Vorwort zu »Berge des Wahnsinns« (At the Mountains of Madness)
›At the Mountains of Madness‹ (geschrieben Februar/März 1931) war Lovecrafts dritter und letzter Roman, nach dem Fantasy-Roman ›The Dream-Quest of Unknown Kadath‹ (1927) und dem großen historischen Horrorroman ›The Case of Charles Dexter Ward‹ (geschrieben ebenfalls 1927). In gewisser Hinsicht ist ›At the Mountains of Madness‹ Lovecrafts einziger wirklich zum Zweck der Publikation verfasster und geplanter Roman, da sowohl die idiosynkratische und mäandrierende Fantasyerzählung ›Dream-Quest of Unknown Kadath‹ wie auch ›The Case of Charles Dexter Ward‹ zu Lebzeiten Lovecrafts nicht publiziert wurden, und Lovecraft dazu auch keine besonderen Anstrengungen übernahm. Am Erscheinen von ›At the Mountains of Madness‹ lag ihm dagegen viel. Der Titel entstammt offenbar einer Passagen aus der Erzählung ›The Hashish Man‹ (in ›A Dreamer’s Tales‹, London 1910) von Lord Dunsany (»And we came at last to those ivory hills that are named the Mountains of Madness ...«), obwohl Lovecraft das meines Wissens nicht explizit sagt.
Die gewaltige Evokation der antarktischen Eiswüste als eines Ortes von vorzeitlichem Grauen verfehlt auch heute ihre Wirkung nicht. Manche Liebhaber des Genres halten ›At the Mountains of Madness‹ für Lovecrafts besten Text, dessen schiere visionäre Intensität ein Panorama der Erdgeschichte zeichnet, vor dem die Menschheitsgeschichte zu einer bloßen Episode zusammenschrumpft. Natürlich ist es eine verfremdete Erdgeschichte, in der unerwartete Schrecken lauern, aber sie wird eng an alles angebunden, was zu Lovecrafts Lebzeiten über die tatsächliche geologische und paläontologische Geschichte der Erde bekannt war. Die Horrormotive früherer Erzählungen sind hier in einen Science Fiction-Rahmen integriert; dazu später.
Lovecraft hatte sich schon ab etwa 1900 intensiv für die Antarktis interessiert und war über den jeweils letzten Stand ihrer Erschließung immer bestens im Bilde. 1899 hatte der Norweger Carsten Egebert Borchgrevink als erster ein dauerhaftes Lager auf antarktischem Festland errichtet; 1901–1904 folgten dann die deutsche »Gauß-Expedition« und die britische »Discovery-Expedition« (mit R. F. Scott). Am 14.12.1911 und am 18.1.1912 hatten dann Roald Amundsen und Robert F. Scott den Südpol erreicht. Lovecraft füllte Anfang des Jahrhunderts diverse Schulhefte mit Nacherzählungen der großen Antarktisexpeditionen des 19. Jahrhunderts. Das Erreichen des Südpols war dabei eine Leidenschaft, die ihre Wurzeln noch im 18. Jahrhundert hatte (Captain James Cook war daran 1772–74 gescheitert), und Engländer und Amerikaner haben später gleichermaßen um dieses Ziel gekämpft. Eine Kenntnis der großen Expeditionen (Charles Wilkes, James Clark Ross, Robert F. Scott etc.) setzt Lovecraft bei seinen Lesern als selbstverständlich voraus. 1928–1930 waren die Jahre der ersten Antarktisexpedition von Richard Evelyn Byrd (1888–1957), der durch seinen Nordpolarflug 1926 bereits weltberühmt geworden war; es folgten in späteren Jahren weitere Antarktisexpeditionen. Vielleicht war diese Expedition der unmittelbare Auslöser der Erzählung Lovecrafts (in der ja wie bei Byrd Flugzeuge eine große Rolle spielen).
Es ist nicht unwichtig, dass ›At the Mountains of Madness‹ eine Expedition schildert: Ausführlich werden Vorbereitung, Finanzierung, wissenschaftliche Organisation, technische Ausrüstung, Zusammensetzung des Mannschaft etc. berichtet. Lovecraft hatte ganz offensichtlich alles gelesen, was er über solche Themen in die Finger bekommen konnte. (Ähnlich steht in seiner Kurzgeschichte ›Facts Concerning the Late Arthur Jermyn and His Family‹ von 1920 eine Afrikaexpedition – wenn auch des 18. Jahrhunderts – mit grausigen Konsequenzen im Hintergrund, aber Lovecrafts Leidenschaft für Details war seit diesem frühen Text noch enorm gewachsen).
