LEBEN IM HAMSTERRAD
Bei den meisten Menschen
ist die Ruhe nichts als Erstarrung
und die Bewegung nichts als Raserei.
Epikur (griechischer Philosoph, 341 – 270 v. Chr.) [Ref 1]
Die Unruh kommt von dir,
nichts ist, das dich bewegt,
du selbst bist das Rad,
das aus sich selbst läuft
und keine Ruhe hat.
Angelus Silesius (Mystiker, 1624 – 1677)
Der Gelassene nützt seine Chance
besser
als der Getriebene.
Thornton Wilder (Schriftsteller, 1897 – 1975)
»Die Leute«, sagte der kleine Prinz,
»drängeln in die Schnellzüge,
aber wissen gar nicht, wohin sie fahren wollen.
Und dann regen sie sich darüber auf
und drehen sich im Kreis.«
Antoine de Saint-Exupéry (Flugpionier, 1900 – 1944)
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch ( 1911 – 1991 ) zeichnete in seinem Roman Homo faber im Jahr 1957 mit dem Ingenieur Walter Faber einen Prototyp des modernen Machers. Faber stellte das Pflichtgefühl über die Liebe und ließ sich eher vom Verstand als von Gefühlen leiten. Und verfehlte letztlich sein Leben. Die Erfahrung des »Homo faber« ist uns nicht fremd. Wir sind Ruderer in modernen Galeeren und müssen die Erfolgszahlen in immer kürzeren Abständen liefern. Um die hohen Erwartungen von außen – und noch vielmehr jene von innen – halbwegs erfüllen zu können, geraten wir leicht in äußere und innere Unruhe, in Aktivismus und ein Getriebensein. Das Hamsterrad, in dem wir rotieren, ist in der Regel hausgemacht.
Das Leben im Hamsterrad hat trotz unzähliger Wok-life-Balance-Seminare noch immer Kultstatus in unserer Leistungsgesellschaft. Manche Menschen brauchen das Hamsterrad, um ihre Identität zu rechtfertigen. Sie fühlen sich wohl, wenn sie getrieben sind, von einem Termin zum nächsten hetzen, immer und überall gefragt sind. Sie können gar nicht still sitzen, sie brauchen die permanente Bewegung, den ultimativen Kick. Adrenalin-Junkies sind von der Bewunderung durch Leistung abhängig und scheuen ruhige Zeiten und Pausen wie der Teufel das Weihwasser.
Im Bekanntenkreis, im persönlichen Coaching und in Kursen begegnen mir immer mehr Männer – und zunehmend auch Frauen – mit Erschöpfungsdepressionen, auch Burnout genannt. Obwohl ich ein Ausbrennen persönlich nie erlebt habe und auch nie erleben möchte, betrachte ich dieses in den meisten Fällen als eine Chance – um nicht von einer Gnade zu sprechen – für die Betroffenen. Leider ist es heute so, dass immer mehr Getriebene mit einem Herzinfarkt, mit Gallensteinen, Magengeschwüren oder eben einem Burnout zu Time-Outs gezwungen werden, in denen sie endlich mal ehrlich auf ihr bisheriges Leben schauen, sich der Angst vor der Leere, der Einsamkeit und Sinnlosigkeit stellen und sich neu ausrichten auf ein Leben, das mehr Sinn ergibt und mehr ihrer inneren Bestimmung entspricht. Eine befreundete Seelsorgerin, die im Moment an einem Burnout leidet, schrieb mir vor einem Jahr im Fragebogen bezüglich Gelassenheit: »Ich bin eine Macherin, das heißt ich bin kreativ und möchte immer alles selbst bewirken oder tun, bin ständig am Planen oder Entwerfen und Umsetzen von Ideen. Dies widerspricht meiner Meinung nach ziemlich der Vorstellung des Gelassenseins – sprich Geschehen-Lassens. « Leider reagiert man auf solche Warnsignale meistens zu spät. [Ref 2]
Die Dynamik des Hamsterrades greift sogar im religiösen und spirituellen Bereich. Es ist wohl kein Zufall, dass es in Zen-Meditationskursen mehr Männer als Frauen gibt. Denn der Leistungscharakter beschränkt sich beim Testosterongesteuerten Mann nicht nur auf den Arbeitsplatz, sondern längst schon auf sein Joggen in der Freizeit und inzwischen auch auf seine spirituelle Betätigung. Der engagierte Trappistenmönch Thomas Merton formuliert dies treffend:
»Viele kommen nicht bis zur Kontemplation, weil sie an Tätigkeiten und Unternehmungen kleben, die sie für ganz wichtig halten. Blind geworden durch ihren Wunsch nach pausenloser Bewegung, nach dem ständigen Gefühl, etwas zu leisten, und voller Hunger nach Ergebnissen und sichtbarem und greifbarem Erfolg treiben sie sich in einen Zustand hinein, in dem sie nicht glauben können, Gott könnte an ihnen Gefallen finden, wenn sie nicht ständig mit einem Dutzend Aufgaben gleichzeitig beschäftigt sind. Hie und da hört man sie laut klagen und sich beschweren, dass sie keine Zeit mehr fürs Gebet haben, aber sie sind im Täuschen ihrer selbst derartige Experten geworden, dass sie gar nicht mehr merken, wie unaufrichtig ihr Jammern ist. Sie lassen es nicht bloß zu, dass sie immer noch mehr Arbeit bekommen, sondern sie sehen sich sogar selbst noch nach weiteren Aufgaben um. Wie viele haben wohl bereits die ersten Funken der Kontemplation erstickt, indem sie schon eine Menge Holz auf das Feuer gepackt haben, ehe es richtig zu brennen begonnen hat! Vom ersten Anreiz des inneren Gebets lassen sie sich derart erregen, dass sie unverzüglich ehrgeizige Projekte zur Belehrung und Bekehrung der ganzen Welt entwerfen, während doch Gott von ihnen nur will, dass sie still sind und im Frieden bleiben, damit er mit seinem geheimnisvollen Wirken in ihrer Seele anfangen kann. Aber wehe, jemand will ihnen erklären, dass in ihrem Eifer für Aktivitäten eine beträchtliche Unvollkommenheit stecken könnte und dass Gott diese gar nicht von ihnen wolle! Dann erklären sie ihn zum Ketzer.«
Es geht nicht darum, dass wir aus dem Hamsterrad aussteigen. In der Hängematte auf den Malediven können wir das Hamsterrad ferienhalber oder durch Frühpension leicht verlassen. Dieses Buch möchte vielmehr dazu beitragen, dass wir souveräner, selbstbestimmter und gelassener mit dem Hamsterrad umgehen können. Wir wollen nicht gegen das Rad ankämpfen, sondern darüber nachdenken, ob und wie wir innerhalb dieses Rades von der rasenden Peripherie mehr in Richtung des ruhenden Pols in der Radmitte gelangen können.
Nebenbei bemerkt: Das Bild des Hamsterrads tut dem Hamster Unrecht. Hamster wirken in ihren Rädern weder unruhig noch gestresst oder unglücklich. Sie rennen einfach in ihrem Rad, ganz nach der Devise der Mystikerin Teresa von Ávila: »Was du tust, das tue ganz.« Ein Vorbild für den Menschen im Hamsterrad könnte Sisyphus, der Held aus der griechischen Mythologie sein. Die Götter verlangten von ihm, einen Steinbrocken auf den Berg hinaufzurollen, von wo der Stein aber immer wieder herunterrollte. Sisyphus drohte anfangs zu verzweifeln. Aber irgendwann fand er sich mit der Situation ab und nutzte die Zeit des Hinuntergehens zur Reflexion über seine ohnmächtige Situation. Die Folge war, dass er sich von den Göttern völlig distanzierte und sich ihrem Ziel verweigerte, dass der Stein auf dem Berg bleiben müsse. Sisyphus kreierte sein eigenes Ziel, nämlich auf dem Weg zu sein. Auf diese Weise erreichte er heitere Gelassenheit.
Wenn wir im Hamsterrad das Tempo drosseln, bedeutet dies noch nicht automatisch ein Mehr an innerer Ruhe und Sammlung. Statt gegen das Hamsterrad zu kämpfen, es zu bremsen oder aus ihm auszusteigen, geht es darum, das schnell rotierende Rad zu akzeptieren und nicht als vermeintliche Opfer des Systems über das Hamsterrad zu jammern, sondern seinen Lauf möglichst aktiv und kreativ zu gestalten.
- ■ Welche Erkenntnisse und Fragen habe ich nach diesem ersten
Buchteil?