ENGAGIERTE GELASSENHEIT

Strebe nach Ruhe,
aber durch Gleichgewicht,
nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit.

Friedrich Schiller (Dichter und Dramatiker, 1759 – 1805)

»Engagierte Gelassenheit« ist in der traditionellen Logik eine sogenannte »contradictio in adiecto«, eine widersprüchliche Begriffsbildung, bei der einem Substantiv ein mit ihm logisch unvereinbares Attribut zugesprochen wird, wie beispielsweise beim »runden Quadrat«, dem »viereckigen Kreis« oder dem »hölzernen Eisen«. Dieses Buch thematisiert die engagierte Gelassenheit jedoch nicht als Gegenstand der klassischen Logik, sondern als konkrete existenzielle Erfahrung.

Worin liegt in unserem täglichen Tun der Unterschied zwischen »normaler« Gelassenheit und »engagierter« Gelassenheit? Um diese Frage beantworten zu können, ist eine kurze Klärung des Begriffs »Engagement« nötig. Normalerweise reden wir dann von einem engagierten Menschen, wenn dieser neben der 150%-Arbeitsstelle noch eine Familie hat, in mehreren Vereinen aktiv ist und trotz voller Agenda noch immer dazu kommt, regelmäßig Sport zu treiben und Meditationskurse zu besuchen. Der Ausdruck »Engagement« wird meistens quantitativ verstanden und wird meistens in Stunden und Überstunden beziffert. Wirkliches Engagement aber ist eine qualitative Größe: eine Aussage über die Art, Qualität und Intensität, in der wir uns mit Leidenschaft und Herzblut, Energie und Kreativität auf Menschen und Projekte, Institutionen und Arbeiten einlassen und das tun, was unserer Bestimmung und unserem Wesen entspricht. In der Fachliteratur findet man Definitionen wie: »Engagement ist ein positiver, erfüllender, affektiv-emotionaler Status von arbeitsbezogenem Wohlbefinden.«

Arbeit zeichnet sich aus durch einen bestimmten Energieaufwand und Tatkraft, eine innere Einbindung mit Identifikation und Hingabe, eine freudige Motivation und eine gewisse Konzentration bis hin zur Versunkenheit. Und aus alledem resultiert jeweils ein gewisser Erfolg. Der Engagierte und der Workaholiker unterscheiden sich dadurch, dass beim Arbeitssüchtigen der Energieaufwand und der Erfolg zum Zwang werden und die Freude kaum mehr eine Rolle spielt, während dem Engagierten die Arbeit grundsätzlich Freude bereitet. Der engagierte Mensch brennt für etwas oder jemanden, weil die Arbeit sie oder ihn erfüllt.

Die Abgrenzung zwischen »engagierter« Gelassenheit und »normaler« Gelassenheit können wir selbstverständlich nicht mit einer klaren Linie ziehen. Von »engagierter« Gelassenheit soll in diesem Buch jeweils die Rede sein, wenn die Haltung der Seelenruhe bewusst in Verbindung steht mit einem Wirken mit Herzblut, Leidenschaft und Hingabe.

Dass Engagement und Gelassenheit nur logisch, nicht aber im wirklichen Leben, einen Widerspruch darstellen, erfahren wir vor allem dort, wo wir quasi innerlich angekommen sind und wirklich das tun, was zu unserem Wesen und zu unserer Bestimmung gehört. »Gelassenheit gewinnt man nur in der Besinnung auf das Wesentliche«, sagte der frühere Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Georg Moser (1923 – 1988). Dasselbe gilt für ein echtes Engagement. Dieses können wir nur leben, wenn wir uns auf das Wesentliche besinnen und das tun, wofür wir im tiefsten Innern brennen.

Brennen ohne auszubrennen

Ich bin das heimliche Feuer in allem
und alles duftet von mir.
Und wie der Odem im Menschen, Hauch der Lohe,
so leben die Wesenheiten und werden nicht sterben,
weil ich ihr Leben bin.
Ich flamme als göttlich feuriges Leben
über dem prangenden Feld der Ähren.
Ich leuchte im Schimmer der Glut,
ich brenne in Sonne, in Mond und Sternen,
im Windhauch ist heimlich Leben aus mir
und hält beseelend alles zusammen.

Hildegard von Bingen (Mystikerin, 1098 – 1179)

Vor 30 Jahren lief in den Kinosälen der Abenteuerfilm Am Anfang war das Feuer von Jean-Jacques Annaud. Die Neandertaler-Gruppe der Ulam wird im Film vom »Homo erectus«-Stamm überfallen. Nach den Kämpfen geht der Steinzeitsippe auch noch das Feuer aus. Weil sie nicht wissen, wie man neues Feuer entfacht, drohen sie zu erfrieren. Drei junge Jäger machen sich darum auf die Suche nach neuem Feuer. Sie begegnen unterwegs vielen Gefahren und Kämpfen mit Mensch und Tier. Eines Tages retten sie die von Kannibalen gefangene Ika. Sie ist ein »Homo sapiens« und zeigt ihren Rettern die Technik des Feuerbohrens. Und als Happy End verlieben sich Ika und Naoh ineinander und treiben mit gemeinsamem Nachwuchs die menschliche Evolution einen Schritt voran.

Wir mögen über diesen seichten Science-Fiction-Streifen müde lächeln. Die Thematik ist aber zumindest als Metapher aktuell, existenziell und uns wohl bekannt: Seit je brennt in uns ein Feuer und wir nehmen es für selbstverständlich. Irgendwann erlischt es aber wegen eines inneren Kampfes oder eines äußeren Sturms. Wir sind oder fühlen uns ausgebrannt und die Welt wirkt auf einmal bedrohlich. Und wir wissen nicht, wie man neues Feuer entfacht und wie wir wieder zum Brennen gelangen. Darum machen wir uns auf den Weg nach neuem Feuer und müssen durch Prüfungen hindurch, ehe wir begreifen, wie es entzündet, geschürt und gepflegt werden kann.


Amors Pfeil und Bürgers Groll

Nicht alle erleben am Anfang das große Feuer. Bei manchen ist es nicht die Leidenschaft, die sie zur Berufswahl oder zu einem freiwilligen Engagement bewegt. In vielen Fällen genügt es, dass ein Freund oder eine Freundin sie fragt, ob sie bei dieser oder jener Aktion mitmachen würden. Oder irgendein Zufall führt sie dazu, diese oder jene Ausbildung zu machen. Blicken wir in unserer Biografie zurück, blättern in alten Tagebüchern, betrachten Fotoalben aus der Kindheit und der Jugend, so kommen uns wohl zahlreiche Momente und Situationen in den Sinn, wo wir für jemanden oder etwas brannten und Feuer fingen: für das erste Fahrrad, ein Paar Ski, die erste Reise im Flugzeug, für Hobbys sportlicher oder musikalischer Art und irgendwann für die erste große »Flamme«, als wir uns Hals über Kopf verliebten. Auch am Anfang unserer Berufswahl und nach Weiterbildungen, Stellen- und Ortswechseln hat vermutlich ein Feuer in uns gebrannt und unser Herz war voller Begeisterung, Faszination und Enthusiasmus. Wann und wo, warum und wofür Menschen brennen, ist höchst unterschiedlich:

»Ich spüre das innere Feuer bei einer neuen Liebschaft.« (Mann, 48 Jahre)

»Feuer spüre ich, wenn ich in meinem Beruf als Journalist einem Thema auf der Spur bin oder eine längere Radiosendung abmische.« (Mann, 38 Jahre)

»Kinder geben mir Feuer, um mich für sie einzusetzen, vor allem für benachteiligte und schwache Kinder.« (Frau, 37 Jahre)

»Inneres Feuer spüre ich, wenn eine Idee meiner Fantasie entspringt, wenn eine Zusammenarbeit mit spannenden Menschen in Aussicht steht oder wenn Ideen und Vorstellungen eine Chance zur Verwirklichung haben.« (Frau, 57 Jahre)

