Fisch muß schwimmen

»Seid ihr an Silvester schon ausgebucht?« fragte Evelyn, eine neugewonnene Freundin.

»Ausgebucht? Nein, wieso?«

»Ihr wollt doch nicht etwa allein zu Hause bleiben?«

»Wir haben es immer so gemacht, und es war eigentlich ganz gemütlich.«

»Gemütlich! An Silvester!« Sie drehte die Augen gen Himmel und schlug in fassungslosem Staunen die Hände zusammen. »Das gibt’s doch nicht! Also, ihr kommt zu uns! Wir machen eine tolle Silvesterparty in ganz kleinem Rahmen. Höchstens zwanzig Leute...«

»Evelyn, es geht nicht, so leid mir’s tut. Manfred hat um Mitternacht einen Gottesdienst zu halten.«

»Pah, was macht das aus. Wir feiern ab acht Uhr. Er kann dazwischen den Gottesdienst halten, und dann kommt er wieder. Das ist doch kein Hinderungsgrund. Also abgemacht! Ihr kommt! Ich rechne fest mit euch!«

So besprach sie es mit mir und ich mit Manfred, und es ward festgelegt, daß wir zum ersten Mal in unserem Leben Silvester auswärts feiern würden.

Silvester in meinem Elternhaus. Lange, bedrückende Stunden vor Mitternacht. Wir saßen alle im Wohnzimmer, nur Vater bereitete die Neujahrspredigt vor, ging über uns im Studierzimmer auf und ab. Mutti »zog Losungen«. Nacheinander schlug sie für jeden von uns das Losungsbüchlein auf, sie tat es ganz wahllos, so behauptete sie jedenfalls, und die Stelle, die sie fand, schrieb sie ab und überreichte sie dem Betroffenen. Diese Losung sollte ihn durch das ganze Jahr begleiten und eine besondere Mahnung und Hilfe für ihn sein. Seltsamerweise paßten die Bibelsprüche und Gesangbuchverse immer haargenau zu der Person, für die sie gezogen waren. Deshalb hatte ich meine Mutter stark im Verdacht, daß sie ein wenig nachhalf und so lange suchte, bis sie das richtige gefunden hatte. Aber was machte das aus? Es war ihr wichtig, und wir freuten uns darüber, dankten ihr und versprachen, daß wir diese Losung nicht vergessen wollten.

Ich brachte meine Buchhaltung in Ordnung und zog Bilanz über das vergangene Jahr. In einem Taschenkalender hatte ich aufgeschrieben, was mir an jedem Tag wichtig und wertvoll erschien, welche Bücher ich gelesen, welche Filme ich gesehen, welche männlichen Wesen ich geliebt, was für Geschenke und Briefe ich bekommen, wie viele Freudentage ich erlebt, wie viele Schreckenstage durchlitten. Dies alles zählte ich zusammen, bekam 96 Bücher heraus, 13 Freudentage, 24 Schreckenstage, hatte 9 Filme gesehen und vier Männer geliebt — wenn auch nur aus der Ferne und ohne daß sie etwas von ihrem Glück ahnten. Diese Abrechnung beschloß ich mit mehreren dicken, schwarzen Strichen, blätterte dann um und begann ein neues Blatt und ein neues Jahr mit einer langen Liste aller Laster, welche ich hinfort abzulegen gedächte und aller Tugenden, welche ich annehmen wollte, und nachdem ich dies alles geschrieben und bedacht, stützte ich das Haupt in beide Hände und seufzte schwer.

Um Mitternacht läuteten die Glocken, und der Posaunenchor spielte vom Kirchturm herunter: »Nun laßt uns gehn und treten...«

Vater kam zu uns. Jeder umarmte jeden, wünschte ein gesegnetes neues Jahr, und die Eltern fugten noch Ermahnungen hinzu.

»Gelt, Amei, im neuen Jahr bist du nicht mehr so schnippisch und hältst deine Zunge besser im Zaum!«

»Ja, ganz bestimmt, ich hab’s schon aufgeschrieben!«

»Stefan, im neuen Jahr, da wollen wir ganz fleißig sein in der Schule, gelt?«

»Unsere Gitti geht nie mehr in die Speisekammer, um zu naschen!«

»Nie mehr!«

Else brachte aus der Küche die Weincreme herbei.

