Gutes Mulchen, weine nicht
Ich lernte gehen, aber es war ein langer und mühevoller Weg. Wenn ich aus dem Fenster schaute, bekam ich Schwierigkeiten mit mir selbst. Da unten gingen Menschen, so als wäre es die einfachste Sache von der Welt. Die einen liefen schneller, die anderen langsamer. Aber sie bewegten sich zielstrebig irgendwohin und kamen vermutlich auch an. Ich hatte Mühe, bis zur Korridortür zu kommen. Was hätte ich darum gegeben, wenn ich auch nur die achtzehn Stufen bis zum nächsten Stock hätte bewältigen können. Aber ich konnte es nicht. Manfred trug mich hinab.
»Sie müssen schwimmen«, bestimmte Frau Doktor, »mindestens zweimal in der Woche.«
»Ich kann aber nicht schwimmen!«
»Dann wird es höchste Zeit, daß Sie es lernen, und bitte nur im warmen Wasser, Frau Pfarrer!«
»Schwimmen ist kein Hexenwerk«, sagte Manfred, »jedes Kind kann es!«
»Unsere Beiden nicht.«
»Gut, dann geht alles in einem Aufwasch. Ich bringe es euch bei!«
Nun war es kein Wunder, daß ich nicht schwimmen konnte, ich hatte schreckliche Angst vor tiefem Wasser. Kein See vermochte mich zum Bade zu verlocken, selbst wenn es noch so heiß war. Schaudernd kroch ich in mich zusammen, wenn ich auch nur an einem Schwimmbad vorbeifuhr. Mir genügte mein erstes und einziges Badeerlebnis.
Es geschah an einem Waldsee in Polen, einem flachen, verwunschenen Gewässer, mit Seerosen bewachsen.
»Los, wir baden!« rief Michael, mein großer Bruder. Onkel Fritz war uns als Begleitung zugesellt.
»Geht ruhig hinein«, sagte er und lagerte sich am Ufer, »ich hole euch raus, wenn’s nötig ist, ich kann schwimmen.«
Also planschten wir hinein, spritzten und schrien vor Vergnügen. Ich stand schon bis zum Bauch im Wasser, fühlte meine Zehen im weichen Modder einsinken und spürte voll Entsetzen, daß es da unten lebendig war. Irgendetwas bewegte sich und biß mir ins Bein. Schreiend fiel ich um, bekam Wasser in Mund und Nase, hustete. Der gute Onkel krempelte sich die Hosen hoch und zog mich ans Ufer. Drei Blutegel hingen an meinem Bein, widerliche, schwarze Würmer. Zwei von ihnen riß der Onkel heraus, der dritte wollte nicht.
»Man muß ihn lassen, wenn er voll ist, fällt er von ganz allein ab. Hör auf zu brüllen, Amei. Blutegel sind nicht gefährlich.«
Mich aber erfüllte der Anblick dieses schwarzen Wurmes an meinem Bein mit solchem Ekel und Entsetzen, daß mir schwarz vor Augen wurde. Seitdem habe ich die Freude an verwunschenen Gewässern und am Baden verloren.
Nun, wir tauchten in kein verwunschenes Gewässer, Manfred schleppte uns in ein geheiztes Schwimmbad.
Wir waren auf s beste versorgt mit drei Paar Schwimmflügeln und vielen guten Ratschlägen aus unseres Lehrherren Mund.
»Wasser trägt! Niemand geht unter, der sich ihm anvertraut! Ihr dürft nur nicht strampeln und Angst haben!«
Wie macht man das, keine Angst zu haben, wenn man vor Angst schlottert? Wie lernt man es, einem Element zu vertrauen, dem man zutiefst mißtraut? Man reißt sich zusammen, schaltet seinen Verstand ein, sagt sich, daß es in einem Thermalbad keine Blutegel gibt und daß schlimme Erfahrungen überwunden werden müssen. Man will den Kindern ein gutes Beispiel geben und dem Mann ein tapferes Weib sein, damit er es nicht bereuen möchte, ein solches Angstbündel von Frau an Land gezogen zu haben.
Mein Kopf steckte voller guter Vorsätze, als wir in der Badeanstalt anlangten. Aber in der Umkleidekabine fiel mit jedem Kleidungsstück auch ein guter Vorsatz, so daß ich schließlich mit einem Kopf voll dröhnender Leere auf das Bänkchen niedersank. Nicht einmal der neue Badeanzug führte meinem Herzen Stärkung zu. Manfred klopfte an die Tür.