»Es lodert Feuer in mir, wenn es darum geht, etwas Neues zu schaffen, vielleicht sogar an der Realisierung von Visionen mitzuarbeiten. « (Frau, 38 Jahre) »Inneres Feuer brennt, wenn ich vom Ziel meines Handelns ganz überzeugt bin und wenn ich das Gefühl habe, mit anderen an einem wichtigen und großen Ziel zu arbeiten.« (Frau, 52 Jahre)

»Brennen tue ich in meiner Rolle als Mutter, vor allem wenn ich meinen Kindern helfen kann, stark zu sein.« (Frau, 38 Jahre)

Wer oder was ist dieses geheimnisvolle Feuer? Wie können wir die Kraft benennen, die uns zum Geigespielen antreibt und zum Medizinstudium anfeuert? Und woher kommt dieses innere Feuer? Ist es göttlicher Natur oder etwas Vererbtes? Können wir das innere Feuer mit einer speziellen Technik entfachen wie die Neandertaler im Film? Wieso ist dieses Feuer manchmal besonders zu spüren und zerreißt uns beinahe? Und warum scheint es über längere Phasen hinweg wie erloschen und nur schwach zu glimmen? Wieso können wir uns für eine gewisse Sportart fast fanatisch begeistern und warum können Mathematiker oder Komponistinnen, Dichter oder Entwicklungshelferinnen jahrelang mit grenzenloser Leidenschaft, Herzblut und Hingabe sich einer einzigen Sache oder Idee widmen, ohne dass das lodernde Feuer auszubrennen droht? Was macht es, dass wir täglich Hunderten von Menschen begegnen und plötzlich Herz und Leib vibrieren, wenn uns ein ganz bestimmter Mensch über den Weg läuft? Warum engagieren wir uns beispielsweise nicht für die Rechte der Kinder in den Kupferminen und Kakaoplantagen, setzen aber viel Herzblut, Zeit und Geld für das Fotografieren von Gewitterblitzen und Sammeln von Briefmarken ein?

Wenn ich in Biografien radikal engagierter Menschen wie Mahatma Gandhi oder Mutter Teresa, Albert Schweitzer oder Marie Curie, Leonard Bernstein oder Karlheinz Böhm, Daniel Berrigan oder Reinhold Messner, Dag Hammarskjöld oder Jane Fonda nach den Gründen ihrer mutigen und leidenschaftlichen Hingabe suche, steht am Anfang meistens entweder eine sehr starke positive Anziehung und Faszination oder das pure Gegenteil: Skandalisierung, Empörung und Protest. Natürlich ist uns Anziehung und Faszination lieber als Empörung und Abstoßung. Doch letztlich kommt es nicht darauf an, was das Feuer entfacht, das uns zum Engagement treibt, sondern dass wir überhaupt an einem bestimmten Punkt im Leben Feuer fangen. Der Philosoph und Schriftsteller Albert Camus (1913 – 1960) schrieb in Anlehnung an Descartes cogito ergo sum: »Ich empöre mich, also bin ich.« Neben Anziehung und Empörung gibt es eine Reihe weiterer Gründe, die in uns inneres Feuer als Auslöser für ein Engagement bewirken. Nicht selten löst eine Reise in die Dritte Welt, ein Praktikum bei sozialen Randgruppen, ein Schicksal in der Familie, eine ökologische Tragödie oder eine spirituelle Erfahrung inneres Feuer aus, das zu konkretem Engagement führt:

»Der Grund für mein Engagement ist das Interesse für Menschen und überhaupt für die Welt und die Geschichte. Oft bringen mich soziale Missstände auf die Palme und in der Folge zu einem Engagement. « (Mann, 57 Jahre)

»Ein inneres Feuer spüre ich, seit ich 15 Jahre alt bin und angefangen habe, für die Lokalzeitung zu schreiben. Woher dieses Feuer kommt, weiß ich allerdings nicht, es ist einfach eine Leidenschaft.« (Chefredaktor, 36 Jahre)

»Auslöser der Gründung eines Care-Teams war meine Erfahrung im Rettungsdienst, wo immer wieder Seelsorger und Psychologen in den ersten Augenblicken am Unfallort fehlten und wo Rettungskräfte menschlich an Grenzen gelangten.« (Frau, 52 Jahre)

»Viele Gründe führten zu meinem Friedens-Engagement bei gewaltsamen Jugendlichen: Gerechtigkeitssinn, Freude an der Arbeit, das Privileg von Bildung, Ressourcen, Vernetzung und Wissen, die Werte meiner Eltern, die kritische Betrachtung dank Auseinandersetzung mit verschiedenen politischen Theorien, die Familiengeschichte [Sohn von Flüchtlingen], meine Gesundheit sowie die Minderheit-Situation als Jude.« (Mann, 52 Jahre)

Viele Menschen spüren zwar zutiefst, dass sie mehr aus ihrem Leben machen möchten. Sie spüren dies als innere Sehnsucht, ethische Pflicht oder bürgerliche Notwendigkeit. Gleichzeitig können sie aber nicht genau sagen, wofür sie konkret brennen und sich engagieren wollen, sollen oder könnten. So wie es den »Mann ohne Eigenschaften« in Robert Musils Hauptwerk gibt, begegne ich in der Beratung und in Kursen oft Frauen, Männern und Jugendlichen ohne spezielle Leidenschaften. Viele wissen und spüren nicht, wofür ihr Herz brennt, sie interessieren sich für nichts speziell, erwärmen und erhitzen sich für keine besonderen Themen und Fragen. Sie würden aber gern für etwas oder jemanden brennen und entdecken, welches ihre wesentliche Bestimmung und eigentliche Aufgabe im Leben ist. Bei manchen stellen sich diese Fragen nach einem sinnvollen Wirken in der Welt erst anlässlich der bevorstehenden Pensionierung, wenn sie endlich einmal über genügend Ressourcen an Zeit und Geld verfügen und tun dürfen oder müssen, wofür sie eine tiefe Lust und Sehnsucht spüren.

Wie, auf welchen Wegen und mit welchen Hilfen und Methoden können wir unser inneres Feuer entdecken? Meistens gebe ich den Suchenden in Beratungen und Kursen die gleiche Hausaufgabe: bei der Zeitungslektüre, beim Schauen und Hören von Nachrichten oder auch in Diskussionen mit Freunden darauf zu achten, welche Themen in ihnen starke Emotionen oder gar körperliche Reaktionen auslösen. Ganz egal, ob die Themen sie zum Gähnen oder auf die Palme bringen, Wut oder Spannung, Ekel oder Rebellion, Anziehung oder Faszination auslösen. Wo in uns starke Impulse auf der einen oder anderen Seite spürbar werden und wo Feuer in uns auflodert, haben die Themen etwas mit uns, mit unserer Bestimmung, Berufung oder Lebensaufgabe zu tun. Es muss auch nicht zwingend die Zeitung oder das TV-Gerät sein, das uns Anhaltspunkte liefert für das, was wir tief in unserem Inneren wirklich wollen oder zu tun haben. Das Leben ist voll von Zeichen und Hinweisen. Es gilt lediglich, unsere Sinne und unser Herz dafür zu öffnen und den Mut zu haben, dem inneren Brennen zu folgen.


Feuerwache und Zündschnurpflege

Wer als Pfadfinder das Feuerentfachen lernt, muss zuerst einen geeigneten Ort und trockenes Holz in verschiedenen Größen besorgen, Steine um die Feuerstelle legen, etwas Papier unter den Scheiterhaufen legen und dieses mit einem Streichholz entzünden. Später muss er das Feuer beobachten, manchmal Holz nachlegen und durch kräftiges Pusten Frischluft zuführen. Im übertragenen Sinn braucht auch unser inneres Feuer permanente Pflege und Nahrung, wenn es weder modern noch sich verzehren soll, sondern wie der biblische Dornbusch oder das »ewige Licht« in katholischen Kirchen beständig brennen soll. Unser inneres Feuer, unsere Begeisterung braucht Nahrung wie unser Körper und Geist, die wir weder hungern lassen noch vollstopfen. Die innere Feuerwache ist eine tägliche Aufgabe.