»Ich hab’ sie mit solcher Liebe gemacht«, hatte Mutti am Nachmittag geklagt, »und jetzt, schau sie dir an, sie ist wieder nicht steif geworden. Es ist mir unverständlich!«

»Weißt du, Mutti, wenn du sie vielleicht mal mit ‘nem Rezept machen würdest und nicht immer bloß mit Liebe, dann...«

»Ach, Kind, ich hoffe ja immer noch, daß sie fester wird, wenn wir sie jetzt im kalten stehen lassen...«

Die Hoffnung trog. Wir löffelten diese Creme zierlich aus Schüsselchen, obwohl sie sich leichter hätte trinken lassen. Von so viel Alkohol und dem langen Aufbleiben berauscht, stolperten wir schließlich die Treppe hinauf in unsere Schlafzimmer und schlummerten sanft und selig dem Neujahrsgottesdienst entgegen.

Auch im eigenen Hausstand war der Silvesterabend bisher in stiller Beschaulichkeit verlaufen. Manfred hatte einen Punsch gebraut, ich einen Heringssalat hergestellt, den wir dann aber nicht so mochten, weil er stark nach Fisch schmeckte. Wir saßen gemütlich, jeder in seiner Sofaecke, lasen, schauten nachdenklich in die Luft, hörten Musik und schimpften über die Rowdies, die draußen Knallfrösche losließen und uns aus unserer Ruhe aufschreckten.

»Wie kann man nur für so etwas Geld ausgeben!« sagte Manfred.

»Was hätte man alles dafür kaufen können!« ich seufzte, »diese Menschen sollten sich schämen!«

»Ja«, sagte Manfred, »zumal es ein heidnischer Brauch ist und den Haustieren einen Schock für’s Leben einjagt.«

Dann fielen wir wieder in Schweigen, lasen, gähnten verstohlen und fanden insgeheim, daß es noch eine lange Zeit bis Mitternacht sei.

»Gehn wir ins Bett, Malchen. Der Schlaf vor Mitternacht ist der beste. Wenn die Glocken läuten, dann wachen wir sicher auf.«

Also gingen wir ins Bett, verschliefen die Jahreswende oder wachten auch auf, schlossen uns gerührt in die Arme und sanken mit vielen guten Wünschen wieder zurück in die Kissen.

Zum Frühstück am nächsten Morgen gab es Neujahrsbrezeln. Ausgeruht und munter blickten wir dem neuen Jahr entgegen.

Das sollte diesmal anders werden. Arm in Arm stiegen wir die Stäffele zu Evelyns Haus hinunter. Schon von draußen hörten wir Tanzmusik, Lachen und Stimmengewirr. Kaum hatte sich die Haustür geöffnet, so stürzte Raskolnikow auf uns zu, seine langen Ohren flogen, er sprang an mir hoch, leckte meine Hände und tat stürmisch kund, wie sehr er sich freute, uns zu sehen.

»Raskolnikow, willst du wohl!«

Evelyn und Karl-Otto erschienen, verscheuchten ihren Dackel und empfingen uns dann mit lärmender Freude. »Schön, daß ihr da seid! Hübsch siehst du aus, Amei, richtig nett! Kommt mit, ihr kriegt was zu trinken. Kennt ihr >blaue lady<? Nein? Ihr müßt sie kennenlernen!« Karl-Otto reichte uns ein Gläslein, gefüllt mit seltsam blauer Flüssigkeit. »Das ist die >blaue lady<! Na, schmeckt sie euch?«

Ich nuckelte erst vorsichtig, dann immer freudiger. »Wunderbar! So erfrischend. Sind da Zitronen drin?«

»Ja, auch Zitronen!« sagte Karl-Otto und lachte.

Als Anfängerin im Umgang mit alkoholischen Getränken ahnte ich freilich nicht, daß diese blausaure Flüssigkeit neben sehr wenig Zitronensaft sehr viel Alkohol enthielt und daß sie bestens geeignet war, aus einer ahnungslosen Pfarrfrau eine >blaue lady< zu machen. Vorerst machte sie mich heiter und gelöst. Freundlichen Blickes betrachtete ich die bunte Gesellschaft.