»Bist du fertig?«
»Geht schon mal voraus, ich komm dann nach!«
»Nein, wir warten. Beeil dich!«
So mußte ich denn die Tür öffnen und mit freudig verzerrtem Gesicht unter die Meinen treten. Andreas und Mathias wirkten auch nicht gerade froh erregt. Manfred dagegen glühte vor Eifer, uns in die seligen Gefilde der Wasserfreuden zu geleiten.
»Los, los, macht schon!« drängte er und faßte mich am Arm. »Wir haben nur eine Stunde Zeit!«
Dies nun wieder war ein tröstlicher Gedanke: Die Zeit des Grauens würde in einer Stunde überstanden sein.
Der Bademeister betrachtete uns mit argwöhnischen Blicken, als wir die Schwimmflügel an unsere Arme klemmten.
»Hier lernt man nicht schwimmen, dies ist ein Thermalbad und nur für gesundheitliche Zwecke geeignet.«
Ich legte demonstrativ meine Krücken zu seinen Füßen nieder. Da ließ er uns mürrisch passieren, verwies uns jedoch in die Abteilung für Nichtschwimmer, wofür ich ihm von Herzen dankbar war.
»Gut«, sagte Manfred, »gehen wir erst einmal da hinein, aber nur für ein Weilchen. Schwimmen lernen könnt ihr nur im Tiefen.«
An seinen Arm geklammert rutschte ich die Treppen hinunter ins Wasser. Es war angenehm warm, und ich konnte darin gehen ohne irgendwelche Hilfe. Auch Andreas und Mathias planschten vergnügt. Wir wären glücklich gewesen und zufrieden, hätte Manfred uns nicht aus unserem sicheren, kleinen Paradies vertrieben und hinübergedrängt ins Tiefe. Dort brachen harte Zeiten an, nicht nur für uns drei Angsthasen, nein, auch für Manfred und die im Kreis geruhsam herumschwimmenden Kurgäste. Wir klammerten uns an die Stange am Beckenrand und sprengten so den friedlichen Kreisverkehr.
»Weiter!« drängten die anderen Schwimmer.
»Loslassen!« kommandierte Manfred.
Nur Mathias wagte es, den rettenden Halt zu verlassen. Er paddelte davon wie ein kleiner Hund, und für eine kurze Gnadenfrist wandte sich Manfreds Interesse von uns ab und ihm zu. Vater und Sohn schwammen nebeneinander her, der Vater zeigte, wie man Arme und Beine zu bewegen habe, der Sohn trachtete nur danach, über Wasser zu bleiben und die andere Seite zu erreichen. Dort angelangt, drückte er sich hemmungslos durch die Kette der Kreisschwimmer, trat dieser Dame vor den Kopf und jenem Herrn ans Schienbein und hing schließlich prustend, aber wohlbehalten an der Stange.
Manfred tauchte zu uns zurück und forderte Andreas auf, es seinem kleinen Bruder gleichzutun. Andreas kämpfte. Er wollte nicht hinter Mathias zurückstehen, er wollte aber auch nicht ertrinken. Schließlich ließ erlös, paddelte davon, bekam Wasser in die Nase, schrie und schnaufte und mußte von seinem Vater an den Beckenrand geschleift werden.
Schon sehr verstimmt langte Manfred wieder bei mir an. Seine Familie bereitete ihm Verdruß, machte ihn zu Kinderleins Spott und hielt keineswegs, was sie versprochen. Mein kurzer Ausflug in gefährliche Tiefen brachte ihn um die letzte Fassung.
Auch ich ruderte verzweifelt, kam mit den Armen nicht voran, dafür aber mit dem Kopf unter Wasser und packte in Todesangst nach den nächstbesten Beinen. Sie gehörten jedoch nicht Manfred, sondern einem ahnungslosen Mitschwimmer. Gurgelnd versank er in den Fluten, versuchte sich loszustrampeln, tauchte wieder auf, protestierte und versank erneut. Ich hatte seine Badehose zu fassen bekommen und zog sie unaufhaltsam mit mir in die Tiefe. Ich hielt sie auch noch fest, als Manfred mich in die Höhe riß und zur Stange zerrte. Da endlich gab sie dem Zug nach, das Gummiband riß, und der Herr, dessen roter Kopf dräuend neben mir aus dem Wasser stieg, tauchte wieder unter, um seiner Hose habhaft zu werden. Laut schimpfend, mit einer Hand die Hose, mit der anderen die Leiter haltend, kroch er aus dem Becken und verschwand in den Nebenräumen.