Eine tägliche Feuerpflege besteht darin, dass wir abends beim Tagesrückblick unserem inneren Feuer nachspüren. Hilfreich ist auch eine regelmäßige externe Feuerwache respektive eine spirituelle Begleitung oder ein Coaching.

Der sicherste und nachhaltigste Weg zur Erhaltung des inneren Feuers, das wir für ein gelassenes Engagement sowie zur Prävention gegen ein Ausbrennen benötigen, ist unsere innere Verbundenheit zum Feuer, das in der Welt an unzähligen Orten und in zahllosen Herzen brennt. Entscheidend ist, dass wir unser eigenes Feuer nicht isoliert sehen und nähren, hegen und pflegen. Es ist unsere tiefe innere Verbundenheit mit der Welt, mit den anderen Lebewesen und allem Leben, die uns als permanente Zündschnur und beständig glimmender Docht dient. Wenn wir mit der Welt verbunden sind, erhalten wir unerschöpfliche Ressourcen für unser Engagement und laufen nicht Gefahr, dass unser Feuer erlischt und wir einen Burnout erleiden. Die spirituelle Erfahrung, dass wir Teil der Welt sind, schenkt uns immer wieder neu die nötige Energie, den langen Atem, die Zuversicht und die Hoffnung für ein nachhaltiges, mutiges und zugleich gelassenes Wirken.

Inneres Feuer nimmt im Verlauf unseres Lebens nicht zwingend in einer Weise ab, wie es der 71-jährige Vater eines Schulfreundes formuliert: »Im Alter brennt das Feuer seltener im Herzen, dafür öfters im Kamin.« In Zürich lebt meine tief verehrte Freundin Silvana, die 92 Jahre jung ist. Ich sage nicht darum »jung«, weil sie sich kleidet oder spricht wie eine Teenagerin, sondern weil sie Liebesgedichte und Theaterdramen schreibt, fremde Menschen auf der Straße ungeniert anspricht, im Meer schnorchelt, Ökologieprojekte lanciert, Zen-Meditation übt, neue mikrobiologische und astrophysische Theorien studiert, über Autorenfilme debattiert und sich noch immer verlieben kann wie eine Studentin im ersten Semester. Ihr Geist ist eine unerschöpfliche Feuerstelle. Dass ihr Feuer trotz physischer Handicaps permanent brennt, ist zweifellos die Folge einer unendlichen Liebe zu den Menschen, zum Leben und zur Welt sowie eine Gelassenheit, die durch den Tod von zwei Ehemännern und das Überleben von zwei Weltkriegen zutiefst geläutert wurde. Und schließlich brennt ihr Feuer lebendig, lichterloh und ungehemmt wegen ihrer Unerschrockenheit und Angstfreiheit dem eigenen Tod gegenüber.


Verzehrende Leidenschaft

Feuer ist nicht nur schön, nicht nur wärmend und lichtspendend. Feuer besitzt eine hohe Zerstörungskraft. Die christliche Theologie hat den Menschen während Jahrhunderten Angst eingejagt mit der Lehre vom Fegefeuer, in dem wir nach dem Tod geläutert werden, sowie dem Höllenfeuer, in dem die Bösen für alle Zeiten schmoren sollen. Als ich letzthin ein Seminar für ein Arbeitsteam hielt, meinte eine junge Frau: »Bei uns brennt es!« Sie meinte damit, dass große Spannungen und Konflikte im Team existierten. Folglich war sie etwas erstaunt, als ich ihr sagte, dass ich mich über dieses Brennen freuen würde. Selbstverständlich wünsche ich keiner Familie und keinem Arbeitsteam, dass das Feuer zwischen ihnen so brennt, dass es zerstörerisch wirkt auf die Liebe oder den Respekt füreinander. Dass aber zwischendurch falsche Friedhöflichkeit und vorschnelle Harmoniebestrebungen im Zusammenleben und in der Zusammenarbeit aufbrechen, ist heilsam.

Feuer und Leidenschaft sind nicht nur schön und angenehm. Die Leidenschaft wird immer dann gefährlich, wenn sie absolut gesetzt wird und autoritär, blind, obsessiv und ideologisch wird. Inquisition oder Nationalsozialismus sind nur zwei Begriffe für diese Perversion von Leidenschaft. Leidenschaft und inneres Feuer müssen sich mit Gelassenheit paaren, wenn sie große Ziele und visionäre Projekte erreichen wollen und uns nicht als eigendynamischer Zwang verschlingen sollen. Leidenschaft und Gelassenheit, Begierde und Seelenruhe vertragen sich nicht immer harmonisch und synergetisch. Sie sind eher wie Geschwister – mit all den typischen Geschwisterkonflikten.

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  • ■ Wofür brennt mein Herz und glimmt nicht nur?
  • ■ Was braucht mein inneres Feuer, um weder nur zu glimmen noch auszubrennen?
  • ■ Wie viel Feuer habe ich? Glut, Funke, loderndes Feuer?
  • ■ Springen Funken auf andere über?

Klare Ziele und offene Wege

Tue das Gute vor dich hin
und bekümmere dich nicht,
was daraus werden wird.

Matthias Claudius (Dichter, 1740 – 1815)


Ich komm’, ich weiß nicht woher,
ich bin, ich weiß nicht wer,
ich tu’ und weiß nicht, was ich kann,
ich sterb’, ich weiß nicht wann,
ich geh’, ich weiß nicht wohin,
mich wundert’s, dass ich so glücklich bin.

Heinrich von Kleist (Dramatiker und Lyriker, 1777—1811)


Das ist mein Weg, welches ist dein Weg?
DEN Weg gibt es nicht.
Viele verfolgen hartnäckig den Weg,
den sie gewählt haben,
aber nur wenige das Ziel.

Friedrich Nietzsche (Philosoph und Dichter, 1844 – 1900)

Wie sich engagierte Gelassenheit konkret äußern kann, formulierte der Musikkritiker Peter Hagmann von der Neuen Zürcher Zeitung treffend in einem Artikel über das Konzert vom 19. August 2007 im Luzerner Kulturzentrum. Ergriffen beschrieb er, wie der damals 74-jährige Claudio Abbado die 3. Sinfonie von Gustav Mahler mit dem selbst zusammen gestellten Lucerne Festival Orchestra dirigierte:

»Dazu kommt schließlich die Gelassenheit Claudio Abbados. Nicht dass er sich zurücklehnte oder gar desengagiert wirkte, seine innere Energie und seine Aura sind vielmehr ungebrochen. Aber jede Form des Erzwingens, jede Art Druck oder Anspannung sind ihm fremd; und weil er sich unter Könnern und Freunden aufgehoben fühlt, ergibt sich gegenseitiges Vertrauen und entsteht die Musik gleichsam von selbst. Das Ziel steht fest und wird von allen Beteiligten getragen; auf dem Weg dazu, so macht es den Anschein, herrscht ein hohes Maß an Selbstverantwortung, fördert der Dirigent das Potenzial des Einzelnen, sei er alt und erfahren oder jung und lernbegierig, um es im Kollektiv fruchtbar werden zu lassen – ein Beispiel für gelungene Menschenführung in einem hochspezialisierten Umfeld. Und ungefähr das Gegenteil dessen, was man sich landläufig unter dem Wirken eines Dirigenten vorstellt. Denn gerade nicht um Selbstverwirklichung auf einen Schlag geht es hier; im Vordergrund steht vielmehr die Erfahrung, dass gerade dort, wo Raum gelassen wird, das Besondere entsteht.«

[Ref 7]