Männlein und Weiblein standen angeregt plaudernd im Zimmer. Sie rauchten, nippten am Aperitif, balancierten Appetithäppchen zum Mund, und fiel etwas auf den Boden, so lag es nicht lange dort, denn Raskolnikow, der gefräßige, kleine Dackel, war sofort zur Stelle. Er schnappte nach allem Eßbaren, sprang von einer Menschengruppe zur anderen, ließ seine Ohren fliegen, kläffte und fühlte sich als der Held des Tages, zu dessen Ehre und Vergnügen dies alles veranstaltet war.

»Kommt ihr beiden! Ich stelle euch vor, damit ihr die Leutchen kennenlernt.«

Evelyn schubste uns dem nächststehenden Pärchen zu. Ein Hüne mit Bürstenhaarschnitt beugte sich hinunter zu einer üppigen Blondine.

»Hört auf zu flirten«, sagte Evelyn, »und werft einen Blick auf meine Pfarrers!«

Sie schauten uns an, wir schauten sie an. Mir wurde schwindlig. Der Ausschnitt der Dame bot derart großzügigen Einblick in freundliche Gefilde, daß mich Angst erfaßte, ich könnte darin versinken. Manfred schien der Gefahr bereits erlegen. Mit einem zarten Fußtritt rief ich seine Gedanken in die rauhe Wirklichkeit und seinen Blick in die rechte Höhe zurück und stopfte mir das Eierbrötchen in den Mund, um eine Hand freizubekommen. Die Blonde warf mir einen Blick zu, kurz, scharf, kritisch, dann lächelte sie huldvoll. Keine Konkurrenz für mich, hieß dieses Lächeln, mit diesem Kleid und diesem Makeup! Dann tauchte sie einen verheißungsvoll tiefen Blick in Manfreds Brillengläser, doch konnte ich mich nur kurz darüber ärgern, denn die Pranke des Hünen schoß vor, ergriff meine Hand und riß daran. Hoffentlich macht er’s bei Manfred ebenso, dachte ich, damit der wieder zur Besinnung kommt!

»Ihr seid also diese sagenhaften Pfarrers?« hub der Mensch zu sprechen an und ließ seine Augen über uns wandern, von oben nach unten und von unten nach oben mit unverhohlenem, tiefem Interesse, so als wären wir das letzte Pärchen einer zum Aussterben verurteilten Tierrasse. »Wahrhaftig, Evelyn, du hast recht, man sieht es ihnen nicht an!«

Über Manfreds Gesicht ging ein verklärtes Leuchten, das hörte er gerne, das tat ihm wohl.

»Aber ohne Berufskluft geht’s wohl nicht? Mann, hier braucht man doch nicht im schwarzen Anzug aufzukreuzen!«

Manfred beteuerte, daß er diesen schwarzen Anzug keineswegs immer trage, sondern nur, weil er um Mitternacht noch einen Gottesdienst halten müsse...

»Macht doch nichts, Mann!« rief der andere, »ich bin ja froh, wenn die Pfarrer wenigstens etwas schaffen. Für meine Kirchensteuer könnte ich mir ‘nen eignen Pfarrer halten!«

Er schlug Manfred herzhaft auf die Schulter, worauf dessen Cocktailglas »>blaue lady<« um sich spritzte und zu meiner Freude das Kleid der blonden Dame freigiebig damit bedachte.

»Ach, wie peinlich!« rief Manfred und angelte nach seinem Taschentuch, wobei das Cocktailglas erneut in heftige Bewegung geriet, »entschuldigen Sie, bitte!«

»Macht nichts«, erwiderte sie etwas verkrampft und zog sich eilig aus seiner Spritzweite zurück.

Uns aber schob Evelyn zum nächsten Gast, einem schlacksigen und etwas ungepflegt wirkenden Menschen.

»Das ist Egon«, sagte sie, »unser ewiger Student. Er ist so ungeheuer klug, daß er gar nicht aufhören will zu studieren.«

Egon warf den Kopf zurück, daß ihm die Haarsträhnen aus der Stirn flogen und lächelte bescheiden.

»Man sieht sofort, daß Sie Pfarrer sind. Wissen Sie, ich bin Menschenkenner.«

Das Leuchten in Manfreds Augen erlosch, er sah also doch aus wie ein Pfarrer. »Den schwarzen Anzug habe ich nur an, weil ich von hier aus zu einem Gottesdienst gehe.«

»Da können Sie anhaben, was Sie wollen, ich merke es gleich. Wissen Sie, ich bin Menschenkenner.«

»Sie sagten es schon«, bemerkte ich, »und was studieren Sie, wenn man fragen darf?«

»Meinen Sie, was ich schon alles studiert habe oder was ich jetzt gerade studiere?«

Es versprach, ein langes Gespräch zu werden. Er öffnete den Mund, Evelyn stopfte ihm ein Leberwurstbrötchen hinein, worauf er heftig zu kauen anhub und außer Schmatzgeräuschen nichts anderes von sich geben konnte.