Auch wir traten eilends den Rückzug an, um seiner Wiederkehr und dem allgemeinen Zorn zu entrinnen. Manfred schüttelte den Kopf, daß die Tropfen sprühten und sprach auf dem Rückweg kein einziges Wörtlein mit dem Rest der Familie. Nur Mathias bekam einen freundlichen Blick und ein aufmunterndes Kopfnicken, worauf er emporblühte und sagte, daß es schön gewesen sei und daß wir es hoffentlich bald wieder machen würden.
So suchten wir die Schwimmbäder der Stadt und ihrer Umgebung heim, hinterließen Zorn und Chaos und taten dies so lange, bis wir die Angst aus unserem Herzen und die Schwimmflügel von unseren Armen werfen und schwimmen konnten. Ein Restchen Angst und Unbehagen allerdings blieb immer noch in mir.
»Damit mußt du leben lernen«, sagte Manfred.
Ein schwacher Trost, schließlich mußte ich mit so vielem leben lernen, nicht nur mit der Angst vorm Wasser. Auch die Fortbewegung im Trocknen ging so unendlich langsam voran.
Nach einem Vierteljahr fiel die erste Krücke, nach einem weiteren die zweite, Manfreds alter Spazierstock genügte fortan als Stütze. Ich mühte mich ab, übte auf dem weichen Wohnzimmerteppich und gelangte mit der Zeit zu einer großen Geschicklichkeit, nicht im Gehen, leider, aber im Fallen.
»Ihr wißt überhaupt nicht, wie gut ihr es habt, Manfred! Ihr lauft herum, ohne irgendetwas zu denken. Ich muß so viel denken, daß ich im Kopf gar nicht nachkomme. Hacke aufsetzen, Fuß abrollen, das Gewicht verlagern, den anderen Fuß nachholen. Nicht einknicken, nicht Umfallen! Ich wollt, ich wär ‘ne Kuh! Die hat vier Beine, wenn eines streikt, bleiben immer noch drei.«
»Gut, daß du keine bist! Die Sonne scheint. Ich leihe dir meine beiden Füße und meinen Arm und dann bist du besser dran als jede Kuh. Komm, wir gehen spazieren!« Die Treppe war mir schon immer zuwider gewesen, jetzt aber wurde sie zum Problem. Hinunter konnte ich auf einem Bein hüpfen, aber hinauf war es eine mörderische Strapaze. Hatte ich den fünften Stock erreicht, dann kam ich mir vor wie nach der Besteigung eines Dreitausenders, klammerte mich an die Wohnungstür, als sei es das Gipfelkreuz und hatte nur den einen Wunsch, mich irgendwo zu lagern, den Rucksack auszupacken und Stärkendes zu mir zu nehmen.
»Alle Leute gucken hinter mir her, weil ich humple!«
»Kein Mensch guckt hinter dir her!«
»Siehst du, jetzt hast du es selber ausgesprochen! Kein Mensch guckt hinter mir her! Und warum? Weil ich humple!«
Manfred lachte. Batsch, da lag ich auf der Nase, stand aber gleich wieder aufrecht und schaute mich unauffällig um, ob irgendwelche Menschen dies Mißgeschick mitangesehen hatten.
»Hast du bemerkt, wie sicher ich an deinem Arm gehe, wie schön fest du mich hältst?«
»Hat’s weh getan, Malchen? Du bist mir einfach weggerutscht.«
Er hockte vor mir, betrachtete die Laufmasche im Strumpf und das Blut auf dem Knie; ich wußte, daß es ihm ebenso weh tat wie mir.
»Du wirst es nicht glauben, Manfred, aber ich war eine der besten Läuferinnen in meiner Klasse, und du hättest mich mal Bockspringen sehen sollen!«
»Niemand will, daß du Bock springst. Du hast ungeheure Fortschritte gemacht! Wenn das so weiter geht, dann läufst du mir bald weg!«
Ich zog schnüffelnd die Nase hoch und versuchte, die Tränen aus den Augen zu zwinkern. Seit dieser Krankheit war ich derart wehleidig geworden, daß mir vor mir selber graute.