Die Forschungsreise wird zur Metapher des suchenden, fragenden, die Vergangenheit durchforstenden Geistes in seiner Konfrontation mit dem Unbekannten. Sicher drückt sich darin auch Lovecrafts Sehnsucht aus, doch einmal Teil eines akademischen Establishments zu sein, das solche Expeditionen ausführen kann – ein Wunsch, der durch sein Unvermögen, eine Collegeausbildung zu absolvieren, unmöglich gemacht wurde; Lovecraft bewegte sich aber Zeit seines Lebens im Umfeld der Brown University, besuchte zahlreiche ihrer öffentlichen Vorträge und lebte zuletzt in einem Haus als Mieter, das der Universität gehörte, nur wenige Schritte von ihren Bibliotheken entfernt. Man kann diese Suche auch als eine Art Bewusstseinserweiterung verstehen, natürlich nicht in einem esoterischen Sinn, bei dem es um Lebensgewinn geht, sondern gerade umgekehrt im verstörenden Sinn der unheimlichen Fantastik, die den Menschen aus seinen gewohnten Bahnen herausreißt. Diese Suche beginnt für den Erzähler William Dyer nicht erst in der Antarktis: Das Necronomicon ist ihm nicht fremd.
›At the Mountains of Madness‹ gewinnt aus den symbolischen Tiefendimensionen der Landschaft und der Expedition auch menschliche Qualität und Größe: Hier ist von Gelehrten die Rede, die wirklich wissen wollen, deren Leben sich ganz um ein solches Wissenwollen dreht. Lake und Atwood nehmen dabei ein böses Ende, der Student Danforth wird verrückt, und der Erzähler William Dyer (die volle Namensform nur in der Novelle ›The Shadow Out of Time‹) bleibt auch seelisch nicht unbeschädigt. Das ist die Wirkung wahren Wissens in Lovecrafts Universum. Man beachte auch, dass Lovecraft sich durchaus recht gut in die praktischen Schwierigkeiten der Arbeit in einem Expeditionsteam hineindenken konnte; der Realismus der Erzählung ist in dieser Hinsicht erstaunlich. Aber natürlich steht im Hintergrund immer einer weitere und größere Suche. Der suchende Geist findet in der Vergangenheit nicht nur seine eigenen Wurzeln, sondern auch das, was seine Existenz bedroht und in seiner Gültigkeit in Frage stellt: Das ist ein steter Grundgedanke von Lovecrafts Erzählwerk.
Begonnen wurde der Roman am 24. Februar 1931, abgeschlossen am 22. März desselben Jahres (wie oft, hat Lovecraft die Daten auf seinem Manuskript notiert). Wenn Lovecraft einen Plot klar entwickelt hatte, konnte er sehr schnell arbeiten. Das Abtippen des langen Textes mit der Schreibmaschine (Lovecraft schrieb grundsätzlich zuerst mit der Hand) schob er einige Zeit vor sich her und beendete diese von ihm extrem verabscheute mechanische Arbeit am 1. Mai. Am nächsten Tag gönnte er sich dann einen verdienten Urlaub und fuhr in einer 36-stündigen Busfahrt in den Süden der USA, über Washington, Richmond und andere Städte nach Charleston, das er schon einmal im Vorjahr besucht hatte und über das er dann auch einen langen Reisebericht zu Papier brachte.
Dem Genre nach ist ›At the Mountains of Madness‹ Science Fiction; in der Sorgfalt der biologischen, geologischen und technischen Details sogar »Hard Science Fiction«. Diese Entwicklung fort vom atmosphärischen Horror zur visionären, wenn auch nicht weniger »schrecklichen« SF ist eine Grundtendenz im späteren Werk unseres Schriftstellers etwa ab Ende der 20er-Jahre.
