»Stets findet Überraschung statt«

Manfred brachte mich zum Bahnhof. Ich bestieg den Zug wie weiland Marie-Antoinette das Schafott, würdig und auf das Schlimmste gefaßt.

»Sag mir noch ein Wort von bleibendem Wert!«

»Ich denk an dich, Malchen, und heute abend gehen wir essen.«

Zum ersten Mal in meinem Leben fuhr ich erster Klasse, aber es war kein großer Genuß, ehrlich gesagt, überhaupt keiner. Nur ein einziger Mensch saß noch im Abteil. Er hatte sich hinter der »Frankfurter Allgemeinen« verkrochen, und seine übereinandergeschlagenen Hosenbeine wirkten derart arrogant, daß ich mich nicht traute, ihn anzusprechen und zu fragen, ob dieser Zug nach München fahre.

Ich leide nämlich unter einer seltsamen Krankheit, die mich jedesmal mit Heftigkeit befällt, sobald ich Bahn fahre. Ruckt die Lokomotive an, dann rastet eine Schraube in meinem Kopf ein, und ich weiß plötzlich, daß ich im verkehrten Zug sitze. Natürlich habe ich vorher auf dem Bahnsteig gelesen, wohin dieser Zug fährt, ich habe noch zusätzlich einen Schaffner gefragt und die Abfahrtstabelle genau studiert, trotzdem erfüllt mich nun die traurige Gewißheit, daß das Schild auf dem Bahnsteig nicht ausgewechselt wurde, der Schaffner ein Neuling, die Gleisnummer auf der Abfahrtstafel schließlich ein arger Druckfehler sei. Deshalb bin ich auf die Mitreisenden angewiesen, die ich sogleich nacheinander frage, wohin dieser Zug fährt. Antworten sie alle gleich, dann kann ich wieder frei durchatmen. Eine merkliche Besserung meines Zustandes tritt aber erst ein, nachdem der Schaffner meine Fahrkarte betrachtet, geknipst und zurückgegeben hat. Manchmal frage ich noch: »Stimmt’s?« Betrachtet er mich dann scheel und antwortet: »Bei mir ja!«, dann fühle ich, wie die Krankheit langsam von mir weicht. Richtig geheilt aber bin ich erst, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen spüre und auf dem Bahnsteig der Stadt stehe, die ich erreichen wollte.

Wegen dieser quälenden Krankheit fahre ich selten Zug, ich sitze lieber neben Manfred im Auto und brauche mich um nichts zu kümmern, denn er weiß alles gut, besser, am besten.

Bin ich allein mit dem Auto unterwegs, dann wende ich einen Trick an, um die Krankheit im Keim zu ersticken und mich selber zu überlisten. Ich komme also an eine Kreuzung ohne Schilder oder mit Schildern, die mir nichts sagen. Zieht es mich nun ganz stark nach rechts und bin ich völlig sicher, daß dies die einzig mögliche Richtung ist, dann beiße ich die Zähne zusammen und fahre nach links, und siehe, die Entscheidung war klug, denn ich erreiche meinen Bestimmungsort.

Nun also befand ich mich im Zug und bedauerte zutiefst, nicht in der zweiten Klasse zu sitzen. Die Leute dort hätten sicher ein Gespräch begonnen und mich über das Ziel des Zuges nicht im Unklaren gelassen. Der Zeitgenosse in meinem Abteil mochte vielleicht Geld haben, aber sonst schien er eher unerfreulich. Trotzdem gab ich ihm die Chance, mir das Gegenteil zu beweisen und fragte zur »Frankfurter Allgemeinen« hingewendet, ob er vielleicht wüßte, wohin dieser Zug fahre?

»Ja«, er ließ die Zeitung sinken, um mich mit einem spöttischen Blick zu bedenken, das wisse er wohl, denn er pflege sich im allgemeinen nur in Züge zu setzen, deren Richtung er kenne. Dieser hier zum Beispiel fahre in den Süden, und wenn ich in den Norden zu fahren gedächte, dann würde er mir empfehlen, die Notbremse zu ziehen. Damit verschwand er wieder hinter seiner Zeitung und ließ mich aggressionsbeladen zurück.