»Ein Problemfall«, flüsterte Evelyn mir zu und zog uns von Gruppe zu Gruppe. Die Damen und Herren beteuerten immer wieder und mit einer fast übertrieben wirkenden Dringlichkeit, daß sie persönlich gegen Pfarrer nichts hätten und daß Pfarrer auch Menschen seien. Ein Herr wußte sogar von einem Freund zu berichten, der einen Pfarrer persönlich kenne und glaubhaft versichert habe, daß dieser Pfarrer ein ganz normaler Mensch sei. Hingestreckt in einen Sessel sahen wir zum Schluß ein exotisches Geschöpf im roten Kimono mit blaß geschminktem Gesicht, hochtoupiertem, schwarzem Haar und strahlenden, dunklen Augen.

Ich knickte zusammen vor soviel überirdischer Schönheit.

»Rosel Reibele, agnehm«, sagte sie in breitestem Schwäbisch und winkte müde mit der weißen Hand, »i han scho viel von Ehne ghert.«

Es ergab sich die interessante Konstellation, daß diese schwarzweiße Schönheit die geschiedene Frau des lärmenden Hünen war, der nun jene Blondine am Arm führte. Wie sich im Lauf des Abends zeigte, konnten Schwarz und Blond einander nur schwer ertragen. Evelyn hatte sie deshalb bei Tisch so weit entfernt gesetzt wie möglich. Dies hinderte die beiden jedoch nicht, scharfe Pfeile in Richtung der verhaßten Konkurrentin zu schießen, so daß die anderen Tischgenossen erschreckt die Köpfe einzogen.

»Ich mußte sie zusammen einladen, die Rosel und ihren Exehemann!« klagte Evelyn später in der Küche, »was meinst du, was passiert wäre, wenn ich einen von den beiden nicht eingeladen hätte? Krach hätt’s gegeben, und was für einen!«

Nun, den Krach gab’s trotzdem, und wir alle durften ihn miterleben. Vorerst aber wurden wir zu Tisch gebeten.

Ich trank noch schnell mein zweites Gläschen »blaue lady« aus, dieweil es mir so köstlich mundete und ich in meiner Einfalt dachte, dieses Getränk bestehe aus blaugefärbtem, stark gesüßtem und mit Alkohol leicht gespritztem Zitronensaft.

Hinter Manfred her zog ich ins Eßzimmer ein und suchte lange Zeit vergeblich nach meiner Tischkarte. Die Buchstaben verschwammen mir vor den Augen. Also ging ich um den Tisch herum, bis alle saßen, und ich mich auf dem freibleibenden Platz niederlassen konnte. Mein Tischherr war schon etwas älter und besaß einen empfindlichen Magen. Diese Tatsache hatte er mir bereits bei der Begrüßung mitgeteilt, als ich mich darüber wunderte, daß er keine »blaue lady« trinken wollte.

»Die lehnt mein Magen ab«, hatte er geantwortet.

Bei Tisch erwies es sich, daß alle Speisen, welche andere Menschen auch nicht besonders schätzen, von seinem Magen abgelehnt wurden. Nun hatte Evelyn, eine großartige und unerschrockene Köchin, diesen Silvesterabend mit Hilfe eines Karpfens verschönern wollen. Das tat der Fisch auch, denn er war vortrefflich zubereitet, leuchtete blau wie die »blaue lady«, balancierte eine Zitronenscheibe samt Petersilienstrauß im aufgesperrten Mäulchen und sah gar appetitlich aus. Doch war er leider nur von mittlerer Größe und für diese Tischrunde ein wenig zu klein geraten.