Die Zwischenstellung zwischen zwei Genres hat die Erzählungen dann leider schwer verkäuflich gemacht. Längst war die Zeitschrift Weird Tales (die seit 1923 existierte) Lovecrafts Hauptabsatzmarkt geworden, aber ihr Herausgeber Farnsworth Wright lehnte den Text Mitte Juni 1931 als zu lang, zu handlungsarm und kaum für mehrere Ausgaben teilbar ab. Dies war ein schwerer Schlag für Lovecraft. Fast zur gleichen Zeit lehnte dann auch der angesehene Verlag G. P. Putnam’s Sons einen Auswahlband mit seinen Kurzgeschichten ab, der schon in greifbare Nähe gerückt schien. Einige ältere Texte, die Lovecraft im April 1931 an Harry Bates, den Herausgeber von Strange Tales (als neues Zeitschriftenprojekt damals in der Planungsphase), geschickt hatte, wurden dort ebenfalls nicht angenommen. Lovecraft war ganz im Gegensatz zu der stoisch-ästhetizistischen Attitüde, die er an Tag legte, außerordentlich verletzbar und hat sich diese drei Ablehnungen in kurzer Zeit sehr zu Herzen genommen. Er war darin sicher kein Profi; Autoren wie August Derleth oder Robert E. Howard haben ihre Texte in solchen Fällen einfach an die nächste Zeitschrift geschickt bzw. später wieder neu bei Weird Tales eingereicht (Derleth bis zu zehnmal, wie es das Gerücht will). Lovecraft war dazu nicht imstande. Eine im Juni angefangene Erzählung konnte er nicht weiterschreiben, als die Nachricht der Ablehnung bei ihm eintraf (sie ist verschollen), und lange Monate war sein kreatives Talent wie gelähmt (zumal auch Lovecrafts Freunde mit ›At the Mountains of Madness‹ offenbar wenig anfangen konnten). Erst November/Dezember 1931 versuchte er sich wieder an einem größeren Projekt, ›The Shadow over Innsmouth‹ (später in diesem Band).
Was die Publikation von ›At the Mountains of Madness‹ betraf, so ergab sich erst September 1935 etwas: Ein junger Literaturagent namens Julius Schwartz (1915–2004) hatte Kontakt zu dem Herausgeber von Astounding Science Fiction, F. Orline Tremaine, der diese später legendäre Zeitschrift seit ihrer Übernahme durch Street and Smith Publications Mitte 1933 zusammen mit Desmond Hall zur wichtigsten Stimme für amerikanische Science Fiction gemacht hatte (John Campbell wurde erst im Mai 1938 Herausgeber, als der Ruf von Astounding schon gefestigt war). Schwartz fragte Lovecraft nach einem Text, einigte sich rasch mit Tremaine (der den Roman offenbar gar nicht gelesen hatte, sondern Schwartz und Lovecrafts literarischen Fähigkeiten vertraute), und es kam zu einem Vertragsabschluss über 350 Dollar, von denen Schwartz 35 Dollar als Agentenprämie erhielt. Auch 315 Dollar waren für Lovecraft (der seine wöchentlichen Ausgaben durch eiserne Sparsamkeit auf 15 Dollar heruntergeschraubt hatte und sich seit 1928 keinen neuen Anzug mehr hatte leisten können) eine beträchtliche Menge Geld, zumal Tremaine kurz darauf auch ›The Shadow Out of Time‹ für 280 Dollar kaufte. Das zusammen war die größte Summe, die Lovecraft jemals verdient hat. Um sein kreatives Selbstbewusstsein aufzubauen, war es freilich zu spät. ›At the Mountains of Madness‹ erschien in einem Umfeld von Science-Fiction-Erzählungen in Astounding Stories 16, 6–17, 2 in drei Teilen (Februar, März und April 1936), genau ein Jahr vor Lovecrafts frühem Tod.
