eingehängt, schaute mit strahlendem Lächeln zu ihm auf und führte ihn an die Stätte unseres Wirkens.
»Na, ich weiß nicht, mir hat es vorher auch gefallen und ich muß mich erst daran gewöhnen. Weib«, er hob die Stimme, »laß dir bloß nicht einfallen, in meinem Zimmer...!«
»Aber Paul-Gerhard, wo denkst du hin! Nie würde ich mich erdreisten! Obwohl dein Schreibtisch viel mehr Licht bekäme, wenn er an der anderen Seite des Fensters stünde...«
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Krankheit uns erneut überfiel und wir in seinem Zimmer ans Werk gingen. Da allerdings war er nicht willens das Haus zu verlassen, sondern stand sprungbereit in der Mitte des Raumes, um sich auf uns zu stürzen, falls wir nicht pfleglich mit seinen Büchern umgingen.
»Wenn ich dich nicht so liebte...«, der Rest seiner Rede erstarb in unverständlichem Gebrummel.
»Ich habe nun einmal diese kleine Schwäche«, entgegnete meine Mutter, »sei duldsam, Paul-Gerhard, und denke an den Farn!«
Der Farn grünte im Garten, und sooft Vater seiner ansichtig wurde, wandte er sich mißmutig ab. Dieses Gewächs hatte ihm Spott und Ärger eingetragen und erinnerte ihn das liebe lange Gartenjahr hindurch an eigene Schwächen. Es verhielt sich nämlich so, daß mein Vater keinen Hausierer von der Tür weisen konnte, ohne ihm etwas abzukaufen, und daß er auf jeden Trick hereinfiel. »Paul-Gerhard, ich bitte dich!« jammerte Mutti, »was soll ich mit all dem Ramsch anfangen?«
Aber trotz ihrer Klagen häuften sich in unserem Haushalt ranzige Seifen, stumpfe Scheren und haarende Bürsten. »Hausierer sind arme Menschen«, sagte mein Vater. »Sie müssen bei Wind und Regen von Tür zu Tür gehen, ich bringe es nicht übers Herz, sie abzuweisen.«
»Dann gib ihnen etwas Geld und laß sie ihr Zeugs wieder einpacken!«
»Nein, das würde sie demütigen! Es sind ehrenhafte Händler, die etwas verkaufen wollen.«
Nun, wie ehrenhaft diese Händler waren, das zeigte der Farn, welcher sich in unserem Garten ausgesprochen wohlfühlte und auf s Beste gedieh.
Mein Vater war allein zu Hause, als der Hausierer mit einem Koffer voller Wurzeln erschien.
»Es sind Wunderblumen, mein Herr, exotische Gewächse von unerhörter Schönheit, blaue Blüten, goldene Staubgefäße darin, wie ein Krönchen...«
»Aber ich habe sie noch nie gesehen«, warf mein Vater dazwischen, ehrlich bemüht, sich diesmal nicht einfangen zu lassen.
»Das können Sie auch nicht, mein Herr, denn ich habe sie aus Indien mitgebracht, unter größten Gefahren. Stellen Sie sich vor: eine einsame Bergwiese, so blau wie der Ozean, und der Duft, unbeschreiblich süß!«
Die »blaue Blume der Romantik«, so sagte mein Vater nachher, wäre vor seinen Augen erblüht. Da hätte er nicht widerstehen können, zumal die Wurzel seltsam geartet und der Händler armselig gewandet gewesen sei. Er hätte auch nur eine einzige gekauft, obwohl es ihn schmerzlich nach einer blauen Wiese im Garten verlangt hätte.
»Ein teures Gewächs!« seufzte Mutti und betrachtete die Wurzel mit ärgerlichen Blicken. »Hoffentlich hält sie, was sie nicht verspricht. O, Paul-Gerhard, daß du es nicht lassen kannst!«
Else grub die Wurzel im Garten ein. Sie tat dies unter deutlichen Kundgebungen ihres Mißfallens.
»Mei bosche kochanje! Ich will nuscht nich jesacht haben, aber das sieht mich nicht nach einer Wunderblume aus! Und was der Herr Pfarrer ist, der kann schön predchen, aber sonst ist er zu jut für diese Welt...«
»Else!«
»Ja, ich sach ja nuscht nich mehr!«
Die Wunderblume wuchs heran, von meinem Vater sorgsam gedüngt und gegossen. Sie wurde trotz aller Pflege zum ganz gewöhnlichen Wurmfarn, der jedes Jahr treulich seine Wedel ausrollte und grünte, aber niemals blaue Blüten trug.