Mein Tischherr hatte weder Appetithäppchen noch Nüsse noch Cracker zu sich genommen, auf die Suppe hatte er auch verzichtet, die Kartoffeln an sich vorübergehen lassen, und nun hatte er Hunger. Er saß traurig vor seinem kleinen Stücklein Karpfen, hatte es gar bald verzehrt und schaute sehnsüchtig auf meinen Teller, wo ich überaus sparsam wirtschaftete, um noch recht lange etwas Gutes zu haben. Seine hungrigen Blicke schnitten mir ins Herz, und also bot ich ihm zögernd ein Stückchen Fisch an. Er griff mit solchem Eifer zu, daß mein Teller sich schneller leerte, als mir lieb war.

So klein der Fisch auch war, er sorgte doch dafür, daß wir ihn die Nacht durch nicht vergaßen. Den armen Gastgebern stieß er noch am nächsten Morgen auf.

Wir Damen halfen beim Abräumen. In der Küche riet die üppige Blondine, den Karpfenkopf einfach ins Klo zu werfen, da könnte er Raskolnikow nicht in die Pfoten fallen und wäre außerdem für alle Zeiten aus der Welt geschafft. Hierin freilich irrte die Blondine, doch nahm Evelyn den Rat dankbar auf, und also verschwanden die Reste des Karpfens an, wie es schien, geeigneter Stelle.

Im Lauf der Nacht machte sich Unzufriedenheit unter den Gästen bemerkbar. Die Damen flüsterten die traurige Nachricht in Evelyns Ohr, die Herren in das von Karl-Otto. Auch ich mußte es mit Bedauern bemerken: das Klo war verstopft.

Als wir am nächsten Tag bei unseren Freunden anriefen, um uns zu bedanken, war der Hausherr nicht zu sprechen. Evelyn aber erzählte in bewegten Worten, was alles er durchgemacht hatte, bis der Karpfenkopf wieder zum Vorschein kam.

Zurück zur bewegten Silvestergesellschaft. Zum Fisch gab es Wein, nach Tisch gab es Bowle.

»Fisch muß schwimmen«, sagte Karl-Otto wohlgemut und schenkte ein. Nun hätte ich eigentlich nicht viel Flüssigkeit für die zwei Bissen Fisch benötigt, schon die »blaue Lady« hätte sie zum Schwimmen gebracht, doch schmeckten mir Wein und Bowle gar köstlich. Ich trank tapfer mein Glas leer und ließ es herzlich gerne nachfüllen. Manfred saß derweil unten in der Diele, trank Mineralwasser, las die Predigt noch einmal und merkte nicht, daß seine Frau entscheidende Fehler machte und den Rat eines nüchternen Ehemannes schmerzlich entbehrte. Mittlerweile hatte Egon, der etwas schmuddelige, ewige Student, die kalten Bereiche des Verstandes verlassen und war in die gefährlich heißen Gefilde der Gefühle geraten. Ihm nämlich war von Evelyn der Platz neben jener schwäbisch-ätherischen Rosel zugewiesen worden. Sein Herz entflammte für sie und ihre rührende Zartheit, zumal sie beim Essen nicht reden konnte. Er bedachte sie mit glühenden Blicken und legte den Arm schützend um ihre Schultern. Dies nun wieder sah der frühere Ehemann gar nicht gerne. Er bedeutete dem Studenten, seinen Arm zu sich zu nehmen, widrigenfalls er sich gezwungen sähe, einzugreifen, was dem Studenten bei seiner schmächtigen Beschaffenheit keinesfalls zustatten käme. Auch mischte sich die Blonde ein und tat den umsitzenden Herren kund, wie viele Männer diese schwarzhaarige Hexe schon ins Verderben gestürzt, wie viele Ehepaare entzweit und Familien zerrissen hätte.

An dieser äußerst interessanten Stelle mußten Manfred und ich aufbrechen, da die Stunde des Mitternachtsgottesdienstes nahte. Evelyn gab uns das Geleit bis zur Haustür. Sie stöhnte.

»Ihr werdet einen Eindruck von uns haben! Das ist ja das reinste Panoptikum!«

»Nein, ehrlich Evelyn, mir gefällt’s. Ich hab mich schon lange nicht mehr so amüsiert!«

Und wirklich, ich schied nur ungern von dem Schauplatz des Geschehens, denn bei Evelyn und Karl-Otto passierten inzwischen womöglich die tollsten Sachen. Blond und Schwarz könnten sich in die Haare geraten, der Bulle den ewigen Studenten ohrfeigen, mein Tischherr bemerken, daß er seine Brille ins Goldfischglas gelegt hatte. All dies und noch viel mehr konnte geschehen, und ich war nicht dabei. Ich seufzte. Manfred drückte meinen Arm.