Blicken wir noch auf einige Details des Romans. Lovecraft hat es geliebt, seine Texte nicht nur mit seinen eigenen Erzählungen, sondern auch mit denen der großen Klassiker unheimlicher Literatur vielfach zu verzahnen. Den Namen des Ich-Erzählers unseres Romans, William Dyer, erfahren wir zum Beispiel nur aus ›The Shadow Out of Time‹. Wir sind dem zweiten Stilmittel schon in ›The Dunwich Horror‹ begegnet, wo es vor allem um direkte und explizite Berührungen mit Arthur Machen ging. In ›At the Mountain of Madness‹ ist es nun Edgar Allan Poe (1809–1849), dessen melancholisches, visionäres Angesicht immer wieder zwischen den Zeilen hindurchscheint. Lovecraft hatte Poe schon als Kind gelesen und ihn seitdem für Amerikas bedeutendsten Autor gehalten, wobei man nicht nur an die Kurzgeschichten denken darf, sondern vor allem an die Lyrik und in geringerem Maße auch an Poes zahlreiche in Deutschland nur wenig bekannte Essays. In einem Brief an Bernard Austin Dwyer vom 3. März 1927, in dem er viel über seine frühen kindlichen Interessen mitteilt, schreibt Lovecraft: »Dann traf mich wie ein Blitz EDGAR ALLAN POE! Das war mein Absturz, und im Alter von acht Jahren sah ich, wie sich das blaue Firmament von Argos und Sizilien durch die miasmatischen Ausdünstungen des Grabes verdunkelte!«
Im gleichen Jahr (1898) versuchte Lovecraft bereits, Poes Prosastil nachzuahmen, nachdem er zuvor ganz in einer Welt klassischer englischer Lyrik und arabischer und antiker Folklore und Mythologie gelebt hatte. Edgar Allan Poe und Alexander Pope blieben die beiden von Lovecraft am meisten verehrten Schriftsteller, obwohl zeitweise der Einfluss Dunsanys auf sein tatsächliches Werk größer war. In ›At the Mountains of Madness‹ wird Poe eine unübertroffene, wenn auch durchaus dezente Reverenz erwiesen. Lovecraft ist kein Anfänger mehr und er ahmt nicht mehr nach. Aber er erlaubt sich Anspielungen, intertextuelle Referenzen, die den Leser mit hineinnehmen in die gleiche literarische Binnenwelt, in der auch Lovecraft selbst gelebt hat. Schon zu Beginn, anlässlich der ersten Schilderung der antarktischen Berge, kommen den Betrachtern der Miskatonic-Expedition Poes Zeilen über den Berg Yaanek in den Sinn, wie sie sich in dem Gedicht ›Ulalume‹ von 1847 finden, das Poe aus einer Grundidee von Elizabeth Oakes Smith heraus entwickelt hatte. Dass Poes Berg »Yaanek« tatsächlich Mount Erebus sein muss, wie Lovecraft argumentiert, ist ganz richtig; in der Arktis waren zu Poes Lebzeiten keine Vulkane bekannt, während Mount Erebus 1840 entdeckt worden war. Poe hatte sich ja wie Lovecraft brennend für die Erforschung der Antarktis interessiert. Wie Poe auf den Namen »Yaanek« kommt, ist bis heute nicht bekannt; immerhin wird Lovecraft in der wissenschaftlichen Poe-Literatur als Entdecker der wahren Identität des Berges aufgeführt, etwa in dem zur Zeit umfassendsten Kommentar zu Poes Gedichten von Thomas Ollive Mabbott. Mehrfach wird Poes Roman Arthur Gordon Pym (Lovecraft kürzt den Buchtitel ab) genannt, sodass ›At the Mountains of Madness‹ nicht nur zu einem Prätext, sondern in gewisser Hinsicht zu einer Hommage, ja fast zu einer Art Fortführung von Poes Roman wird. An eine eigentliche Fortsetzung der Handlung – wie sie Jules Verne in Le Sphinx des Glaces (zuerst: Magasin d’Education et de Récreation, 1. Januar – 15. Dezember 1897) versucht hatte – ist aber nicht zu denken. Vor allem ist es das rätselhafte »Tekeli-li!«, das bei Lovecraft zum Fragment einer verschollenen Sprache wird, zu einem letzten Nachhall der Pfeiftöne, welche die Alten Wesen von sich gaben, nachgeäfft von denen, die erst ihre Sklaven waren und dann ihr Untergang wurden. (Tatsächlich ist »Tekeli; or The Siege of Montgatz« der Name eines Theaterstückes, in dem Poes Mutter Eliza Poe öfters auftrat, aber das wird Lovecraft vielleicht gar nicht gewusst haben). Diese Art, einzelne Bausteine aus Poe zu verfremden, hat einen besonderen ästhetischen Reiz, zumal Lovecraft Poe noch einmal mystifiziert, indem suggeriert wird, dieser habe Zugang zu einer besonderen, okkulten Quelle über die Antarktis gehabt. Poe ist mit den Worten »Reynolds! Reynolds! Lord help my poor Soul« auf den Lippen am 7. Oktober 1849 gestorben, aber ob er damit wirklich den berühmten Antarktis-Forscher Jeremiah N. Reynolds (1799–1858) gemeint hat, ist wohl eher fraglich.
