Vorwort zu »Das Ding auf der Schwelle« (The Thing on the Doorstep)

›The Thing on the Doorstep‹ ist eine massive und in ihrer Genreverhaftung »reine« Horrorstory mit beklemmenden Bildern und einem Hinter- bzw. Untergrund elementarer Ängste, die den Lesenden nach wie vor nachhaltig ergreifen können. Lovecrafts zentrales Lebensthema der »angefochtenen Identität« wird hier aus gegenüber ›The Shadow Over Innsmouth‹ völlig anderer Perspektive bearbeitet. Unter diesen Ängsten ist diejenige vor dem Verlust der eigenen Identität, der Persönlichkeit, die Angst vor dem Überwältigtwerden, vor dem sich selbst Verlieren – zum Beispiel in einer Beziehung. Bei Lovecraft wird sie selten thematisiert; hier aber ist sie zentral. Da ist weiter die elementare Furcht vor dem Tod, nicht als leises melancholisches Grauen vor dem Vergehen der eigenen Persönlichkeit, sondern als gräßliches Zurückschrecken vor der Verwesung, dem Gestank, den Maden, die einmal die Herrschaft über unseren Körper haben werden. Und da ist schließlich die Furcht vor der Frau – die männliche Furcht, dass das fremde Geschlecht sich doch als das stärkere erweisen und als böse Mutter und verschlingende Geliebte den Mann vereinnahmen könnte. Lovecraft war in seinem Umgang mit Frauen kein Psychopath: Er hatte intensive soziale und briefliche Kontakte zu Frauen, war ihnen gegenüber nicht übermäßig gehemmt, war zwei Jahre verheiratet und hat in dieser Zeit nach dem Zeugnis seiner Frau auch ein normales Sexualleben geführt. Lovecraft war weder homosexuell noch unfähig zu sexuellem Verkehr. Allerdings war ihm das Leben der Imagination wichtiger als die körperliche Gemeinschaft. Ohne Frage hatte er auch Ängste gegenüber Frauen, wenn diese auch nur einen Teil seiner Person prägten (nicht zuletzt den literarisch tätigen). Noch drastischer und auch beklemmender ist in dieser Hinsicht nur die Novelle ›Medusa’s Coil‹, die Lovecraft mit Zealia Bishop zusammen schrieb (publiziert erst 1939, nach Lovecrafts Tod). Man beachte auch die intensive Mutterbindung des Helden der folgenden Erzählung – er ruft sie sogar um Hilfe, als er einen Nervenzusammenbruch hat, obwohl sie schon längst gestorben ist.

Keine Geschichte Lovecrafts enthält mehr abgründige Psychologie als diese. Beherrscht werden von einer Frau, sich verlieren in ihr, ist tatsächlich die zentrale Angst, die der Text artikuliert (obwohl Asenath Waite ihrerseits vom Geist ihres Vaters Ephraim besessen und also insofern gar keine »richtige« Frau mehr ist). Natürlich liegen Bezüge zu Lovecrafts eigener Vita auf der Hand. Sie sind aber keineswegs so vorherrschend, wie der oberflächliche Leser meinen könnte. Insbesondere hat Lovecraft auch Elemente aus der Biografie anderer Schriftsteller eingebaut, was das autobiografische Element deutlich relativiert. Der frühe Erfolg eines Gedichtbandes ist ein Zug, der von Clark Ashton Smith (1893–1961) stammt. November 1912 war Smiths ›The Star-Treader and Other Poems‹ bei A. M. Robertson, San Francisco, Kalifornien erschienen (angeblich in der erstaunlichen Auflage von 2000 Exemplaren) und wurde sofort enthusiastisch gefeiert. Smith wurde mit Lord Byron, Shelley und anderen verglichen. Aber erst im Dezember 1922 folgte ein zweiter Band (›Ebony and Crystal. Poems in Verse and Prose‹, Auburn, Kalifornien 1922, nur noch in einer Auflage von 525 Exemplaren). Lovecraft hat Smiths umfangreiche Fin de siècle-Lyrik aufrichtig bewundert; in Deutschland ist sie weithin unbekannt, obwohl sie ohne Frage Smiths Hauptwerk darstellt. Direkte Anspielungen hat Lovecraft in ›The Thing on the Doorstep‹ weiter auf Robert E. Howard eingebaut, dessen Selbstmord am 11. Juni 1936 Lovecraft als tiefen Schock erlebte. Justin Geoffrey, der Autor von ›The People of the Monolith‹ (eine Figur auf den ersten Seiten der folgenden Erzählung) ist der Protagonist von Howards ›The Black Stone‹ (zuerst erschienen in Weird Tales November 1931).

Die Vernetzung verbindet hier geschickt Fiktives und Reales. Alle drei (Lovecraft, Smith und Howard) waren Einzelkinder, alle drei hatten eine einzelgängerische, der Imagination hingegebene Jugend. Der amerikanische Lovecraftforscher S. T. Joshi hat auch Bezüge auf Alfred Galpin nachgewiesen (einen Freund Lovecrafts seit 1918, als Galpin gerade 17 Jahre alt war und ebenfalls als eine Art ›jugendliches Genie‹ galt). Der Schriftsteller erzählt nicht einfach seine eigene Geschichte: Er nimmt Bausteine aus seiner Autobiografie, aus dem Leben anderer verwandter Seelen, aus seiner Fantasie, aus der Literatur und nicht zuletzt aus dem Bildrepertoire menschlicher Urängste und schafft daraus etwas durchaus Neues. Der biografische Deutungsansatz darf diesen weiteren Horizont, der auch in diese kleine Horrorgeschichte eingeflossen ist, nicht übersehen.

›The Thing on the Doorstep‹ wurde in einer der für Lovecraft typischen kreativen Explosionen zwischen dem 21. und 24. August 1933 niedergeschrieben, nachdem er sich längere Zeit vor allem mit der Revision seines Essays Supernatural Horror in Literature beschäftigt hatte. Lovecrafts Manuskript ist erhalten. Ansonsten war dies ein eher schwieriges Jahr für den Autor; mehrere kreative Versuche liefen offenbar ins Leere.

Ein heimlicher Protagonist Lovecrafts ist wieder einmal ein Haus. Diesmal ist es das »alte Crowninshield-Anwesen«, das Crowninshield-Bentley-House in Salem. Erbaut 1727 im Auftrag von Kapitän John Crowninshield, umgebaut 1794, wohnte hier von 1791 bis 1819 Reverend William Bentley, dessen nach seinem Tod publiziertes Tagebuch mit seiner feinen Aufmerksamkeit gegenüber den Menschen Salems, ihrer Geschichte, ihren Sorgen, Sitten und Gebräuchen, aber auch Wunderlichkeiten eine Hauptquelle der Regionalgeschichte ist und zu den großen Zeugnissen aus jenen Tagen gehört, als auch erwachsene Menschen noch Tagebücher schrieben. 1959 wurde das Haus an seinen gegenwärtigen Platz auf dem Gelände des Essex Institute verbracht (126 Essex Street), wo man es bis heute mit einer originalgetreuen Einrichtung im Queen Anne- und Chippendale-Stil besichtigen kann. Das durchaus bescheidene zweieinhalbgeschossige Gebäude (als ich es zuletzt sah, hatte es gerade einen gelben Anstrich erhalten) strahlt jene zurückhaltende, leise Eleganz aus, die Lovecrafts an den traditionellen Bauwerken Neuenglands so geschätzt hat. Gerade in ein solches Haus verlegt er die grausigen Ereignisse unserer Erzählung.

Auch die Namen, die Lovecraft benutzt, haben allesamt reale lokale Bezüge. Der Erbauer des Cowninshield-Anwesens hatte eine Tochter Elizabeth, die Elias Hasket Derby heiratete – Amerikas ersten Millionär. Derby ist natürlich der Familienname von Lovecrafts unglücklichem Protagonisten. Der erste Derby war mit dem Ostasienhandel reich geworden und konnte während des Unabhängigkeitskrieges einhundert Soldaten aus eigener Tasche ausrüsten und bezahlen. Lovecraft hat gerne an solche Familien mit großbürgerlichem Hintergrund erinnert: ein Hintergrund, den er selbst nicht besaß. Der Name Asenath übrigens, der im deutschen Sprachraum nicht so gebräuchlich ist, stammt aus der Bibel: Josephs ägyptische Frau hieß so.

Man beachte die mehrfache Vernetzung mit ›The Shadow Over Innsmouth‹. Der Hexenkult in Maine, der eine so düstere Rolle im Hintergrund spielt, erinnert an ›The Dreams in the Witch House‹. In der späteren Novelle ›The Haunter of the Dark‹ (weiter hinten in diesem Band) will der Protagonist Robert Blake einen Roman über Hexen in Maine schreiben. Lovecraft hatte eigene Ideen in diese Richtung. Aber seine Krankheit hat solche Pläne zunichte gemacht.

Ein möglicher literarischer Einfluss auf ›The Thing on the Doorstep‹ ist Henry Burgess Drake ›The Shadowy Thing‹, New York 1928, ein Roman über einen Mann, der seinen Geist in andere Körper versetzen kann. Die Idee eines förmlichen Tausches (welche die Frage beantwortet, was mit dem verdrängten Geist geschieht) ist jedoch Lovecrafts eigene Zutat; in einem sehr viel tieferen Sinn wird er sie wiederum in der Erzählung ›The Shadow Out of Time‹ verwenden, deren Niederschrift ein gutes Jahr später (am 10. November 1934) begann. Die kreative Grundidee von ›The Thing on the Doorstep‹ kann an einer Eintragung (Nr. 158) in Lovecrafts Commonplace-Book verfolgt werden (seinem literarischen Notizbuch): »Ein Mann hat einen grässlichen Zauberer als Freund, der über ihn Einfluss gewinnt. Er tötet ihn, um seine Seele zu retten – er mauert die Leiche in einem alten Keller ein – ABER – der tote Zauberer (der merkwürdige Dinge über das Verweilen der Seele im Körper gesagt hatte) tauscht seinen Körper mit ihm … und lässt ihn bei vollem Bewusstsein als Leiche im Keller zurück.« Gedruckt wurde ›The Thing on the Doorstep‹ erst im Januarheft 1937 von Weird Tales, wenige Wochen vor Lovecrafts Tod.

Last not least: Die folgende Geschichte ist eine echte Horrorstory, die mit der richtigen Atmosphäre im Hintergrund, ungestört und an einem Stück gelesen sein will. Sollten Sie es an der Wohnungstür klopfen hören, zweimal und mit einem kleinen Abstand noch dreimal, hat sich der Erzähler offenbar erfolgreich in Ihrer Fantasie eingenistet …