Das Wesen der engagierten Gelassenheit wird in dieser Konzertkritik wunderbar beschrieben als ein zielstrebiges und leidenschaftliches Wirken, das gleichzeitig bezüglich der Wege und des Vorgehens maximale Offenheit und Freiheit zulässt und sich mit den eigenen fixen Vorstellungen zurücknimmt. Engagierte Gelassenheit zeigt sich dort, wo wir die existierende Differenz und Verschiedenheit, Vielfalt und Komplexität des Lebens und der Welt in unsere Aktionen integrieren. Menschen, für die alles klar und eindeutig, weiß oder schwarz, gut oder böse ist und sein muss und die immer alles im Griff haben und für alles klare Konzepte erstellen wollen, können engagierte Gelassenheit nie erfahren. Engagierte Gelassenheit ist fokussierte Hingabe bei gleichzeitiger Offenheit. Ein gut befreundeter Maler geht auf Grund seiner spirituellen Praxis immer mehr mit einer inneren Haltung an seine Werke und weiß am Anfang meistens nicht, was im Prozess des Malens entstehen wird. Mit innerem Feuer und voller Präsenz lässt er sich führen. Der Akt des Malens wandelt sich bei ihm immer mehr vom Machen zum Geschehen-Lassen und Empfangen. Gelassenes Engagement besitzt ein klares Anliegen, eine hohe Bereitschaft zur Hingabe, ist angetrieben von einem starken Feuer und strebt nach einem bestimmten Ziel. Und gleichzeitig verzichtet das gelassene Engagement auf einen starren Zeitrahmen, eine allzu enge Form und einen einzigen möglichen Weg, um die angestrebte Veränderung zu bewirken.

Wir können und müssen nicht immer alles verstehen. Und auch nicht sofort. Engagierte Gelassenheit bedeutet, mit den Widersprüchen und offenen Fragen, dem Paradoxen und Geheimnisvollen in uns, in der Welt und bezüglich der transzendenten Wirklichkeit konstruktiv umzugehen. Oder wie Rilke es formulierte: die Fragen leben und in die Antworten hinein wachsen.

Engagierte Gelassenheit im Sinn eines klaren Ziels und Auftrags bei gleichzeitiger Offenheit bezüglich der Wege und Mittel können wir nicht zuletzt vom Schöpfer allen Lebens lernen. Einerseits hat er gemäß der Bibel die Welt und den Menschen mit Herzblut und Leidenschaft geschaffen und dieses Werk auch mit einem klaren Ziel und Auftrag verbunden: Der Mensch soll darin das Leben schützen und fördern, Verantwortung tragen sowie dem Frieden und der Gerechtigkeit dienen. Gleichzeitig hat der Kreator dem Menschen völlige Freiheit geschenkt, ob und wie er dieses Ziel erreichen will. Dass diese Entlassung in die Freiheit einen sehr hohen Preis hatte und im Lauf der Geschichte unendlich häufig missbraucht wurde, wissen wir zur Genüge. Trotzdem ist es genau diese Haltung, die Eltern, Pädagogen und letztlich alle Menschen entwickeln müssen, wenn sie Verantwortung für andere tragen wollen und müssen und dabei nicht vor Sorgen gelähmt werden wollen. Das Wirken mit engagierter Gelassenheit schenkt anderen ein Maximum an Vertrauen und Freiheit.

Sinnvolle Nähe und nötige Distanz

Das müssen wir auch lernen, liebe Schwester,
andere ihr Kreuz tragen zu sehen
und es ihnen nicht abnehmen zu können.
Es ist schwerer als das eigene zu tragen,
aber wir kommen auch daran nicht vorbei.

Sr. Edith Stein (Philosophin, KZ-Opfer, 1891 – 1942)

Das alles betrifft mich
und betrifft mich doch nicht.

Etty Hillesum (KZ-Opfer, Tagebuch-Autorin, 1914 – 1943)

Ein Engagement kann absolut entgleisen und pervertiert werden, wenn es zur Distanzierung unfähig wird und dem Fundamentalismus oder Dogmatismus, Fanatismus oder Totalitarismus verfällt. Die innere Haltung der Gelassenheit muss sich mit dem Engagement so verbinden, dass wir in unserem Engagement stets fähig bleiben zur Distanz gegenüber uns selbst, unseren Denkmustern sowie gegenüber den möglichen Wegen und Mitteln, mit denen wir unsere Ziele erreichen wollen.

Echtes Engagement zeigt sich einerseits in der Fähigkeit zur Compassion, zum tiefen Mitgefühl und Mitleiden mit anderen Menschen und der Umwelt. Andererseits wissen wir heute nur allzu gut um die Gefahr, fremdes Leiden zum eigenen werden zu lassen. Darum ist es in manchen Situationen sinnvoller, von »Leiden mittragen« als von »mitleiden« zu sprechen. Die Spannung und das rechte Maß zwischen leidenschaftlicher Empathie und gelassenem Bei-sich-Bleiben fordern uns auf der partnerschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen sowie religiösen Ebene permanent heraus.

Die Spannung zwischen Nähe und Distanz, Empathie und Bei-sich-Bleiben erleben nicht alle Menschen gleich und entwickeln deshalb auch unterschiedliche Strategien, um in ihrer engagierter Gelassenheit mit diesem Dilemma möglichst konstruktiv umzugehen:

»Ich erlebe es als schwierig, mich mit engagierter Gelassenheit auf jemanden oder etwas einzulassen. Dabei ist mir der Leitspruch ›Es kommt auf mich an, hängt aber nicht allein von mir ab‹ hilfreich, obschon er mir im konkreten Einzelfall die Entscheidung über das gute Maß von Nähe und Distanz, Empathie und Abgrenzung natürlich nicht abnimmt.« (Mann, 62 Jahre)

»Hilfreich für die Gratwanderung von Nähe und Distanz ist mein gleichzeitiges Stehen in mehreren Lebenswelten. Distanz gelingt mir, indem ich nicht vergesse, dass es noch andere Lebenswelten gibt, mit anderen Menschen, anderen Themen, anderen Erfahrungen und indem ich immer mal wieder in das jeweils ›andere Leben‹ hinüber wechsle, somit den Blick nicht verenge, mich vom einen auch mal ab- und dem anderen zuwende.« (Frau, 49 Jahre)

»Ich glaube, dass mir diese Balance gerade hier in China immer besser gelingt. Hier sind Distanz und Abgrenzung besonders nötig, weil man leicht aufgefressen werden kann von den zahllosen Einsatzmöglichkeiten. Distanz-Nehmen ist hier ein notwendiger Selbstschutz.« (Mann, 52 Jahre)

»Das rechte Maß von Nähe und Distanz gelingt mir, wenn ich zentriert den Tag mit Meditation beginne. Wenn ich im Einklang bin mit mir selbst, dann bin ich einerseits empathisch und andererseits so sehr im Selbstkontakt, dass ich mich auch nicht unbegrenzt verausgabe. « (Frau, 39 Jahre)

Wie viel Nähe ist professionell?