Ich versuchte, Wilhelm Buschs Leben zu überdenken, aber mir fehlte die nötige Gelassenheit dazu. Dieser >Zeitgenosse< hatte sie mir geraubt. Als er nach einiger Zeit die »Frankfurter Allgemeine« zusammenfaltete und sagte: »Sie fahren wohl nicht oft mit der Bahn?« entgegnete ich: »Nein, ich fliege lieber!«

Diese ausgezeichnete Antwort verschlug ihm die Sprache, denn er faltete die Zeitung wieder auseinander und verbarg sich dahinter.

Schon lange vor München stand ich draußen auf dem Gang, der Zeitgenosse gesellte sich zu mir, nun angetan mit Hut und Handschuhen, und äußerte, München sei eine schöne Stadt, ob ich sie kenne.

Ich antwortete: »Nein, ich kenne diese Stadt nicht und habe auch keine Zeit, sie zu besichtigen, denn ich bin sehr beschäftigt.«

Darauf überlegte er lange und fragte dann, in welcher Branche ich tätig sei.

»Beim Fernsehen! Ich muß heute eine paar Aufnahmen machen.«

Dies sagte ich ganz nebenbei, so als ob es gar nichts wäre. Er aber erhob seinen Blick zu mir und sagte: »Na, so was!«

Ich lächelte huldvoll.

Auf dem Bahnsteig rannten die Leute, als ob sie alle zu spät dran wären, und auch mein Zeitungsleser jagte davon, zuvor aber zog er höflich den Hut.

Diesen Menschen, so dachte ich, hast du eines Besseren belehrt, wie aber steht es mit deiner eigenen Wertschätzung und wie wird es dir im Funkhaus ergehen? Während ich dies bedachte, wurden mir Fuß und Herz immer schwerer. Ich schlich dem Bahnhofsausgang zu und stellte mir die brennende Frage, warum, um alles in der Welt, ich dieses »Krötle gefressen« hatte und nicht zu Hause geblieben war, um mich redlich zu nähren?

Draußen wehte ein scharfer Wind, riß meine schön frisierten Haare auseinander, färbte meine Nase rot, so daß mir aus einem Schaufenster eine arg zerzauste, verfrorene Amei entgegenstarrte. Der Weg kam mir weit vor, war er doch allenthalben mit Bauzäunen vernagelt! Doch endlich stand ich vor dem Funkhaus und meldete mich an der Pforte.

»Kommen Sie mit!«

Ein Herr eilte mir voran, spiegelglatte Gänge entlang. Ich folgte, immer an der Wand lang. Da stand eine Bank vor einem Zimmer. Auf dieser solle ich warten, sagte der Herr, es würde nicht lange dauern. Ich nahm gehorsam Platz, obwohl mein Sinnen und Trachten nach einem Waschraum mit Spiegel stand, wo ich mein Aussehen etwas zum Guten hätte wenden können. Doch ich traute mich nicht von der Bank weg, mußte ich doch jeden Augenblick damit rechnen, ins Zimmer gerufen zu werden. Als der Herr in den Tiefen des Ganges verschwunden war, öffnete ich meine Handtasche, um Kamm und Spiegel hervorzukramen. Zur gleichen Zeit öffnete sich auch die Tür. Ich sprang auf, die Tasche rutschte von meinem Schoß und ihr Inhalt rollte auf den Gang. Immer mußte mir so etwas passieren! Sicher stand Herr Helmensdorfer in der Tür und mokierte sich über die Möchtegern-Kandidatin, die auf dem Boden herumrutschte, um ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen. Der Lippenstift war ein gutes Stück den Gang hinuntergerollt. Bevor ich hinter ihm her krabbelte, hob ich den Kopf. Die Tür war bereits wieder geschlossen, aber auf meinem Platz saß eine Dame. Sie sah keineswegs belustigt, eher niedergeschlagen aus, jetzt fiel ihr umflorter Blick auf mich.

»Was machen Sie da unten?«

»Entspannungsübungen!«

»Sind Sie auch zur Prüfung bestellt?«

»Hmm!«

»Dann lassen Sie alle Hoffnung fahren. Es ist entsetzlich! Was die alles wissen wollen.«

»Was haben Sie denn für ein Gebiet?«

»Die griechische Mythologie!«

»Die grie...« Es verschlug mir den Atem. Ich hockte auf den Fersen und starrte zu ihr hoch. »Nein, wie das Leben so spielt!«

Die Tür ging abermals auf. Ich erhob mich eilig. Ein Herr streckte mir freundlich die Hand entgegen. Ich legte meine eiskalte Hand in die seine, hörte, daß er der Regisseur von »Alles oder Nichts« und Dr. von Westen sei und stand im Zimmer.

»Na, denn wollen wir mal«, sagte Dr. von Westen, nahm mir den Mantel ab und schob mich einem älteren Herrn zu, der Bücher vor sich auf den Tisch stapelte. Dieser Herr war ein Professor, wohlbewandert in Sachen Wilhelm Busch, auch wenn er etwas grämlich blickte und gar nicht humorvoll wirkte.

Ich versuchte, so reizend wie möglich zu lächeln, aber er ließ sich nicht einmal zu einem leichten Zucken der Mundwinkel hinreißen, was auch nicht weiter verwundern konnte, denn er schaute mich nicht an, blickte mit dem einen Auge zum Fenster hinaus und mit dem anderen hinüber zur Tür, ein Umstand, der mich in Verwirrung versetzte. Erich Helmensdorfer war nicht zugegen, dabei hatte ich mir ein paar Komplimente für ihn ausgedacht, auf die jeder normale Mann positiv reagiert hätte. Andere Herren jedoch standen in Hülle und Fülle herum, drehten an Mikrophon und Tonbandgerät und schienen allesamt äußerst wichtig für den technischen Verlauf dieser Prüfung, an meiner Person waren sie wenig oder gar nicht interessiert.

Ich mußte neben dem Professor Platz nehmen. Sein eines Auge fiel auf meine zitternden Hände, so daß ich sie schnell in den Rockfalten zu verbergen suchte. Das Mikrophon wurde eingestellt, das Band lief, die Prüfung begann.

»Wieviel kostet ein Wilhelm-Busch-Gemälde heute?«

Ich hatte keine Ahnung, und ich sagte das auch und bot damit dem Professor die Möglichkeit, mich zu belehren, was er gerne und reichlich tat. Seine mir zugewandte Gesichtshälfte wurde weicher, seine Stimme milder.

Er baute Zeichnungen, Gemälde, Bildergeschichten vor mir auf und fragte nach Namen und Daten.

Ich antwortete nach bestem Vermögen. Wenn ich etwas nicht wußte, bat ich dringlich um Aufklärung, wendete mein Gesicht in die Richtung eines seiner Augen und hing verklärt an diesem, während er dozierte. Ich vergaß das laufende Band und die umsitzenden Herren, spielte mich ganz auf den Professor ein und bekam fast Spaß an dieser Prüfung.

Der Professor blieb mir gewogen bis zu dem Augenblick, da ich zu rezitieren begann. Ich wählte den Bählamm-Prolog, den ich bei Festlichkeiten zu Flause vorzutragen pflegte, wobei ich jedesmal hohes Lob und dankbaren Beifall erntete, denn dieser Prolog geht über drei Seiten.

»Wie wohl ist dem, der dann und wann

Sich etwas schönes dichten kann!...«

Ich zog alle Register, ich legte mich so richtig rein. Dr. von Westen lachte, auch die anderen Herren horchten auf, nur des Professors Gesicht wurde immer grämlicher, die verschieden gerichteten Augen schlossen sich gequält. Er hob die Hand, um meinen Redefluß zu dämmen. Wie ärgerlich, gerade an der schönsten Stelle:

»...Gleichwie die brave Bauernmutter

Tagtäglich macht sie frische Butter...«

Ich blickte in die andere Richtung, entschlossen, nichts zu sehen und zu hören und meinen Prolog zu Ende zu bringen.

Da erlitt er einen Wutanfall, schlug mit der Faust auf den Tisch und donnerte »Schluß jetzt!«, so daß ich erschreckt verstummte.

»Schön war’s«, sagte Dr. von Westen.

»Falsch war’s!« der Professor. »Sogar Erich Ponto«, rief er, »hat niemals Wilhelm Busch auswendig gesprochen. Die Verse fließen leicht dahin, man setzt eigene Worte ein und bemerkt es nicht!«

»Hab ich tatsächlich einen Fehler gemacht...«

»Einen?« er schnaubte zornig durch die Nase, »wenn es nur einer gewesen wäre! Liebe Frau Maier...«

»Müller!« Dr. von Westen und ich sprachen es gleichzeitig, aber der Professor ließ sich nicht beirren.

»Wenn man schon rezitiert, dann muß man es auch richtig tun! Werkgetreu! Entweder man lernt es ordentlich, oder man läßt es bleiben!« An dieser Stelle ließ sich der Professor zu den Worten: »Verdammt nochmal!« hinreißen, worauf er erschrocken den Mund zuklappte.

Ich aber öffnete den meinen, um lautstark zu versichern, ich würde — wenn nötig — jedes Wort richtig sagen und alles umlernen, denn ich hätte einen Mann, der es nicht ausstehen könne, wenn jemand falsch zitiere.

»Das läßt mich hoffen!« murmelte der Professor und verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln.

Die Herren erhoben sich. Die Prüfung war überstanden. Dr. von Westen half mir in den Mantel.

»Wir haben viele Busch-Experten, wie Sie sich denken können...« — nie hatte ich etwas dergleichen gedacht — , »die müssen wir alle erst prüfen, dann geben wir Ihnen Bescheid. Es wird ein Weilchen dauern. Hoffentlich haben Sie gute Nerven!«

»Und wie!« rief ich und sank im selben Augenblick haltsuchend an die Wand, denn meine Knie begannen zu zittern.

Die Tür hatte sich geöffnet, und ins Zimmer trat »der Mensch«, der Zeitgenosse aus dem Erste-Klasse-Abteil, der, den ich eines »Besseren« belehrt hatte! Wäre das nötig gewesen, lieber Gott, nur weil ich ein bißchen angegeben hab?

Der Zeitgenosse kam also herein, begrüßte Dr. von Westen mit Herzlichkeit, duzte ihn und lachte lärmend, bis sein Blick auf mich fiel. Wir schauten uns an, und mir wurde ganz übel vor lauter Peinlichkeit. Wie ich ihn nach unserer kurzen, unerfreulichen Bekanntschaft einschätzte, so würde dieser Mensch jetzt seine ganze Arroganz über mich ausgießen, würde mich klein und häßlich machen vor all den Fernsehleuten und dem Professor, Material hatte ich ihm ja genug geliefert.

»Kennen wir uns nicht?« rief er, »vorhin im Zug...«

»Ja, doch, freilich...«, fiel ich ihm ins Wort.

»Eine Bewerberin für >Alles oder Nichts<«, erklärte Dr. von Westen unnötigerweise.

»Na so was!« sagte der Zeitgenosse, »darf man fragen, was für ein Spezialgebiet Sie haben, gnädige Frau?«

»Wilhelm Busch!« antwortete Dr. von Westen für mich.

»Dacht’ ich’s nicht schon im Zug, daß Sie mit Humor begabt sind!« Der Zeitgenosse zwinkerte mir zu und wandte sich dann an Dr. von Westen, »du mußt wissen, wir hatten ein angeregtes Gespräch, und sie hat mich auf die Schippe genommen...«

»Was? Dich?« Dr. von Westen schüttelte ungläubig das Haupt, »das kann ich gar nicht glauben

»Ich hab’s ja nur versucht«, rief ich, »und jetzt wird es höchste Zeit für mich...«

»Aber für ein Sprüchlein wird es doch noch reichen«, der Zeitgenosse verstellte mir die Tür, »haben Sie nichts Passendes von Wilhelm Busch auf Lager?«

»Doch«, sprach ich, »ich habe«:

»Stets findet Überraschung statt,

Da wo man’s nicht erwartet hat.

Doch daß dieselbe überall

Grad angenehm ist nicht der Fall...«

»Trefflich!« rief er und klatschte Beifall, »sehr passend!«

»Zwei Zeilen fehlen!« klagte der Professor, »man sollte Busch-Gedichte nicht aus dem Zusammenhang reißen!«

»Es besteht aber ein Zusammenhang«, der Zeitgenosse gab die Tür frei, »nur ist er nicht für jeden ersichtlich. Stimmt’s, gnädige Frau?«

»Stimmt!« Ein Kopfnicken, ein Lächeln, dann stand ich draußen, ging den Gang entlang, sah meinen Lippenstift liegen, hob ihn auf und schlenderte am Pförtner vorbei durch die Straßen dem Bahnhof zu.

Ich hatte keinen Sieg errungen, aber auch keine Niederlage erlitten. Ich fühlte mich nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich. Müde war ich und schrecklich hungrig.

Die Zeit reichte nicht mehr, um ein belegtes Brötchen am Bahnhofskiosk zu kaufen. Ich hinkte gelassen zum Bahnsteig, war so verwirrt, erschöpft oder gedankenvoll, daß ich vergaß, das Zugschild zu überprüfen, einen Schaffner zu fragen und die Abfahrtstafel zu studieren, ich stieg in den Zug und dachte, es wird sicher ein Würstchenverkäufer kommen oder wenigstens einer mit Keksen.

Wer kam, waren Reisende mit gewaltigen Vesperpaketen. Als die drei Damen mir gegenüber Schinkenbrötchen, Kuchen und Bananen ausgepackt hatten und zu futtern begannen, entfloh ich ins nächste Abteil. Dort saßen zeitungslesende Herren. Sie lasen, bis der Zug anfuhr, dann legten sie wie auf Kommando die Zeitungen nieder, holten ihre Taschen vom Gepäcknetz herunter und zogen heraus, was ihre fürsorglichen Gattinnen als Wegzehrung für sie gerichtet.

Mir lief das Wasser im Mund zusammen, und also wagte ich nicht, ihn aufzutun und zu fragen, ob dies der richtige Zug sei, es war mir auch ziemlich egal. In der Manteltasche fand ich eine Rolle Pfefferminz, die lutschte ich hintereinander weg, bis mir schlecht wurde. So fiel ich auf dem Bahnsteig in Manfreds Arme.

»Himmel, Malchen, du bist ja ganz grün um die Nasenspitze! Jetzt gehen wir essen, und dann wird’s dir wieder gut.«

Tatsächlich, nachdem die Pfefferminze nicht mehr allein im Magen wüteten und ich alles erzählt hatte, was mir widerfahren, da wurde es mir so wohl, daß ich sogar meinen gesunden Zweckpessimismus vergaß und mich zu den Worten hinreißen ließ:

»Es könnte vielleicht... unter Umständen... wenn mich nicht alles täuscht, also dann könnte es klappen!«

»Ich habe nie daran gezweifelt!« sagte Manfred.

»Was vom Fernsehe da?« so fragten meine Söhne eine Zeitlang, wenn sie von der Schule nach Hause stürmten, dann stellten sie nach einem Blick auf mich nur noch kurz fest: »Nix?!« Schließlich kehrten sie zu der altvertrauten Frage zurück: »Was gibt’s zum Esse?«

Die Wochen vergingen, die Monate. Wir sprachen nicht mehr davon, vermieden sorgsam das peinliche Thema wie eine Entgleisung, die man zu vergessen sucht.

Als ich aber die Lektüre für den Sommerurlaub zusammensuchte, legte ich ganz nebenbei ein Wilhelm-Busch-Gedichtbändchen dazu, versah es mit einem Schutzumschlag, um Sonnenölflecken und anzügliche Fragen der Familie zu vermeiden, und zog es erst am Strand von Bibione wieder hervor.

War das Baderitual beendet, die täglichen Gehübungen absolviert, dann verschwanden die drei Männer, um Muscheln zu suchen und Burgen zu bauen. Ich aber kramte mein Bändchen hervor, ließ mir die Sonne auf den Pelz brennen und lernte oder wiederholte die Gedichte von »Schein und Sein«.

»Komm, Mulchen, renne!« Andreas und Mathias, braungebrannt und unerbittlich, standen vor mir im Sand. Ich erhob mich seufzend, versteckte das Büchlein in der Badetasche und ging mit den beiden, um dem unsinnigen Bemühen zu frönen, das Laufen zu lernen. So rannte ich denn, an jeder Hand einen Sohn, den Strand entlang. Erst zehn Meter, dann jeden Tag einen mehr.

»Wenn jetzt a Verbrecher kommt, kannsch du scho zehn Meter davonlaufe!« Andreas strahlte, »und wenn mir schö weiter übet, dann schaffsch du’s sicher bis zum nächschte Polizischte oder einer Straß mit viele Mensche!«

Er kannte meine geheime Sorge und er teilte sie. Welches Kind will schon, daß seine Mutter zur Salzsäule erstarrt vor jedem Strolch stehenbleibt?

Als wir heimfuhren, hatte ich 75 Wilhelm-Busch-Gedichte im Kopf und 25 Meter Weglaufen in den Beinen.