»Ja, Malchen, es ist wahr. Zu Hause hätten wir es gemütlicher gehabt.«

Wir stiegen die Stäffele zur Kirche hinauf und je höher wir stiegen, desto klarer mußte ich erkennen, daß Karpfen und »blaue Lady« sich offenbar nicht mochten. Sie fochten in meinem Magen heftige Kämpfe aus.

Die Besucher des Mitternachtsgottesdienstes saßen still und andächtig auf ihren Plätzen, als ich zur Kirchentür hereinkam. Ich setzte mich auf die letzte Bank, dicht neben den Ausgang, und ich tat gut daran. Schon bei der ersten Strophe von »Nun laßt uns gehn und treten...« bekam ich den Schluckauf, und als ich meine Augen zu Manfred emporhub, da begannen die Bänke sich zu drehen. Manfred erschien in doppelter Gestalt auf der Kanzel, und die sechs Kerzen auf dem Altar wurden zum tanzenden Lichtermeer. Ich schloß die Augen und schickte ein Stoßgebet gen Himmel.

Der Kopf des Mesners Lasewatsch erschien vor meinen Augen, riesengroß und bedrohlich. Er sprach aus drei Mündern zugleich.

»Ist was, Frau Pfarrer?«

Ich stöhnte nur. Da schob er mich sanft zur Tür hinaus und drückte mich im Mesnerzimmer auf einen Sessel. »Die Grippe«, sagte er, »es ist die Grippe, genau wie bei meiner Frau. Augenblick, ich hab was dagegen!« Er kramte in seinem Wandschrank und brachte ein Fläschchen zum Vorschein. »Ein Klarer hilft immer! Mund auf, und dann einen tüchtigen Schluck!« Er hielt mir die Flasche unter die Nase. Ich roch den Schnaps und stieß ihn von mir.

»Bloß nichts Alkoholisches, das bringt mich vollends um!«

»O weia!« sagte Mesner Lasewatsch, »o weia, Frau Pfarrer, Ihnen geht’s wirklich schlecht. Bleiben Sie ganz still sitzen. Ich muß läuten, sie beten drinnen schon das Vaterunser. Gleich bin ich wieder da!«

Ich aber blieb nicht sitzen, sondern wankte die Treppen hinunter zu den unteren Räumlichkeiten, fand die Tür mit der Aufschrift »Damen« und gab die Karpfenbisse wieder von mir.

Hierauf fühlte ich mich besser, und als die Leute aus der Kirche strömten und Manfred mit dem Talarköfferchen kam, da sah ihm eine gefaßte und geläuterte Ehefrau entgegen.

Fassung war allerdings auch vonnöten bei diesem Heimweg. Jetzt nämlich schlug es zwölf und ringsumher begann es zu krachen, zu pfeifen und zu zischen, dazu läuteten die Glocken — ein infernalischer Lärm. Die Kirchgänger stoben auseinander und suchten so schnell wie möglich, ihr Heim zu erreichen; auch wir strebten eilig den Stäffele zu.

»Ich wünsche dir ein schönes und gesegnetes neues Jahr!« sagte ich zu Manfred und drückte seinen Arm.

»Was hast du gesagt?« brüllte er zurück.

»Ein schönes neues Jahr!« rief ich nun auch sehr laut.

»Das findest du schön? Dieser Krach ist ja entsetzlich. Wieviel Geld die Leute in die Luft jagen. Wie kann man sich nur so kindisch benehmen. Paß auf, da kommt wieder ein Heuler!«

Wir faßten uns an der Hand, rannten die Stäffele hinunter und hielten erst an, als wir wieder vor dem Haus unserer Freunde standen.

Evelyn empfing uns mit zwei gefüllten Sektgläsern und hektisch gerötetem Gesicht.

»Prost Neujahr!« rief sie und ihre Stimme klang dabei etwas schrill. »Gut, daß ihr da seid! Manfred, komm mit, du mußt ihm Zureden, sonst passiert noch was. Himmel, ich werd’ noch verrückt!«

Sie drängte Manfred die Treppe hinauf. Ich leerte meinen Sekt in den Schirmständer, was Raskolnikow mit Befremden bemerkte, und folgte den beiden in den ersten Stock.