Je nach Beruf ist das richtige Maß von physischer und emotionaler Nähe und Distanz sehr unterschiedlich. Je größer die physische Nähe und das Machtgefälle zu Klientinnen und Klienten sind, umso mehr innere Klarheit und emotionale Distanz sind erforderlich. Berufliche Distanz zum Gegenüber, zum Sachverhalt oder Objekt fällt einem Historiker, einer Ethnologin, einem Paläontologen, einer Astrophysikerin oder einem Systemtheoretiker wohl leichter als einem Richter beim Kriegsverbrecher-Tribunal, einer Notärztin oder einem Feuerwehrmann am Unfallort, einem Fußball-Schiedsrichter im WM-Finale oder einer Psychotherapeutin, die mit Sexualstraftätern arbeitet, einem Maler oder einer Komponistin. Speziell in drei Situationen fällt das optimale Maß von Nähe und Distanz schwer: bei großer eigener Betroffenheit, bei starker Empathie für oder bei außerordentlicher Abneigung gegen eine Person, mit der wir verhandeln, über die wir schreiben oder die wir unterrichten, beraten, heilen oder therapieren sollten. Weil sich die Frage nach sensibler Empathie und objektiver Distanznahme speziell im Journalismus stellt, habe ich einige KollegInnen zu dieser Spannung befragt. [Ref 8]

Die Radio-Korrespondentin Iren Meier berichtete während des Balkankriegs in den 90-er Jahren fast täglich über den Genozid. Seit sieben Jahren berichtet sie aus dem Nahen Osten. Über die Gratwanderung eines gelassen-engagierten Journalismus schreibt sie:

»Im Konflikt gibt es immer die Fronten. Als Journalistin bewegt man sich dazwischen, geht von einer zur anderen – mit der Frage im Hinterkopf: Wer hat Recht? Wer ist glaubwürdiger? Und da sind die ethischen Regeln des Berufes: sich nicht gemein machen mit einer Sache, mit einer Seite. Distanz wahren, drei Schritte zurück. Nicht Partei nehmen. Ausgerechnet in einem Konflikt oder Krieg, wo es einen hineinzieht mit allen Sinnen, wo die überwältigende Wirklichkeit kaum Raum und Ruhe lässt für klares Abwägen und konzentrierte Reflexion. Es ist eine Illusion zu glauben, der Journalist könne mitten im Krieg der kühle, abgeklärte Beobachter bleiben. Wenn die zivile Ordnung des Lebens zusammenbricht, wenn sich die Abgründe des menschlichen Seins und Tuns öffnen, dann berührt und erschüttert das jeden und jede von uns, ungeachtet seiner oder ihrer äußeren Gefasstheit. Jeder einzelne ist in einer solchen Grenzsituation gefordert in seinem Beruf, seiner Professionalität, in seiner Persönlichkeit, in seinem Menschsein. Wir können den Ernstfall Krieg als Journalisten nicht üben, sondern werden hineingeworfen in eine Situation, die uns zu verschlingen droht. In der wir uns Schritt für Schritt orientieren und langsam vorantasten müssen. Es ist immer eine Überforderung. Wir sind ihr nicht gewachsen. Tun aber oft so.«

Viele JournalistInnen erleben die Spannung zwischen Empathie und Distanz auch in der friedvollen Schweiz und betonen darum die Notwendigkeit der engagierten Gelassenheit:

»Die Schwierigkeit zur objektiven Distanz erlebe ich bei besonderer innerer Empörung, etwa wenn ich auf Grund einer Recherche herausfinde, dass ein Politiker sich als Wendehals benimmt, unlautere Absichten hat und ich dies möglichst objektiv schildern muss. Kann man das Thema zugleich kommentieren, hilft das, einen möglichst objektiven Text dazuzustellen.« (Mann, 38 Jahre)

»Schwierig ist das Schreiben, wenn ich über Menschen berichte, die eigentlich besonders distanziert bis kritisch beleuchtet werden sollten und ich persönlich tief betroffen bin von der Begegnung. Wenn mir etwa ein junger Mörder von seinem Leben erzählt.« (Frau, 38 Jahre) »Der journalistische Grundsatz, alle Beteiligten eines Konfliktes mit ihren besten Argumenten abzubilden hat mir immer wieder geholfen, einen Schritt zurück zu tun und die Sache aus etwas mehr Distanz anzusehen. Zudem erlebte ich in den letzten 30 Jahren das Eingebundensein in ein kritisches Redaktionsteam als sehr hilfreich. « (Mann, 65 Jahre)

»Eine Schwierigkeit in der journalistischen Arbeit ist die, dass meine Gesprächspartner mein Einfühlungsvermögen und meine Anteilnahme gerne mit Freundschaft verwechseln. Nach den Interviews muss ich ihnen oft klarmachen, dass ich nicht ihr Freund bin, sondern Journalist.« (Mann, 42 Jahre)

»Ich stelle mir beim Schreiben jeweils den unbefangenen Leser vor, der noch nichts vom Fall gehört hat – und nicht von einem von Beginn an empörten Journalisten ins Thema eingeführt werden will. Hilfreich ist zudem das Gegenlesen durch unbefangene Kollegen.« (Mann, 38 Jahre)

»Nach vielen Jahren Berufserfahrung gelingt es mir heute, in Gesprächen auch bei harten Schicksalen nur das für den Leser Interessante herauszuholen. Früher saß ich stundenlang da, hörte geduldig endlose Geschichten an und wurde irgendwann ungeduldig und sauer auf mich selbst.« (Frau, 38 Jahre)

»Ich versuche, möglichst jede Geschichte so zu erzählen, dass sie auch jemand versteht, der sich noch nie mit dem Thema beschäftigt hat und über keine einschlägige Bildung verfügt. Das schafft beim Schreiben eine gewisse Distanz.« (Mann, 57 Jahre)

Dass Distanz im Beruf nicht automatisch Professionalität bedeutet und dass Nähe nicht automatisch Unprofessionalität ausdrückt, zeigt sich nicht nur im Journalismus und in der Kunst, am Krankenbett und in der Sozialarbeit. Ein eindrückliches Beispiel las ich im Schweizer Straßenmagazin Surprise. Angela Montanile, die Chefin der Züricher Sittenpolizei, erzählte dort in einem Interview:

»Klar lernt man bei der Polizei die Distanz zu wahren, aber wir sind auch nur Menschen. Was wir bei der Arbeit erleben, tragen wir mit uns. Das ist wie eine Festplatte, die immer voller wird. Beim Verarbeiten helfen Gespräche mit Arbeitskollegen, die interne Supervision und auch die Familie daheim oder Sport.«

[Ref 9]

Kranke Nähe, gesunde Distanz

Seit mehreren Jahren steckt vor allem die katholische Kirche in einer tiefen Krise, weil in pädagogischen Institutionen und Pfarreien seit den 50-er Jahren massivste sexuelle und gewaltsame Übergriffe und Missbräuche durch Priester und Ordensleute verübt und von den Kirchenleitungen gedeckt und vertuscht wurden. Es waren vor allem zölibatär lebende Männer, die in großer emotionaler Nähe mit Kindern und Jugendlichen lebten, die Abhängigkeit und Machtdifferenz ausnützten und die Generationenschranke, die Würde und das Selbstbestimmungsrecht der schutzbefohlenen Minderjährigen ignorierten und verletzten. Gerade solche Extrembeispiele zeigen auf, dass engagierte Gelassenheit nicht nur eine tugendhafte Ergänzung für ein paar besonders Erleuchtete ist, sondern gerade in Bezug auf die stimmige Nähe und Distanz eine notwendige Voraussetzung für alle professionellen Beziehungen darstellt.

Der Missbrauch von Nähe hat gerade in sozialen und kirchlichen Berufen sowie in der Krankenpflege zu einer extremen Vorsicht im Kontakt mit anvertrauten Menschen geführt. Studierende in der Ausbildung für soziale Berufe und sogar für die Sterbebegleitung werden auf eine professionelle Distanz hin getrimmt, die einen normalen menschlichen Kontakt zu den Klienten und Patientinnen – oft bewusst ›Fälle‹ genannt – beinahe verunmöglichen.


Sich abgrenzen und Verantwortung abgeben

In der Pädagogik, in der Sozialarbeit und im Gesundheitsbereich ist die engagiert-gelassene Distanz nicht nur wegen der Gefahr von Übergriffen besonders wichtig, sondern auch weil die anvertrauten und schutzbefohlenen Schüler, Patientinnen und Klienten in der Beratung gern ihre Selbstverantwortung und Entscheidungen an die Fachleute und Spezialistinnen delegieren. Andererseits müssen Ärztinnen und Ärzte auch mit engagierter Gelassenheit akzeptieren können, dass beispielsweise Krebskranke auf Chemo-Therapien und Bestrahlungen verzichten wollen und dadurch am eigenen Chirurgen-Ego kratzen. Und Lehrpersonen müssen akzeptieren, wenn ihre Muster- und Lieblingsschüler nicht aufs Gymnasium wollen, kein Studium ergreifen möchten oder gar die Ausbildung abbrechen.