Diesen Farn also rief meine Mutter zu Hilfe, wenn sie ihrer kleinen Schwäche nachgab.
Ich aber hatte kein solches Hilfsmittel zur Hand, um Manfred von der Notwendigkeit einer Umräumaktion zu überzeugen.
»Unsere Zimmer sind optimal eingerichtet!« so hatte er in Weiden nach meinen ersten diesbezüglichen Vorstößen festgestellt. »Jedes Möbelstück steht am richtigen Platz, da gibt es nichts zu verändern!«
»Wie du meinst, Manfred. Schade, es wäre für mich eine große Arbeitserleichterung gewesen, wenn das Eßzimmer neben die Küche und dein Studierzimmer ans andere Ende der Diele käme, dann könnte man das Schlafzimmer zum Kinderzimmer und das...«
»Hör auf, Malchen! Das kommt überhaupt nicht in Frage!«
Wir räumten in Weiden alles um, was sich bewegen ließ. Wir vertauschten die Zimmer und verstellten die Möbel. Als alles schon einmal dagewesen war, zogen wir um.
Auch die Stadtwohnung erhielt immer wieder ein neues Gesicht, doch in dem Augenblick, da Andreas um ein eigenes Zimmer bat, hatte ich die Hoffnung, irgendetwas noch schöner gestalten zu können, längst aufgegeben. So fiel seine Bitte auf fruchtbaren Boden. Nach einer Woche hektischer Betriebsamkeit, nach Räumen und Malen, nach Streit und Versöhnung, bezog Andreas sein eigenes kleines Reich und fühlte sich wie ein König.
»Und wer soll mir abends vorlese?« schimpfte Mathias. »Du kannsch selber lese, du Faultier, außerdem hat ja ‘s Mulchen jetzt wieder Zeit!«
»Gut, dann will i aber mei Zimmer au umräume!«
So wurde noch einmal geräumt, und es war eine große Freude und eine schöne Zusammenarbeit.
Andreas zog sich in sein Zimmer zurück, wann immer dies möglich war, las, züchtete Kröten und Eidechsen und betrachtete die Welt durch ein Mikroskop.
»Was gibt’s Guts?« Er kam früher als sonst von der Schule heim.
»Ist eine Stunde ausgefallen oder warum bist du so früh dran?«
»Sie spielet no Völkerball.«
»Und du? Du spielst doch auch gern.«
»Ja, gern scho, aber net gut, da bin i eifach übrigbliebe.«
»Och, Andreas!« Glühendes Mitleid erfüllte mein Mutterherz. »Ärger dich nicht, das sind ganz blöde Burschen!«
»Aber i ärger mi doch gar net, Mulchen. Es macht mir ehrlich nix aus. Im Gegeteil, jetzt kann i scho a bißle vorlerne. Heut nachmittag will i >Blättle< austrage.«
Er war »Gemeindedienstfrau« geworden, verteilte in einem Bezirk den Gemeindebrief und versah seinen Dienst mit Eifer und Sorgfalt. Spät kehrte er heim, ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und streckte müde die Beine aus.