Ich ging zu Evelyn. Trost wollte ich mir bei ihr holen und dafür ein weißes, mit rosa Blüten besticktes Strampelhöschen überreichen, denn Evelyn hatte ein Töchterlein bekommen, welches Marika hieß und nun bereits einen Monat zählte.
Auf mein Kingeln antwortete Raskolnikow mit wütendem Gekläff. Evelyn öffnete. Sie war etwas fülliger geworden und steckte in ihrem grünen Kleidchen wie eine Raupe kurz vor der Häutung; um die Mundwinkel zuckte ein angestrengtes Lächeln. Raskolnikow sprang an mir hoch und schnappte nach dem Päckchen im rosa Seidenpapier.
»Ich möchte die kleine Marika begucken und ihr was Schönes schenken!«
Ich hob das Päckchen hoch über meinen Kopf, damit Raskolnikow es nicht zerreiße und strebte dem Zimmer zu, aus dem ich das Kind schreien hörte.
»Pscht, Amei«, flüsterte die junge Mutter und zog mich zur Seite, »Raskolnikow darf es nicht hören! Gib ihm das Geschenk! Weißt du, er packt so gerne Päckchen aus und dann hat er auch eine Freude...«
»Was, mein süßes Strampelhöschen für Marika soll er...«
»Nein, bloß auswickeln. Mensch, Amei, er ist furchtbar frustriert! Marika kriegt dauernd was und er gar nichts. Das muß ihn doch fertig machen, da kann er sich nie zu einer positiven Einstellung durchringen! Verstehst du das nicht?«
»Doch, natürlich, ja! Soll ich’s ihm einfach so hinschmeißen oder wie?«
»Nicht schmeißen! Überreichen und vielleicht was Nettes dazu sagen!«
»Hier, du lieber Raskolnikow«, knirschte ich mit äußerster Beherrschung, »würdest du bitte so freundlich sein und dieses Geschenk für dein Schwesterchen auspacken...«
Wuff, da hatte er es schon geschnappt, auf den Boden geworfen und sich mit Schnauze und Pfoten darüber hergemacht, daß die Fetzen flogen. Jetzt hielt er das Strampelhöschen in den Zähnen, trug es zu seinem Körbchen und legte es darin nieder.
»Nachher nehme ich’s raus und leg was anderes dafür rein«, flüsterte Evelyn, »das merkt er gar nicht. Schönen Dank auch! Das >Schwesterchen< hast du hoffentlich nicht ironisch gemeint!«
»Nein, was denkst denn du? Es ist mir bloß so rausgerutscht, und weil ich dachte, es tut ihm vielleicht gut.«
»Da magst du recht haben«, stimmte Evelyn zu, »er ist gerade empfindlich wie eine Mimose!«
Wir betrachteten das kleine Mädchen, indes Raskolnikow in der Diele das Seidenpapier zu tausend Fetzen zerriß. Dann sank Evelyn in einen Sessel, und ich sah endlich die Zeit gekommen, meine Leiden vor ihr auszubreiten.
»Menschenskind«, rief sie, nachdem ich erst einen winzigen Bruchteil ausgekramt hatte, »deine Sorgen möcht’ ich haben! Da sitzen Leute im Rollstuhl oder sind blind oder kämpfen mit solchen Schwierigkeiten wie ich, und du jammerst, weil du das Bein ein bißchen nachziehst und keine schicken Schuhe anziehen kannst! Schäm dich!«
Gut, ich schämte mich ein Weilchen und ließ sie von ihren mannigfachen Nöten berichten, dann aber wagte ich doch in eine Pause hinein zaghaft zu protestieren.
»Weißt du, Evelyn, wenn du im Loch sitzt, dann ist es dir egal, ob es zehn Meter tief ist oder fünf. Du sitzt halt drin!«
»A bah! Nimm dir ein Beispiel an mir! Ich sitz auch im Loch, aber ich laß’ mir nichts anmerken. Was meinst du, was ich alles zu tun hab mit Marika und Raskolnikow. An Karl-Otto habe ich auch keine Hilfe. Es ist mir unverständlich, daß ich bei all den Belastungen nicht dünner werde. Kein Kleid paßt mehr! Kannst du das verstehen?«
Sie ließ den Kopf in die Hände sinken, aber mein Herz blieb kalt beim Anblick ihres Kummerspecks. Ich war gekommen, um selber getröstet zu werden.