Am schwierigsten fällt die engagiert-gelassene Distanz wohl Eltern in Bezug auf ihre eigenen Kinder. Eine Bekannte schrieb mir vor zwei Jahren in einem Brief:

»Lieber Luk, privat hat sich einiges getan: B., unsere 17-jährige Tochter, will ihre Berufsausbildung hinschmeißen. Natürlich hat sie – und wir natürlich auch – große Ängste, wie es weitergehen soll. Ich versuche mich aber mehr und mehr abzugrenzen. Ich muss lernen, dass ich ihr die Verantwortung ganz übergebe und mir keine Sorgen mache, wenn sie diese nicht wahrnimmt. Es ist ihr Leben, es sind ihre Entscheidungen und sie muss die Konsequenzen letztlich selbst tragen.«

Besonders schwer fallen uns Distanz und Abgrenzung, wenn sich unsere Liebsten und Nächsten sukzessive zu Grunde richten, wenn etwa der Partner zur Flasche, die Partnerin zu Tabletten oder das eigene Kind zu Drogen greifen. Eine Frau erzählte mir letzthin, dass sie es extrem bereue, ihren arbeitslosen, alkohol- und drogensüchtigen Bruder jahrelang finanziell unterstützt zu haben, weil sie ihm dadurch die Selbstverantwortung raubte und in ihrem Helfer-Syndrom eine positive Veränderung höchstwahrscheinlich um Jahre verzögerte. Viele Angehörige und Freunde werden durch fehlende Distanz zu Suchtpatienten zu sogenannten Co-Abhängigen.

Engagierte Gelassenheit zeigt sich speziell dort und dann, wo wir unsere Energie nicht zu sehr auf die Probleme anderer fokussieren, sondern Mut zu Grenzziehungen und sowohl die eigene Verantwortung als auch die Selbstverantwortung des Gegenübers respektieren und fördern. Engagierte Gelassenheit wird da spürbar, wo wir lernen zu lieben, zu sorgen und verbunden zu sein, ohne uns lähmen zu lassen und ohnmächtig zu werden.

Da heute viele Menschen ein hohes Alter erreichen, pflegebedürftig werden und nicht mehr wie früher ein Dutzend Kinder haben, fragen sich immer mehr 40- bis 60-Jährige, wie weit sie etwa als Einzelkind mit Beruf und Familie für ihre Eltern konkret Verantwortung tragen können und dürfen, wollen und müssen: wirtschaftlich, rechtlich, moralisch und vom Gewissen her.


Partnerschaft – Erotik – Mystik

Die intensivste und herausforderndste Form von Nähe erleben wir in der Liebe und Beziehung zur Partnerin oder zum Partner. Wir wollen unsere Liebsten selbstverständlich zu den glücklichsten Menschen auf Erden machen, aber dürfen und können ihnen die Verantwortung für ihre eigene Zufriedenheit dennoch nicht ab- und übernehmen. Wenn ich jeweils Paare auf ihre Hochzeit oder Paarsegnung vorbereite, kommt immer auch die stimmige Nähe und Distanz in der Beziehung zur Sprache. Ich ermutige die Paare jeweils, dass sie die Bereitschaft zu stimmiger Nähe und das Bedürfnis nach nötigen Grenzen im Ehe-Versprechen explizit formulieren.

Der Schlüssel zum rechten Maß von Nähe und Distanz liegt in der altbacken klingenden »Hingabe«. Neulateinisch klingt »devotion« oder »dedication« zweifellos attraktiver. Auch wenn wir heute nicht mehr eine Hingabe leben wollen und können wie mittelalterliche Ordensfrauen oder preußische Soldaten, die blinden Gehorsam gelobten, kann unser inneres Feuer nie wirklich lichterloh brennen, wenn wir uns nicht Menschen und Projekten, Idealen und Gemeinschaften voll und ganz hingeben können. In der Hingabe geschehen zwei Dinge gleichzeitig: das Loslassen der Angst um unser kleines Ego und das Einswerden mit anderen. Das englische Wort »dedication« bedeutet Hingabe und Widmung. Wenn ich mich mit meiner Zeit und meinen Gedanken, meiner Energie und meiner Liebe, meiner Aufmerksamkeit und allen anderen Ressourcen ganz einer Person oder Sache widme und hingebe, kann ich mich nicht gleichzeitig beunruhigen lassen von zahllosen Wenn und Aber, Fragen und Zweifeln, Ängsten und Sorgen, Fixierungen und Erwartungen.

Vor allem zwei Formen der Hingabe bilden die Krönung engagierter Gelassenheit: die Mystik und die Erotik. Ziel des mystischen Weges ist die restlose Verschmelzung und Einung mit Gott. Bei Bruder Klaus kommt dies in der berühmten Bitte zum Ausdruck: »Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.« Die Mystikerin Teresa von Ávila vergleicht die Vereinigung mit Gott ähnlich wie das biblische Hohelied der Liebe mit dem Geschlechtsakt zwischen Braut und Bräutigam.

Gelungene Sexualität setzt wie die Mystik die Gabe zur grenzenlosen Hingabe voraus. Dass mehr als die Hälfte der Paare Sexualität als einen belastenden Faktor in der Beziehung empfinden, hat weitgehend mit der Schwierigkeit zu tun, die Kontrolle über sich ganz aufzugeben und sich der anderen Person schutz- und bedingungslos hinzugeben. Wer sich und seine Umgebung ständig im Griff haben muss, kann weder eine erfüllte Sexualität noch ein Einswerden mit Gott erfahren.

  • ■ Wann und wo empfinde ich die Gratwanderung zwischen leidenschaftlichem Engagement und nüchterner Distanz im Beruf, im gesellschaftlichen Engagement, in Partnerschaft und Familie, im Freundeskreis, in der Freizeit sowie bezüglich Politik, Wirtschaft, Kultur etc. besonders schwierig? [Ref 11]
  • ■ Mit welchen Hilfen gelingt mir diese Gratwanderung?
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Scheitern gestattet!

Ich glaube an das Paradoxon
des Erfolges durch Scheitern.

Elbert Hubbard (US-Politiker, 1849 – 1912)


Bewahre mich vor dem naiven Glauben,
es müsste im Leben alles glatt gehen.
Schenke mir die nüchterne Erkenntnis,
dass Schwierigkeiten und Niederlagen,
Misserfolge und Rückschläge
eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind,
durch die wir wachsen und reifen.

Antoine de Saint-Exupéry (Flugpionier, 1900 – 1944)


Ich bin immer wieder gescheitert –
das ist der Grund, warum ich erfolgreich bin.

Steve Jobs (Gründer und CEO von Apple, *1955)

Engagierte Gelassenheit äußert sich speziell im Umgang mit Kritik und Widerstand, Rückschlägen und – tatsächlichen oder vermeintlichen – Misserfolgen. Wenn wir die Bilanz unserer getroffenen und nichtgetroffenen Entscheidungen ziehen und unsere Lebensphasen aus der Retrospektive bewerten, stellen wir neben Erfolgen vermutlich auch einige Fehler und Irrtümer fest. Der gelassen Engagierte lebt und wirkt in der Welt von Vornherein mit dem Bewusstsein, dass das Leben aus Versuch und Irrtum besteht und dass man auch – oder gerade – aus Fehlern und Misserfolgen lernt. Dass wir meinen, man müsse fehlerfrei durchs Leben tanzen, ist vermutlich unser größter Fehler.

Unsere von der Wirtschaft geprägte Gesellschaft ist weitgehend eindimensional leistungs- und erfolgsorientiert. Wenn wir uns auf eine Arbeitsstelle bewerben, sollte unser CV eine lückenlose Erfolgsstory bilden. Die meisten Firmen streben noch immer nach »Business Excellence«, »High Performance« und »Benchmarking« und versuchen durch ISO-Zertifizierungen und Qualitäts-Management Fehlerquoten immer gegen Null zu senken.

Doch nicht nur die Wirtschaft hat Mühe mit dem Scheitern. Die gegenwärtige Krise der Katholischen Kirche, die bei bestimmten Aussagen sogar den Anspruch auf Unfehlbarkeit besitzt, entstand vor allem darum, weil weltweit Bischöfe während Jahrzehnten versuchten, die Verbrechen ihrer Mitarbeiter zu vertuschen und nach außen ein makelloses Bild der Kirche zu präsentieren.

Wenn Astrologinnen am Ende eines Jahres, Politologen nach Wahlen und Abstimmungen, Sekten nach dem nichterfolgten Weltuntergang, Börsen-Analysten nach einem Crash oder Wetter-Moderatoren nach einem regnerischen Tag mit ihren falschen Prognosen konfrontiert werden, finden sie meistens Argumente, warum sie irgendwie doch richtig lagen. Und Tennisspieler, Skirennfahrer und Fußballtrainer versuchen sich meistens zu rechtfertigen, wenn sie nicht gewonnen haben. Das Gefühl, im Recht zu sein und zu gewinnen, tut uns Menschen einfach gut. So gut, dass wir Scheitern um jeden Preis zu vermeiden und schönzureden versuchen.

Dem permanenten und allgegenwärtigen Erfolgszwang sind wir aber nicht hilflos ausgeliefert. Es gibt zunehmend Bereiche, wo eine Fehlerkultur oder Fehlertoleranz bewusst zugelassen und gefördert wird. In der Ausbildung von Piloten sind Bruchlandungen im Flugsimulator ausdrücklich erwünscht. Und in Grundschulen entwickeln Lehrpersonen zunehmend eine Kultur, welche die Schülerinnen und Schüler wegen Patzern nicht abwertet oder bloßstellt. Sport, der unter dem wirtschaftlichen Druck die spielerische Dimension leider immer mehr verliert, wäre an sich das geeignete Übungsfeld, um eine persönliche und kollektive Fehler- oder Verlierer-Kultur einzuüben. Auch fiese Spiele wie Mensch ärgere dich nicht oder Kuhhandel eignen sich bestens für das Training in engagierter Gelassenheit. Die sozialpädagogischen Spiele, bei denen es nur Gewinner gibt, sind nett gemeint, rauben uns aber die Chance, Misserfolge und dadurch engagierte Gelassenheit einzuüben. Ein geeignetes Übungsfeld für die engagierte Gelassenheit ist auch der Handel mit Aktien an der Börse – eine ständige Wellenbewegung von Erfolgen und Verlusten, die uns früher oder später dazu zwingt, entweder langfristig zu denken und uns nicht abhängig zu machen von Tageskursen oder die Finger von diesem Spiel zu lassen.

Bei Vorträgen und Kursen zum Thema Entscheidungsfindung werde ich oft gefragt, wie man mit falschen Entscheidungen im Leben umgehen soll. Die meisten denken dabei an den Bruch früherer Paarbeziehungen. Trennungen bedeuten aber nicht zwingend ein Scheitern der Beziehungen, sondern können sogar notwendig sein für das weitere Wachstum der beiden Partner und zum Ermöglichen von neuen, wesentlicheren, erfüllenderen und ehrlicheren Beziehungen.

Wir scheitern nicht wirklich dann, wenn eigene Pläne und Wünsche oder gesellschaftliche Ideale und Erwartungen nicht voll und ganz erfüllt werden, sondern nur, wenn wir unserer inneren Stimme, unserem Gewissen und unserem Herz nicht Gehör und Gehorsam schenken. Wenn wir am Ende unseres Lebens Bilanz ziehen werden, sind vermutlich nicht unsere Irrtümer und unerfüllten Erwartungen entscheidend für ein gelungenes oder gescheitertes Leben, sondern ob wir uns selbst treu gewesen sind. Martin Buber beschreibt dies in einer chassidischen Geschichte in der Rabbi Sussja kurz vor seinem Tod von Anhängern und Freunden gefragt wurde, ob er denn gar keine Angst hätte. Rabbi Sussja meinte ja, wenn er an all die Großen und Bedeutenden dächte, an Mose und Abraham und Jeremia, den Propheten, aber er wäre sicher, dass er in der kommenden Welt nicht gefragt würde:

»›Warum bist du nicht Mose gewesen?‹ Man wird mich fragen: ›Warum bist du nicht Sussja gewesen?‹«

Der Meister im Umgang mit dem – vermeintlichen – Scheitern ist der 33-jährige Nazarener am Kreuz. Auf den ersten Blick ist dieser Tod Ausdruck des totalen Scheiterns. Auf den zweiten Blick aber ist es das Bild des Siegers, der die Spirale der Gewalt gebrochen und die Kraft der Liebe über die Macht des Todes stellte. Leider wird in den grässlichen Kruzifixen in Schulzimmern und Amtsstuben nur Jesu Leiden für unsere Sünden glorifiziert und kaum je der Sieg über das Paradigma von Gewalt und Gegengewalt vermittelt. Engagierte Gelassenheit bedeutet im biblischen Sinn nicht die durch die US-Verfassung angestrebte Happyness, sondern Seligkeit, welche Leiden und Scheitern als unvermeidbare Zutaten des Lebens integriert. In den Seligpreisungen (in der Bergpredigt im 5. Kapitel des Matthäus-Evangeliums) wird auch und gerade all jenen Menschen ein erfülltes, sinnvolles und gelingendes Leben verheißen, die arm sind und trauern, unter Gewalt und Ungerechtigkeit leiden oder wegen ihres Glaubens, ihrer Werte und Überzeugungen diskriminiert werden.

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  • ■ Wann habe ich ein Scheitern oder Versagen so erlebt, dass ich bis heute darin keinen positiven Sinn oder keine Lernchance entdecken kann?
  • ■ Wann und wo bin ich gewachsen und gereift durch sogenanntes Scheitern oder Versagen?
  • ■ Woran liegt es, dass ich in manchen Fällen im vermeintlichen Scheitern etwas lerne und profitiere und im anderen Fall nicht?

Heiterkeit, Humor und heiliger Zorn

Gott schütze mich vor Katastrophen
und Menschen, die nicht lachen können. [Ref 12]

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)


[Der weise, reife Mensch]
lebt sein Leben mit einer Grundstimmung
der gelassenen Heiterkeit.
Diese Heiterkeit ist höchste Erkenntnis und Liebe,
ist Bejahen aller Wirklichkeit,
Wachsein am Rand aller Tiefen und Abgründe.

Hermann Hesse (Schriftsteller, 1877 – 1962)


Humor ist der Knopf,
der verhindert, dass der Kragen platzt.

Joachim Ringelnatz (Kabarettist und Autor, 1883 – 1934)

Weder engagierte Gelassenheit als Wirken mit Herzblut und mit der Fähigkeit zur inneren Distanz noch Gelassenheit als Haltung der Seelenruhe huldigen einer emotionalen Immunisierung. Zorn und Ärger sind in manchen Situationen mehr als berechtigt – vor allem, wenn bestimmte Leiden, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen wie etwa die Todesstrafe, Umweltschäden, Wal- und Robbenjagd, Kindsmissbrauch und Börsencrash durchaus vermeidbar wären. Ärger und Wut sind positive Emotionen oder zumindest neutrale Energien und können sozial konstruktiv kanalisiert werden. Die Psychotherapeutin und Psychologieprofessorin Verena Kast hat dem Sinn und Lob des Ärgers ein ganzes Buch gewidmet. Zorn, Ärger und Wut dienen nicht selten als Motoren für ein kreatives Wirken, nicht weniger als Verliebtheit und Anziehung, Sehnsucht und Begeisterung:

»Meine Erfahrung ist, dass gute Artikel oft dann entstehen, wenn ich mich über einen Sachverhalt aufrege. Es liegt dann an der Professionalität, darob nicht blind oder blindwütig zu werden.«

(Journalist, 49 Jahre)

Der Wut und dem Zorn sind wir nicht hilflos ausgeliefert, sondern können diese Energie steuern. Der Friedenstrainer Ron Halbright schrieb mir auf die Frage nach dem Umgang mit dem Ärger:

»In meinen Kursen zum Thema Umgang mit Konflikten empfehle ich manchmal, wütend zu werden, bevor man wirklich wütend ist. Damit meine ich: Wenn ich dazu tendiere, mich zu beherrschen und die andere Person eine emotionale Reaktion verlangt, wird diese weiter provozieren, bis ich Emotionen zeige. Darum ist es gesünder, bereits im frühen Stadium eines Konflikts Ärger zuzulassen, als ihn später nicht mehr beherrschen zu können.«

Wut, Ärger und Zorn können und dürfen im Zusammenleben der Menschen vorkommen. Dass wir manchmal gar von einem »heiligen Zorn« sprechen, hängt mit der hohen Emotionalität des engagiert-gelassenen Nazareners zusammen. Jesus reagierte häufig erregt. Einmal warf er aus Wut über die Händler sogar Marktstände im Tempel um. Das Unterdrücken von Emotionen ist vor allem dann fehl am Platz, wenn Freiheit und Integrität von uns oder anderen Menschen verletzt werden.

Engagierte Gelassenheit zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen auch mitten in heftigen Debatten, im Streit oder in Momenten der Trauer eine Portion Heiterkeit bewahren. Ich meine damit nicht den »Galgenhumor« oder den »schwarzen Humor«, sondern den »leichten« Humor, der die menschliche Unzulänglichkeit als sympathischen Charakterzug auszudrücken versteht. Wenn ich Beerdigungen halte, spiele ich selbstverständlich nicht den Clown. Aber ich halte es nicht für pietätlos, wenn man auch auf einer Beerdigung schmunzeln oder lachen darf, wenn Macken oder Ticks des Verstorbenen angesprochen werden.

Humor als Ausdruck engagierter Gelassenheit schätze ich vor allem bei Polit-Kabarettisten, die für eine bestimmte politische oder soziale Sache mit Herzblut und gleichzeitiger Heiterkeit und Leichtigkeit kämpfen. Den meisten Politikern fehlt der Humor, weil sie sich gern für die Retter und den Nabel der Welt halten. Und weil eine der Hauptaufgaben von Politikern darin besteht, eine möglichst hohe Medienpräsenz mit Blick auf die nächsten Wahlen zu erreichen, produzieren sie gern mit Hilfe der Medien aus Banalitäten vermeintliche Skandale. Selbst nüchterne Tageszeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Neue Zürcher Zeitung verwenden die Ausdrücke »Krise« und »Skandal« für Vorgänge, die bereits wenige Tage später in Vergessenheit geraten sind. Das alte Sprichwort von der Suppe, die sehr viel weniger heiß gegessen wird als sie gekocht wurde, bewahrheitet sich zum Glück immer wieder.

Humor ist die Fähigkeit, der Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen mit engagierter Gelassenheit zu begegnen. Humor ist eine liebevolle Geisteshaltung und Weltanschauung, der besondere Blick auf die eigenen und fremden Grenzen, auf Scham und Schwächen, Misserfolge und Absurditäten, Widersprüche und Unvollkommenheiten. Menschen mit Humor nehmen sich und ihr Engagement wichtig und gleichzeitig nicht todernst.

Humor ist auch oft ein lebendiger Beweis dafür, dass wir mit fast jeder Situation so oder so umgehen können und dass Freud und Leid, Zufriedenheit oder Frustration im Leben weitgehend eine Frage unserer inneren Einstellung sind. Ein heiteres Beispiel möge diesen Gedanken veranschaulichen: Seit bald 20 Jahren erteile ich Kurse im Lassalle-Haus im Herzen der Schweiz. Meistens findet parallel ein Kurs in Zen-Meditation statt, wo jeweils 20 bis 50 Personen in schwarzen Kleidern schweigend über die Gänge huschen, kein Wort sprechen und auch niemanden grüßen. Manchmal löst dies bei meinen Kursteilnehmern Unverständnis und Widerstände bis hin zu aggressiven Gefühlen aus. Und ich muss dann jeweils an Toleranz gegenüber der spirituellen Vielfalt appellieren. Als während eines Kurses die schweigenden und nicht grüßenden schwarzen Gestalten mal wieder zum Thema in der Gruppe wurden und sich einige Kursgäste richtig ereiferten, meinte eine Teilnehmerin mit einem schelmischen Schmunzeln in ihrem engelhaften Gesicht: »Ich hätte so richtig Lust, mal einen Meditierenden von hinten zu erschrecken. « Worauf ein heiteres Lachen durch die Runde ging und das Thema erledigt war.

Bereits weiter oben war die Rede davon, dass Humor nicht nur individuell unterschiedlich verteilt ist, sondern auch in gewissen Kulturen und Ländern ausgeprägter oder spärlicher vorhanden ist. Paul Watzlawick stellte den bekannten Vergleich zwischen Österreichern und Preußen an: »Der Preusse sagt: Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Und der Österreicher sagt: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.« Dass die Schweizer eher zu den humorlosen Erdenbürgern zählen, mag mit der Kleinheit des Landes zusammenhängen. Speziell auf Kritik aus dem großen Kanton Deutschland reagieren Schweizer jeweils wie die Prinzessin auf der Erbse. Als die Schweizer Banken weltweit für das Beschützen von Steuerhinterziehern gerügt wurden und das Land auf eine Schwarze Liste von zweifelhaften Steueroasen gelangte, provozierte der damalige deutsche Finanzminister die Schweiz gleich zweimal. Im März 2009 wollte er nicht preisgeben, ob die Schweiz tatsächlich auf der Schwarzen Liste der OECD stand und meinte: »Man muss die Kavallerie nicht immer ausreiten lassen. Die Indianer müssen nur wissen, dass es die Kavallerie gibt.« Und Anfang Mai doppelte er nach: »Selbstverständlich werde ich die betroffenen Länder zur Konferenz in Berlin einladen – Luxemburg, Liechtenstein, Schweiz, Österreich und Ouagadougou.« Dass die harmoniebedürftigen Schweizer mit Indianern und das Heidi-Land mit der Hauptstadt von Burkina Faso verglichen wurden, führte beinahe zu einer Staatskrise. Der Schweizer Verteidigungsminister gab seinen deutschen Dienstwagen umgehend ab und fegte bei der geplanten Beschaffung von Kampfjets die Offerten aus Deutschland gleich vom Tisch.

Dass sich Ernst und Heiterkeit und somit auch Engagement und Gelassenheit nicht widersprechen, sondern gegenseitig voraussetzen und bedingen, ergänzen und ermöglichen, brachte Johann Wolfgang von Goethe kurz und treffend auf den Punkt:

Die Menschen begreifen gar nicht,
wie ernst man sein muss,
um heiter zu sein.

Umgekehrt gilt der Satz selbstverständlich auch ...

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  • ■ Wann gebe ich dem heiligen Zorn Raum und Ausdruck?
  • ■ Wie gelange ich zu mehr Heiterkeit?
  • ■ Wo möchte ich mich mit viel Ernst und Herzblut einlassen, aber gleichzeitig lockerer und mit mehr Heiterkeit ans Werk gehen?
  • ■ Was habe ich bezüglich »engagierter Gelassenheit« gelernt? Was ist mir wichtig geworden?
  • ■ Welches sind für mich noch offene Fragen und Themen?

Am Ende der Lektüre lade ich Sie ein, Ihren Standort in Bezug auf Gelassenheit und Engagement zu bestimmen.

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  • ■ Wo stehe ich bezüglich Gelassenheit und Engagement? Und in welche Richtung möchte ich mich entwickeln? (im Diagramm einzeichnen)
  • ■ Wie bewirke ich die gewünschten Veränderungen?

Gelassenheit (100%)

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