Eine auffällige intertextuelle Vernetzung liegt auch mit der Novelle ›The Whisperer in Darkness‹ vor, dessen Protagonist als der »so unheimlich gelehrte Volkskundler Wilmarth« zitiert wird (»that unpleasantly erudite folklorist« im Original). Die Krustazeen vom Yuggoth tauchen beiläufig in der Gesamtvision der Erdgeschichte auf, die sich vor dem Auge des Lesers aufrollt. Nur in einem einzigen Text hat Lovecraft noch weiter ausholend eine ganze Geschichte der Erde in Vergangenheit und Zukunft entfaltet (›The Shadow Out of Time‹).
Wer ›At the Mountains of Madness‹ liest, wird kaum der Versuchung widerstehen können, die Lokalitäten auf einer Landkarte nachzuschlagen. Wichtiger ist eine gute Kenntnis der Erdgeschichte, wobei Lovecrafts Datierung der paläontologischen Epochen nicht ganz den heute üblichen entspricht (doch sind die Abweichungen für die Handlung unerheblich). Auffällig ist gerade hier Lovecrafts immenses Bemühen um absolute naturwissenschaftliche Präzision. Alfred Wegeners Kontinentalverschiebung spielt eine entscheidende Rolle, daneben auch die (damals) neuesten Ergebnisse der Paläozoologie, Paläobotanik und Ingenieurwissenschaft. Kaum je in der fantastischen Literatur (tatsächlich fällt mir kein wirklich vergleichbares Beispiel ein) sind die Monster einer Erzählung mit solchem anatomischem Detail, mit einer solchen Exaktheit des Seziertisches beschrieben worden. Diese Obsesssion sowohl in Sachen Präzision als auch in Sachen Suggestion ist ja schon bei früheren Erzählungen Lovecrafts zu beobachten, etwa in ›Pickman’s Model‹ (1926). Sie ist ein Grundkennzeichen der Lovecraftschen Ästhetik. Selbst Admiral Richard Byrds Entdeckung während der genannten Expedition 1928–1930, dass die Antarktis nicht aus drei, sondern nur aus einer einzigen Landmasse besteht, wird in die Handlung eingebaut. Byrd hatte am 29. November 1929 als erster Mensch den Südpol in einem Flugzeug überquert. Der McMurdo-Sound (wo die »Miskatonic Antarctic Expedition« ihren Landeplatz hat) befindet sich gegenüber der Ross’schen Eisbarriere, nicht weit entfernt von der Stelle, wo Byrd sein erstes Lager aufgeschlagen hatte.
›At the Mountains of Madness‹ ist die Vision der Geschichte einer ganzen Zivilisation, von ihren mythischen Wurzeln über die Zeit ihrer kulturellen Blüte, durch ihre Jahre (Jahrmillionen!) des Konflikts und der Kriege bis zu ihrem Verfall und ihrer schließlichen Vernichtung durch ihre eigenen leichtsinnig geschaffenen Sklaven, die amorphen Shoggothen. Aus einer Horrorgeschichte wird hier nicht nur Science Fiction, sondern vielmehr Kulturkritik, eine Spenglersche Schau auf das »Ganze« kultureller Entwicklung. Aus anfänglichem Abscheu vor den Alten Wesen wächst Sympathie und Identifikation; dies ist eine der wenigen Passagen, wo Lovecraft immens pathetisch wird (»Was immer sie waren … sie waren Menschen«). Man beachte auch das kleine, feine Detail, dass die Vorfahren der Menschen in unserem Roman von den Alten Wesen als Nahrungsergänzung und Spielzeug (eine Art äffische Unterhalter) geschaffen wurden: Auch hier hat sich eine Schöpfung der Alten Wesen verselbstständigt.