»Und kannst du verstehen, Evelyn, wie das ist, wenn man nicht sicher auf seinen Füßen steht und dauernd auf die Nase fällt?«
Sie hob den Kopf und schüttelte ihn ungeduldig. »Lächerlich! Du mußt es überspielen!«
Ich wurde eine Meisterin im Überspielen: Träumte, an einen Laternenpfahl gelehnt, vor mich hin, bis dieser Fuß geruhte, weiterzugehen.
Saß auf Mäuerchen, in den Anblick des gegenüberliegenden Mietshauses versunken, bis ich mich fähig fühlte, einen neuen Anlauf zu wagen.
Ließ die Einkaufstasche fallen, um mich niederlassen und einsammeln zu können, bis die Kraft zurückgekehrt war.
Stand vor Schaufenstern und betrachtete dankbar und ausgiebig, was immer sie boten.
»O, das ist aber mal hübsch dekoriert!« Ich preßte die Nase an das Schaufenster eines Metzgerladens.
»Nichts als Salami und saure Gurken!« knurrte Magnus, »die anderen sind schon in der Eisdiele, wir müssen uns beeilen!«
»Geh nur voraus, Magnus, ich komm gleich nach!«
Die Aufforderung, daß ich mich beeilen solle, bewirkte sofort meine völlige Gehunfähigkeit.
»Seit wann interessieren Sie sich für saure Gurken?« Magnus warf mir einen prüfenden Blick zu und ging dann kopfschüttelnd voran.
»Jetzt müssen wir aber rennen, sonst kommen wir unweigerlich zu spät!« Freund Nick hatte das Auto weit entfernt vom Theatereingang geparkt. Er konnte im Geschwindschritt die Straße überqueren, ich nicht. Also blieb ich wie angenagelt neben der Autotür stehen und knickte dann um.
»Au weia, jetzt bin ich in ein Loch getreten! Ich glaub, mein Fuß ist verknackst. Was machen wir bloß, Nick?«
»Soll ich dich tragen?« Es klang nicht gerade begeistert. »Ach wo! Aber vielleicht könnte ich mich auf dich stützen, und wir gehen ganz langsam über die Straße. Es tut nämlich weh!«
»Also komm, ganz langsam!«
»Nein, ich spazier’ nicht gern im Foyer herum! Ich find’ das richtig blöd. Geh nur, Nick, es macht mir nichts aus. Ich bleib’ hier sitzen und schau’ mir das Programmheft an!«
»Wenn du nicht gehst, dann bleibe ich auch da. Ich dachte, es macht dir Spaß zu gucken, was die anderen anhaben...«
»Ach, was denkst du? Das ist mir doch piepegal!«
Es war mir keineswegs piepegal, sondern bereitete mir das größte Vergnügen, in der Pause herumzuspazieren, Abendroben und Frisuren zu betrachten und meine spitze Zunge an ihnen zu wetzen.
Mit Manfred als Begleiter konnte ich diesem Vergnügen sorglos nachgehen. Der hielt mich eisern fest, so daß ich auf dem glatten Parkett nicht ausrutschen und mit dem Fuß nicht umknicken konnte. Nun aber saß Nick neben mir. Hatte er auch auf der dunklen Straße notgedrungen meinen Arm gefaßt, im Foyer würde er es nicht tun, jedenfalls nicht von allein, und ich würde mich hüten, ihn ein zweites Mal darum zu bitten.
So saßen wir denn eine Pause lang im Parkett und rangen nach Gesprächsstoff. Der weite Weg zurück zum Auto mit reichen Möglichkeiten zu stolpern, zu stürzen, nicht mehr weiter zu können, mich vor Nick zu blamieren, lastete schwer auf mir, so daß ich angstvoll meine Finger ineinander wand und wenig Freude an der Vorstellung hatte.
»Laß uns durch den Park gehen«, drängte ich Nick, als wir unsere Garderobe ergattert hatten und am Ausgang standen.