»Mensch, Mulchen, i bin vielleicht erledigt. Die alt Frau Haberschlamm hat gsagt, i soll mit ihr Tee trinke, und dann habet mir uns gmütlich hingsetzt und Tee trunke, und sie hat aus ihrm Lebe erzählt. Du, die hat was durchgmacht mit ihrm Mann, weil er doch so lang krank war, und sie hat ihn pflegt und sich richtig aufgopfert und zum Schluß sogar no gfüttert. Aber jetzt isch se furchtbar allei, seit er gstorbe isch, und dann hat se gweint. Mir war’s so arg, und i hab gsagt: >Frau Haberschlamm, wollet Se vielleicht no en Tee<, aber se hat gar net mit weine aufghört.«
»Was hast du denn dann gemacht?«
»Was hätt i mache solle? I bin halt sitzebliebe, bis se fertig war und bloß no so a bißle gschnieft hat, und dann hab i ihr Tee eigschenkt und gfragt, ob der Mann auf dem Bild an dr Wand vielleicht ihr Mann wär. Da war se scho wieder a bißle froher und hat gsagt, ja, in seine beschte Zeite. Mulchen, dr Vati muß se unbedingt mal bsuche!«
»Da hast du aber nicht viel Blättchen austragen können?«
»Ach wo! I war doch no bei dem Mann. Weisch, bei dem, der nebe ‘m Hof wohnt, mit seim dicke Dackel, der immer gschimpft hat auf uns, wenn mir gschpielt habet, und gschrien, er holt d’ Polizei. Weisch nimmer?«
»Doch, ich weiß! Der hat dich reingelassen?«
»Ja, er hat d’ Türkette weggmacht und gsagt, i soll reikomme. I hab zerscht furchtbar Angscht ghabt vor ihm und dem Dackel. Aber der Dackel isch bloß in dr Eck gsesse und hat a bißle kläfft. Der Mann war ganz freundlich und hat mir was Beppsüßes zum Trinke gebe und gsagt, jemand müßt mit dem Dackel schpaziere gehe. Er könnt’s net, weil er krank wär, und ob i’s net tun könnt. Da bin i halt gange.«
»Hast keine Angst gehabt vor dem Dackel?«
»Ach, Mulchen, er isch ja furchtbar dick und hat richtig schnaufe müsse. Alle paar Schritt habet mir schtehebleibe müsse, damit er pinkle kann und sich ausruhe. Dann hab i für den Mann no Wurscht und Brot eikauft, und er hat gsagt, er hätt zwar sein Glaube an d’Menschheit verlöre, aber i wär a Ausnahm. Dann hab i no was von dem Beppsüße trinke müsse, und jetzt isch mir’s ganz durmelig. Aber morge werd i wieder hingehe, denn der Dackel zerreißt eim ja’s Herz. Ach, Mulchen, manche Leut habet kei schös Lebe! Bis nachher, i geh nauf und mach no a bißle Hausaufgabe.«
Er war erwachsen geworden, und ich hatte es nicht gemerkt. Anders verhielt es sich mit Mathias. Er ging in die entgegengesetzte Richtung und wandelte eine Wegstrecke zurück, die wir längst überwunden glaubten.
»I hab Angscht«, erklärte er, als ich mich abends von ihm verabschieden wollte.
»Aber Mathias, seit wann denn?«
»Seit vorgeschtern, wo ihr au weg wart.«
Ich setzte mich an sein Bett. »Erzähl mal, was war denn?«
»I hab solche Angscht ghabt, daß i am liebschte a Ameis gwese wär. Da war a schrecklichs Geräusch, wie wenn jemand auf m Flur geht. I war ganz starr, ja, Mulchen, i hab sogar betet und gsagt: >Lieber Gott, gib mir doch a Zeiche, wenn des Geräusch weitergeht, dann isch da jemand, und wenn net, dann net...<«
»Ja und?«
»Dann isch des Geräusch weitergange?« Er barg seinen Kopf in meinen Schoß.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Mathias, hier kommt bestimmt niemand rein!«
»Doch, Geischter könnet rei!«
»Es gibt keine Geister, Mathias!«
Er hob den Kopf und schaute mich strafend an.
»Doch, ‘s gibt, Mulchen! Hasch du denn dr Heilige Geischt vergesse?«
»Was redet ihr denn da?« Manfred stand in der Tür, den Blick vielsagend auf die Armbanduhr gerichtet.
»Wir reden über den Heiligen Geist.«
»Muß das jetzt sein, wo wir eh schon spät dran sind?«
»Ja!« rief Mathias, »i hab nämlich Angscht vor dem!« Manfred schüttelte ungläubig den Kopf, kam näher und setzte sich auf den Bettrand.
»Vor dem Heiligen Geist braucht man keine Angst zu haben, Mathias, er ist kein Gespenst oder was immer du dir darunter vorstellst!«
»Ja, wie sieht er denn dann aus?«
Manfred rang nach Worten.