Hier hatten sich während der Zeit des Mitternachtsgottesdienstes die zwischenmenschlichen Beziehungen der Partygäste auf interessante Weise entwickelt. Im Eßzimmer saßen Rosel und ihr bulliger Exgatte engumschlungen am Tisch und gossen Zinn. Sie hatten ihre Liebe zueinander neu entdeckt und planten eine zweite gemeinsame Zukunft.

Im Wohnzimmer lehnte der ewige Student bleich, aber gefaßt am offenen Fenster und hielt eine letzte Rede an das Volk. Er sei des Lebens müde, so sprach er, denn Rosel habe seine Liebesschwüre mit rohen Worten abgewiesen, und deshalb werde er sich nunmehr aus diesem Fenster stürzen.

Zwei Gäste hielten ihn am Rockzipfel fest. Evelyn hängte sich an seinen Hals. So viele ernsthafte Bemühungen um seine Person linderten den Liebesschmerz des ewigen Studenten, gossen Öl in seine Wunde und brachten ihn endlich dazu, seine selbstmörderischen Absichten aufzugeben. Er wurde zu einem Sessel geleitet, dort saß er still bis zum Morgengrauen und fixierte die Anwesenden mit finsteren Blicken. Ab und an entwich ein tiefer Seufzer seiner Brust.

Die übrige Gesellschaft warf aus den Fenstern des Schlafzimmers Frösche und Heuler in den Garten hinaus. Manfred ging hinüber. Ich folgte ihm, nahm ich doch an, daß er mahnende Worte an die Krachmacher richten würde, und ich wollte ihn zurückhalten, damit er ihnen nicht alle Freude verderbe.

Er trat ans Fenster. Ich traute meinen Augen nicht. Er hielt einen Knallfrosch in der Hand, er holte aus, er warf. Nun hatte auch er schon einige geistige Getränke zu sich genommen, der Gottesdienst hatte ihm Kraft abverlangt, das schlechte Gewissen schien ihn zu bedrängen, jedenfalls ging der Schlag nach hinten los. Der Frosch, eigentlich nach draußen geworfen, sprang zurück ins Zimmer, hüpfte über das Bett, surrte von Wand zu Wand und verglühte schließlich auf Evelyns teurem Bettvorleger.

»Auch das noch!« schrie diese, »mein Teppich! Ein echter Kelim! Ein Loch! Aber Manfred, warum wirfst du ihn denn ins Zimmer und nicht auf die Straße?«

»Ich hab ihn ja rausgeworfen. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, er muß sich gedreht haben!«

Manfred stand da mit hängenden Schultern. Er schüttelte verwirrt den Kopf und hatte den ersten und letzten Frosch seines Lebens geworfen.

Im Eßzimmer dagegen herrschte eitel Freude. Dort hatten die geschiedenen, aber nun wieder in Liebe vereinten Ehegatten ein zinnernes Gebilde gegossen, welches, wie sie meinten, einem Ehering glich. Also beschlossen sie, demnächst wieder zu heiraten.

Raskolnikow lag zu Füßen des ewigen Studenten und zernagte das schwarze Abendtäschchen der schwarzen Rosel. Der ewige Student sah das Zerstörungswerk, und ein Lächeln glitt über seine Züge.

Die enttäuschte Blondine lehnte schluchzend an der Brust des Hausherrn, was Evelyn zu Recht empörte, blockierte es doch denselben derart, daß Evelyn alle Schwierigkeiten allein tragen mußte.

»Du bist zauberhaft!« flüsterte er ihr ins Ohr.

Ich hörte es und war verstimmt, denn mit eben diesen Worten hatte er mich vor der Jahreswende beglückt, und ich dummes Huhn hatte es ihm geglaubt und während der schlimmsten Phasen dieser Nacht Kraft daraus gesogen. Der Herr mit dem empfindlichen Magen irrte durch die Räume.

»Meine Brille! Wo ist meine Brille?« murmelte er. Jetzt strebte er auf mich zu.

»Haben Sie vielleicht meine Brille gesehen?«

»Sie liegt im Goldfischglas.«

»Lächerlich!« knurrte er, ging zum Goldfischglas und durchbohrte es mit seinen Augen. Nach langer Betrachtung zog er die Jacke aus und krempelte den Hemdärmel hoch.