»Durch den Park?« Nick beäugte mich mißtrauisch, »wieso denn! Es ist dunkel und ein Umweg obendrein!«
»Mir tut die frische Luft so gut!«
»Es regnet, falls du das nicht bemerkt haben solltest!«
»Aber das ist es doch gerade, Nick. Nichts pflegt die Haut besser als Regenwasser! Es glättet die Falten!«
»Eben«, knurrte er, blickte grämlich auf seine messerscharfen Bügelfalten, bog dann aber in den Park ab. Unter dem ersten Baum zog ich mir die Schuhe aus.
»Bist du wahnsinnig geworden? Menschenskind, du holst dir den Tod, es ist eiszapfenkalt!«
»Ach, wie ich das liebe, den festen Boden unter meinen Füßen, das weiche Gras! Herrlich!«
Ich liebte es überhaupt nicht, strümpfig über eine nasse Wiese zu gehen. Die Kälte kroch mir bis zu den Knien, der nasse Rocksaum schlappte um meine Gelenke. Nick schüttelte den Kopf und schaute sich ängstlich um, ob irgendein menschliches Wesen dieses seltsame Gebaren seiner Begleiterin erspähen könne. Dann standen wir vor der Straße, die es zu überqueren galt. Ich marschierte munter drauflos.
»Zieh dir gefälligst die Schuhe an! Du kannst doch nicht so über die Straße gehen!«
»Wenn du unbedingt willst, gerne! Aber dazu muß ich mich hinsetzen.«
»Um Himmels willen, bloß das nicht!«
Nick schaute entsetzt nach allen Seiten. Da gab es Passanten genug, die das Schauspiel genießen würden, eine Dame im Abendkleid auf dem Bürgersteig sitzen zu sehen, damit beschäftigt, ihre Schuhe anzuziehen. Er, Nick, würde möglicherweise erkannt und gefragt, wie er zu dieser Dame käme und stünde...
»Sie sind etwas eng, es wird schon ein Weilchen dauern, bis ich sie anhabe!«
»Los, gehen wir!«
Er drängte mich voran und faßte sogar nach meinem Arm. Die Straßenbahnschienen drückten, die Steine dazwischen noch mehr, aber meine Sohlen waren mittlerweile gefühllos geworden.
»Du bist vielleicht ein verrücktes Huhn!« Nick schloß das Auto auf.
Recht so! Tausendmal lieber ein verrücktes Huhn als ein lahmendes Trampeltier! Nick schwieg während der Heimfahrt verbissen. Es störte mich jedoch wenig, denn ich war vollauf damit beschäftigt, meine Füße trocken zu reiben mit Hilfe eines Autolappens, den er mir nur ungern zur Verfügung gestellt hatte.
Dies war der erste und einzige Theaterbesuch mit Nick. Er vermied es seitdem sorgfältig, beim Schachabend zu erwähnen, er habe Theaterkarten und lade uns herzlich ein. Das Geschick könnte es wiederum fügen, daß Manfred zwar leider verhindert, aber mit freundlicher Stimme »nimm doch Amei mit« sagen würde, »sie sitzt sonst den ganzen Abend hier alleine rum.« Da war er einmal darauf hereingefallen, das würde ihm nie wieder passieren.
»Manfred, die Evelyn hat gesagt, man sieht es, daß ich hinke!«
Wir saßen am Mittagstisch, und meine Tränen flössen in die Suppe.
»So hat sie es sicher nicht gesagt.«
»Doch genau so! Ich habe sie gefragt, ob man sieht, daß ich hinke, und da hat sie gesagt, ja, man sieht es schon.«
»Wie kann sie sagen, daß du hinkst, wenn du es doch nicht tust! Himmel, Malchen, ich bin kürzlich extra hinter dir hergegangen, um deinen Gang zu betrachten. Ich hab rein gar nichts gesehen!«
»I au net!« bestätigte Andreas.
»Eibildung!« rief Mathias.
»Entweder habt ihr euch daran gewöhnt und seht es deshalb nicht mehr oder ihr lügt mir was vor.«
»Ich lüge nie!« sagte Manfred.
»Em Bruno sei Bella, die hinkt, weil se sich nämlich en Dorn in d’ Pfot gstoche hat«, berichtete Andreas, »die sollsch du mal sehe! Se hält dr Fuß hoch und jault.«
»Jaulen tut ‘s Mulchen au«, meinte Mathias.
»Da magst du recht haben!« sprach sein Vater.