»Laß mich mal«, sagte ich. »Wir haben doch die Bilderbibel angeguckt.« Mathias nickte. »Kannst du dich an das Bild erinnern, wie der Herr Jesus getauft wird?« Er nickte wieder. »Da schwebt er über ihm, und ich hab ihn dir auch gezeigt und gesagt, daß es der Heilige Geist ist, weißt nimmer? Wie hat er ausgesehen?«
»Wie en Vogel, a Taube oder so.«
»Na siehst du! Vor einer Taube brauchst du doch keine Angst zu haben!«
»I will aber net, daß hier in dr Nacht eine rumfliegt und in Wirklichkeit dr Heilige Geischt isch!«
»Was sagst du ihm auch für Sachen, Malchen!« Manfred erhob sich ärgerlich, »das ist doch alles Unsinn! Ich erkläre es dir morgen, Mathias. Wir müssen jetzt wirklich gehen! Du brauchst keine Angst zu haben!«
»Aber i hab halt Angscht!« rief Mathias kläglich.
Ich knöpfte mir den Mantel auf. »Ich bleibe zu Hause!«
»Nein, das kommt nicht in Frage. Du mußt mit, Malchen, und zwar jetzt auf der Stelle, sonst kommen wir zu spät!«
Ich nahm Mathias in die Arme. »Hast du auch Angst, wenn’s hell ist?«
»Net so arg.«
»Gut, dann lassen wir das Licht im Flur an und machen deine Tür weit auf. lst’s recht so, oder soll ich den Andreas rufen?«
»Ja, wenn der komme tät und ‘s Licht im Flur anbleibt, dann hab i, glaub i, kei Angscht mehr.«
Ich rief Andreas, der murrte zwar, kroch aber dann doch zu seinem Bruder ins Bett.
Manfred stand wütend an der Wohnungstür und schaute auf die Uhr.
»Bei uns geht’s zu wie bei Säuseles!« knurrte er, »und zu spät kommen wir natürlich auch wieder!«
»Mir ist’s peinlich, als erste anzurücken und den Eindruck zu erwecken, als hätte ich den ganzen Tag nur auf diesen Augenblick gelauert!«
»Nun, diesen Eindruck hast du noch nie in deinem Leben erweckt, scheint mir«, sagte er bissig und fügte den Spruch hinzu, den er an dieser Stelle zu sagen pflegte und der mich noch nie überzeugt hatte: »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige!«
»Da hast du völlig recht«, sagte ich, denn meine Gedanken weilten bei Mathias. »Wir hätten ihn nicht allein lassen dürfen mit seiner Angst vor dem Heiligen Geist!«
»Ich wollte, man würde mehr vom Heiligen Geist bei uns spüren! Licht anlassen im Flur! Mach ihn nur wieder zum Baby, das wird ihm sicher helfen!«
»Vielleicht befindet er sich gerade in einer Phase. Ich muß mal die Agathe fragen.«
Als wir heimkamen, lagen beide Söhne friedlich schlafend in Mathias’ Bett. Sie hatten eine Mauer von Büchern um sich aufgerichtet.
Am nächsten Tag sprachen Vater und Sohn über den Heiligen Geist, wobei allerdings dem Sohn keine große Erleuchtung zuteil wurde. Fürchten täte er sich nicht mehr vor ihm, so erklärte er mir später, »aber, Mulchen, ‘s isch schwierig. Man kann ihn fascht überhaupt net verschtehe.«
Allmählich wich die Angst vor der Dunkelheit, die Angst vor dem Alleinsein blieb.
»Mensch, Mulchen, müsset ihr immer zamme wegfahre, der Vati und du? Und wenn amal en Unfall passiert, was isch dann? Hasch dir net überlegt, daß mir dann zwei Stiefeltern krieget?«
»Du weißt doch, wie gut der Vati fährt!«
»Ja, des weiß i, aber wie fahret die andere?«
»Draußen ist so schöner Schnee. Wir gehen spazieren, der Vati und ich, kommt ihr mit?«
»Nei, i möcht lieber hierbleibe und lese«, sagte Andreas.
»Und du, Mathias?«
»I tät natürlich au viel lieber hierbleibe und schpiele, aber...«, er erhob sich seufzend, »gehet mir halt.«
»Bleib doch da, Mathias, wenn du nicht magst!«
»Und wenn ihr euch hinsetzt und einschlafet? Was isch dann? Im Fernsehen isch a Schtück komme, da sin drei Männer im Schnee eingschlafe, und als se aufgwacht sin, wäre se alle tot. Nei, i geh mit!«