Vieles wäre interpretationswürdig: Die Geschlechtslosigkeit der Alten Wesen (die sich pflanzlich vermehren) hält ihre Kultur von allen jenen Komplikationen frei, welche nach Lovecrafts Auffassung der menschlichen nur geschadet haben … In einer früheren Phase ihrer Geschichte (auf einem anderen Planeten) haben sie eine Phase technischer Zivilisation mit zahlreichen Maschinen durchlaufen, sich davon aber als einer ästhetisch unbefriedigenden Existenzweise wieder abgewandt: Die Alten Wesen sind hier ganz Träger von Lovecrafts eigenen kulturellen Idealen (wie das dann in ›The Shadow Out of Time‹ noch deutlicher wird). Lovecraft war tief davon überzeugt, dass Technik keine kulturelle Errungenschaft ist, sondern allenfalls das Leben bequemer macht. Wissenschaft und Kunst füllen das Leben der Alten Wesen in den Jahren der Blüte ihrer Zivilisation: Und das ist Lovecrafts eigenes Kulturideal.
In der theosophischen Tradition (mit der sich Lovecraft in ›The Call of Cthulhu‹ intensiv auseinandergesetzt hatte) ist der Nordpol »heiliges Land«, auf dem einst die frühesten Bewohner unseres Planeten gelebt haben, der Südpol dagegen »böses« Territorium, Ort eines nie näher beschriebenen Schreckens (darauf kann hier nicht näher eingegangen werden). Lovecrafts Kenntnis der theosophischen Literatur war nicht sehr tiefgehend. Die mythologiegeschichtlichen Anspielungen treten in ›At the Mountains of Madness‹ jedoch eher in den Hintergrund. Immerhin gibt es an einer Stelle eine lange Liste verschollener mythologischer Länder: »Atlantis und Lemuria, Commorium und Uzuldaroum und Olathoë im Land Lomar (…), Valusia, R’lyeh, Ib im Lande Mnar und die Namenlose Stadt in Arabia Deserta«. Lovecraft spielt hier auf das Erzählwerk seines Freundes und Schriftstellerkollegen Clark Ashton Smith an, dessen Fantasie Commorium und Uzuldaroum entsprungen sind und der auch über Atlantis, Lemuria und Valusia ganze Zyklen von Erzählungen verfasst hat. Smiths »Tsathoggua« wird öfters erwähnt. R’lyeh, Ib, Olathoë und die Namenlose Stadt sind Lovecrafts eigene Schöpfungen aus früheren Erzählungen. Auch das Necronomicon taucht wieder auf, ein wenig versatzstückhaft (warum hat der Paläontologe Lake es gelesen?), denn eine wirkliche Funktion hat es hier nicht.
»Etwas beklemmend Roerichartiges« lag über den Bergen des Wahnsinns mit ihren (zuerst natürlich nicht als solchen erkannten) Gebäuderesten. Nicholas Roerich (1874–1947) ist in der Tat eine weitere wesentliche Inspiration unseres Textes (sechsmal wird er genannt). Der russische Maler – ein früher Lehrer Chagalls – war Ende 1920 (im Gefolge der Revolution) von Russland in die USA geflohen und fand in New York breite Aufmerksamkeit. Roerich war nicht nur Maler, sondern auch Bühnenbildner, Schriftsteller, Okkultist, Weltreisender und energisch am Thema Verständigung der Völker und Kulturen interessiert. Anfang 1929 war er wegen dieses Einsatzes offiziell von der Universität Paris für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden (den dann aber F. B. Kellogg erhielt). Mehrere Expeditionen führten ihn nach Zentralasien, von wo er Kultgegenstände, Bücher und vor allem Anregungen für seine Kunst mitbrachte. Während er in frühen Jahren eher Themen aus russischer Folklore dargestellt hat, ist sein reifes Werk völlig beherrscht von einer übermächtigen Faszination durch die Berge und Glaubenswelten Zentralasiens. Die schneebedeckten Berge des Himalaja, die Götter und Legenden Tibets sind sein Thema, in immer neuen Variationen, in der Darstellung räumlicher Weite, mit einer starken Aufmerksamkeit für die Farben und Eindrücke des Himmels und der Landschaft. Roerich ist Symbolist und Landschaftsmaler; seine spirituellen Wurzeln liegen ganz in der religiösen Welt Tibets und Nordindiens, als deren Botschafter er sich sah. Dabei ist seine Sichtweise diejenige der klassischen Theosophie; seine Frau war die russische Übersetzerin von Helena Petrovna Blavatskys Secret Doctrine. Seine zahlreichen Bücher (die Lovecraft aber wohl nicht gelesen hatte) sind voll der merkwürdigsten Legenden über Tibet. Lovecraft scheint Roerich nie persönlich kennengelernt zu haben, aber im Mai 1930 besuchte er zum ersten Mal mit Frank Belknap Long das Roerich-Museum in New York, welches diesem schon zu Lebzeiten an der Ecke 103rd Street und Riverside Drive eingerichtet worden war. Dieses Museum befindet sich heute 317 West 107th. Street und ist in der Tat ein New Yorker Geheimtip. (Seit 1993 gibt es auch in Moskau ein sehenswertes Roerich-Museum).