»Bitte nicht! Laß es bleiben, Paul!« Evelyn rang die Hände. »Keine Prügelei heute nacht mehr! Ich kann es nicht ertragen, meine Nerven reißen!«

Raskolnikow ließ die Trümmer der Abendtasche fallen, eilte seiner Herrin zu Hilfe, knurrte drohend und fuhr dem Herrn an die Beine. Der angelte bereits im Goldfischglas.

»Pfeif deinen Dackel zurück, Evelyn!« rief er, »die Bestie zerreißt mir die Hosen!«

»Nimm erst deine Hand aus meinem Goldfischglas!« fauchte Evelyn, »was kann der arme Fisch dafür, daß du verrückt geworden bist?«

Der Herr zog ein paar Algen heraus, dann den Goldfisch und dann die Brille. Raskolnikow schnappte schier über vor Jagdeifer und Begeisterung. Er sprang so hoch er konnte und suchte, den Fisch zu erlangen. Paul aber sortierte seine Schätze, setzte die Brille auf die Nase, den Fisch ins Glas, warf Raskolnikow die Algen in den Rachen und wandte sich mir zu.

»Wie kommt sie in das Goldfischglas?« fragte er und schaute mich hinter tropfenden Gläsern streng an.

»Sie haben sie selber hineingelegt. Wirklich! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

Rosel kniete wehklagend zu Füßen des ewigen Studenten und sammelte die Reste ihrer Abendtasche zusammen.

»Des hat des Dierle net von alloi do«, sie schoß einen zornsprühenden Blick hinauf zum Studenten. »Sie, Sie hent ihm des Däschle naglegt! Pfui! Sie gemeiner Mensch!«

»Komm, Malchen, es ist Zeit, wir gehen!« sagte Manfred.

Aus dem Schirmständer in der Diele lief ein Bächlein. »Raskolnikow!« schrie Evelyn, »ja schämst du dich denn nicht, du böser Hund!«

Raskolnikow und ich schauten uns an. Dann senkte ich den Blick und schlich zur Tür.

Wir gingen die Straße hinauf und die Stäffele, vorbei an ausgebrannten Knallfröschen, Heulern und Raketen. Ich lehnte meinen Kopf an Manfreds Schulter.

»Ach, Manfred, hätt’ ich bloß Schlonz getrunken statt dieser >blauen Lady<! Dann wär’s mir jetzt wohler.«

»Da magst du recht haben. Ich frage mich, wie der Frosch in meine Hand kam und warum ich ihn geworfen habe? Es ist mir wirklich unerklärlich.« Er blieb stehen und zupfte ein Stückchen Papierschlange aus meinem Haar. »Ich sage dir, Malchen, solch eine Silvesternacht will ich lieber nicht mehr erleben!«

»Ich auch nicht, Manfred!«

Es war einer der wenigen Neujahrs Vorsätze, die wir gehalten haben. Fortan verlebten wir Silvester im Kreis von Freunden, die im anderen Stil feierten. Nicht so gedämpft wie in meinem Elternhaus, nicht so hektisch wie bei Evelyn, nein, grad so mittendrin.

Nach drei Wochen kam Andreas mit einem Heft daher. »Ihr sollet’s lese und unterschreibe, hat d’ Frau Birzele gsagt.«

»Warum denn?«

»D’ Frau Birzele hat gsagt, es tät euch sicher interessiere.«

In dem Heft stand ein Schulaufsatz mit dem Titel:

»Wie ich das neue Jahr begann.«

»Wir sind frü aufgewacht und der Mathias hat Strikliesel geschafft und ich hab aus dem Räuber Hotzenplotz forgelesen. Endlich ist der Vati gekommen und hat gesagt: Ein schönes neues Jahr, und wir sollen leise sein, das Mulchen hat eine Migrene. Dann hat der Mathias gefragt wann es Früstück gibt, er hat Hunger, und der Vati hat gesagt, wir sollen uns was feines machen aber keinen Krach in der Küche, sie wollen nichts essen, weil ihr Magen ist nicht ganz in Ordnung nur vielleicht einen sauren Hering, wenn wir einen haben. Aber wir hatten keinen. Dann hat er gesagt, es ist ein Jammer und er legt sich noch ein bißchen hin. Da waren wir fro und machten uns alles was im Eisschrank war und Rühreier und Puding. So haben wir ein schönes neues Jahr angefangen.«

Frau Birzele hatte mit roter Tinte darunter geschrieben: »So, so!«