VORWORT
Gerade hat sich das Leben wieder einmal lustig über mich gemacht! Wie kann ein für seine Vernunft bekannter Mensch wie Lukas Niederberger ausgerechnet jemanden wie mich auffordern, sich zum Thema »engagierte Gelassenheit« zu äußern! Ich habe gelassene Menschen jahrzehntelang für Persönlichkeiten gehalten, die sich eher wenig für andere engagieren. Gelassenheit schien mir so etwas wie eine spezifische Art von versteckter – körperlicher oder geistiger – Faulheit zu sein.
Gemeinhin mit »Gelassenheit« assoziierte Worte wie Gelöstheit, Heiterkeit und Leichtigkeit oder gar Harmonie eigneten sich meiner Ansicht nach kaum dafür, »Werte« genannt zu werden. Vielmehr gehörten sie in meinem Verständnis der Welt zu Menschen, die sich selbst und nur sich selbst nahe stehen. Ein Schlappschwanz, wer nicht schon als Pfadfinder gelernt hatte: »Jeden Tag (ungefragt) eine gute Tat.« Ein Feigling, wer mit Gelassenheit auf den Angriff auf Unschuldige reagiert und ein Mensch ohne Zivilcourage und intellektueller Redlichkeit, wer rassistische Bemerkungen oder böswillige Behauptungen über Dritte unkommentiert im Raum stehen lässt. Wie, so fragte ich mich, ist es nur möglich, dass es Mitmenschen gibt, die das Schreckliche dieser Welt kommentarlos, ohne ein Zucken im Gesicht gelassen hinnehmen können?
Meine Vorstellung von sozialem Engagement machte natürlich auch nicht vor meinen Arbeitskollegen halt, denen ich mit meinem Helfersyndrom mindestens verbal immer zur Seite stand, zuweilen auch ungefragt. Nicht alle meine Freunde freuten sich gleichermaßen über mein tätiges Engagement, etwa wenn ich Gegenstände zur Wohnungseinrichtung beisteuerte. Etwas einfacher machen es sich meine Kinder, wenn es um helfend-eingreifendes Durchsetzen meines stets vorbildlich auf Engagement ausgerichteten Willens in deren Erziehung ging. Sie nannten mein Engagement schlicht »Einmischung« und konnten auf den Beistand in der Abwehr auf ihren Vater, meinen Mann, zählen. Langsam lernte ich, dass nicht jedes noch so gut gemeinte Engagement tatsächlich gut ist.
Gelassenheit als erstrebenswerter Zustand, als pädagogisches Grundprinzip oder als Führungsinstrument? No way! Gelassene, also innerlich wie äußerlich ruhige Menschen schienen mir am Geschehen um sie herum schlicht keinen Anteil zu nehmen. Offenbar war denen alles »wurst-egal«. Harmoniesucht und Unengagiertheit waren für mich Synonyme für Selbstaufgabe und Selbstverleugnung. Und um diese Menschen herum, so schien es mir, »tötelte« es bereits ein wenig. Das Leben war in meiner Vorstellungswelt Kampf, und wer den Kampf nicht aufnahm, war nicht nur unengagiert, er war scheintot.
Ich finde, der Autor hat mit der Wahl der Schreiberin dieses Vorworts ein unverschämtes Glück gehabt! Ahnte er, der lebenserfahrenere Zeitgenosse, etwa, dass Menschen wie ich, die sich rund um die Uhr für irgendjemanden oder für irgendetwas engagieren, bald schon erschöpft sind? Brauchen gelassene Menschen nur zu warten, bis sich die anderen an ihrer ständigen Engagiertheit für die Menschheit und die ganze Welt ausbrennen?
Nun, Sie ahnen es schon, das Leben hat mich gezwungen, mehr und immer mehr Situationen mit Gelassenheit zu bewältigen. Wobei ich absichtlich das Wort »lehren« vermeide, weil ich mich aus meiner eigenen Erfahrung für einen eher unbelehrbaren oder – netter gesagt – prinzipientreuen Menschen halte. Aber die Batterien leeren sich eben schneller als früher und nicht jeder Mensch, nicht jede Begegnung, nicht jeder Sachverhalt lohnte objektiv die Mobilmachung der ganzen emotionalen und physischen Engagiertheit meiner existenziellen Person.
Ganz und gar und immerzu gelassen zu reagieren, ja gelassen zu werden, kommt für mich auch heute noch nicht in Frage. Ich bin vielleicht bereit, zu gegebener Zeit über ein Facelifting zu reden, niemals jedoch über eine Persönlichkeitsveränderung. Wenn reine Gelassenheit als »action modus« für mich ausgeschlossen ist, dann vielleicht die sozialverträgliche Form der Gelassenheit, die »Mischform«, nämlich die »engagierte Gelassenheit«?
Wie nun – heute, an der Schwelle zum Alter – fertig werden mit der engagierten Gelassenheit, dem Widerspruch per se, dem Paradoxon? Meine, durch den exzessiven, engagierten Einsatz belastete Seele bastelt mir seit geraumer Zeit eine Brücke, nämlich den Königsweg von der kompromisslosen Engagiertheit zur wachsenden Gelassenheit, und ich nenne dies Interessen- und Güterabwägung:
- › Wo lohnt sich angesichts der nicht mehr unbeschränkt vorhandenen Kräfte mein Engagement?
- › Entziehe ich mich dem Diktat des Engagements aus Egoismus, Gleichgültigkeit oder mangelnder Zivilcourage?
- › Bewege ich mich auf dem Weg zu einer mit Blick auf das bevorstehende Alter angemessenen Lebensweisheit, die sich offenbar definitionsgemäß in Gelassenheit übt?
- › Gibt der gelassene Mensch mangels Wille einzugreifen, seine Führungsqualitäten ab oder gibt es ein Führen, Motivieren von und Miterleben mit Mitmenschen im Sinne eines Managements durch Gelassenheit?
- › Lebt man ohne Partizipation am Schicksal der Umwelt noch in dieser Welt?
Heute habe ich bereits ziemlich viel Übung im Loslassen von den Dingen, die mir im bisherigen Leben unabdingbar wichtig schienen und damit sozusagen gesetzt waren, selbst wenn dieses »ziemlich viel« streng genommen »ziemlich relativ« ist. Ich lernte, damit umzugehen, dass ich nach meinem Vater eines Tages auch meine Mutter verlieren werde, dass die Kinder aus meinem Protektorat in die ungeschützte Welt hinausgehen, dass ich meine beruflichen Aktivitäten bald in die Hände jüngerer Menschen werde legen müssen. Ich lernte und lerne noch, jeden Tag loszulassen, was offenbar die Voraussetzung für das Gelassensein ist. Mein Engagement wird anscheinend sozialverträglicher, das Konfliktpotenzial schrumpft zusehends.
Man täusche sich jedoch bitte nicht! Solange ich ich bin, will ich die Menschen nach wie vor lieben, will gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten mit Wort und Tat kämpfen, bei Verletzungen meiner Mitmenschen aller Art einschreiten, will die mir verbleibende Zeit und Kraft weiterhin in den Dienst der Gesellschaft stellen, will zupacken, wo Abseitsstehen ausgeschlossen erscheint – und gleichzeitig daran arbeiten, mich von Menschen zu »des-engagieren«: Es lebe der gelebte Widerspruch!
Könnte es sein, dass dies genau die engagierte Gelassenheit ist, von der in diesem Buch die Rede ist?
Küsnacht bei Zürich, im August 2009