Lovecrafts letzter Brief (den er nicht mehr zu Ende schreiben konnte, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde und der nach seinem Tod auf seinem Schreibtisch gefunden wurde) an seinen alten Freund und Weggefährten James F. Morton (datiert: »Der alte Hügel, März 1937«) endet mit einer Evokation Roerichs: »Besser als die Surrealisten ist der gute alte Nick Roerich, dessen Hütte an der Ecke Riverside Drive und 103. Straße eines meiner Heiligtümer in der Peststadt ist. Etwas in seiner Art, mit Perspektive und Atmosphäre umzugehen, suggeriert mir andere Dimensionen und fremde Arten des Seins – oder zumindest den Zugang zu solchen. Solche fantastischen bearbeiteten Felsen in einsamen wüsten Gebirgszügen – jene ominösen, zerklüfteten Felsgipfel, die wirkten, als könnten sie einen ansehen – und vor allem jene merkwürdigen würfelförmigen Gebäude, die da an Steilabhängen haften und sich hin zu den verbotenen nadelspitzen Berggipfeln hinaufziehen!«.
Dies sind tatsächlich, abgesehen von ein paar Notizen im Krankenhaus, die letzten Worte, die Lovecraft zu Papier gebracht hat. Die Begegnung mit Roerichs Kunst war für den Schriftsteller offenbar eine genuine mystische Erfahrung. Mehrere Bildbände erlauben dem Interessiertem auch ohne Reise zu den Museen, Roerichs bemerkenswerte Kunst kennenzulernen. Diese ist nicht unheimlich, sehr wohl aber voll subtiler Suggestion.
In einem anderen Brief (vom 31. Oktober 1936 an E. Hoffmann Price) erklärt Lovecraft, warum er keine Horrorgeschichten im heimeligen Süden der USA ansiedeln könne: »… denn für mich verbindet sich nur das Kalte in höchstem Maße mit dem Bösen, Schrecklichen, und mit dem Tod. (…) Der Norden (und die Antarktis) mit seiner quälenden Kälte und seinen langen Nächten schreitenden Todes sind für mich die Epitome all dessen, was dem Menschen und dem Leben feindlich ist …« Die arktische Kälte wird zur Metapher für einen lebensfeindlichen Kosmos, in dem Kultur, Kunst und Wissenschaft (als das, was das Leben lebenswert macht – nach Lovecraft) nur begrenzt überleben können.
Die Geschichte des englischen Textes von ›At the Mountains of Madness‹ ist verwickelt und kann hier nicht beschrieben werden. Der Erstdruck war vom Herausgeber bearbeitet und um etwa 1000 Worte gekürzt worden, die in späteren Ausgaben dann teilweise wieder eingefügt worden sind. Die Fachliteratur zu unserem Text ist sehr reich.
Dem fiktionalen Wortlaut nach will ›At the Mountains of Madness‹ abschrecken bzw. vor einer weiteren Erforschung der Antarktis warnen. Natürlich ist der tatsächliche Effekt genau gegenteilig. Der Schrecken wird verschluckt von Faszination und Neugier. »Es wäre tragisch, ließe sich jemand ausgerechnet durch die Warnung, die ihn abschrecken soll, in jenes Todes- und Schreckensreich locken«. Das ist ein Satz von eigentümlicher Ambivalenz, der zugleich symbolisch für die ganze »dunkle Fantastik« stehen kann. Gesetzt der Fall, dies wäre ein authentischer Bericht – wer ließe sich davon abhalten, sobald als möglich Nachforschungen anzustellen? Die »Warnung« ist hier ein Mittel, unsere Neugier anzustacheln. Was einmal einer großartigen Zivilisation den Untergang bereitet hat, lauert noch heute. Es sind die versklavten Kräfte einer unzügelbaren Natur, die uns nicht weniger bedrohen. Lovecrafts letzter Roman ist also im Kern Zivilisationskritik. Ob er darin Plausibilität erreicht, ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren.