Der Schatten über Innsmouth
I
Im Winter 1927/28 führten Beamte der Regierung der Vereinigten Staaten eine sonderbare und geheime Untersuchung gewisser Zustände in der alten Hafenstadt Innsmouth in Massachusetts durch. Die Öffentlichkeit erfuhr erst im Februar davon, als eine lange Reihe von Razzien und Festnahmen stattfand und bald darauf unter angemessenen Vorsichtsmaßnahmen eine gewaltige Anzahl verfallender, wurmstichiger und vermeintlich leer stehender Häuser im verlassenen Hafenbezirk niedergebrannt und gesprengt wurden. Arglose Seelen taten diesen Vorfall als einen der schwersten Zusammenstöße im wechselhaften Krieg gegen den Alkohol ab.
Aufmerksamere Nachrichtenleser wunderten sich jedoch über die erstaunliche Zahl der Festnahmen, das außergewöhnlich große Aufgebot an Männern, um diese durchzuführen, und die Geheimnistuerei um die Verwahrung der Gefangenen. Berichte über Verhandlungen oder über ernsthafte Anklagen erschienen nicht; auch sah man danach keinen der Gefangenen in den gewöhnlichen Gefängnissen des Landes. Es gab diffuse Gerüchte über Krankheit und Konzentrationslager, und später hieß es, die Inhaftierten seien auf verschiedene Marine- und Militärgefängnisse verteilt worden, doch nichts Bestätigtes drang je durch. Innsmouth selbst blieb fast entvölkert zurück und die Stadt zeigt erst jetzt Anzeichen einer allmählichen Wiederbelebung.
Die Fragen vieler liberaler Gruppierungen wurden in langen vertraulichen Gesprächen beantwortet, und ihre Vertreter wurden zu Besichtigungen in einige Lager und Gefängnisse geführt. Danach zeigten diese Organisationen sich überraschend passiv und schwiegen. Mit den Journalisten wurde man nicht so einfach fertig, doch letzten Endes schienen auch sie größtenteils mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Nur eine einzige Zeitung – ein Boulevardblatt, das aufgrund seines reißerischen Stils allseits nur mit Vorsicht genossen wurde – erwähnte ein U-Boot, das im Tiefseegraben gleich hinter dem Teufelsriff Torpedos abgefeuert haben soll. Diese Nachricht, die durch Zufall in einer Matrosenkaschemme aufgeschnappt worden war, schien in der Tat sehr weit hergeholt, liegt doch das niedrige schwarze Riff ganze anderthalb Meilen vor dem Hafen von Innsmouth.
Bei den Menschen aus der Gegend und in den umliegenden Städten wurde viel gemunkelt, an die Außenwelt drang aber nur sehr wenig durch. Diese Leute redeten seit fast einem Jahrhundert über das sterbende, halb verlassene Innsmouth, und keine Neuigkeit konnte verrückter und scheußlicher sein als das, worüber sie ohnehin schon seit Jahren flüsternde Andeutungen machten. Die Erfahrung hatte die Menschen Verschwiegenheit gelehrt – Druck auf sie auszuüben war nicht notwendig. Zudem wussten sie wirklich nur sehr wenig; denn die weiten Salzsümpfe, so öde und menschenleer, halten die Nachbarn auf der landeinwärts gelegenen Seite von Innsmouth fern.
Doch ich werde endlich das Schweigen über diese Vorfälle brechen. Die Maßnahmen, da bin ich mir sicher, waren so gründlich, dass der Öffentlichkeit außer Erschütterung und Abscheu kein Schaden erwachsen kann, wenn sie erfährt, was jene entsetzten Untersuchungsbeamten damals in Innsmouth aufspürten. Zudem könnte es für diese Entdeckungen vielleicht mehr als nur eine Erklärung geben. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, wie viel von der Geschichte mir erzählt wurde, jedenfalls habe ich gute Gründe dafür, nicht tiefer zu schürfen. Denn meine Berührung mit dieser Angelegenheit war enger als die jedes anderen Privatmannes, und ich trug Eindrücke davon, die mich noch zu drastischen Maßnahmen treiben werden.
Niemand anderer als ich war es, der in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1927 panisch aus Innsmouth floh und dessen verzweifelte Forderungen nach Untersuchung und Eingriff vonseiten der Regierung die berichteten Vorgänge in Bewegung brachten. Ich war nur zu gern bereit, Schweigen zu bewahren, da die ganze Angelegenheit noch neu und ungewiss war; doch nun, da es sich um eine alte Geschichte handelt und das Interesse und die Neugierde der Öffentlichkeit verebbt sind, verspüre ich ein merkwürdiges Verlangen, über die fürchterlichen Stunden in jenem übel beleumdeten und vom Bösen überschatteten Hafen des Todes und der gotteslästerlichen Abnormitäten im Flüsterton zu berichten. Das bloße Erzählen hilft mir dabei, das Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten wiederherzustellen und mich selbst zu vergewissern, dass ich nicht einfach nur der Erste war, der einer ansteckenden, albtraumhaften Sinnestäuschung erlegen ist. Es hilft mir außerdem dabei, Klarheit über den schrecklichen Schritt zu erlangen, der vor mir liegt.
Ich hatte bis zu dem Tage, da ich es zum ersten und – bislang – letzten Male sah, noch nie etwas von Innsmouth gehört. Ich feierte meine gerade erlangte Volljährigkeit mit einer Reise durch Neuengland – als Tourist, Historiker und Ahnenforscher – und hatte geplant, geradewegs vom alten Newburyport nach Arkham zu fahren, weil die Familie meiner Mutter von dort stammt. Ich verfügte über kein Auto, sondern reiste mit Zug, Straßenbahn und Omnibus, wobei ich stets die preiswerteste Route wählte. In Newburyport sagte man mir, man käme am besten mit der Dampflokomotive nach Arkham, und als ich am Fahrkartenschalter des Bahnhofes gegen den hohen Preis Einwände erhob, erfuhr ich erstmals von Innsmouth. Der stämmige Verkäufer mit schlauem Gesichtsausdruck, dessen Sprache verriet, dass er kein Einheimischer war, schien meiner Sparsamkeit Verständnis entgegenzubringen und unterbreitete mir einen Vorschlag, den keiner meiner anderen Informanten mir gemacht hatte.
»Sie könnten auch den alten Bus nehmen, vermute ich«, sagte er mit leichtem Zögern, »aber die Leute hier machen das eigentlich nich’. Er fährt über Innsmouth – davon haben Sie vielleicht schon gehört –, und deshalb mögen die Leute ihn nicht. Er wird von ’nem Burschen aus Innsmouth betrieben – Joe Sargent –, der kriegt aber nie Kunden von hier, in Arkham vermutlich auch nicht. Ein Wunder, dass er überhaupt noch fährt. Ist vermutlich ziemlich billig, ich hab aber nie mehr als zwei oder drei Leute drin gesehn – niemanden außer diesen Leuten aus Innsmouth. Er fährt am Marktplatz – vor Hammonds Drogerie – um zehn Uhr morgens und sieben Uhr abends ab, wenn sie die Zeiten nicht geändert haben. Sieht aus wie ’n furchtbarer Klapperkasten – ich bin nie damit gefahren.«
So hörte ich zum ersten Male vom schattenhaften Innsmouth. Jeder Hinweis auf eine Stadt, die auf gewöhnlichen Karten und in neuen Reiseführern nicht verzeichnet ist, interessierte mich, und die sonderbare Weise, wie der Verkäufer auf sie anspielte, erweckte die Neugier in mir. Eine Stadt, die bei ihren Nachbarn eine derartige Abneigung hervorzurufen vermochte, so überlegte ich mir, musste zumindest recht ungewöhnlich und des Interesses eines Touristen würdig sein. Falls sie auf der Strecke vor Arkham lag, würde ich dort Halt machen – und so bat ich den Verkäufer darum, mir etwas darüber zu erzählen. Er war sehr bedächtig und sprach in einer Art und Weise, als wollte er nicht zu viel verraten.
»Innsmouth? Nun, das ist ’ne merkwürdige Kleinstadt unten an der Mündung des Manuxet. Früher war’s fast mal ’ne richtige Stadt – ein großer Hafen vor dem Krieg von 1812 –, aber das ist in den letzten hundert Jahren oder so in die Binsen gegangen. Dort gibt’s keine Eisenbahn – B. & M. haben dort nie gebaut, und die Nebenstrecke von Rowley ist schon vor Jahren aufgegeben worden.
Dort gibt’s mehr leere Häuser als Menschen, glaube ich, und keine nennenswerte Industrie außer Fischerei und Hummerfang. Alle treiben meistens hier oder in Arkham oder Ipswich etwas Handel. Früher hatten sie ’ne ganze Menge Mühlen, aber davon ist nichts übrig außer einer Goldraffinerie, die so gut wie nie in Betrieb ist.
Diese Raffinerie war früher allerdings mal ’ne große Sache, und Old Man Marsh, dem sie gehört, muss reicher als Krösus sein. Ist aber ein komischer alter Kauz, geht fast nie vor die Tür. Angeblich soll er auf seine alten Tage ’ne Hautkrankheit oder so was bekommen haben und traut sich deshalb nicht auf die Straße. Er ist der Enkel von Kapitän Obed Marsh, der das Geschäft begründet hat. Seine Mutter war wohl ’ne Ausländerin – es heißt, sie kam von ’ner Südseeinsel –, weshalb es einen deftigen Krach gab, als er vor fünfzig Jahren ein Mädchen aus Ipswich heiratete. Das ist immer so, wenn’s um die Innsmouth-Leute geht, und die Menschen hier in der Umgebung versuchen, es zu verbergen, wenn sie Innsmouth-Blut in sich haben. Aber Marshs Kinder und Enkel sehen ganz normal aus, soweit ich das beurteilen kann. Ich hab sie hier mal gesehen – obwohl, wo ich grad dran denke, die älteren Kinder kommen in der letzten Zeit anscheinend nicht mehr. Den Alten hab ich noch nie gesehen.
Warum alle etwas gegen Innsmouth haben? Nun, junger Mann, Sie dürfen dem nicht so viel Glauben schenken, was die Leute hier so sagen. Man bringt sie nur schwer zum Reden, aber wenn man sie mal dazu gebracht hat, hören sie nicht mehr auf. Ich schätze, sie erzählen sich – oder eher flüstern sie drüber – schon seit über hundert Jahren Dinge über Innsmouth, und ich hab den Eindruck, sie haben mehr Angst als sonst was. Ein paar der alten Geschichten bringen einen zum Lachen – wie die über den alten Käpt’n Marsh, der Handel mit dem Teufel treibe und Dämonen aus der Hölle rufe, um in Innsmouth zu leben, oder die, dass eine Art von Teufelsanbetung mit grausigen Opfern an einer Stelle nahe den Kais stattgefunden habe, und die Leute sind um 1845 herum zufällig draufgestoßen –, aber ich komm aus Panton in Vermont und glaub nicht an solche Geschichten.
Sie sollten sich aber mal anhören, was sich ein paar von den Alten über das schwarze Riff vor der Küste erzählen – das Teufelsriff nennen sie’s. Einen Großteil der Zeit schaut es ein gutes Stück aus dem Wasser heraus und steht nie weit unter der Wasseroberfläche, aber man könnte es kaum als Insel bezeichnen. Es heißt, dass man auf diesem Riff manchmal eine ganze Legion von Teufeln sieht – die sollen sich am Boden rekeln oder aus einer Höhle, deren Eingang auf der Inselspitze liegt, rein- und rausrennen. Es ist ein schroffes, unebenes Ding, etwas mehr als eine Meile vor der Küste, und gegen Ende der Schifffahrtstage nahmen die Seeleute immer große Umwege, nur um es zu umfahren.
Das heißt die Seeleute, die nicht aus Innsmouth stammten. Eine der Geschichten über den alten Käpt’n Marsh war, dass er nachts manchmal auf dem Riff gelandet ist, wenn die Flut günstig war. Vielleicht tat er das, denn ich glaube wohl, dass die Felsformation interessant ist, und es ist nicht ausgeschlossen, dass er dort nach Piratenbeute suchte und vielleicht sogar was fand; aber es gab Gerede, dass er dort mit Dämonen Umgang hatte. Tatsache ist vermutlich, dass es in Wirklichkeit der Käpt’n war, der dem Riff den schlechten Ruf eingehandelt hat.
Das war vor der großen Seuche von 1846, als über die Hälfte der Leute aus Innsmouth dahingerafft wurde. Sie haben nie wirklich herausgefunden, was die Ursache war, aber es war vermutlich irgendeine ausländische Krankheit, die die Schiffe aus China oder sonst woher mitgebracht hatten. Es war jedenfalls ziemlich schlimm – es gab Krawalle deswegen und grausige Vorfälle, über die außerhalb der Stadt niemals etwas bekannt wurde –, und es ließ den Ort in schrecklichem Zustand zurück. Innsmouth hat sich nie wieder davon erholt – dort können jetzt nicht mehr als drei- oder vierhundert Menschen leben.
Aber was wirklich hinter den Ansichten der Leute steckt, ist einfach ein Rassenvorurteil – und ich kann es ihnen nicht mal verübeln. Ich kann dieses Innsmouth-Volk selbst nicht ausstehen; ich würd auch niemals in ihre Stadt gehen. Ich vermute mal, Sie wissen – obwohl ich an Ihrem Akzent merke, dass Sie aus dem Westen kommen –, dass unsere Schiffe aus Neuengland früher mit vielen sonderbaren Hafenstädten in Afrika, Asien, der Südsee und überall sonst zu tun hatten, und was für seltsame Menschen sie manchmal heimbrachten. Sie haben vermutlich von dem Mann aus Salem gehört, der mit einer chinesischen Ehefrau nach Hause kam, und vielleicht wissen Sie, dass immer noch ’n Haufen Fidschis irgendwo in der Umgegend von Cape Cod lebt.
Nun, irgendsowas muss auch bei den Leuten von Innsmouth passiert sein. Der Ort war schon immer durch Sümpfe und kleine Buchten stark vom Rest des Landes abgeschnitten, und wir können uns über das Hin und Her der Angelegenheit nicht sicher sein; aber es ist ziemlich klar, dass der alte Käpt’n Marsh irgendwelche seltsamen Exemplare mit heimgebracht hatte, als er in den Zwanziger- und Dreißigerjahren alle drei Schiffe in Betrieb hatte. Heute ist jedenfalls irgendwas Merkwürdiges an den Leuten von Innsmouth – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber irgendwie löst es eine Gänsehaut aus. Es wird Ihnen ein bisschen bei Sargent auffallen, wenn Sie mit seinem Bus fahren. Ein paar von den Innsmouthern haben komische schmale Köpfe mit flachen Nasen und hervorquellenden, starren Augen, die sich nie zu schließen scheinen, und mit ihrer Haut stimmt auch was nicht. Rau und schorfig, und die Seiten ihrer Hälse sind ganz verschrumpelt oder zerknittert. Die werden auch schon sehr jung kahl. Die Älteren sehen am übelsten aus – ich glaube sogar, dass ich noch nie einen sehr alten Mann von diesem Schlag gesehen habe. Vermutlich sterben sie, wenn sie in ’nen Spiegel schauen! Die Tiere laufen vor ihnen weg – als es noch keine Autos gab, hatten sie ’ne Menge Probleme mit den Pferden.
Hier und in Arkham und Ipswich will niemand irgendwas mit ihnen zu schaffen haben, und sie verhalten sich auch selbst irgendwie reserviert, wenn sie in die Stadt kommen oder jemand versucht, auf ihrem Gelände zu angeln. Es ist komisch, dass es immer so viele Fische im Hafen von Innsmouth gibt, während anderswo in der Gegend gar keine vorkommen – aber versuchen Sie mal, dort zu angeln, und Sie werden sehen, wie schnell dieses Volk Sie fortjagt! Diese Leute sind immer mit der Eisenbahn hergekommen – zu Fuß nach Rowley, und dort haben sie dann den Zug genommen, nachdem die Seitenstrecke stillgelegt worden war –, aber nun fahren sie mit diesem Bus.
Ja, es gibt ein Hotel in Innsmouth – es heißt Gilman House –, aber ich glaube nicht, dass da viel los ist. Ich würde Ihnen nicht raten, es dort zu versuchen. Sie bleiben besser hier und nehmen den Bus morgen früh um zehn; dann kriegen Sie dort den Abendbus nach Arkham um acht Uhr. Da war mal ein Fabrikinspektor, der vor ein paar Jahren im Gilman abstieg, und er hat ’ne Menge unangenehmer Andeutungen über das Haus gemacht. Scheint, dass die dort ein eigentümliches Publikum haben, denn der Bursche hörte Stimmen in anderen Räumen – obwohl die meisten davon leer standen –, die ihm ’ne Gänsehaut bereiteten. Es war ausländisches Gerede, dachte er, aber er hat erzählt, dass das Schlimme daran die Art der Stimmen war. Es hörte sich so unnatürlich an – so matschig, sagte er –, dass er nicht wagte, sich auszuziehen und zu Bett zu gehen. Er wartete einfach ab und haute gleich am Morgen ab. Die Stimmen waren fast die ganze Nacht hindurch zu hören.
Dieser Bursche – Casey war sein Name – hat viel darüber erzählt, wie die Leute von Innsmouth ihn beobachteten und irgendwie auf der Hut zu sein schienen. Er meinte, die Raffinerie der Marshes sei ’n eigenartiger Ort – sie befindet sich in einer alten Mühle an dem unteren Fall des Manuxet. Was er sagte, passte mit dem zusammen, was ich schon gehört hatte. Geschäftsbücher unordentlich geführt ... kein klares Anzeichen von irgendeiner Art von Betriebstätigkeit ... Wissen Sie, es war immer schon ein Rätsel, wo die Marshes eigentlich das Gold herhaben, das sie verfeinern. Sie scheinen nie viel in der Richtung gekauft zu haben, aber vor Jahren haben sie eine gewaltige Menge an Goldbarren verschifft.
Früher gab’s Gerede über ’ne komische, fremdländische Art von Schmuck, den die Matrosen und die Männer von der Raffinerie manchmal klammheimlich verkauften oder den man ein- oder zweimal an manchen der Marsh-Weiber sah. Die Leute hielten es für möglich, dass der alte Käpt’n Marsh ihn vielleicht in einem heidnischen Hafen eintauschte, vor allem weil er ja immer Unmengen von Glasperlen und Flitterkram bestellte, wie Seefahrer sie zum Tauschhandel mit Eingeborenen benutzten. Andere dachten, und glauben es noch immer, dass er ein altes Piratenversteck draußen auf dem Teufelsriff entdeckt hatte. Aber hier wird’s seltsam. Der alte Käpt’n ist nun schon seit sechzig Jahren tot und seit dem Bürgerkrieg ist kein größeres Schiff mehr von dort aus in See gestochen; aber trotzdem kaufen die Marshes noch immer ein paar von diesen Sachen zum Tauschen mit Eingeborenen – meistens Kinkerlitzchen aus Glas und Gummi, heißt es. Vielleicht haben die Leute von Innsmouth sie selbst ganz gerne – Gott weiß, dass sie mittlerweile auch nicht besser sind als die Kannibalen in der Südsee oder die Wilden in Guinea.
Diese Pest von 1846 muss die besten Familien der Stadt ausradiert haben. Jedenfalls sind sie jetzt ein zweifelhafter Haufen, und die Marshes und andere reiche Leute sind genauso schlimm wie der Rest. Wie ich Ihnen schon sagte, gibt es in der ganzen Stadt nicht mehr als vierhundert Menschen, trotz all der Straßen, die sie angeblich dort haben. Ich nehme an, sie sind das, was man unten in den Südstaaten den ›weißen Abschaum‹ nennt – gesetzlos und verschlagen und voller Geheimnisse. Sie fangen ’ne Menge Fisch und Hummer und exportieren sie mit Lastwagen. Merkwürdig, dass die Fische genau dorthin schwärmen.
Man kann diese Leute schlecht im Auge behalten und Schulbeamte und Volkszähler haben es dort verdammt schwer. Sie können was drauf wetten, dass schnüffelnde Fremde in Innsmouth nicht willkommen sind. Ich hab selbst von mehr als einem Geschäftsmann oder Regierungsbeauftragten gehört, der dort verschwunden ist, und es gibt Gerede über einen, der verrückt wurde und nun in Danvers sitzt. Die müssen sich ’nen grausigen Schreck für den Burschen ausgedacht haben. Deshalb würde ich an Ihrer Stelle nachts dort nicht bleiben. Ich war noch nie da und verspüre auch keinen Wunsch danach, aber ich schätze, dass eine Reise tagsüber Ihnen nicht schaden kann – auch wenn die Leute hier Ihnen davon abraten werden. Falls Sie nur Besichtigungen machen wollen und nach altem Zeugs suchen, könnte Innsmouth für Sie das Richtige sein.«
Und so verbrachte ich einen Teil jenes Abends in der öffentlichen Bibliothek von Newburyport und suchte nach Informationen über Innsmouth. Als ich versucht hatte, die Einheimischen in den Geschäften, dem Restaurant, den Tankstellen und der Feuerwache zu befragen, waren sie noch schwieriger zum Reden zu bringen, als der Fahrkartenverkäufer es vorhergesagt hatte, und mir wurde klar, dass ich nicht die nötige Zeit aufwenden konnte, ihre instinktive Verschwiegenheit zu überwinden. Sie legten einen obskuren Argwohn an den Tag, als sei mit jemandem, der ein zu großes Interesse an Innsmouth zeigte, etwas nicht in Ordnung. Bei dem CVJM, wo ich abstieg, riet der Heimleiter mir sogar davon ab, einen so düsteren, dekadenten Ort aufzusuchen. Die Menschen in der Bücherei waren ähnlicher Ansicht; in den Augen der Gebildeten war Innsmouth eindeutig nicht mehr als ein gesteigerter Fall städtischer Degeneration.
Die Bücher über die Geschichte von Essex County in den Regalen der Bücherei hatten nur wenig zu berichten außer der Tatsache, dass die Stadt 1643 gegründet wurde, bis zur Revolution berühmt für ihren Schiffsbau und im frühen 19. Jahrhundert eine sehr reiche Hafenstadt gewesen war, die sich danach zu einem kleineren Industriezentrum mit dem Manuxet als Energiequelle entwickelt hatte. Die Seuche und die Aufstände des Jahres 1846 wurden nur sehr knapp abgehandelt, als stellten sie eine Schande für den Landkreis dar.
Bezüge auf den Niedergang waren selten, obgleich die Bedeutsamkeit der jüngeren Entwicklungen unmissverständlich war. Seit dem Sezessionskrieg beschränkte das gesamte Industrieleben sich auf die Marsh Refining Company, und abgesehen von der stets ertragreichen Fischerei stellte die Vermarktung der Goldbarren den einzig verbliebenen größeren Geschäftszweig dar. Der Fischfang lohnte sich bald immer weniger, da die Preise der Waren fielen und große Firmen eine Konkurrenz darstellten, doch gab es im Hafen von Innsmouth nie einen Mangel an Fisch. Ausländer ließen sich nur selten dort nieder, und es gab einige diskret verhüllte Hinweise darauf, dass eine Reihe von Polen und Portugiesen, die es versucht hatten, in eigenartig drastischer Weise vertrieben worden waren.
Am interessantesten von allem war eine flüchtige Erwähnung des sonderbaren Schmucks, den man mit Innsmouth in Verbindung brachte. Dieser hatte offensichtlich im gesamten Landkreis Aufsehen erregt, denn man erwähnte Exemplare davon, die im Museum der Miskatonic-Universität in Arkham und im Ausstellungsraum der Historischen Gesellschaft von Newburyport zu sehen waren. Die bruchstückhaften Beschreibungen dieser Gegenstände waren nüchtern und prosaisch, enthielten für mich aber einen Beigeschmack von nachhaltiger Fremdartigkeit. Etwas an ihnen schien mir so sonderbar und herausfordernd, dass ich sie nicht aus meinen Gedanken streichen konnte, und trotz der relativ späten Stunde beschloss ich, sofern sich das arrangieren ließ, mir das hier aufbewahrte Exemplar anzusehen – angeblich ein großes, merkwürdig proportioniertes Objekt, das offensichtlich als Tiara gedacht war; jene hohe, spitze Kopfbedeckung altpersischer und assyrischer Könige.
Der Bibliothekar stellte mir ein Empfehlungsschreiben an die Kuratorin der Gesellschaft aus, eine Miss Anna Tilton, die in der Nähe wohnte. Nach einer kurzen Erklärung war diese alte Dame so gütig, mich in das geschlossene Gebäude zu leiten, da es noch nicht unmäßig spät war. Die Sammlung war in der Tat bemerkenswert, doch in meinem gegenwärtigen Zustand hatte ich nur Augen für das bizarre Objekt, das in einer Eckvitrine unter elektrischem Licht funkelte.
Ich hätte nicht übermäßig empfänglich für Schönheit sein müssen, um beim Anblick der seltsamen, unirdischen Pracht des fremdartigen opulenten Fantasiegebildes buchstäblich den Atem anzuhalten, das dort auf einem purpurnen Samtkissen ruhte. Selbst jetzt vermag ich das Gesehene kaum zu beschreiben, obgleich es eindeutig eine Art von Tiara war, wie die Beschreibung besagt hatte. Vorne war sie hoch und besaß einen sehr großen und eigenartig unregelmäßigen Rand, als sei sie für ein Haupt mit fast missgebildetem elliptischen Umriss bestimmt gewesen. Das Material schien hauptsächlich Gold zu sein, wenngleich ein sonderbarer hellerer Schimmer auf eine merkwürdige Legierung mit einem gleichermaßen schönen und kaum bestimmbaren Metall hindeutete. Der Zustand war nahezu vollkommen, und man hätte Stunden damit zubringen können, die fesselnden und verwirrend untraditionellen Muster zu betrachten – manche davon schlicht geometrisch und andere eindeutig Darstellungen von Meerestieren –, die mit einer Handwerkskunst von unglaublicher Begabung und Anmut als Hochrelief in die Oberfläche getrieben worden waren.
Je länger ich ihn betrachtete, desto mehr faszinierte der Gegenstand mich; und in dieser Faszination lag ein eigenartig verstörendes Element, das schwer zu beschreiben oder zu erklären ist. Anfangs glaubte ich, es müsse die sonderbare, andersweltliche Qualität der Kunst sein, die mir ein Unbehagen eingab. Alle anderen Kunstgegenstände, die ich je gesehen hatte, gehörten entweder einer bekannten ethnischen oder nationalen Schule an oder aber forderten auf modernistische Weise bewusst jede anerkannte Schule heraus. Diese Tiara war nichts von beidem. Eindeutig gehörte sie einer etablierten Technik unendlicher Reife und Vervollkommnung an, doch war diese Technik gänzlich von jeder anderen – östlichen oder westlichen, antiken oder modernen – entfernt, von der ich je gehört oder Beispiele gesehen hatte. Es war, als stammte die Handwerkskunst von einem anderen Stern.
Ich erkannte jedoch bald, dass mein Unbehagen einen zweiten und vielleicht ebenso machtvollen Ursprung hatte, und zwar in den bildhaften und mathematischen Eingebungen der merkwürdigen Muster. All diese Verzierungen deuteten entlegene Geheimnisse und unvorstellbare Abgründe in Raum und Zeit an, und die eintönig meeresbezogene Natur der Reliefs erhielt eine fast unheimliche Qualität. Zu diesen Reliefs zählten mythische Monstren abscheulicher Absurdität und Bösartigkeit – irgendwie halb Fisch und halb Frosch –, die man nicht ohne eine gewisse gespenstische und unangenehme Empfindung unbewusster Erinnerung betrachten konnte, als riefen sie ein Bild aus tiefen Zellen und Geweben herauf, vererbt von fernsten Ahnen aus Urzeiten. Zuweilen bildete ich mir sogar ein, jeder Umriss dieser gotteslästerlichen Fischfrösche strotzte vor dem Inbegriff des unbekannten und unmenschlichen Bösen.
In sonderbarem Gegensatz zu dem Aussehen der Tiara stand ihre kurze und prosaische Geschichte, die Miss Tilton mir erzählte. Sie war im Jahre 1873 in einem Laden in der State Street zu einem lächerlichen Preis von einem Betrunkenen aus Innsmouth versetzt worden, der bald darauf in einer Rauferei starb. Die Historische Gesellschaft hatte sie unverzüglich beim Pfandleiher erstanden und ihr sogleich einen Ausstellungsplatz zugeteilt, der ihrer Qualität würdig war. Den Herkunftsort vermutete man in Ostindien oder Indochina, doch war diese Einordnung eingestandenermaßen nicht mehr als ein Behelf.
Miss Tilton neigte nach dem Vergleich aller möglichen Hypothesen über den Ursprung der Tiara und ihr Erscheinen in Neuengland zu der Ansicht, sie sei Teil eines exotischen Piratenschatzes, den der alte Kapitän Obed Marsh entdeckt habe. Diese Ansicht wurde nicht gerade entkräftet durch die beharrlichen Angebote der Marshes, die Tiara für eine hohe Summe zu erwerben, mit deren Unterbreitung sie sofort begannen, als sie von ihrem Standort erfuhren, und die sie ungeachtet der unnachgiebigen Weigerung der Gesellschaft bis zum heutigen Tage fortsetzten.
Als die gute Dame mich zur Tür geleitete, machte sie deutlich, dass die Piratentheorie über das Vermögen der Marshes unter den intelligenten Menschen dieser Gegend weitverbreitet war. Ihre eigene Einstellung zum schattenhaften Innsmouth – das sie nie besucht hatte – war geprägt von Abscheu vor einer Gemeinde, die auf der kulturellen Leiter tief herabgestiegen war, und sie versicherte mir, dass die Gerüchte über Teufelsanbetung seitens eines eigenartigen Geheimkultes, der dort die Macht ergriffen und alle rechtgläubigen Kirchen verbannt habe, berechtigt seien.
Dieser heiße, so sagte sie, ›Der esoterische Orden des Dagon‹ und sei zweifellos eine verkommene, fast heidnische Lehre, die vor einem Jahrhundert aus dem Orient importiert worden war, zu einer Zeit, da die Fischbestände von Innsmouth zur Neige zu gehen schienen. Seine Beliebtheit beim einfachen Volk sei ganz natürlich angesichts der plötzlichen und dauerhaften Rückkehr reichlicher, guter Fischbestände, und er wurde bald zum größten Einfluss in der Stadt, verdrängte die Freimaurerei völlig und übernahm die alte Freimaurerhalle in New Church Green als Versammlungsort.
All dies bot der frommen Miss Tilton ausreichenden Grund, die uralte Stadt des Verfalls und Elends zu meiden; doch für mich war es bloß ein neuerlicher Anreiz. Zu meinen architektonischen und historischen Erwartungen trat nun noch ein brennender anthropologischer Eifer, und während sich die Nacht in meinem kleinen CVJM-Zimmer hinzog, konnte ich kaum schlafen.
II
Kurz vor zehn Uhr am nächsten Morgen stand ich mit meinem kleinen Koffer in der Hand vor Hammonds Drogerie am alten Marktplatz und wartete auf den Bus nach Innsmouth. Als der Augenblick seiner Ankunft näher rückte, bemerkte ich, dass die Müßiggänger sich langsam die Straße hinauf zu anderen Plätzen oder in das Ideal-Lunch-Restaurant auf der anderen Seite des Platzes verzogen. Offensichtlich hatte der Fahrkartenverkäufer die Abneigung der Einheimischen gegenüber Innsmouth und seinen Bewohnern nicht übertrieben. Einen Moment später klapperte ein kleiner, überaus altersschwacher Omnibus von schmutzig grauer Farbe die State Street entlang, machte eine Wendung und hielt an der Bordsteinkante neben mir. Ich spürte sogleich, dass dies der richtige war; eine Vermutung, die das nur halb leserliche Schild auf der Windschutzscheibe – »Arkham – Innsmouth – Newb’port« – kurz darauf bestätigte.
Es saßen nur drei Fahrgäste im Bus – dunkle, ungepflegte Männer mit verdrießlichem Gesicht und irgendwie jugendlichem Aussehen –, und als das Gefährt anhielt, watschelten sie unbeholfen heraus und gingen stumm und fast verstohlen die State Street entlang. Auch der Fahrer stieg aus, und ich sah zu, wie er in die Drogerie ging, um einige Einkäufe zu erledigen. Das, überlegte ich, musste der Joe Sargent sein, den der Fahrkartenverkäufer erwähnt hatte; und noch ehe mir irgendwelche Einzelheiten aufgefallen waren, überkam mich eine Welle unwillkürlicher Abneigung, die ich weder unterdrücken noch erklären konnte. Es schien mir mit einem Male sehr natürlich, dass die Einheimischen nicht mit einem Bus fahren wollten, der von diesem Mann gesteuert wurde, und nur widerwillig den Wohnort eines solchen Mannes und seinesgleichen aufsuchten.
Als der Fahrer wieder aus dem Laden kam, betrachtete ich ihn sorgfältiger und versuchte, die Ursache meines unheilvollen Eindruckes zu bestimmen. Er war ein dünner Mann mit hängenden Schultern, ungefähr eins achtzig groß, gekleidet in schäbige, blaue Zivilkleidung, auf dem Kopf trug er eine abgenutzte graue Golfmütze. Sein Alter betrug vielleicht 35 Jahre, doch die sonderbaren tiefen Furchen an den Seiten seines Halses ließen ihn viel älter erscheinen, wenn man nicht sein dumpfes, ausdrucksloses Gesicht betrachtete. Er hatte einen schmalen Kopf, hervorstehende wasserblaue Augen, die nie zu blinzeln schienen, eine flache Nase, eine fliehende Stirn sowie ein ebensolches Kinn und eigenartig unterentwickelte Ohren. Seine langen, dicken Lippen und die grobporigen gräulichen Wangen schienen fast bartlos, abgesehen von einigen wenigen, gelben krausen Haaren, die unregelmäßig wucherten; und stellenweise schien die Haut merkwürdig unregelmäßig, als schäle sie sich aufgrund einer Hautkrankheit ab. Seine großen Hände waren mit dicken Adern überzogen und von sehr ungewöhnlicher blaugrauer Färbung. Die Finger waren im Vergleich zum restlichen Bau der Hand erstaunlich kurz und schienen die Neigung zu besitzen, sich eng in die riesige Handfläche zu schmiegen. Als er auf den Bus zuging, bemerkte ich seinen eigenartig watschelnden Gang und sah, dass seine Füße übermäßig groß waren. Je länger ich sie betrachtete, desto mehr drängte sich mir die Frage auf, wie er an passende Schuhe herankam.
Eine gewisse Schmierigkeit an dem Burschen steigerte meine Abneigung noch. Er hatte offensichtlich die Gepflogenheit, im Fischerhafen zu arbeiten oder dort herumzulungern, und trug den für diesen Ort charakteristischen Geruch mit sich. Welches fremdländische Blut genau in seinen Adern floss, konnte ich nicht einmal vermuten. Seine Eigenheiten wirkten weder asiatisch noch polynesisch, levantinisch oder negroid, doch konnte ich erkennen, weshalb die Menschen ihn als fremdartig empfanden. Ich selbst hätte eher an biologische Degenerierung als an ausländische Abstammung gedacht.
Ich war enttäuscht, als ich bemerkte, dass es außer mir keine anderen Passagiere im Bus gab. Irgendwie behagte mir die Vorstellung nicht, allein mit diesem Chauffeur zu sein. Doch als die Abfahrtszeit offensichtlich kurz bevorstand, überwand ich meine Bedenken und folgte dem Mann in den Bus, streckte ihm einen Dollarschein entgegen und murmelte das einzige Wort »Innsmouth«.
Er sah mich einen Augenblick lang sonderbar an, als er mir wortlos 40 Cent Wechselgeld zurückgab.
Ich wählte einen Sitz weit hinter ihm, doch auf der Fahrerseite des Busses, da ich während der Reise die Küste betrachten wollte.
Schließlich startete das klapprige Gefährt mit einem Ruck und rasselte lärmend in einer Abgaswolke an den alten Ziegelbauten der State Street vorüber. Als ich einen Blick auf die Menschen auf den Bürgersteigen warf, glaubte ich zu bemerken, dass sie so taten, als sähen sie den Bus gar nicht. Dann bogen wir nach links in die High Street ab, wo die Fahrt schneller wurde; wir brausten an stattlichen alten Herrenhäusern der frühen Republik und noch älteren Bauernhäusern der Kolonialzeit vorbei, passierten Lower Green und den Parker River und erreichten schließlich einen langen eintönigen Streifen offenen Küstenlandes.
Der Tag war warm und sonnig, doch die Landschaft aus Sand, Riedgras und verkümmertem Strauchwerk wurde immer jämmerlicher, je weiter wir vorankamen. Aus dem Fenster hinaus sah ich das blaue Wasser und den sandigen Umriss von Plum Island, und bald darauf kamen wir dem Strand sehr nahe, als die enge Straße von der Hauptstraße nach Rowley und Ipswich abzweigte. Häuser waren keine zu sehen, und am Zustand der Straße vermochte ich abzulesen, dass es in dieser Gegend nur sehr wenig Verkehr gab. Die kleinen verwitterten Telefonmasten trugen nur zwei Kabel. Dann und wann überquerten wir grob gezimmerte Holzbrücken über Tidebäche, die sich weit ins Inland schlängelten und die Einsamkeit der Gegend noch unterstützten.
Ab und an erspähte ich abgestorbene Baumstümpfe und zerfallende Grundmauern über dem Treibsand und erinnerte mich der alten Überlieferung, die ich in einem der Geschichtsbücher gelesen hatte, dass dies einmal ein fruchtbarer und dicht besiedelter Landstrich gewesen sei. Der Wandel, so hieß es, sei zeitgleich mit der Epidemie in Innsmouth im Jahre 1846 eingetreten. Laut Ansicht des einfachen Volkes stand dies mit verborgenen Kräften des Bösen in Zusammenhang. Der wirkliche Grund war aber die schonungslose Rodung des Waldgebietes nahe der Küste, wodurch das Erdreich seines besten Schutzes vor Wind und Treibsand beraubt worden war.
Schließlich verschwand Plum Island außer Sicht und zur Linken sahen wir die gewaltige Ausdehnung des Atlantiks. Der schmale Pfad wurde nun steiler, und ich verspürte ein eigenartiges Gefühl der Beunruhigung dabei, den einsamen Hügelkamm über uns zu betrachten, wo die gefurchte Straße auf den Himmel traf. Es war, als würde der Bus immer weiter emporklettern, die normale Welt gänzlich verlassen und mit den unbekannten Mysterien des oberen Luftreiches und des rätselhaften Himmels verschmelzen. Der Geruch des Meeres weckte unheilvolle Gedanken und der gebeugte, starre Rücken und schmale Kopf des stummen Fahrers erregten immer mehr meinen Abscheu. Als ich ihn anblickte, sah ich, dass sein Hinterkopf fast so haarlos wie sein Gesicht war und nur einige wenige, widerspenstige gelbe Strähnen eine graue schuppige Oberfläche bedeckten.
Dann erreichten wir den Hügelkamm und erblickten das ausgebreitete Tal dahinter, wo der Manuxet sich nördlich der langen Reihe von Klippen mit dem Meer vereint, die in Kingsport Head gipfeln und sich in Richtung Cape Ann fortsetzen. Am weit entfernten nebligen Horizont machte ich gerade noch das undeutliche Profil von Kingsport Head aus, welches von dem sonderbaren alten Haus gekrönt wird, über das so viele Legenden umgehen; doch im Augenblick wurde meine Aufmerksamkeit zur Gänze von dem näher gelegenen Panorama knapp unter mir in Anspruch genommen.
Ich erkannte, dass ich nun endlich dem von Gerüchten überschatteten Innsmouth von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Es war eine Stadt von großer Ausdehnung und dichter Bebauung, doch so ohne sichtbares Leben, dass es wirklich unheimlich war. Aus dem Gewirr der Schornsteine drang kaum ein Fetzen Rauch, und die drei hohen Kirchtürme zeichneten sich nackt und ohne Farbe vor dem seewärts gelegenen Horizont ab. Einer davon zerfiel an der Spitze, und dieser und ein weiterer zeigten dort, wo Uhren hätten sein sollen, nur schwarze, klaffende Löcher. Der gewaltige Wirrwarr an durchhängenden Walmdächern und spitzen Giebeln vermittelte in anstößiger Klarheit den Eindruck wurmstichigen Verfalls, und als wir auf der nun abfallenden Straße näher kamen, konnte ich sehen, dass viele Dächer völlig eingestürzt waren. Weiter vom Meer entfernt standen auch einige große rechteckige georgianische Häuser mit Walmdächern, Kuppeln und von Geländern umsäumten Aussichtsplattformen. Ein oder zwei dieser Gebäude schienen in mäßig gutem Zustand zu sein. In ihrer Mitte erstreckten sich landeinwärts die verrosteten, grasüberwucherten Schienen der aufgegebenen Eisenbahn, schiefe Telegrafenmasten ohne Leitungen und die halb verblassten Fährten der alten Kutschwege nach Rowley und Ipswich.
In der Nähe des Hafens war der Verfall am schlimmsten, obgleich ich in der Mitte den weißen Glockenturm eines recht gut erhaltenen Ziegelbauwerkes erspähen konnte, das wie eine kleine Fabrik aussah. Der seit langer Zeit versandete Hafen war von einem uralten steinernen Wellenbrecher umgeben; auf diesem erkannte ich die winzigen sitzenden Gestalten einiger Fischer, und an seinem Ende befand sich etwas, das wie das Fundament eines ehemaligen Leuchtturmes aussah. Eine Zunge aus Sand hatte sich auf der Innenseite dieser Barriere gebildet, und darauf sah ich ein paar baufällige Hütten, vertäute Boote und verstreute Hummerkörbe. Die einzige Stelle mit tiefem Wasser schien sich dort zu befinden, wo der Fluss an dem Gebäude mit dem Glockenturm vorbeiströmte und sich südwärts wandte, um sich am Ende des Wellenbrechers mit dem Meer zu vereinen.
Hie und da ragten die Ruinen von Kaianlagen aus dem Ufer heraus, um in ungewisser Fäulnis zu enden, wobei die am südlichsten gelegenen am schlimmsten vom Verfall betroffen schienen. Und weit draußen auf dem Meer erblickte ich trotz der Flut eine lange schwarze Linie, die sich kaum aus dem Wasser erhob und dennoch eine Andeutung sonderbarer, unterschwelliger Bösartigkeit in sich trug. Dies, so war mir klar, musste das Teufelsriff sein. Als ich hinsah, schien sich meiner starken Abneigung ein subtiles, eigenartiges Gefühl der Lockung hinzuzugesellen; und merkwürdigerweise fand ich das verstörender als den ursprünglichen Eindruck.
Auf der Straße sahen wir keinen Menschen, passierten aber bald verlassene Bauernhöfe in verschiedenen Stadien des Verfalls. Dann bemerkte ich ein paar bewohnte Häuser mit Tüchern anstelle der zerbrochenen Fensterscheiben und Muschelschalen und toten Fischen in den schmutzigen Höfen. Ein- oder zweimal sah ich apathisch aussehende Menschen in unfruchtbaren Gärten arbeiten oder an dem von Fischgeruch erfüllten Strand weiter unten nach essbaren Muscheln graben, sowie Gruppen von schmutzigen affengesichtigen Kindern, die vor unkrautüberwucherten Eingängen spielten. Auf irgendeine Weise wirkten diese Menschen beunruhigender als die trostlosen Gebäude, denn fast alle von ihnen wiesen befremdliche Eigenartigkeiten des Gesichts auf und bewegten sich seltsam. Ich verspürte instinktiv eine Abneigung gegen diese Menschen, ohne dies erklären zu können. Eine Sekunde lang glaubte ich, dieses typische Aussehen gemahne mich an ein Bild, das ich unter besonders abscheulichen oder traurigen Umständen vielleicht in einem Buch gesehen hatte; doch diese vermeintliche Erinnerung verging rasch wieder.
Als der Bus eine tiefere Ebene erreichte, vernahm ich in der unnatürlichen Stille allmählich das stete Plätschern eines Wasserfalls. Die schiefen unbemalten Häuser wurden zahlreicher, standen zu beiden Seiten der Straße und wirkten städtischer als jene, die wir hinter uns gelassen hatten. Das Panorama vor uns hatte sich zu einer Straßenszenerie verengt, und stellenweise erkannte ich, dass es früher ein Kopfsteinpflaster und Bürgersteige aus Ziegelsteinen gegeben hatte. Alle Häuser waren dem Anschein nach verlassen, und gelegentlich gab es Lücken, wo baufällige Schornsteine und Kellerwände von Gebäuden zeugten, die eingestürzt waren. Alles durchdringend lag der widerlichste Fischgeruch, den man sich vorzustellen vermag, über dem Ort.
Bald trafen wir auf Kreuzungen; die Straßen auf der Linken führten zu küstennahen Gegenden ungepflasterten Schmutzes und Verfalls, derweil die zur Rechten Visionen einstiger Pracht offenbarten. Bislang hatte ich in der Stadt noch keinen Menschen gesehen, doch nun erschienen Anzeichen einer spärlichen Bewohnung – Vorhänge an Fenstern hie und da und ein zerbeultes Automobil an der Bordsteinkante. Pflaster und Bürgersteige waren hier besser erhalten, und obschon die meisten der Häuser recht alt waren – Holz- und Ziegelbauten vom Anfang des 19. Jahrhunderts –, wurden sie offensichtlich bewohnbar gehalten. Als Amateur-Historiker vergaß ich fast meinen Ekel vor dem Geruch und meine Empfindung von Bedrohung und Abscheu angesichts dieser reichen unveränderten Überbleibsel aus der Vergangenheit.
Doch ich sollte mein Ziel nicht erreichen, ohne zuvor noch einen ausgesprochen unangenehmen Eindruck zu erhalten. Der Bus fuhr auf einen offenen Platz mit Kirchen zu beiden Seiten und den vertrockneten Überresten einer runden Grünfläche in der Mitte und ich betrachtete eine große, säulengeschmückte Halle an der Straßenkreuzung zur rechten Hand. Die vormals weiße Farbe des Bauwerkes war nun grau und blätterte ab, und das schwarze und goldene Schild auf dem Giebel war so verblasst, dass ich nur mit Mühe diese Worte entziffern konnte: ›Esoterischer Orden des Dagon‹. Dies war also die ehemalige Freimaurerhalle, die nun einem entarteten Kult gehörte. Als ich meine Augen anstrengte, um diese Inschrift zu erkennen, wurde meine Aufmerksamkeit von den rauen Tönen einer gesprungenen Glocke auf der anderen Straßenseite abgelenkt, und ich wandte mich rasch um, um auf meiner Seite des Wagens aus dem Fenster zu schauen.
Das Geräusch drang aus einer Steinkirche mit flachem Turm, die eindeutig späteren Datums als die meisten anderen Häuser war, erbaut in einer plumpen Gotik mit unverhältnismäßig hohen Grundmauern und verschlossenen Fenstern. Obgleich die Zeiger der Uhr auf der mir sichtbaren Seite fehlten, wusste ich, dass diese rauen Schläge die elfte Stunde verkündeten. Dann wurden alle Gedanken an die Zeit mit einem Mal von einem anstürmenden Bild heftiger Intensität und unerklärlichen Grauens verdrängt, das mich traf, ehe ich wusste, was es wirklich war. Die Kellertür der Kirche stand offen und enthüllte ein schwarzes Rechteck im Innern. Und während ich hinsah, schien etwas jenes dunkle Rechteck zu durchqueren; und meinem Hirn brannte sich einen Moment lang eine albtraumhafte Vorstellung ein, die umso irremachender war, da auch genaueres Hinsehen keine einzige albtraumhafte Eigenart daran erkennen konnte.
Es war ein lebendes Wesen – das erste, das ich, mit Ausnahme des Fahrers, gesehen hatte, seit wir in die Innenstadt gekommen waren –, und hätte ich mich in einem ausgeglicheneren Zustand befunden, so hätte ich überhaupt nichts Grauenerregendes dabei empfunden. Eindeutig war es, wie mir nun klar wurde, der Pastor. Er war in eigenartige Gewänder gekleidet, die ohne Zweifel eingeführt worden waren, als der Orden des Dagon die Rituale der örtlichen Kirchen umgeformt hatte. Was meinen Blick zuerst unbewusst festgehalten und den bizarren Schreck ausgelöst hatte, war wohl die hohe Tiara, die er trug – eine fast identische Entsprechung jener, die Miss Tilton mir am Abend zuvor gezeigt hatte. Dies hatte sich auf meine Fantasie ausgewirkt und dem undeutlichen Gesicht und der verhüllten watschelnden Gestalt darunter ein unaussprechlich finsteres Aussehen verliehen. Es gab also nicht den geringsten Anlass, mich zu fürchten. War es denn nicht natürlich, dass ein örtlicher Mysterienkult seinen Priestern auch eine einzigartige Kopfbedeckung vorschrieb, die der Gemeinde zuvor auf sonderbare Weise vertraut gemacht worden war – vielleicht als Teil eines Schatzes?
Einige weniger abstoßend aussehende junge Leute zeigten sich jetzt auf den Bürgersteigen – einzeln oder in stummen Gruppen von zweien oder dreien. Die Erdgeschosse der verfallenden Häuser beherbergten zum Teil kleine Läden mit schmutzigen Schildern, und ich bemerkte ein oder zwei geparkte Lastwagen, als wir die Straße entlangklapperten. Das Geräusch der Wasserfälle wurde immer lauter, und alsbald sah ich ein recht tiefes Flusstal vor uns, das von einer breiten eisernen Verkehrsbrücke überspannt wurde, hinter der sich ein großer Platz öffnete. Als wir über die Brücke ratterten, sah ich rechts und links hinaus und bemerkte einige Fabrikgebäude am Rande des grasbedeckten Steilufers oder ein wenig darunter. Der Fluss tief dort unten führte sehr viel Wasser, und ich konnte zu meiner Rechten am oberen Verlauf zwei tosende Wasserfälle und mindestens einen weiteren flussabwärts zu meiner Linken sehen. An dieser Stelle war das Rauschen ohrenbetäubend. Dann fuhren wir auf den großen halbrunden Platz jenseits des Flusses und hielten auf der rechten Seite vor einem hohen, kuppelgekrönten Gebäude mit Überresten gelber Farbe und einem verblassten Schild, das es als das Gilman House auswies.
Ich war froh, aus diesem Bus aussteigen zu können, und ging sogleich daran, meinen Koffer in der schäbigen Empfangshalle des Hotels abzugeben. Es war nur eine Person in Sichtweite – ein älterer Mann ohne das, was ich mittlerweile als den ›Innsmouth-Look‹ bezeichnete –, und ich entschied, ihm keine der Fragen zu stellen, die mich bedrückten, da ich mich erinnerte, dass über dieses Hotel sonderbare Dinge berichtet worden waren. Stattdessen schlenderte ich auf den Platz, von dem der Bus bereits wieder verschwunden war, und würdigte eingehend den Ausblick.
Eine Seite des gepflasterten offenen Platzes wurde von der geraden Linie des Flussufers eingenommen; die andere bestand aus einem Halbkreis aus Ziegelgebäuden mit Schrägdächern aus der Zeit um 1800, von dem aus mehrere Straßen nach Südosten, Süden und Südwesten ausstrahlten. Es gab nur bedrückend wenige und kleine Laternen – alle mit schwachen Glühlampen ausgestattet –, und ich war froh, dass meine Pläne eine Abreise vor Anbruch der Dunkelheit vorsahen, wenngleich ich wusste, dass der Mond hell scheinen würde. Die Gebäude befanden sich alle in gutem Zustand und beherbergten vielleicht ein Dutzend tatsächlich geöffneter Geschäfte; eines davon war ein Lebensmittelladen der First-National-Kette, zu den andern zählten ein trostloses Restaurant, eine Drogerie und ein Fischgeschäft. Östlich des Platzes, in der Nähe des Flusses, befand sich ein Büro des einzigen Industriebetriebes der Stadt – der Marsh Refining Company. Es waren vielleicht zehn Leute zu sehen und vier oder fünf Automobile und Lastwagen standen vereinzelt herum. Man musste mir nicht sagen, dass dies das Stadtzentrum von Innsmouth war. Im Osten konnte ich den blauen Schimmer des Hafens sehen, vor dem sich die verfallenen Überreste dreier einst sehr schöner georgianischer Kirchtürme erhoben. Und nahe der Küste am gegenüberliegenden Flussufer sah ich den weißen Glockenturm über dem Gebäude, das ich für die Marsh-Raffinerie hielt.
Aus irgendeinem Grunde entschied ich, meine ersten Nachforschungen in dem Lebensmittelladen der Kette anzustellen, dessen Personal aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus Innsmouth stammen würde. Ich fand dort einen einsamen Jungen von ungefähr siebzehn Jahren als Geschäftsleiter und war erfreut über seine Klugheit und Liebenswürdigkeit, die mir bereitwillige Auskünfte zu versprechen schien. Er erweckte einen außergewöhnlich redefreudigen Eindruck, und ich erfuhr bald, dass er diesen Ort nicht mochte, den Fischgeruch nicht und nicht die heimlichtuerischen Menschen. Jedes Wort mit einem Fremden war ihm eine Erleichterung. Er stammte aus Arkham, wohnte bei einer Familie aus Ipswich und fuhr nach Hause, sobald sich ihm ein freier Moment bot. Seiner Familie gefiel es nicht, dass er in Innsmouth arbeitete, doch man hatte ihn hierher versetzt, und er wollte seine Stellung nicht aufgeben.
Es gab, so sagte er, keine öffentliche Bücherei oder Handelskammer in Innsmouth, aber ich könnte meinen Weg vermutlich auch so finden. Die Straße, die ich entlanggegangen war, hieß Federal Street. Westlich davon lagen die guten alten Wohngegenden – Broad, Washington, Lafayette und Adams Street – und östlich davon die zur Küste gelegenen Elendsviertel. In diesen Elendsvierteln – entlang der Main Street – würde ich die alten georgianischen Kirchen finden, doch waren sie alle längst aufgegeben worden. Ich sei gut beraten, mich in dieser Gegend – insbesondere nördlich des Flusses – nicht allzu verdächtig zu verhalten, da die Menschen dort mürrisch und feindselig seien. Dort seien sogar schon einige Fremde verschwunden.
Gewisse Stellen seien fast verbotenes Territorium, wie er zu seinem Nachteil selbst erfahren hatte. Man dürfe zum Beispiel nicht lange in der Nähe der Marsh-Raffinerie, einer der noch benutzten Kirchen oder der säulengeschmückten Halle des Dagon-Ordens in New Church Green verweilen. Diese Kirchen seien sehr sonderbar – alle hätten sie sich nachdrücklich von ihren früheren Bekenntnissen losgesagt und benützten nun anscheinend die merkwürdigsten Zeremonien und Sakralgewänder. Ihre Glaubenslehren seien heterodox und rätselhaft und spielten auf gewisse wundersame Verwandlungen an, die zur körperlichen Unsterblichkeit – einer gewissen Sorte – auf dieser Welt führten. Der eigene Pastor des jungen Mannes – Dr. Wallace von der methodistisch-episkopalen Kirche von Ashbury – hatte ihn feierlich dazu angehalten, keiner Kirche in Innsmouth beizutreten.
Was die Menschen von Innsmouth anbelangte – so wusste der junge Mann kaum, was er von ihnen halten sollte. Sie seien sehr verstohlen und zeigten sich selten, wie Tiere, die in Höhlen lebten, und man könne sich kaum vorstellen, womit sie, abgesehen von ihrer ungeregelten Fischerei, ihre Zeit zubrachten. Vielleicht befanden sie sich – nach den Mengen illegal gebrannten Schnapses zu urteilen, die sie verzehrten – den Großteil des Tages in alkoholischer Betäubung. Sie schienen durch ein mürrisches Verständnis miteinander verbunden – sie verachteten die Welt, als hätten sie Zugang zu anderen und vorzüglicheren Daseinssphären. Ihr Aussehen – insbesondere jene starren lidlosen Augen, die man nie geschlossen sah – sei ohnehin schon bestürzend genug, und ihre Stimmen seien ekelhaft. Es sei grässlich, sie des Nachts in ihren Kirchen singen zu hören, besonders während ihrer wichtigsten Feste oder Erweckungsfeiern, die zweimal jährlich am 30. April und am 31. Oktober stattfänden.
Sie hegten eine große Vorliebe fürs Wasser und schwammen viel, sowohl im Fluss als auch im Hafen. Wettschwimmen hinaus zum Teufelsriff würden recht häufig ausgetragen, und alle schienen gut dazu befähigt, an diesem anstrengenden Sport teilzunehmen. Dächte man einmal darüber nach, so sähe man in der Öffentlichkeit im Allgemeinen nur ziemlich junge Leute, von denen die ältesten in der Regel sehr abstoßend ausschauten. Fände sich mal eine Ausnahme, seien dies zumeist Personen ohne eine Spur von Abweichung, wie etwa der alte Portier im Hotel. Man müsse sich die Frage stellen, was eigentlich aus der Mehrzahl der älteren Menschen würde und ob der ›Innsmouth-Look‹ nicht etwa eine fremdartige und heimtückische Krankheit sei, die im Laufe der Jahre immer weiter um sich griff.
Natürlich könne nur ein äußerst seltenes Leiden solch gewaltige und radikale anatomische Veränderungen bei einer erwachsenen Person bewirken – Veränderungen, die grundlegende Merkmale des Knochenbaus wie die Form des Schädels betrafen –, doch sei nicht einmal dieser Aspekt erstaunlicher und unerhörter als die sichtbaren Kennzeichen der Krankheit im Ganzen. Es sei schwierig, so die Ansicht des jungen Mannes, in einer solchen Angelegenheit zu einer wirklichen Schlussfolgerung zu gelangen, da man die Einheimischen nie persönlich kennenlernen würde, gleich, wie lange man auch in Innsmouth leben mochte.
Der junge Mann war überzeugt davon, dass viele Kreaturen, die noch weitaus schlimmer aussahen als die scheußlichsten der Leute, die sich in der Öffentlichkeit zeigten, in einigen der Häuser gefangen gehalten wurden. Man habe zuweilen die sonderbarsten Geräusche gehört. Die baufälligen Hütten an der Küste nördlich des Flusses seien Gerüchten zufolge durch verborgene Tunnel miteinander verbunden und bildeten daher eine wahre Brutstätte ungeahnter Abnormitäten. Welche Art fremdländischen Blutes – sofern überhaupt – diese Wesen in sich trügen, sei unmöglich zu sagen. Sobald Regierungsbeamte oder andere aus der Außenwelt in die Stadt kämen, würden sich einige der besonders abstoßenden Gestalten verbergen.
Es sei nach Ansicht meines Informanten sinnlos, die Einheimischen irgendetwas über die Stadt zu fragen. Der Einzige, der rede, sei ein sehr alter, aber normal aussehender Mann, der im Armenhaus am nördlichen Stadtrand lebe und seine Zeit damit verbringe, durch die Stadt zu streifen oder in der Nähe der Feuerwehr herumzulungern. Dieser altersgraue Kerl, Zadok Allen, sei 96 Jahre alt und nicht ganz richtig im Kopf, ganz davon abgesehen sei er der Trunkenbold der Stadt. Er sei ein merkwürdiger, verstohlener Bursche, der sich ständig umschaue, als fürchte er sich vor etwas. Falls er mal nüchtern sei, könne er nicht dazu gebracht werden, mit Fremden zu sprechen. Er könne jedoch der Verlockung seines liebsten Giftes nie widerstehen; und sei er erst einmal betrunken, so erzähle er die erstaunlichsten Dinge aus alten Zeiten.
Letzten Endes könne man allerdings nur wenig nützliche Informationen von ihm beziehen, da seine Geschichten allesamt wahnsinnige, unvollständige Andeutungen unmöglicher Wunder und Schrecken seien, die nur seiner wirren Fantasie entspringen könnten. Niemand schenke ihm je Glauben, doch die Einheimischen sähen es gar nicht gern, wenn er mit Fremden trank und sprach; und es sei nicht immer ungefährlich, ihm zu viele Fragen zu stellen. Vermutlich stammten von ihm einige der wildesten Gerüchte und Wahnvorstellungen, die im Umlauf waren.
Mehrere nicht hier geborene Einwohner hätten von Zeit zu Zeit Ungeheuerliches berichtet, aber umgeben von den Geschichten des alten Zadok und den missgestalteten Einheimischen sei es kein Wunder, dass solche Sinnestäuschungen vorkämen. Keiner der Nicht-Einheimischen ginge des Nachts aus dem Haus, da man allgemein finde, das sei nicht klug. Außerdem sei es dann scheußlich finster auf den Straßen.
Was das Geschäftsleben anging – das reichliche Vorkommen an Fisch sei gewiss unheimlich, doch würden die Einheimischen es immer weniger zu ihrem Vorteil nutzen. Zudem fielen die Preise und wuchs die Konkurrenz. Natürlich sei das wahre Geschäft in der Stadt die Raffinerie, deren offizielles Büro sich am Platz nur ein paar Häuser östlich von uns befand. Den alten Marsh sehe man nie, er fahre aber zuweilen in einem verschlossenen Wagen mit Vorhängen zur Arbeit.
Es gäbe alle möglichen Gerüchte darüber, wie Marsh nun aussehe. Er sei einst ein großer Dandy gewesen, und die Menschen behaupteten, er trage noch immer den Gehrock der edwardianischen Ära, den er auf eigenartige Weise gewissen Missbildungen angepasst habe. Seine Söhne hätten früher das Büro am Marktplatz geführt, doch in letzter Zeit hätten sie sich nicht mehr häufig blicken lassen und die Hauptlast der Arbeit der jüngeren Generation überlassen. Die Söhne und ihre Schwestern sähen mittlerweile sehr sonderbar aus, besonders die Älteren von ihnen; und es hieß, ihre Gesundheit sei angeschlagen.
Eine der Marsh-Töchter sei eine abstoßende, reptilienhaft aussehende Frau, die ein Übermaß an eigenartigem Schmuck trage, der eindeutig derselben exotischen Tradition wie die merkwürdige Tiara entstamme. Mein Informant hatte den Schmuck oftmals gesehen und gehört, er sei Teil eines geheimen Schatzes, der entweder von Piraten oder von Dämonen herrühre. Die Geistlichen – oder Priester, oder wie auch immer man sie nun nenne – würden diesen Schmuck ebenfalls als Kopfputz tragen; aber die bekomme man nur selten zu Gesicht. Andere Exemplare hatte der Jüngling nicht gesehen, obgleich den Gerüchten nach viele in Innsmouth existieren sollten.
Die Marshs würden wie die drei anderen vornehmen Familien der Stadt – die Waites, die Gilmans und die Eliots – äußerst zurückgezogen leben. Sie bewohnten gewaltige Häuser in der Washington Street, und in einigen davon, so hieß es, versteckten sich gewisse lebende Verwandte, deren Aussehen ein öffentliches Auftreten unmöglich mache und die man für verstorben erklärt habe.
Nachdem er mich gewarnt hatte, dass viele der Straßenschilder entfernt worden seien, zeichnete der Jüngling für mich eine grobe, aber umfassende und sorgfältige Karte von den herausragenden Punkten der Stadt. Nachdem ich sie einen Moment betrachtet hatte, war ich überzeugt, dass sie mir von großer Hilfe sein würde, und steckte sie mit überschwänglichem Dank ein. Da mir die Schmuddeligkeit des einzigen Restaurants, das ich gesehen hatte, nicht zusagte, kaufte ich einen reichlichen Vorrat an Käsecrackern und Ingwerwaffeln, die mir später als Mittagessen dienen sollten. Ich nahm mir als Programm vor, die Hauptstraßen entlangzugehen, mit jedem Nicht-Einheimischen zu sprechen, der mir begegnen würde, und um acht Uhr mit dem Bus zurück nach Arkham zu fahren. Die Stadt stellte, wie ich sehen konnte, ein besonders drastisches Beispiel für den Verfall einer Gemeinde dar; doch da ich kein Soziologe war, wollte ich meine ernsthaften Untersuchungen auf das Gebiet der Archäologie beschränken.
So begann ich meinen systematischen, wenngleich von Unbehagen begleiteten Rundgang durch Innsmouths enge schattendunkle Gassen. Als ich die Brücke überquerte und mich in Richtung des rauschenden unteren Wasserfalles wandte, passierte ich die Marsh-Raffinerie, aus der sonderbarerweise kein Fabriklärm zu hören war. Dieses Gebäude erhob sich auf dem steilen Flussufer nahe einer Brücke und einem offenen Platz, zu dem mehrere Straßen führten und den ich für den historischen Stadtkern hielt, der nach der Revolution durch den heutigen Town Square ersetzt worden war.
Als ich das Flusstal auf der Main-Street-Brücke erneut überquerte, gelangte ich in eine Gegend äußerster Verlassenheit, die mich irgendwie erschaudern ließ. Zusammenfallende Haufen von Walmdächern bildeten eine gezackte und unwirkliche Silhouette, über der sich der gespenstische enthauptete Turm einer uralten Kirche erhob. Manche Häuser in der Main Street wurden noch bewohnt, doch die meisten waren dicht mit Brettern verschlagen. In den ungepflasterten Seitenstraßen sah ich die schwarzen, gähnenden Fenster verlassener Gebäude, von denen viele sich in gefährlichen und unglaublichen Winkeln neigten, weil ein Teil der Grundmauern abgesunken war. Ihre Fenster starrten so geisterhaft, dass man Mut aufbringen musste, um sich gen Osten zum Meer zu wenden. Das Grauen eines verlassenen Hauses steigert sich gewiss mehr in geometrischen als arithmetischen Maßen, wenn die Zahl der Häuser immer größer wird und eine Stadt völliger Einsamkeit bildet. Der Anblick solch endloser Straßen fischäugiger toter Leere und der Gedanke an jene miteinander verknüpften Unendlichkeiten schwarzer, dumpfer Behausungen, die den Spinnweben und Erinnerungen und dem Sieger Wurm überlassen wurden, erwecken tief begrabene Ängste und Abneigungen, die nicht einmal die tapferste Philosophie zu zerstreuen mag.
Die Fish Street war ebenso verlassen wie die Main Street, obgleich hier im Unterschied zu jener noch viele Warenhäuser aus Stein und Ziegel in ausgezeichnetem Zustand vorhanden waren. Die Water Street bot fast ein getreues Abbild davon, nur dass es dort große zur See gelegene Lücken gab, wo früher Kais gewesen waren. Kein einziges Lebewesen ließ sich sehen, außer den einsamen Fischern weit draußen auf dem Wellenbrecher, und kein Geräusch war zu hören, außer dem Plätschern der Wellen im Hafen und dem Rauschen der Wasserfälle des Manuxet. Die Stadt belastete immer mehr meine Nerven, und ich sah mich verstohlen um, während ich mir meinen Weg zurück über die baufällige Water-Street-Brücke suchte. Die Brücke in der Fish Street lag laut Stadtplan in Trümmern.
Nördlich des Flusses gab es Spuren elenden Lebens – menschenerfüllte Fischerhallen in der Water Street, rauchende Schornsteine und ausgebesserte Dächer hie und da, gelegentlich ein Geräusch unbekannten Ursprungs und vereinzelte schlurfende Gestalten auf den verwahrlosten Straßen und ungepflasterten Gehwegen –, doch das erschien mir noch bedrückender als die Verlassenheit im Süden. Ein Grund dafür war, dass die Menschen hier noch abstoßender und missgebildeter als jene wirkten, die ich in der Stadtmitte gesehen hatte; und so wurde ich mehrere Male bösartig an etwas gänzlich Unwirkliches erinnert, das ich nicht recht einzuordnen wusste. Zweifelsohne war der fremdländische Einfluss in der Bevölkerung von Innsmouth hier noch stärker ausgeprägt als weiter landeinwärts – möglicherweise war der ›Innsmouth-Look‹ eher eine Krankheit als ein Rassemerkmal, was bedeutet hätte, dass in diesem Bezirk die weiter fortgeschrittenen Fälle untergekommen waren.
Eine Einzelheit, die mich störte, war die Verteilung der wenigen schwachen Laute, die ich vernahm. Naturgemäß hätten sie alle aus den sichtlich bewohnten Häusern kommen müssen, doch in Wirklichkeit drangen gerade die lautesten meistens hinter den am festesten vernagelten Häuserfassaden hervor. Es knirschte und trippelte, und ich vernahm raue verdächtige Geräusche; und voller Unbehagen dachte ich an die verborgenen Tunnel, die der Junge im Lebensmittelgeschäft angedeutet hatte. Plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich mir die Frage stellte, wie die Stimmen der Einwohner wohl klingen mochten. Ich hatte in diesem Viertel bislang niemanden sprechen gehört und war unerklärlicherweise erpicht darauf, dass dem auch so blieb.
Nachdem ich nur lange genug innegehalten hatte, um mir die beiden schönen, aber verfallenen Kirchen in der Main und der Church Street anzusehen, verließ ich eilends dieses abscheuliche Küsten-Elendsviertel. Mein nächstes vorgesehenes Ziel war der neue Kirchplatz, aber irgendwie konnte ich mich nicht dazu überwinden, wieder an der Kirche vorbeizugehen, in deren Kellertür ich die unerklärlich Furcht erregende Gestalt jenes sonderbar gekrönten Priesters oder Pastors gesehen hatte. Außerdem hatte der junge Mann im Lebensmittelladen mir erzählt, dass die Umgebung der Kirchen sowie der Halle des Dagon-Ordens für Fremde nicht zu empfehlen sei.
Demgemäß hielt ich mich nördlich, ging die Main Street entlang bis zur Martin Street, wandte mich dann landeinwärts, überquerte die Federal Street nördlich des neuen Kirchplatzes und gelangte in die verfallene patrizische Wohngegend der nördlichen Broad Street sowie Washington, Lafayette und Adams Street. Wenngleich diese stattlichen alten Alleen schlecht erhalten und ungepflegt waren, war ihre von Ulmen überschattete Würde doch nicht völlig verschwunden. Ein Herrenhaus nach dem andern fesselte meinen Blick, die meisten davon baufällig und vernagelt inmitten vernachlässigter Grundstücke stehend, doch in jeder Straße zeigten ein oder zwei von ihnen Anzeichen der Bewohnung. In der Washington Street gab es in einer Reihe vier oder fünf Häuser in ausgezeichnetem baulichen Zustand mit sorgfältig gepflegten Rasen und Gärten. Das prächtigste dieser Häuser – mit weitläufigen französischen Gärten voller Terrassen, die sich bis hinaus zur Lafayette Street erstreckten – hielt ich für das Heim des alten Marsh, des krankheitsgeplagten Raffineriebesitzers.
Auf all diesen Straßen war kein einziges Lebewesen zu sehen und ich wunderte mich über das völlige Fehlen von Katzen und Hunden in Innsmouth. Was mich ebenfalls verwirrte, war die Tatsache, dass selbst bei manchen der besterhaltenen Herrenhäuser viele Fenster im oberen Stockwerk und im Dachgeschoss dicht verriegelt waren. Verstohlenheit und Heimlichtuerei schienen in dieser schweigenden Stadt der Entfremdung und des Todes allgegenwärtig zu sein, und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, von allen Seiten aus dem Hinterhalt von verschlagenen, starren Augen, die sich nie schlossen, beobachtet zu werden.
Ich erschauderte, als eine gesprungene Glocke aus einem Turm zu meiner Linken dreimal schlug. Zu gut erinnerte ich mich der kleinen Kirche, aus der ebensolche Töne hervorgedrungen waren. Ich folgte der Washington Street bis zum Fluss und fand mich in einem früheren Industrie- und Gewerbegebiet wieder; ich bemerkte die Ruinen einer Fabrik vor mir und sah weitere dahinter, und jenseits davon lagen die Reste eines alten Bahnhofes und einer überdachten Eisenbahnbrücke, die zu meiner Rechten über das Flusstal führte.
Die unsichere Brücke, die nun vor mir lag, war mit einem Warnschild versehen, doch ich ging das Wagnis ein und überquerte sie, um erneut in den Südteil zu gelangen, wo sich nun Spuren von Leben zeigten. Verstohlene watschelnde Kreaturen starrten rätselhaft in meine Richtung und auch eher normale Gesichter beäugten mich kalt und neugierig. Innsmouth wurde mir rasch unerträglich, und ich bog in die Paine Street Richtung Marktplatz ein, in der Hoffnung, ein Gefährt zu finden, das mich noch vor der späten Abfahrtzeit jenes finsteren Busses nach Arkham bringen würde.
Da sah ich links das eingestürzte Feuerwehrgebäude und bemerkte den alten Mann mit rotem Gesicht, buschigem Bart und wässrigen Augen in unbeschreiblichen Fetzen, der auf einer Bank davor saß und mit zwei ungepflegten, aber normal aussehenden Feuerwehrmännern sprach. Das musste natürlich Zadok Allen sein, der halb irre, schnapssüchtige Neunzigjährige, dessen Erzählungen über das alte Innsmouth und seine Schatten so grässlich und unglaublich sein sollten.
III
Es musste der Alb des Perversen gewesen sein – oder ein sardonischer Sog aus dunklem, verborgenem Quell –, der mich dazu bewog, meine Pläne zu ändern. Ich hatte schon lange entschieden, meine Betrachtungen allein auf die Architektur der Stadt zu beschränken, und zu diesem Zeitpunkt hastete ich bereits zum Marktplatz in der Absicht, rasch aus dieser schwärenden Stadt von Tod und Zerfall verschwinden zu können; doch der Anblick des alten Zadok Allen löste bei mir ein Umdenken aus und ließ mich meine Schritte zögerlich verlangsamen.
Man hatte mir versichert, dass der alte Mann nichts konnte, als wilde, unzusammenhängende und unglaubliche Legenden anzudeuten, und ich war gewarnt worden, dass es für Nicht-Einheimische gefährlich sei, mit ihm im Gespräch gesehen zu werden; doch der Gedanke an diesen uralten Zeugen des Verfalls der Stadt mit Erinnerungen, die bis zu den alten Zeiten der Schifffahrt und Fabriken zurückreichten, war eine Verlockung, der ich auch mit noch so viel Vernunft nicht zu widerstehen vermochte. Schließlich sind die sonderbarsten und verrücktesten Mythen oft bloße Sinnbilder oder Allegorien, die auf der Wahrheit fußen – und der alte Zadok musste alles gesehen haben, was in den letzten neunzig Jahren in Innsmouth vorgegangen war. Meine Neugierde entflammte ungeachtet von Vernunft und Vorsicht, und in meinem jugendlichen Egoismus glaubte ich in der Lage zu sein, einen wahren Kern der Geschichte aus den wirren, weitschweifigen Ergüssen herausfiltern zu können, die ich ihm mithilfe hochprozentigen Whiskeys wohl entlocken mochte.
Ich wusste, dass ich noch nicht an ihn herantreten konnte, denn die Feuerwehrmänner würden es gewiss bemerken und Einwände erheben. Stattdessen, so überlegte ich mir, wollte ich mich vorbereiten, indem ich illegal geschmuggelten Whiskey aus dem Laden beschaffte, wo es diesen laut dem Jungen in Hülle und Fülle gab. Dann würde ich scheinbar gleichgültig an der Feuerwehr vorbeibummeln und mich dem alten Zadok anschließen, wenn er auf einen seiner regelmäßigen Streifzüge ging. Der junge Mann hatte gesagt, er sei sehr rastlos und würde selten länger als ein oder zwei Stunden auf einmal vor der Feuerwehr sitzen.
Einen Liter Whiskey zu bekommen war leicht, aber nicht billig – im Hinterzimmer eines schmuddeligen Gemischtwarenladens kurz hinter dem Marktplatz in der Eliot Street erhielt ich eine Flasche. Der schmutzig aussehende Bursche, der mich bediente, hatte eine Spur des glotzenden ›Innsmouth-Looks‹, war auf seine Weise aber recht höflich; vielleicht war er den Umgang mit geselligen Fremden – Lastwagenfahrern, Goldkäufern und dergleichen – gewöhnt, die gelegentlich in der Stadt weilten.
Als ich wieder den Marktplatz betrat, sah ich, dass das Glück auf meiner Seite war, denn aus der Paine Street schlurfte gerade eine große, schlanke, in Fetzen gehüllte Gestalt um die Ecke des Gilman House – niemand anderes als der alte Zadok Allen daselbst. Meinem Plan gemäß zog ich seine Aufmerksamkeit auf mich, indem ich meine neu erworbene Whiskeyflasche herumschwenkte; und bald bemerkte ich, dass er versonnen hinter mir herzutrotten begann, als ich in die Waite Street abbog, um in die verlassenste Gegend zu gelangen, die mir einfallen wollte.
Ich lenkte meine Schritte anhand der Karte, die der Junge im Lebensmittelladen für mich gezeichnet hatte, und wählte als Ziel die gänzlich verlassene Gegend an der südlichen Küste, die ich zuvor schon besucht hatte. Die einzigen Menschen, die ich dort gesehen hatte, waren die Fischer auf dem fernen Wellenbrecher gewesen; und indem ich einige Meter weiter südlich ging, konnte ich aus deren Sichtweite entkommen, eine Sitzgelegenheit auf einem verlassenen Kai finden und in aller Freiheit und unbeobachtet den alten Zadok über einen unbegrenzten Zeitraum hinweg ausfragen.
Ehe ich die Main Street erreicht hatte, hörte ich hinter mir ein schwaches und keuchendes »He, Mister!«.
Ich blieb stehen, damit er mich einholen konnte, und alsbald gestattete ich dem alten Mann, einen ausgiebigen Schluck aus der Whiskeyflasche zu nehmen.
Ich streckte meine Fühler langsam aus, als wir gemeinsam Richtung Water Street gingen und uns inmitten der allgegenwärtigen Verlassenheit und den in irrer Schräglage stehenden Ruinen nach Süden wandten, doch fand ich heraus, dass die Zunge des Alten sich nicht so rasch lockerte, wie ich es erwartet hatte. Endlich sah ich eine von Gras überwachsene, zum Meer gelegene offene Fläche zwischen zerbröckelnden Ziegelmauern, hinter der die unkrautüberwucherte Länge eines Kais aus Erde und Mauerwerk aufragte. Moosbedeckte Steinhaufen in Wassernähe versprachen erträgliche Sitzmöglichkeiten, und der Ort wurde durch eine Lagerhausruine im Norden vor möglichen Blicken geschützt. Hier, so glaubte ich, war der ideale Platz für ein langes geheimes Zwiegespräch; und so führte ich meinen Begleiter den Pfad hinab und wählte eine Stelle zwischen den moosigen Steinen aus, wo wir sitzen konnten. Die Aura von Tod und Verlassenheit war gespenstisch und der Fischgeruch beinahe unerträglich; doch war ich entschlossen, mich von nichts abschrecken zu lassen.
Ungefähr vier Stunden blieben mir noch für ein Gespräch, wollte ich den Acht-Uhr-Bus nach Arkham erwischen, und ich fing an, dem uralten Säufer noch mehr Whiskey zu geben, derweil ich mein eigenes kärgliches Mittagessen einnahm. Bei meinen Spenden achtete ich darauf, es nicht zu übertreiben, denn ich wünschte nicht, dass Zadoks schnapsselige Geschwätzigkeit in Stumpfheit absank. Nach einer Stunde schien seine Verschwiegenheit allmählich nachzulassen, doch zu meiner großen Enttäuschung umging er noch immer meine Fragen über Innsmouth und dessen von Schatten heimgesuchte Vergangenheit. Er plapperte über aktuelle Themen, offenbar las er eifrig Zeitungen, und zeigte einen ausgeprägten Hang zum Philosophieren in salbungsvoller, naiver Weise.
Gegen Ende der zweiten Stunde hegte ich die Befürchtung, dass der Liter Whiskey nicht ausreichen würde, um ein Ergebnis zu zeitigen, und ich fragte mich, ob ich den alten Zadok nicht besser verlassen und Nachschub besorgen sollte. Gerade da erwirkte jedoch der Zufall die Wendung, die meine Fragen nicht hatten erwirken können, und das Gerede des keuchenden Alten schlug eine Richtung ein, die mich dazu brachte, mich vorzubeugen und aufmerksam zu lauschen. Ich saß mit dem Rücken zur See, doch er saß ihr direkt gegenüber, und aus irgendeinem Grunde hatte sein umherschweifender Blick sich an der tiefen, fernen Linie des Teufelsriffs erzürnt, das sich zu diesem Zeitpunkt deutlich und beinahe faszinierend über den Wellen zeigte. Der Anblick schien ihm zu missfallen, denn er fing mit einer Reihe leiser Flüche an, die in einem vertraulichen Flüstern und einem wissenden Blick endeten. Er neigte sich mir entgegen, ergriff mich am Revers meines Mantels und zischte ein paar Anspielungen, die nicht missverstanden werden konnten.
»Dort drüb’n hat alles angefang’n – dem verfluchten Ort alles Bösen, wo’s Tiefwasser anfängt. Die Höllenpforte – stürzt tief hinab auf’n Grund, wo keine Lotschnur hinkommt. Der alte Käpt’n Obed hat’s gemacht – der, wo auf den Südseeinseln mehr herausgefund’n hat als gut für’n war.
Allen isses damals schlecht gegang’. Der Handel is’ abgeflaut, die Mühlen ham Geschäfte verlorn – sogar die neuen –, un’ die besten von unsern Männern sin’ umgekommen im Krieg von 1812 oder verscholl’n mit der Brigg Elizy un’ der Schute Ranger – beides war’n Gilman-Schiffe. Obed Marsh, der hatt’ drei Schiffe am Laufen – die Brigantine Columby, die Brigg Hetty un’ die Bark Sumatry Queen. Er war der Einzige, der mit’m Ostindien- und Pazifik-Handel weitergemacht hat, obwohl Esdras Martins Schonerbark Malay Pride noch 1828 ’ne Tour gemacht hat.
Aber niemand war so wie der Käpt’n Obed – der alte Satansbraten! He, he! Ich weiß noch, wie er immer über fremde Länder geredet hat und all die Leut’ dumm genannt hat, weil se zur Kirche gegangen sin’ und ihre Bürde bescheiden und demütig getrag’n ham. Er hat gesagt, sie soll’n sich lieber bessere Götter wie die auf den Westindischen Inseln nehmen – Götter, die ihnen Erfolg beim Fischen als Gegenleistung für ihre Opfer bring’n un’ die wirklich auf die Gebete von ’n Leuten hörn.
Matt Eliot, sein erster Maat, hat auch ’ne Menge geredet, nur war er dagegen, dass die Leut’ irgendwas Heidnisches machen. Hat erzählt von ’ner Insel östlich von Otaheité, wo’s ’ne Menge Steinruinen gibt, un’ die sin’ älter als alles, was ma so kennt, so wie die auf Ponape auf’n Karolinen, aber mit geschnitzten Gesichtern, die wie die großen Standbilder auf’n Osterinseln aussahn. Da war auch noch ’ne kleine Vulkaninsel dort in der Näh, wo’s andre Ruinen mit unterschiedlichen Schnitzereien gibt – Ruinen, die ganz verwaschen sin’, als wär’n se früher unter Wasser gewes’n, un’ über un’ über mit Bildern von scheußlichen Monstern bedeckt.
Nun, Sir, der Matt hat gesagt, dass die Eingebornen dort allen Fisch hatten, den se nur fangen konnt’n, und Armbänder und Ringe und Kopfputz trugen, aus ’ner ganz sonderbar’n Art von Gold, bedeckt mit Bildern von Monstern genau wie die auf’n Ruinen auf der kleinen Insel – irgendwie fischgleiche Frösche oder froschgleiche Fische, in all’n möglichen Stellungen gezeichnet, als wärn’s Menschen. Niemand konnt’ aus denen rausbekommen, woher se das ganze Zeugs hatten, und die andern Eingebornen fragten sich alle, wie se so viel Fisch fangen konnt’n, wo doch schon auf den Nachbarinseln magere Ausbeute war. Auch der Matt hat sich drüber gewundert, un’ auch der Käpt’n Obed. Obed is’ außerdem noch aufgefall’n, dass viele von den hübschen jungen Leuten Jahr um Jahr für immer verschwinden, und dass kaum alte Leut’ zu sehn sin’. Außerdem denkt er, dass ’n paar von den Leuten selbst für Kanaken verdammt merkwürdig aussehn.
Es hat gedauert, bis Obed die Wahrheit aus diesen Heiden herausbekomm’ hat. Ich weiß nicht, wie er’s gemacht hat, aber er fing um die goldähnlichen Sachen zu handeln an, die se anhatten. Er hat gefragt, wo die herkomm’ und ob se mehr davon kriegen könn’, und dann hat er dem alten Häuptling die Geschichte entlockt – Walakea nannten se den. Niemand außer Obed hat dem alten gelben Teufel je geglaubt, aber der Käpt’n konnt in den Menschen wie in offenen Büchern lesen. He, he! Keiner will mir glauben, wenn ich’s jetzt erzähl, und ich denk auch nich’, dass Sie mir glauben werden, junger Bursche – obwohl, wenn ich Sie mir so anseh, Sie ham die gleichen scharfen Augen, wie der Obed se hatte.«
Das Flüstern des alten Mannes wurde schwächer, und ich ertappte mich dabei, wie ich ob der schrecklichen und aufrichtigen Unheimlichkeit seines Stimmfalls erschauderte, wenngleich ich wusste, dass seine Erzählung nichts anderes sein konnte als die Grillen eines Trunkenboldes.
»Nun, Sir, Obed hat erfahr’n, dass es auf der Welt Dinge gibt, von denen die meisten Leut’ nie was gehört ham – und die se auch nich’ glauben würden, wenn se davon hörn. Es scheint, dass diese Kanaken massenhaft ihre jungen Männer und Mädchen so ’ner Art von Gottheiten geopfert ham, die im Meer leben, und im Gegenzug dafür ham se alle möglichen Vorteile gekriegt. Sie ham die Wesen auf der kleinen Insel mit den sonderbaren Ruinen getroff’n, und es scheint, dass diese scheußlichen Bilder von Froschfisch-Monstern Abbilder dieser Wesen sein soll’n. Vielleicht war’n se die Ungeheuer, von denen all die Geschichten über Meerjungfrauen und so was herkomm’. Sie ham alle möglichen Städte auf’m Meeresboden, und diese Insel is’ von dort unten hochgehoben worden. Scheint, dass manche von den Wesen in den Steingebäuden am Leben war’n, als die Insel plötzlich an die Oberfläche gekomm’ is’. So ham die Kanaken Wind davon gekriegt, dass die dort unten war’n. Sie ham Zeichensprache gemacht, sobald se ihre Furcht überwunden hatt’n, und es hat nich’ lang gedauert, da hatt’n se mit denen ’nen Handel abgeschlossen.
Diese Wesen ham Menschenopfer gemocht. Hatten se schon viel früher gekriegt, aber nach ’ner gewissen Zeit ham se die Verbindung zur Oberwelt verlorn. Was se mit den Opfern angestellt ham, das kann ich nich’ sagen, und ich vermute, Obed war nicht zu scharf drauf, das zu wissen. Aber für die Heiden war’s in Ordnung, weil se gerade ’ne schwere Zeit hatten und ziemlich verzweifelt war’n. Sie ham zweimal im Jahr ’ne gewisse Zahl von jungen Leuten an die Meereswesen gegeb’n – inner Walpurgisnacht und an Halloween –, so regelmäßig es halt ging. Sie ham denen auch ’n Teil vom geschnitzten Schnickschnack gegeb’n, den se gemacht ham. Was die Wesen dafür versprochen ham, war ’ne Menge Fisch – sie ham se aus’m ganzen Meer herbeigeschafft – un’ ’n bisschen von dem goldähnlichen Zeugs dann und wann.
Nun, wie ich schon gesagt hab, die Eingeborn’n ham die Wesen auf der kleinen Vulkaninsel getroff’n – sie sin’ in Kanus mit den Opfern und so weiter dahingerudert und ham so viel vom goldgleichen Zeugs mitgebracht, wie sie gekriegt ham. Zuerst ham die Wesen nie auf die Hauptinsel kommen woll’n, aber nach ’ner gewissen Zeit wollten se das. Scheint, dass se Verlangen danach hatten, sich unter die Leut’ zu mischen und gemeinsame Zeremonien an ’n großen Tagen zu feiern – Walpurgisnacht und Halloween. Sehn Se, die konnt’n sowohl im Wasser wie auch draußen leben – was man so Amphibien nennt, denk ich mal. Die Kanaken ham ihnen erzählt, dass die Leut’ von den andern Inseln se vielleicht würden ausrotten wollen, wenn se Wind von ihnen bekämen, aber die ham gesagt, das würd se nicht weiter scheren, denn se könnten die ganze Menschenbrut auslösch’n, wenn se nur wollt’n – das heißt, all die, die nich’ gewisse Zeichen hatten, die früher mal von ’nen Alten Wesen benutzt word’n sin’, wer immer das auch war. Aber da se sich keine Mühe machen wollten, ham se sich einfach versteckt, falls jemand auf die Insel gekomm’ is’.
Wie es dann drum gegang’ is’, sich mit den froschähnlichen Fischen zu paaren, da ham sich die Kanaken irgendwie gesträubt, aber schließlich ham se was gehört, was der Sache ein anderes Gesicht verlieh. Scheint, dass die Menschen ’ne Art von Beziehung zu solchen Wassermonstren ham’ – dass alles, was lebt, mal aus’m Wasser gekomm’ is’ und nur ’ne kleine Veränderung braucht, um wieder dahin zurückzugehn. Diese Wesen ham den Kanaken erzählt, wenn se ihr Blut miteinander mischen, gäb’s Kinder, die zuerst wie Menschen aussehn, aber später immer mehr wie die Wesen, bis se ins Wasser gehn und sich dem Rest dort unten anschließ’n. Und das is’ der wichtige Teil, junger Mann – die, wo sich in Fischwesen verwandeln und ins Wasser gehn, die würden niemals sterben. Diese Wesen sin’ nie gestorb’n, außer ma hat se brutal umgebracht.
Nun, Sir, es scheint, dass zu der Zeit, als Obed die Inselleute getroff’n hat, da war’n se schon voller Fischblut von den Wesen aus’m Wasser. Wenn se alt gewor’n sin’ und ma’s langsam sehn konnt, ham se se versteckt gehalt’n, bis se bereit waren, ins Wasser zu gehn un’ den Ort zu verlassen. Manche waren mehr davon betroffen als die andern, und manche ham sich nie genug geändert, um ins Wasser zu gehen; aber meistens ham se sich genau so entwickelt, wie’s die Wesen gesagt ham. Die, wo schon von Geburt an den Wesen ähnlicher war’n, ham sich früh verändert, aber die, wo fast menschlich war’n, blieben manchmal auf der Insel, bis se über siebzich war’n, obwohl se vorher für gewöhnlich schon versuchsweise unter Wasser gewesen war’n. Leut’, die ins Wasser gegangen war’n, sin’ inner Regel oft für Besuche zurückgekomm’, weshalb ein Mann oft mit seinem Urururururgroßvater reden konnt, der vor ’n paar hundert Jahren oder so das trockne Land verlassen hat.
Keiner hat mehr ans Sterben gedacht – kam nicht vor, außer bei Kanukämpfen mit den Bewohnern von andern Inseln, oder als Opfer an die Meeresgötter tief unten, oder bei Schlangenbissen oder durch ’ne Seuche oder schnell ausbrechende Krankheiten oder so was, bevor se ins Meer gehn konnten –, und sie ham sich einfach auf ’ne Art Verwandlung gefreut, die se nach ’ner Weile überhaupt gar nicht mehr so schrecklich fanden. Die ham gedacht, dass das, was se bekomm’ ham, das wert is’, was se gegeben ham – un’ ich glaub, Obed hat das schließlich genauso gesehn, nachdem er die Geschichte vom alten Walakea einigermaßen verdaut hatte. Walakea war aber einer der wenigen, die kein Fischblut in sich hatt’n – der war aus ’nem königlichem Geschlecht, das sich nur mit Angehörigen von Königsfamilien von den andern Inseln verheiratet hat.
Walakea hat Obed ’ne Menge Riten un’ Beschwörungen gezeigt, die mit den Meereswesen zu tun ham, und hat ihm ’n paar von den Leuten im Dorf gezeigt, die sich schon stark verändert ham. Aus irgend’nem Grund hat er ihn aber nie ’n richtiges Wesen aus’m Wasser sehn lassen. Schließlich hat er ihm ’ne komische Art von Zaubertalisman aus Blei oder so gegeb’n un’ gesagt, das würd die Fischwesen aus jeder Stelle im Wasser rausbringen, wo’s eben so’n Nest von ihnen geben könnt’. Er musst’s fallen lassen un’ halt die richtigen Gebete sprechen. Walakea hat gemeint, die Viecher wär’n über die ganze Welt verstreut, un’ jeder, wo sich umsieht, kann ’n Nest von denen finden un’ se raufbringen, wenn er das will.
Der Matt, der hat diesen Handel überhaupt nicht gemocht, un’ er hat gewollt, dass Obed von der Insel wegbleiben soll; aber der Käpt’n war scharf auf Beute un’ hat rausgefunden, dass er dieses goldähnliche Zeugs so billig bekomm’ kann, dass es sich für ihn auszahlen würd, ’n Geschäft draus zu machen. So ging’s jahrelang weiter, un’ Obed hat genug von dem goldähnlichen Zeugs gekriegt, dass er in Waites alter, heruntergekommener Walkmühle die Raffinerie starten konnt. Er hat sich nicht getraut, die Stücke zu verkaufen, wie se war’n, weil die Leut’ dann die ganze Zeit Fragen gestellt hätt’n. Trotzdem ham seine Männer dann und wann ’n Stück gekriegt un’ ham’s verkauft, auch wenn se geschwor’n ham, es nich’ zu tun; un’ er hat sein Weibsvolk ’n paar von den Stücken tragen lassen, wenn se menschlicher ausgesehn ham als die andern.
Nun, so ums Jahr 1838 – als ich sieben Jahre alt war – hat Obed bei ’ner Reise entdeckt, dass das ganze Inselvolk ausgerottet word’n is’. Scheint, als hätten die Bewohner von den andern Inseln Wind bekomm’, was dort vor sich gegangen is’, und die Sache in die Hand genomm’. Ich vermute, die hatten diese alten magischen Zeichen, von denen die Meeresviecher gesagt ham, dass se nur davor Angst hätten. Keine Ahnung, was diese Kanaken in die Finger gekriegt ham, wie der Meeresboden ’ne Insel ausspuckt mit Ruinen drauf, die älter sin’ als die Sintflut. Fromme Kerle war’n das – die ham weder auf der Hauptinsel noch auf der kleinen Vulkaninsel irgendwas stehen lassen außer den Teilen von den Ruinen, die zu groß war’n, um se umzustoßen. An manchen Stellen war’n kleine Steine verstreut worden – wie Talismane – mit etwas drauf, was man heut wohl Hakenkreuz nennen tät. Vermutlich war das das Zeichen von’n Alten Wesen. Die Leut’ war’n alle ausgelöscht worden, keine Spur von dem goldähnlichen Zeugs, und keiner von den Kanaken auf den Nachbarinseln wollt’ ’n Sterbenswörtchen über die Sache verliern. Die ham nicht mal mehr zugegeb’n, dass je Menschen auf der Insel gewesen sin’.
Das hat Obed natürlich ziemlich schwer getroffen, weil sein normaler Handel grad sehr schlecht gegang’ is’. Das hat auch ganz Innsmouth getroff’n, weil in den Tagen der Seefahrt das, was dem Herrn von ’nem Schiff zugute gekomm’ is’, im Allgemeinen der ganzen Mannschaft zugute gekomm’ is’. Die meisten Leut’ in der Stadt ham die schweren Zeiten wie Schafe hingenomm’ und sich drein ergeb’n, aber se war’n in schlechtem Zustand, weil der Fischbestand ausging, und auch den Mühlen ging’s nicht grad gut.
Das war die Zeit, wie Obed die Leute zu verfluchen angefang’ hat, weil se so blöde Schafe war’n und zum Christengott gebetet ham, der nix un’ niemand geholfen hat. Er hat ihnen erzählt, er würd’n Volk kennen, wo zu Göttern betet, die ihnen das geben, was se wirklich brauchen, un’ er hat auch gesagt, wenn ’n gut Teil der Leute zu ihm stehen würd, könnt er vielleicht an gewisse Mächte kommen un’ jede Menge Fisch und auch genug Gold beschaffen. Natürlich ham die, wo auf der Sumatry Queen gedient und die Insel gesehen ham, gewusst, was er damit gemeint hat, und die war’n gar nicht erpicht drauf, den Meeresviechern zu nah zu kommen, von denen se gehört ham, aber die wo nicht wussten, worum’s ging, wurden von dem irgendwie mitgerissen, was Obed gesagt hat, und se fingen an, ihm Fragen zu stellen, was er machen kann, um se zum Glauben zu bringen, der wo wirklich was bringen tät.«
Da stockte der alte Mann, murmelte und fiel in ein dunkles und gespanntes Schweigen; er sah sich nervös um und starrte dann wieder gebannt auf das ferne schwarze Riff. Als ich ihn ansprach, gab er keine Antwort, woran ich erkannte, dass ich ihm den Rest der Flasche geben musste. Die verrückte Mär, die ich zu hören bekam, erregte mein tiefes Interesse, da ich glaubte, es sei eine Art kruder Allegorie darin enthalten, die auf den Sonderbarkeiten von Innsmouth beruhe und von einer Vorstellungskraft ausgeschmückt worden war, die zugleich schöpferisch und voller Brocken exotischer Legenden war. Keinen Augenblick lang glaubte ich, dass die Erzählung irgendein wirkliches, greifbares Fundament haben könnte; und dennoch enthielt der Bericht eine Spur echten Entsetzens, und sei es auch nur wegen der Hinweise auf die merkwürdigen Schmuckstücke ähnlicher Machart wie die unheimliche Tiara, die ich in Newburyport gesehen hatte. Vielleicht stammten die Ornamente tatsächlich von einer fremdländischen Insel, und möglicherweise waren die wilden Geschichten Lügen, die nicht dieser uralte Trunkenbold, sondern der verstorbene Obed selbst in die Welt gesetzt hatte.
Ich überließ Zadok die Flasche, und er leerte sie bis zum letzten Tropfen. Es war merkwürdig, wie viel Whiskey er vertragen konnte, denn nicht die Spur einer schweren Zunge war in seiner hohen, keuchenden Stimme zu bemerken. Er leckte den Hals der Flasche ab und steckte sie in seine Tasche, dann fing er in einem fort zu nicken an und flüsterte leise vor sich hin. Ich beugte mich weit vor, um artikulierte Wörter verstehen zu können, die er von sich geben mochte, und glaubte ein sardonisches Lächeln unter den fleckigen, buschigen Barthaaren zu sehen. Ja – er bildete in der Tat Worte, und es gelang mir, einen Gutteil davon zu erfassen.
»Der arme Matt – Matt war immer dagegen gewes’n –, hat versucht, die Leute auf seine Seite zu bringen – hat sich lang mit’n Pfaffen unterhalten – hat nix genützt – sie ham den Gemeindepfarrer aus’er Stadt gejagt, und der Bursche von den Methodisten is’ auch gegangen – den Resolved Babcock, der Pfarrer von den Baptisten, hab ich nie wieder gesehen – der Zorn Jehovahs – ich war noch ein verflucht kleiner Bursche, aber ich hab gehört, was ich gehört hab, un’ gesehn, was ich geseh‘n hab – Dagon un’ Ashtoreth – Belial un’ Beelzebub – das Goldne Kalb un’ die Götzen von den Kanaanitern un’ Philistern – babylonische Scheußlichkeiten – Mene, mene, tekel, upharsin –«
Wieder hielt er inne, und der Blick seiner wässrig blauen Augen ließ mich befürchten, er sei nun doch einem Vollrausch nahe. Doch als ich ihn sanft an der Schulter rüttelte, wandte er sich mir mit erstaunlicher Wachsamkeit zu und stieß einige weitere unergründliche Sätze hervor.
»Glauben mir nich’, wie? He, he, he – dann sag’n Se mir doch, junger Mann, warum sin’ dann Käpt’n Obed un’ zwanzig andre Leut’ mitten inner Nacht zum Teufelsriff gerudert und ham dort Gebete so laut gesungen, dass man se inner ganzen Stadt hören konnt, wenn der Wind richtig gestanden is’? Sagen Se’s mir mal, he? Und sagen Se mir, warum Obed ständig schwere Dinge ins Tiefwasser fallen gelassen hat auf der andern Seite vom Riff, wo der Grund weiter abfällt, als man loten kann? Sagen Se mir, was er mit dem komisch geformten Zaubertalisman aus Blei gemacht hat, den er vom Walakea hatte? He, Junge? Und was ham se alle inner Walpurgisnacht geheult, un’ dann wieder am nächsten Halloween? Un’ warum ham die neuen Kirchenvorsteher – Burschen, die früher Matrosen war’n – diese komischen Gewänder getragen und sich mit dem Goldzeugs bedeckt, das Obed mitgebracht hat? He?«
Die wasserblauen Augen blitzten nun fast wild und irre, und der schmutzige weiße Bart sträubte sich wie statisch aufgeladen. Der alte Zadok sah vermutlich, wie ich zurückschreckte, denn er fing boshaft zu kichern an.
»He, he, he, he! Jetzt begreifen Se, was? Vielleicht wär’n Se gern ich gewesen in den alten Tagen, wie ich inner Nacht die Viecher draußen auf’m Meer vom Kuppeldach von unserm Haus sehen konnt? Oh, ich kann Ihnen sagen, kleine Jungens ham große Ohren, un’ ich hab nix davon verpasst, was man so über Käpt’n Obed und die Leute draußen auf’m Riff getratscht hat! He, he, he! Wie wär’s mit der Nacht, wo ich das Schiffsfernglas von meinem Alten mit aufs Dach genomm’ hab und gesehn hab, wie das Riff von Gestalten wimmelte, die untergetaucht sin’, sobald der Mond aufgegang’ is’? Obed un’ die Leut’ war’n in ’nem Boot, aber diese Gestalten sind auf der abgewandten Seite untergetaucht ins tiefe Wasser und nie mehr hochgekomm’ … Wie würd’s Ihnen gefall’n, ein kleiner Grünschnabel allein auf’m Dach zu sein un’ Gestalten zu beobachten, die gar keine menschlichen waren? … Häh? He, he, he, he …«
Der alte Mann wurde hysterisch, und ich erschauderte in einer unerklärlichen Angst. Er legte mir seine knochige zitternde Klaue auf die Schulter – ganz gewiss zitterte sie nicht vor Vergnügen.
»Stell’n Se sich vor, inner Nacht sehn Se, wie hinterm Riff etwas Schweres von Obeds Boot gehievt wird, un’ am nächsten Tag erfahren Se, dass’n Bengel vermisst wird? Häh? Hat irgendjemand je wieder auch nur ein Haar von Hiram Gilman gesehn? Hat man? Un’ Nick Pierce, un’ Luelly Waite, un’ Adoniram Saouthwick, un’ Henry Garrison. Nu? He, he, he, he … Die Viecher ham Zeichensprache mit ihren Händen gemacht … das heißt die, wo richtige Hände hatt’n …
Nun, Sir, das war die Zeit, wo Obed wieder auf die Beine gekomm is’. Die Leut’ ham geseh’n, wie seine drei Töchter goldähnliches Zeugs getragen ham, wie man’s noch nie vorher gesehn hat, und aus’m Schornstein von der Raffinerie is’ Rauch gekomm’. Auch den andern Leuten isses jetzt viel besser gegang’ – die Fische sin’ in ’n Hafen geströmt und mussten bloß noch gefangen werd’n, un’ der Himmel weiß, was für große Frachten jetzt nach Newb’ryport, Arkham un’ Boston gegang’ sin’. Damals hat Obed dafür gesorgt, dass die Eisenbahn hierher verlegt wurd. ’n paar Fischer aus Kingsport ham von den guten Fängen gehört un’ sin’ in Schaluppen raufgekomm’, aber die sin’ alle verschollen. Niemand hat se je wieder geseh’n. Un’ genau dann ham unsre Leute den Esoterischen Orden von Dagon gegründet und dafür die Freimaurerhalle von der Kalvarien-Loge abgekauft … he, he, he! Matt Eliot war’n Freimaurer und gegen den Verkauf, aber genau dann is’ er einfach verschwund’n.
Merken Se sich, ich will nich’ sag’n, dass Obed drauf aus war, alles so zu ham, wie es auf der Kanakeninsel war. Ich glaub nicht, dass er anfangs die Vermischung gewollt hat, und er wollt’ auch keine Kinder kriegen, die ins Wasser gehn und sich in Fische mit ewigem Leben verwandeln. Er wollt’ halt das Goldzeugs und war bereit, viel dafür zu bezahlen, und ich glaub, für ’ne Weile war’n die andern zufrieden …
Aber 1846 ham viele inner Stadt angefangen, sich umzuschaun und für sich selbst zu denken. Zu viele Leut’ war’n verschwunden – zu viele wilde Predigten bei ’n Sonntagstreffen – zu viel Gerede über dieses Riff. Ich glaub, ich hab ein wenig dazu beigetragen, weil ich ’m Stadtrat Mowry erzählte, was ich vom Dach gesehn hab. Da war’n eines Nachts ein paar Leut’, die Obeds Bande zum Riff gefolgt sin’, un’ ich hab’ Schüsse zwischen den Booten gehört. Am nächsten Tag waren Obed und zweiunddreißig andere im Knast, und alle ham sich gefragt, was los war und was se denn verbrochen hätten. Gott, wenn’s nur jemand vorhergesehn hätt … ein paar Wochen später, als so lang nix mehr ins Meer geworfen worden war …«
Zadok sah ängstlich und erschöpft aus. Ich ließ ihn eine Weile schweigen, während ich gespannt auf meine Uhr blickte; der Gezeitenwechsel war vollzogen, es herrschte jetzt Flut. Der Klang der Wellen schien den Alten wieder aufzuschrecken. Ich war froh über diese Flut, denn beim Wasserhöchststand würde der Fischgeruch vielleicht nicht so stark sein. Erneut bemühte ich mich, sein Flüstern zu verstehen.
»Diese entsetzliche Nacht … ich hab se geseh’n … ich war oben auf’m Dach … Herden davon … Scharen davon … auf’m ganzen Riff, und se sin’ den Hafen hinauf in den Manuxet geschwomm’ … Gott, was in dieser Nacht in den Straßen von Innsmouth geschehen is’ … se ham an unsre Tür geklopft, aber Pa hat nich’ aufgemacht … dann is’ er mit seiner Flinte aus’m Küchenfenster geklettert un’ Stadtrat Mowry suchen gegangen, um zu sehn, was man machen könnt’ … Haufenweise Tote un’ Sterbende … Schüsse un’ Schreie … Rufe auf’m Ol’ Square und dem Town Square und dem Kirchplatz … der Knast aufgebrochen … Bekanntmachungen … Verrat … man hat’s Seuche genannt, als Leut’ in die Stadt gekomm’ sin’ und die Hälfte von uns verschwunden war … keiner war mehr da außer denen, die wo sich Obed und diesen Wesen anschließen wollten oder den Mund halten wollten … von meinem Pa hab’ ich nie wieder was gehört …«
Der alte Mann keuchte und schwitzte heftig. Sein Griff um meine Schulter verstärkte sich.
»Alles wurd’ am Morgen sauber gemacht – aber da war’n Spuren … Obed hat die Leitung übernomm’ un’ gesagt, dass die Dinge sich jetzt ändern würden … die andern würden jetzt mit uns zusamm’ Gottesdienst feiern, un’ gewisse Häuser würden Gäste aufnehmen … sie wollten sich unter uns mischen, wie se’s schon bei’n Kanaken gemacht hatt’n, un’ er für sein’ Teil wollt’ se nicht davon abhalten. Übergeschnappt, der Obed … schlimmer, wie’n Verrückter hat er sich aufgeführt. Er hat gesagt, se hätten uns Fisch un’ Schätze gebracht un’ sollten das haben, was se wollten …
Nach außen hin hat sich gar nix ändern soll’n, aber von Fremden sollten wir uns fernhalten, wenn wir wüssten, was gut für uns is’. Wir alle ham den Eid des Dagon schwör’n müssen, un’ später war’n da noch zweite un’ dritte Eide, die’n paar von uns geschwor’n ham. Die wo besonders halfen, ham besondern Lohn gekriegt – Gold un’ so was. Es war sinnlos, sich zu sträuben, weil’s da unten Millionen von denen gibt. Die wollen sich lieber nich’ erheben un’ anfangen, die Menschheit auszurotten, aber wenn man se verraten und dazu zwingen würd’, könnten se ’ne ganze Menge in der Richtung anstellen. Wir ham ja keine von den alten Talismanen gehabt, um se wie die Leut’ inner Südsee fernzuhalten, und diese Kanaken würden nie ihre Geheimnisse verraten.
Wir brauchten denen nur genug Opfer und wilden Schnickschnack bringen und se in der Stadt aufnehmen, wenn se das wollten, dann ham se uns schön in Ruh gelassen. Sie ham keinen Fremden was getan, damit se keine Geschichten nach draußen tragen würd’n – das heißt, solang se nich’ rumgeschnüffelt ham. Alle aus der Gemeinschaft der Gläubigen – Orden des Dagon – un’ die Kinder sollten nie sterben, sondern zurück zu Mutter Hydra un’ Vater Dagon gehn, von denen wir alle einst gekomm’ sin’ – Iä! Iä! Cthulhu fhtagn! Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah-nagl fhtagn –«
Der alte Zadok tobte in heftigem Zorn. Ich hielt den Atem an. Diese arme alte Seele – in welch erbarmungswürdige Tiefen des Deliriums hatten der Schnaps und der Hass auf den Verfall, die Entfremdung und Krankheit seiner Umgebung jenes einst fruchtbare, fantasievolle Hirn gebracht! Nun stöhnte er und Tränen rannen über seine gefurchten Wangen in die Tiefen seines Bartes hinab.
»Gott, was ich alles gesehn hab, seit ich fünfzehn Jahre alt war – Mene, mene, tekel, upharsin! – die verschwundenen Leute und die wo Selbstmord gemacht ham – die, wo in Arkham oder Ipswich oder sonst wo was erzählt ham, hat man alle verrückt genannt, so wie Sie mich jetzt wohl auch verrückt nennen – aber Gott, was ich gesehn hab – die hätten mich schon lang umgebracht wegen dem, was ich weiß, aber ich hab bei Obed den ersten un’ zweiten Eid des Dagon geschwor’n, und so bin ich geschützt, bis’n Gericht von ihnen beweist, dass ich wissentlich und freiwillig Dinge erzählt hab … aber den dritten Eid würd’ ich nie schwör’n – lieber sterb ich, als den zu schwör’n …
Es wurd’ schlimmer inner Zeit vom Bürgerkrieg, als die Kinder, die wo seit 1846 geboren war’n, langsam aufgewachsen sin’ – ’n paar davon jedenfalls. Ich hatte Furcht – nach dieser schrecklichen Nacht hab ich nie mehr rumgeschnüffelt und fast mein ganzes Leben keinen von – denen mehr geseh’n. Das heißt, keinen vollblütigen. Ich bin innen Krieg gezog’n, und wenn ich Mut oder Verstand gehabt hätt’, wär ich nie zurückgekomm’, sondern hätt mich anderswo niedergelassen. Aber die Familie hat mir geschrieben, dass es gar nich’ so schlimm is’. Das war vermutlich deshalb, weil nach 1863 Regierungsbeamte inner Stadt war’n. Nach’m Krieg war’s wieder so schlimm wie vorher. Die Leute fingen zu verschwinden an – Mühlen un’ Läden wurden geschlossen – die Schifffahrt wurd’ eingestellt, un’ der Hafen is’ versandet – die Bahnstrecke wurd’ stillgelegt – aber sie … die hörten nie auf, von diesem verfluchten Satansriff aus den Fluss hinaufzuschwimm’ – un’ immer mehr Dachfenster sin’ mit Brettern vernagelt word’n, un’ immer mehr Geräusche war’n zu hörn in Häusern, wo eigentlich keiner mehr gewohnt hat …
Die Leut’ draußen ham ihre Geschichten über uns – ich vermute, Sie ham schon ’ne Menge davon gehört, wenn ich seh, was für Fragen Se stellen –, Geschichten über Dinge, die se dann und wann gesehn ham, und über diesen merkwürdigen Schmuck, der immer noch von irgendwoher kommt und nie ganz eingeschmolz’n wird – aber niemand weiß was Bestimmtes. Niemand glaubt irgendwas. Sie nennen das goldähnliche Zeugs ’nen Piratenschatz und vermuten, die Leut’ von Innsmouth ham fremdländisches Blut oder sin’ krank oder so. Außerdem verscheuchen die hier so viele Fremde, wie’s nur geht, un’ den Rest halten se dazu an, nich’ zu neugierig zu werden, vor allem nich’ inner Nacht. Die Köter ham die Viecher angebellt – die Pferde ham gescheut –, aber dann ham se Autos gekriegt, und da war’s in Ordnung.
1846 hat Käpt’n Obed sich ’ne zweite Frau genomm’, die niemand inner Stadt je gesehn hat – manche sagen, dass er das nicht hat gewollt, von denen aber dazu gezwungen wurd’, als er um ihre Hand anhielt – er hatte drei Kinder von ihr – zwei sin’ jung verschwunden, aber ein Mädchen sah aus wie alle andern un’ wurd’ in Europa erzogen. Obed hat se schließlich über ’nen Trick mit ’nem Burschen aus Arkham verheiratet, der von nix Ahnung hatte. Aber jetzt will niemand draußen mehr was mit Leuten aus Innsmouth zu schaffen ham. Barnabas Marsh, der jetzt die Raffinerie leitet, ist Obeds Enkel von seiner ersten Frau – Sohn von Onesiphorus, seinem ältesten Sohn, aber seine Mutter war auch eine von denen, die wo man draußen nie zu sehn bekomm’ hat.
Gerade jetzt is’ Barnabas sich am Verwandeln. Kann die Augen nicht mehr zumachen un’ is’ ziemlich aus der Form geraten. Es heißt, er trägt noch Kleider, aber er wird bald ins Wasser gehn. Vielleicht hat er’s schon versucht – die gehn manchmal erst für ’ne kleine Weile runter, bevor se auf immer gehn. Man hat ihn jetzt schon beinah zehn Jahre nich’ mehr inner Öffentlichkeit gesehn. Keine Ahnung, wie seine arme Frau sich wohl fühlt – die kommt aus Ipswich, und die hätten Barnabas fast gelyncht, als er ihr vor fuffzig Jahren den Hof gemacht hat. Obed is’ 1878 gestorben, un’ die ganze Generation nach ihm is’ schon weg – die Kinder von der ersten Frau tot, un’ der Rest … das weiß Gott …«
Das Geräusch der Flut war nun sehr beharrlich und schien die Stimmung des Alten allmählich von weinerlicher Melancholie in wachsame Furcht zu wandeln. Er hielt dann und wann inne, um neuerlich nervöse Blicke über seine Schulter oder auf das Riff draußen zu werfen, und ungeachtet der Absurdität seiner Erzählung konnte ich nicht umhin, seine vage Anspannung langsam zu teilen. Zadok sprach nun immer schriller und lauter im Versuch, sich selbst Mut zu machen.
»Hey, Sie, warum sagen Se nix? Wie würd’s Ihnen gefall’n, in so ’ner Stadt zu leben, wo alles verrottet und verreckt und eingesperrte Monster in schwarzen Kellern un’ Dachstuben kriechen un’ blöken un’ quaken un’ hüpfen, wo ma’ sich hindreht? Hä? Wie würd’s Ihnen gefallen, jede einzelne Nacht das Geheul aus’n Kirchen un’ der Halle vom Dagon-Orden zu hören – un’ genau zu wissen, was da so heult? Wie würd’s Ihnen gefallen zu hör’n, was inner Walpurgisnacht un’ an Halloween von diesem scheußlichen Riff kommt? Hä? Sie halten mich für ’nen bekloppten Alten, was? Na, Sir, ich will Ihnen sagen, das Schlimmste ham Se noch gar nich’ gehört!«
Zadok schrie nun wirklich, und das irre Toben seiner Stimme verstörte mich mehr, als mir lieb war.
»Verdammt, sitzen Se nich’ einfach nur da und starren mich mit diesen Augen an – ich sag Ihnen, Obed Marsh is’ inner Hölle und dort gehört er auch hin! Hi, hi … in der Hölle, sag ich! Mich kriegen se nich’ – ich hab nix getan un’ niemandem was gesagt –
Ach, Ihnen, junger Mann? Na, selbst wenn ich bisher niemandem was erzählt hab, dann mach ich’s jetzt! Bleiben Se einfach still sitzen und hörn zu, Junge – das ist, was ich noch nie jemandem erzählt hab …
Ich hab gesagt, dass ich nach der einen Nacht nie wieder rumgeschnüffelt hab – aber ich hab trotzdem gewisse Dinge rausgefunden!
Du willst wissen, was der wirkliche Schrecken is’, nich? Nun, das is’ es – es is’ nich’ das, was diese Fischteufel gemacht ham, sondern was se noch machen werden! Die bringen Viecher hoch, wo se herkommen, un’ bringen se in die Stadt – das machen se schon seit Jahren, un’ seit Kurzem ham se ’n bisschen langsam damit gemacht. Diese Häuser nördlich vom Fluss zwischen der Water un’ der Main Street sin’ voll davon – voll mit diesen Teufeln un’ dem, was se mitbringen – und wenn se so weit sin’ … Ich sage, wenn se so weit sin’ … ham Se schon mal was von Shoggothen gehört?
He, hör’n Se mich? Ich sag Ihnen, ich weiß, was diese Dinger sin’ – ich hab se eines Nachts gesehn, als … EH-AHHHH-AH! E’YAAHHHH …«
Der unmenschlich schreckliche Schrei des alten Mannes kam so plötzlich, dass ich beinahe die Besinnung verlor. Seine Augen, die an mir vorbei auf das übel riechende Meer starrten, traten fast aus dem Kopf, derweil sein Gesicht eine Maske der Furcht war, würdig einer griechischen Tragödie. Seine knochige Klaue bohrte sich auf grässliche Weise in meine Schulter, und er bewegte sich nicht, als ich meinen Kopf wandte, um zu sehen, was er erblickt haben mochte.
Da war nichts zu sehen. Einzig die herannahende Flut, die an einer Stelle vielleicht etwas stärker aufgewühlt war als sonst innerhalb der lang gezogenen Front der Wogen. Doch Zadok schüttelte mich jetzt, und ich drehte mich wieder um, um zu beobachten, wie das vor Furcht erstarrte Gesicht zu einem Chaos zuckender Augenlider und murmelnden Zahnfleisches zerschmolz. Alsbald fand er seine Stimme wieder – wenngleich nur mehr als zitterndes Flüstern.
»Machen Se sich fort von hier! Machen Se sich fort von hier! Die ham uns gesehn – laufen Se um Ihr Leben! Warten Se nich’ ab – die wissen’s nun – laufen Se um Ihr Leben – schnell – raus aus dieser Stadt –«
Eine weitere schwere Welle zerbarst am bröckelnden Mauerwerk des ehemaligen Kais und wandelte das Flüstern des alten Irren in einen neuerlichen unmenschlichen und grausigen Schrei. »E-YAAHHHH! … YHAAAAAAA! …«
Noch ehe ich meine aufgewühlten Sinne wieder beisammenhatte, ließ er meine Schulter los und rannte wie irre landeinwärts in Richtung Straße, um an der Mauer des zerfallenen Warenkontors entlang nach Norden zu hetzen.
Ich blickte zurück aufs Meer, doch dort war nichts zu entdecken. Und als ich die Water Street erreichte und sie in nördlicher Richtung hinabschaute, war von Zadok Allen keine Spur mehr zu sehen.
IV
Ich vermag kaum, die Stimmung zu beschreiben, in der dieses peinigende Erlebnis mich zurückließ – ein Erlebnis, das zugleich wahnsinnig und erbarmungswürdig, grotesk und erschreckend war. Der junge Mann im Lebensmittelladen hatte mich darauf vorbereitet und doch hatte die Wirklichkeit dadurch nichts an bestürzender und verstörender Kraft eingebüßt. So kindisch die Geschichte auch war, der irre Ernst und das Entsetzen des alten Zadok hatten mir eine wachsende Beunruhigung eingegeben, die sich mit meinem früheren Gefühl des Abscheus vor dieser Stadt und ihrem Pesthauch ungreifbarer Schatten vermischte.
Später konnte ich die Erzählung noch einmal analysieren und vielleicht einen Kern historischer Wahrheit aus ihr ziehen; fürs Erste aber wollte ich sie einfach nur vergessen. Es war bereits bedrohlich spät geworden – meine Uhr zeigte 19.15 Uhr an, und der Bus nach Arkham fuhr um 20.00 Uhr am Marktplatz ab –, und so versuchte ich, meine Gedanken in eine möglichst neutrale und praktische Richtung zu lenken, derweil ich rasch durch die verlassenen Straßen mit den schiefen Häusern und ihren lückenhaften Dächern hin zu dem Hotel eilte, wo ich meinen Koffer abgegeben hatte und wo ich den Bus finden würde.
Obgleich das goldene Licht des späten Nachmittags den uralten Dächern und baufälligen Schornsteinen eine Ausstrahlung mystischen Liebreizes und Friedens verlieh, konnte ich nicht umhin, dann und wann über meine Schulter zu spähen. Ich würde gewiss sehr froh darüber sein, das übel riechende und von Furcht überschattete Innsmouth hinter mir zu lassen, und wünschte nur, es gäbe dafür ein anderes Mittel als den Bus, der von dem finster aussehenden Sargent gesteuert wurde. Und doch überstürzte ich meine Hast nicht, denn es gab an jedem stillen Winkel architektonische Einzelheiten zu bestaunen, und ich konnte meinen Berechnungen zufolge die verbleibende Strecke binnen einer halben Stunde zurücklegen.
Als ich die Karte des jungen Mannes aus dem Lebensmittelladen studierte und einen Weg suchte, den ich zuvor noch nicht beschritten hatte, wählte ich anstelle der State Street die Marsh Street als Route zum Marktplatz. Nahe der Ecke Fall Street sah ich erstmals verstreute Gruppen verstohlen flüsternder Menschen, und als ich schließlich den Platz erreichte, sah ich, dass fast alle der Herumlungernden sich vor der Tür des Gilman House zusammengeschart hatten. Es schien mir, als starrten sie mir aus unzähligen hervortretenden, wässrigen, lidlosen Augen sonderbar nach, als ich in der Empfangshalle meinen Koffer zurückverlangte. Ich hoffte, dass keins dieser unangenehmen Wesen mich auf der Busreise begleiten würde.
Der Bus war recht früh dran und klapperte mit drei Fahrgästen an Bord kurz vor 20.00 Uhr heran und ein bösartig aussehender Bursche auf dem Bürgersteig murmelte dem Fahrer einige unverständliche Worte zu. Sargent warf einen Postsack und ein Bündel Zeitungen heraus und ging ins Hotel; indessen schlurften die Fahrgäste – dieselben Männer, die ich am Morgen in Newburyport hatte ankommen sehen – auf den Bürgersteig und tauschten mit einem der Herumstreunden einige leise kehlige Worte in einer Sprache aus, die – so hätte ich schwören können – kein Englisch war. Ich stieg in den leeren Bus ein und nahm auf demselben Sitz wie zuvor Platz, doch kaum hatte ich mich gesetzt, da tauchte Sargent wieder auf und fing an, mit einer heiseren Stimme von eigenartiger Widerwärtigkeit etwas zu murmeln.
Ich hatte, so stellte sich heraus, sehr großes Pech. Mit dem Motor sei etwas nicht in Ordnung, obwohl sie problemlos und in ausgezeichnetem Tempo aus Newburyport gekommen waren, könne der Bus die Reise nach Arkham nicht fortsetzen. Nein, es sei nicht möglich, ihn noch am Abend reparieren zu lassen, und es gebe auch keine andere Beförderungsmöglichkeit aus Innsmouth, weder nach Arkham noch sonst wohin. Sargent sagte, es täte ihm leid, doch ich müsse wohl im Gilman übernachten. Der Mann am Schalter würde mir wohl einen guten Preis anbieten, aber sonst gebe es keine Alternative.
Ich war fast benommen aufgrund dieser unerwarteten Wendung und sah dem Anbruch der Nacht in dieser zerfallenden und nahezu unbeleuchteten Stadt mit tobender Angst entgegen. Also stieg ich aus dem Bus und betrat erneut die Empfangshalle des Hotels, wo der verdrießliche, merkwürdig aussehende Nachtportier mir sagte, ich könne Zimmer 428 in der vorletzten Etage – ein großes Zimmer, doch ohne fließend Wasser – für einen Dollar haben.
Trotz allem, was ich in Newburyport über dieses Hotel gehört hatte, trug ich mich ins Register ein, bezahlte den Dollar, ließ den Portier meinen Koffer nehmen und folgte diesem säuerlichen einsamen Dienstboten drei knarrende Treppenfluchten hinauf, vorbei an staubigen Gängen, die völlig leblos zu sein schienen. Mein Zimmer entpuppte sich als ein trostloser, zur Rückseite des Gebäudes hin gelegener Raum mit billigem Mobiliar und zwei Fenstern, die einen Ausblick auf einen schmutzigen Hof boten, der von niedrigen verlassenen Ziegelbauten umsäumt war. Dahinter erstreckten sich baufällige Dächer nach Westen und, weiter in der Ferne, eine sumpfige Landschaft. Am Ende des Korridors befand sich ein Badezimmer – ein entmutigendes Relikt mit einer uralten Waschschüssel aus Marmor, einer Badewanne aus Zinn, schwachem elektrischen Licht und schimmelbedeckten Holzpaneelen über den Installationsrohren.
Da es noch hell war, ging ich wieder auf den Marktplatz und suchte nach einer beliebigen Essmöglichkeit; dabei bemerkte ich die seltsamen Blicke, die mir die blassen herumlungernden Gestalten zuwarfen. Da das Lebensmittelgeschäft schon geschlossen war, sah ich mich dazu gezwungen, das Restaurant aufzusuchen, das ich zuvor vermieden hatte; es wurde betrieben von einem gebeugten, schmalköpfigen Mann mit starren, lidlosen Augen und einem flachnasigen Weibsbild mit unglaublich dicken, tollpatschigen Händen. Man musste an der Theke bestellen, und es war mir eine Erleichterung zu entdecken, dass offensichtlich vieles aus Dosen und Fertigpackungen zubereitet wurde. Eine Terrine Gemüsesuppe mit Crackern genügte mir, und bald darauf kehrte ich in mein bedrückendes Zimmer im Gilman zurück, nachdem der Portier mit dem bösen Gesicht mir aus dem klapprigen Ständer neben seinem Schreibtisch eine Abendzeitung und eine mit toten Fliegen beschmutzte Zeitschrift gegeben hatte.
Als das Zwielicht sich vertiefte, knipste ich die einzige schwache elektrische Glühbirne über dem billigen Eisenbett an und versuchte, so gut es ging, die Lektüre fortzusetzen, die ich begonnen hatte. Ich hielt es für ratsam, meinen Geist mit gesunden Dingen zu beschäftigen, denn es war nicht gut, über die Abnormitäten dieser alten vom Pesthauch überschatteten Stadt nachzusinnen, während ich mich noch innerhalb ihrer Grenzen aufhielt. Das wahnsinnige Seemannsgarn, das ich von dem alten Trunkenbold gehört hatte, versprach keine sehr angenehmen Träume, und ich fühlte, dass ich das Bild seiner wilden, wässrigen Augen von meiner Fantasie möglichst fernhalten musste.
Auch durfte ich nicht ständig daran denken, was der Fabrikinspektor dem Fahrkartenverkäufer in Newburyport über das Gilman House und die Stimmen seiner nächtlichen Bewohner erzählt hatte – genauso wenig wie an das Gesicht unter der Tiara im schwarzen Kellereingang der Kirche; das Antlitz, dessen Schrecknis mein Bewusstsein nicht zu erklären vermochte. Es wäre vielleicht einfacher gewesen, meine Gedanken von verstörenden Dingen freizuhalten, wäre das Zimmer nicht so grauenhaft modrig gewesen. So jedoch vermischte sich der tödliche Moder auf scheußliche Weise mit dem allgemeinen Fischgeruch der Stadt und ließ mich unablässig an Tod und Verfall denken.
Was mich außerdem beunruhigte, war das Fehlen eines Riegels an der Tür meines Zimmers. Einst hatte es einen gegeben, wie man deutlich sehen konnte, doch er musste kürzlich entfernt worden sein. Zweifelsohne war er nicht mehr funktionstüchtig gewesen, wie so viele andere Dinge in diesem zerfallenden Gemäuer. In meiner Nervosität blickte ich mich um und entdeckte einen Riegel am Kleiderschrank, der dieselbe Größe wie jener hatte, der früher an der Tür befestigt gewesen war. Um meine Anspannung wenigstens etwas zu verringern, beschäftigte ich mich damit, diesen Gegenstand mithilfe eines handlichen Mehrzweckgeräts, das an meinem Schlüsselbund hing und einen Schraubenzieher beinhaltete, an die verwaiste Stelle zu übertragen. Der Riegel passte perfekt. Jetzt fühlte ich mich ein wenig erleichtert im Wissen, ihn vorm Zubettgehen fest verschließen zu können. Nicht dass ich eine wirkliche Notwendigkeit dazu befürchtet hätte, doch war mir in einer derartigen Umgebung jedes Attribut der Sicherheit willkommen. An den beiden Seitentüren gab es funktionstüchtige Riegel zu den Nebenzimmern und ich schob sie sogleich vor.
Ich entkleidete mich nicht, sondern entschied zu lesen, bis ich schläfrig wurde, und mich dann hinzulegen, einzig meines Mantels und meiner Schuhe entledigt. Ich nahm eine Taschenlampe aus meinem Koffer und steckte sie in die Hosentasche, sodass ich auf die Uhr sehen könnte, sollte ich später im Dunkeln erwachen. Es überkam mich jedoch keine Müdigkeit, und als ich mit dem Lesen innehielt, um meine Gedanken zu ordnen, bemerkte ich zu meiner Beunruhigung, dass ich die ganze Zeit unbewusst auf etwas horchte – etwas, das ich fürchtete, aber nicht zu benennen vermochte. Die Geschichte jenes Inspektors musste stärkeren Eindruck auf meine Vorstellungskraft gemacht haben, als ich vermutet hatte. Erneut versuchte ich zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren.
Nach einer Weile schien ich in regelmäßigen Abständen auf der Treppe und den Gängen ein Knarren zu hören wie von Schritten, und ich fragte mich, ob die anderen Räume nun auch belegt seien. Ich hörte jedoch keine Stimmen, und es fiel mir auf, dass das Knarren etwas Subtiles, Verstohlenes hatte. Das gefiel mir nicht, und ich zog in Erwägung, besser gar nicht erst einzuschlafen. In dieser Stadt gab es mancherlei sonderbare Leute, und ohne Zweifel waren mehrere Menschen hier verschwunden. War dies eines jener Gasthäuser, wo Reisende ihres Geldes wegen ermordet wurden? Gewiss sah ich nicht sonderlich wohlhabend aus. Oder waren die Stadtbewohner wirklich so schlecht auf neugierige Besucher zu sprechen? Hatte meine neugierige Besichtigungstour zu viel Aufmerksamkeit erregt? Mir kam der Gedanke, dass mein nervlicher Zustand wohl nicht gerade der beste sei, wenn mich schon ein paar zufällige knarrende Geräusche zu derartigen Grübeleien verleiteten – dennoch reute es mich, dass ich unbewaffnet war.
Endlich verspürte ich Erschöpfung, die aber nichts von Schläfrigkeit an sich hatte, verriegelte die neu ausgestattete Tür zum Gang, schaltete das Licht aus und warf mich auf das harte, unebenmäßige Bett – mitsamt Mantel, Kragen und Schuhen. In der Finsternis schien sich jedes schwache Geräusch der Nacht zu verstärken und eine Welle unerträglicher Gedanken brach über mich herein. Es tat mir leid, das Licht ausgeknipst zu haben, doch war ich zu erschöpft, um aufzustehen und es wieder einzuschalten. Dann, nach einer langen furchtbaren Pause und eingeleitet von einem neuerlichen Knarren auf Treppe und Korridor, kam jenes sanfte, entsetzlich unmissverständliche Geräusch, das mir wie die bösartige Bestätigung all meiner Ängste erschien. Ohne den geringsten Zweifel machte sich jemand mit einem Schlüssel am Schloss der Tür zum Gang zu schaffen – vorsichtig, verstohlen, zögerlich.
Meine Empfindungen, als ich dieses Zeichen wirklicher Gefahr wahrnahm, waren meiner vorangegangenen vagen Befürchtungen wegen vielleicht weniger heftig als erwartet. Ich war ohnehin, ohne einen bestimmten Anlass gehabt zu haben, instinktiv auf der Hut gewesen – und das gereichte mir in der neuen und wirklichen Bedrängnis zum Vorteil. Dennoch war der Wandel von einer undeutlichen Vorahnung zur unmittelbaren Bedrohung ein regelrechter Schock und traf mich mit der Macht eines Faustschlages. Mir kam überhaupt nicht der Gedanke, das Hantieren an der Tür könnte auf einer bloßen Verwechselung beruhen. Ich konnte nur an böse Absichten denken und ich blieb totenstill und wartete den nächsten Schritt des vermeintlichen Eindringlings ab.
Nach einer Weile verstummte das vorsichtige Rütteln, und ich hörte, wie der nördlich gelegene Nebenraum mit einem Schlüssel geöffnet wurde. Dann versuchte man es sanft am Riegel der Verbindungstür zu meinem Zimmer. Der Riegel hielt natürlich, und ich hörte den Boden knarren, als der nächtliche Eindringling den Raum verließ. Einen Augenblick später vernahm ich ein weiteres sachtes Rütteln, und ich wusste, dass jemand das südliche Zimmer betreten hatte. Wieder ein verstohlener Versuch an der verriegelten Verbindungstür und wiederum ein Knarren beim Rückzug. Dieses Mal verlief das Knarren den Korridor entlang und die Treppe hinab. Ich vermutete, dass der Eindringling bemerkt hatte, dass alle Türen zu meinem Zimmer verriegelt waren, und seinen Versuch für einen kürzeren oder längeren Zeitraum, was sich noch zeigen würde, aufgegeben hatte.
Die Hast, mit der ich einen Handlungsplan ersonn, beweist, dass ich schon seit Stunden unterbewusst eine Bedrohung befürchtet und mögliche Fluchtwege in Betracht gezogen haben musste. Von vornherein war mir klar, dass der unsichtbare Störenfried eine Gefahr darstellte, dass ich ihm nicht in die Quere kommen durfte, sondern so rasch als möglich fliehen musste. Das Einzige, was mir zu tun übrig blieb, war, so schnell ich konnte lebend aus diesem Hotel hinauszukommen, und zwar über einen anderen Weg als über die vordere Treppe und die Empfangshalle.
Ich stand leise auf und suchte mit meiner Taschenlampe nach dem Lichtschalter, um die Glühbirne über meinem Bett anzuschalten und einige Habseligkeiten für eine rasche Flucht ohne Koffer einzustecken. Nichts geschah – der Strom war abgestellt worden! Eindeutig hatte man hier etwas Übles vor – nur was, das vermochte ich nicht zu sagen. Als ich noch mit der Hand an dem nun zwecklosen Lichtschalter dastand und überlegte, hörte ich ein gedämpftes Knarren im Stockwerk unter mir, und ich glaubte, flüsternde Stimmen im Gespräch zu vernehmen. Einen Augenblick später war ich mir nicht mehr so sicher, ob es sich bei den tieferen Geräuschen um Stimmen handelte, da das offenkundig heisere Gequake und das silbenreiche Krächzen so wenig Ähnlichkeit mit bekannten menschlichen Sprachen aufwiesen. Wieder dachte ich an das, was der Fabrikinspektor des Nachts in diesem vermodernden und verpesteten Gemäuer gehört hatte.
Nachdem ich mithilfe der Taschenlampe ein paar meiner Habseligkeiten gefunden und in die Taschen gesteckt hatte, setzte ich meinen Hut auf und ging auf Zehenspitzen ans Fenster, um meine Chancen eines Abstieges einzuschätzen. Ungeachtet der staatlichen Sicherheitsvorschriften gab es auf dieser Seite des Hotels keine Feuerleiter, und ich sah, dass die Fenster nur einen Sturz von drei Stockwerken auf den gepflasterten Hof zuließen. Zur Rechten und Linken des Hotels schlossen sich allerdings einige alte Wirtschaftsgebäude aus Ziegel an, deren schräge Dächer vom vierten Stock durchaus im Sprung zu erreichen waren. Um auf eine dieser Gebäudereihen zu gelangen, hätte ich mich in einem zwei Türen weiter gelegenen Raum befinden müssen – im Norden oder im Süden –, und ich schätzte sogleich meine Chancen ein, in eines dieser Zimmer zu gelangen.
Ich konnte es nicht riskieren, hinaus auf den Korridor zu treten, wo man meine Schritte sicherlich hören würde und wo die Schwierigkeiten, in eines der Nebenzimmer zu gelangen, unüberwindlich wären. Falls ich es überhaupt schaffen konnte, dann musste ich versuchen, durch die weniger stabilen Verbindungstüren zwischen den Zimmern zu kommen, deren Riegel ich unter Zuhilfenahme meiner Schulter als Rammbock aufbrechen würde, sollten sie versperrt sein. Dies, so glaubte ich, könnte angesichts der baufälligen Natur des Hauses und seiner Einrichtungen durchaus gelingen; doch mir wurde bewusst, dass das nicht geräuschlos vonstatten gehen würde. Ich musste allein auf meine Schnelligkeit und auf die Möglichkeit zählen, durch eines der Fenster zu entkommen, ehe die feindliche Macht sich so weit gesammelt hatte, um die richtige Tür zu mir mit dem Schlüssel zu öffnen. Meine eigene Außentür verstärkte ich, indem ich den Sekretär davorschob – ganz behutsam, um so wenig Lärm wie möglich zu erzeugen.
Ich erkannte, dass meine Aussichten äußerst gering waren, und war vollauf auf jedes Unheil vorbereitet. Selbst wenn ich auf ein anderes Dach gelangen sollte, war damit das Problem nicht gelöst, denn dann stünde noch die Aufgabe vor mir, den Boden zu erreichen und aus der Stadt zu entkommen. Ein Umstand zu meinen Gunsten war der verlassene und verfallene Zustand der angrenzenden Gebäude und die vielen Dachfenster, die sich in jeder Hausreihe wie schwarze Münder öffneten.
Nachdem ich der Karte des jungen Lebensmittelverkäufers entnommen hatte, dass der beste Weg aus der Stadt südwärts verlief, nahm ich zuerst die Verbindungstür auf der südlichen Seite des Zimmers in Augenschein. Sie war so entworfen, dass sie sich in meine Richtung öffnete, und nachdem ich bemerkt hatte, dass sie auch von der andern Seite verriegelt war, erkannte ich, dass sie sich schlecht eignete, um sie mit Gewalt zu öffnen. Da ich sie demgemäß als Fluchtroute aufgab, rückte ich behutsam das Bettgestell davor, um einen Angriff zu erschweren, der später vom Nebenzimmer aus erfolgen könnte. Die nördliche Tür war so angebracht, dass sie sich in das andere Zimmer öffnete, und obgleich ein Versuch bewies, dass auch sie von der anderen Seite versperrt oder verriegelt war, wusste ich, dass dies mein Fluchtweg sein musste. Sollte ich die Dächer der Gebäude in der Paine Street erreichen und glücklich auf den Erdboden gelangen, so könnte ich vielleicht durch den Hof und die angrenzenden oder gegenüberliegenden Gebäude auf die Washington oder Bates Street hinauslaufen – oder aber in der Paine Street herauskommen und in südlicher Richtung in die Washington Street schleichen. In jedem Falle war es mein Ziel, irgendwie in die Washington Street zu gelangen und schnellstens aus der Gegend des Marktplatzes zu verschwinden. Besonders war die Paine Street zu meiden, da die dortige Feuerwache vielleicht die ganze Nacht geöffnet war.
Als ich über diese Dinge nachdachte, blickte ich hinaus über das schmutzige Meer vermodernder Dächer unter mir, die nun von den Strahlen eines Mondes erhellt wurden, der gerade erst wieder im Abnehmen begriffen war. Zur Rechten durchschnitt die schwarze Furche des Flusstales das Panorama, an dessen Ufern verlassene Fabriken und der Bahnhof wie Kletten klebten. Dahinter verliefen die rostigen Eisenbahngleise und die Straße nach Rowley durch ein flaches sumpfiges Gebiet, das von kleineren trockenen Hügeln voller Gestrüpp unterbrochen war. Zur Linken lag das von kleinen Bächen durchzogene Land näher, und die schmale Straße nach Ipswich schimmerte weiß im Mondschein. Die südliche Route nach Arkham, die ich einzuschlagen gedachte, konnte ich von dieser Seite des Hotels aus nicht sehen.
Unschlüssig spekulierte ich darüber, wann ich am besten die nach Norden gelegene Tür in Angriff nehmen sollte und wie mir das am leisesten gelingen sollte, als ich bemerkte, dass die undeutlichen Geräusche unter mir von einem neuerlichen und schwereren Knarren auf der Treppe abgelöst worden waren. Ein flackernder Lichtschimmer war durch das Oberlicht meiner Tür zu erkennen und die Dielen des Korridors stöhnten unter einer schweren Last. Gedämpfte Geräusche, womöglich Stimmen, näherten sich, und schließlich klopfte es fest an meiner Außentür.
Einen Augenblick lang hielt ich einfach den Atem an und wartete ab. Ewigkeiten schienen zu verstreichen und der widerliche Fischgeruch meiner Umgebung schien sich plötzlich und merklich zu verstärken. Dann wiederholte sich das Pochen – andauernd und mit wachsender Dringlichkeit. Ich wusste, dass die Zeit zum Handeln gekommen war, löste unverzüglich den Riegel der nördlichen Verbindungstür und nahm meine Kräfte zusammen, um sie aufzustoßen. Das Klopfen wurde lauter, und ich hoffte, dass seine Lautstärke den Lärm meiner Anstrengungen überdecken würde. Als ich endlich meinen Versuch unternahm, stieß ich wieder und wieder mit der linken Schulter gegen die dünne Holztür, ohne auf Erschütterung oder Schmerz zu achten. Die Tür leistete mehr Widerstand, als ich erwartet hatte, doch ich gab nicht auf. Und die ganze Zeit über schwoll der Lärm an der Außentür an.
Schließlich gab die Verbindungstür nach, aber mit einem solchen Krachen, dass die da draußen es gehört haben mussten. Sogleich steigerte sich das Klopfen zu einem heftigen Gepolter, derweil in den Schlössern der beiden anderen Türen Schlüssel bedrohlich klapperten. Als ich durch die soeben geschaffene Verbindung stürzte, gelang es mir, die nördliche Tür zum Gang zu verriegeln, ehe sie geöffnet werden konnte; doch noch während ich das tat, hörte ich, wie die Tür zum dritten Raum – dem, aus dessen Fenster ich das darunter gelegene Dach zu erreichen gehofft hatte – mit einem Schlüssel bearbeitet wurde.
Eine Sekunde lang verspürte ich absolute Verzweiflung, da ich in einer Kammer ohne Fenster in der Falle zu sitzen schien. Eine Welle unvorstellbaren Entsetzens brach über mich herein und verlieh den im Licht der Taschenlampe sichtbaren Staubspuren des Eindringlings, der zuvor versucht hatte, in mein Zimmer zu gelangen, eine schreckliche, aber unerklärliche Besonderheit. Die Hoffnungslosigkeit meiner Lage ließ mich mit blinden, mechanischen Bewegungen zur nächsten Verbindungstür eilen, wo ich mich panisch daranmachte, sie aufzustoßen und – vorausgesetzt, dass der Riegel durch eine glückliche Vorsehung ebenso intakt war wie in diesem zweiten Raum – die Tür zum Gang zu verriegeln, bevor sie jemand von außen aufzusperren vermochte.
Ein unglaubliches Glück gewährte mir eine Gnadenfrist – denn die Verbindungstür vor mir war nicht nur unverschlossen, sondern sogar nur angelehnt. Binnen einer Sekunde war ich durch und stemmte mich mit Knie und Schulter gegen die Tür zum Gang, die sich bereits nach innen öffnete. Mein Druck überraschte den Eindringling, denn die Tür schloss sich, als ich mich dagegenstemmte, sodass ich den gut funktionierenden Riegel vorschieben konnte. Als ich diese Atempause erreicht hatte, ließ das Schlagen gegen die beiden anderen Türen nach, derweil ein wirres Klappern von der Verbindungstür kam, die ich mit dem Bettgestell verrammelt hatte. Offensichtlich war der Großteil meiner Angreifer in den südlichen Raum geströmt, um eine Attacke von der Seite aus zu führen. Doch im selben Moment hörte ich einen Schlüssel in der Tür des nächsten nördlichen Zimmers und wusste, dass eine unmittelbare Bedrohung bevorstand.
Die nördliche Verbindungstür stand weit offen, aber es blieb keine Zeit, sich um die Tür zum Gang zu kümmern, da sich in deren Schloss bereits ein Schlüssel herumdrehte. Ich konnte lediglich die offene Verbindungstür schließen und verriegeln, ebenso ihr Gegenstück auf der anderen Seite – gegen die eine wuchtete ich ein Bettgestell, gegen die andere einen Sekretär, und vor die Tür zum Gang schob ich einen Waschständer. Ich musste mich, wie ich erkannte, auf solche behelfsmäßigen Hindernisse verlassen, um mich so lange zu schützen, bis ich aus dem Fenster und auf dem Dach des Gebäudes in der Paine Street war. Doch selbst in diesem Moment akuter Bedrohung graute mir weniger vor der unmittelbaren Schwäche meiner Verteidigungsmittel – ich schauderte, weil kein einziger meiner Verfolger auch nur ein verständliches Wort von sich gab; außer einem scheußlichen Keuchen und Grunzen hörte ich in unregelmäßigen Abständen ein unterdrücktes Quaken.
Als ich die Möbel verschoben hatte und zum Fenster eilte, hörte ich ein fürchterliches Trippeln auf dem Gang in Richtung des Zimmers nördlich von mir, und mir fiel auf, dass das Schlagen gegen die Tür im Süden aufgehört hatte. Eindeutig standen die meisten meiner Gegner nun davor, sich auf die schwache Verbindungstür zu konzentrieren, von der sie wussten, dass sie sich direkt zu mir öffnete. Draußen spielte das Mondlicht auf dem Firstbalken des darunter gelegenen Gebäudes, und ich sah, dass der Sprung aufgrund der steilen Oberfläche, auf der ich landen musste, überaus gefährlich sein würde.
Ich schätzte die Umstände ab und wählte das südlicher gelegene der beiden Fenster als meinen Fluchtweg; ich hatte vor, auf der inneren Neigung des Daches zu landen und zum nächsten Dachfenster zu laufen. Befand ich mich erst im Innern eines der baufälligen Ziegelgemäuer, würde ich mit Verfolgern rechnen müssen; doch ich hoffte, ins Erdgeschoss zu gelangen und im dunklen Innenhof von Türöffnung zu Türöffnung schlüpfen zu können, um schließlich auf die Washington Street zu kommen und in südlicher Richtung aus der Stadt zu fliehen.
Das Poltern an der nördlichen Verbindungstür war nun entsetzlich laut, und ich sah, dass das schwache Holz bereits zu splittern begann. Allem Anschein nach nutzten die Belagerer jetzt einen schweren Gegenstand als Rammbock. Das Bettgestell hielt noch stand, sodass ich zumindest den Hauch einer Chance hatte, meine Flucht durchzuführen. Als ich das Fenster öffnete, merkte ich, dass es von schweren Vorhängen aus Velours drapiert war, die an Messingringen von einer Stange herabhingen, und zudem gab es draußen einen großen Haken zur Befestigung der Fensterläden. Da ich eine Möglichkeit zur Vermeidung des gefährlichen Sprunges erkannte, riss ich an den Vorhängen und brachte sie mitsamt der Gardinenstange zu Fall; dann befestigte ich rasch zwei der Ringe an dem Eisenhaken und ließ die Draperien aus dem Fenster fallen. Die schweren Bahnen reichten bis hinab zum angrenzenden Dach, und ich sah, dass die Ringe und der Haken wohl mein Gewicht würden tragen können. Und so kletterte ich aus dem Fenster und die improvisierte Strickleiter hinab und ließ das morbide und vom Grauen erfüllte Gemäuer des Gilman House hinter mir.
Ich landete sicher auf den lockeren Ziegeln des steilen Dachs, und ich schaffte es, zu dem weit offenen schwarzen Dachfenster zu gelangen, ohne auszurutschen. Als ich hinauf zu dem Fenster spähte, durch das ich entkommen war, sah ich, dass es noch immer dunkel war, doch fern über den verfallenden Schornsteinen erkannte ich im Norden bedrohlich flackernde Lichter in der Halle des Dagon-Ordens – ebenso in der Baptistenkirche und der Gemeindekirche, an die ich mich mit Schaudern erinnerte. Anscheinend befand sich niemand unten im Hof, und ich hoffte, Gelegenheit zum Entkommen zu haben, ehe ein allgemeiner Alarm ausgelöst wurde.
Als ich den Lichtstrahl meiner Taschenlampe in das Dachfenster richtete, sah ich, dass keine Stufen hinabführten. Die Höhe war jedoch nur gering und so kletterte ich über den Rand und ließ mich fallen. Ich landete auf einem staubigen Boden voller modriger Kisten und Fässer.
Der Ort wirkte gespenstisch, doch auf solcherlei Eindrücke konnte ich jetzt nicht achten. Ich warf einen hastigen Blick auf meine Uhr – zwei Uhr nachts – und eilte sofort zu der Treppe, die meine Taschenlampe mir enthüllte. Die Stufen knarrten, schienen aber einigermaßen sicher zu sein; und ich raste an einem scheunenähnlichen Stockwerk vorbei ins Erdgeschoss. Ich war vollkommen alleine, einzig die Echos meiner Schritte tönten. Endlich erreichte ich die Eingangshalle, an deren einem Ende ich ein schwach erleuchtetes Rechteck sah, das die verfallene Tür zur Paine Street markierte. Ich eilte den anderen Weg entlang und fand auch die Hintertür offen vor; dort hetzte ich fünf Steinstufen hinab auf die grasüberwachsenen Pflastersteine des Innenhofes.
Bis hierher gelangten die Strahlen des Mondes nicht, doch konnte ich meinen Weg gerade so finden, ohne Gebrauch von der Taschenlampe zu machen. Einige der Fenster auf der Seite des Gilman House waren schwach erleuchtet und ich glaubte im Innern wirre Laute zu hören. Ich schritt vorsichtig hinüber auf die Seite der Washington Street und erkannte dort mehrere offene Türnischen und ich wählte die nächste als meinen Ausweg. Im Innern des Gangs war alles stockfinster, und als ich das gegenüberliegende Ende erreichte, bemerkte ich, dass die faulige Tür zur Straße unverrückbar klemmte. Ich beschloss, mein Glück in einem andern Gebäude zu versuchen, und ertastete meinen Weg zurück in den Hof, hielt aber abrupt inne, als ich mich der Türe näherte.
Denn aus einer offenen Tür des Gilman House strömte eine große Schar zweifelhafter Gestalten – Laternen hüpften in der Finsternis auf und ab, und entsetzliche krächzende Stimmen tauschten leise Rufe in einer Sprache aus, die gewiss kein Englisch war. Die Gestalten bewegten sich unentschlossen, und zu meiner Erleichterung erkannte ich, dass sie nicht wussten, wohin ich entkommen war; dennoch ließ mich ihr Anblick am ganzen Leib vor Grauen erbeben. Ihre Gesichtszüge waren nicht auszumachen, doch ihr gebückter, watschelnder Gang war ungeheuer abstoßend. Und das Schlimmste: Ich erkannte, dass eine der Gestalten eine sonderbare Robe und auf dem Kopf unverkennbar eine hohe Tiara jener Machart trug, die mir nur allzu vertraut war.
Als diese Gestalten über den Hof ausschwärmten, fühlte ich meine Ängste wachsen. Angenommen, ich fand keinen Ausweg aus dem Gebäude auf der zur Straße gelegenen Seite?
Der Fischgeruch war abscheulich, und ich wunderte mich, dass ich ihn zu ertragen vermochte, ohne ohnmächtig zu werden. Erneut tastete ich mich in Richtung Straße, öffnete eine Tür und gelangte in einen leeren Raum mit dicht verschlossenen, aber rahmenlosen Fenstern. Im Lichtstrahl meiner Taschenlampe fingerte ich daran herum und entdeckte, dass ich die Läden öffnen konnte; und einen Augenblick später war ich hinausgeklettert und verschloss die Öffnung sorgfältig wieder.
Ich befand mich nun in der Washington Street, und einen Moment lang sah ich kein lebendes Wesen und kein Licht außer dem des Mondes. Aus mehreren Richtungen konnte ich jedoch entfernt raue Stimmen vernehmen, Schritte sowie ein merkwürdiges Getrappel, das nicht ganz wie Fußschritte klang. Ich hatte wirklich keine Zeit zu verlieren. Die Himmelsrichtungen waren mir vertraut, und ich war froh darüber, dass alle Straßenlaternen abgeschaltet waren, wie es in ärmeren ländlichen Gegenden in mondhellen Nächten oft der Fall ist. Einige der Geräusche kamen von Süden her, doch behielt ich meinen Plan bei, in diese Richtung zu fliehen. Dort gab es, wie ich wusste, genügend Türöffnungen, um mich vor Verfolgern zu verbergen.
Ich ging schnell und leise an den verfallenen Häusern entlang. Obgleich ich seit meiner mühsamen Kletterpartie ohne Hut war und unordentlich aussah, wirkte ich doch nicht besonders auffällig, und ich hatte gute Chancen, unbeachtet vorübergehen zu können, sollte ich zufällig einem Spaziergänger begegnen. In der Bates Street zog ich mich in einen gähnend leeren Vorhof zurück, als zwei watschelnde Gestalten dicht vor mir vorübergingen, doch bald setzte ich meinen Weg fort und näherte mich dem offenen Platz, wo die Eliot Street sich mit der South Street kreuzt und schräg die Washington Street schneidet. Obgleich ich diese Gegend nie gesehen hatte, war sie mir auf der Karte des jungen Lebensmittelverkäufers gefährlich erschienen, da das Mondlicht dort freie Bahn haben würde. Es hätte keinen Sinn ergeben, diese Stelle zu umgehen, denn jede andere Route hätte zeitraubende Umwege bedeutet, auf denen man mich vielleicht gesehen hätte. Das Einzige, was ich tun konnte, war, kühn und offen den Platz zu überqueren, dabei so gut wie möglich den typischen Watschelgang der Leute von Innsmouth nachzuahmen und zu hoffen, dass niemand – oder zumindest keiner meiner Verfolger – sich dort aufhielt.
Wie gut die Verfolgungsjagd organisiert war – und was vor allem ihr Zweck sein mochte –, davon konnte ich mir keine Vorstellung machen. Die Stadt schien von ungewöhnlicher Aktivität erfüllt zu sein, doch ich vertraute darauf, dass die Kunde von meiner Flucht aus dem Gilman sich noch nicht verbreitet hatte. Ich würde natürlich bald von der Washington Street auf eine nach Süden führende Straße wechseln müssen, denn jener Trupp aus dem Hotel war ohne jeden Zweifel hinter mir her. Ich musste Spuren im Staub des letzten alten Gebäudes zurückgelassen haben, die verrieten, auf welche Weise ich die Straße erreicht hatte.
Der offene Platz war, wie ich erwartet hatte, von hellem Mondlicht erfüllt, und ich sah die Überreste einer parkähnlichen, mit Eisengeländern umschlossenen Grünanlage in seiner Mitte. Glücklicherweise war hier niemand zu sehen, obwohl ein seltsames Zischeln oder Gebrüll aus Richtung des Markplatzes anzuschwellen schien. Die South Street war sehr breit, führte geradewegs eine leichte Anhöhe zum Ufer hinab und erlaubte eine weite Aussicht aufs Meer hinaus; ich hoffte, dass niemand von Weitem diese Straße hinaufschauen würde, während ich sie im hellen Mondschein überquerte.
Mein Vorankommen wurde durch nichts gehindert, und kein neuerliches Geräusch weckte die Befürchtung, ich sei entdeckt worden. Als ich mich umblickte, verlangsamte ich unwillkürlich meinen Schritt, um eine Sekunde lang den Anblick des Meeres in mich aufzunehmen, das am Ende der Straße im brennenden Mondlicht herrlich aussah. Weit draußen jenseits der Wellenbrecher befand sich der trübe, dunkle Umriss des Teufelsriffs, bei dessen Anblick ich unfreiwillig an all die scheußlichen Legenden dachte, von denen ich in den letzten vierunddreißig Stunden gehört hatte – Legenden, die diesen zerklüfteten Felsen als eine wirkliche Pforte zu Reichen unermesslichen Grauens und unvorstellbarer Abnormität darstellten.
Dann sah ich plötzlich die blinkenden Lichtblitze auf dem fernen Riff. Ihre Bedeutung war mir unmissverständlich klar, und sie lösten in meinem Geist ein blindes Entsetzen fern aller vernünftigen Erwägungen aus. Meine Muskeln spannten sich zur panischen Flucht an, die nur von einer gewissen unterbewussten Vorsicht und einer halb hypnotischen Faszination aufgehalten wurde. Um die Sache zu verschlimmern, blitzte nun aus dem hohen Kuppeldach des Gilman House, das hinter mir im Nordosten emporragte, eine Reihe ähnlicher, in verschiedenen Abständen auftretender Lichtstrahlen auf, bei denen es sich um nichts anderes als ein Antwortsignal handeln musste.
Als ich meine Muskeln wieder unter Kontrolle gebracht und von Neuem erkannt hatte, wie deutlich sichtbar ich sein musste, setzte ich meinen gespielt watschelnden Gang rascher fort; dabei hielt ich den Blick auf jenes höllische und bedrohliche Riff geheftet, solange die Öffnung der South Street mir den Blick zur See gestattete. Was der ganze Vorgang bedeuten sollte, konnte ich mir nicht ausmalen, es sei denn, es handelte sich um einen merkwürdigen Ritus, der mit dem Teufelsriff zu tun hatte, oder aber ein Schiff war vor jenem finsteren Fels gelandet. Ich bog nun links von der verfallenen Grünanlage ab und blickte dabei noch immer auf das Meer, das im sommerlichen Mondlicht gespenstisch leuchtete, und starrte auf das rätselhafte Flackern jener namenlosen, unerklärlichen Signalfeuer.
Da geschah es, dass die entsetzlichste Erkenntnis von allen sich mir aufdrängte – die Erkenntnis, welche die letzten Reste meiner Selbstbeherrschung zerstörte und mich dazu brachte, an den gähnenden schwarzen Türöffnungen und gleich Fischaugen starrenden Fenstern jener verlassenen Albtraumstraße panisch vorüberzurennen. Denn bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass das mondbeschienene Gewässer zwischen dem Riff und der Küste alles andere als leer war. Es wurde von einer wimmelnden Schar Gestalten aufgewühlt, die in Richtung der Stadt schwammen; und trotz der großen Entfernung und des kurzen Augenblicks der Wahrnehmung konnte ich erkennen, dass die auf- und abtauchenden Köpfe und um sich schlagenden Arme in einer Weise fremdartig und abnorm waren, die kaum in Worte gefasst oder bewusst formuliert werden kann.
Mein panischer Lauf endete, noch ehe ich einen Häuserblock zurückgelegt hatte, denn zu meiner Linken hörte ich das Gezeter und Geschrei einer organisierten Verfolgungsjagd. Ich vernahm Schritte und kehlige Laute und ein rasselnder Motor knatterte die Federal Street entlang nach Süden. Binnen einer Sekunde waren all meine Pläne umgeworfen – denn wenn die südliche Hauptstraße vor mir blockiert war, musste ich mir auf jeden Fall einen anderen Ausweg aus Innsmouth suchen. Ich hielt inne und zog mich in eine leere Türöffnung zurück, wo ich darüber nachdachte, welches Glück ich gehabt hatte, den mondhellen offenen Platz verlassen zu haben, ehe die Verfolger die Parallelstraße entlanggekommen waren.
Eine zweite Überlegung war weniger tröstlich. Da die Verfolger eine andere Straße entlangliefen, war klar, dass diese Gruppe mir nicht direkt folgte. Sie hatten mich nicht gesehen, sondern befolgten einfach einen allgemeinen Plan, mir die Fluchtwege abzuschneiden. Dies legte jedoch den Gedanken nahe, dass alle aus Innsmouth herausführenden Straßen gleichermaßen bewacht wurden, denn die Einwohner konnten nicht wissen, welche Route ich einzuschlagen gedachte. Wenn dem so war, würde meine Flucht übers Land abseits der Straßen verlaufen müssen; doch wie sollte ich das angesichts der sumpfigen und von Bächen durchzogenen Natur des Umlandes bewerkstelligen? Einen Moment lang schwirrte mir der Kopf – sowohl wegen der schieren Aussichtslosigkeit meiner Lage als auch wegen der raschen Zunahme des allgegenwärtigen Fischgeruchs.
Dann fiel mir die stillgelegte Bahnstrecke nach Rowley ein, deren beschotterter, von Unkraut überwucherter Erddamm sich noch immer vom verfallenen Bahnhof aus am Rande des Flusses in nordwestlicher Richtung erstreckte. Es gab immerhin eine gewisse Chance, dass die Leute der Stadt daran nicht denken würden, da die Gleise seit der Stilllegung von Gestrüpp überwachsen und fast unpassierbar waren und zudem für einen Flüchtenden den unwahrscheinlichsten aller Auswege darstellten. Ich hatte sie von meinem Hotelzimmer aus deutlich gesehen und wusste ungefähr, wo sie lagen. Ein Großteil des nahen Streckenverlaufes war von der Straße nach Rowley und von hoch gelegenen Stellen in der Stadt selbst aus unglücklicherweise sichtbar; doch vielleicht könnte ich durch das Gestrüpp kriechen, ohne Verdacht zu erregen. In jedem Fall bot sich hier meine einzige Chance zu entkommen, und mir blieb nichts anderes übrig, als es zu versuchen.
Ich zog mich ins Innere meines verlassenen Zufluchtsortes zurück und konsultierte ein weiteres Mal mithilfe der Taschenlampe die Karte des Lebensmittelverkäufers. Das größte Problem bestand darin, wie ich die alte Bahnstrecke erreichen sollte. Ich erkannte nun, dass der sicherste Weg über die Babson Street und dann westlich über die Lafayette Street führte – dort müsste ich abbiegen, einen offenen Platz, der dem schon hinter mir liegenden entsprach, umrunden und danach in einem Zickzackkurs zurück in nördliche und westliche Richtung laufen, über die Lafayette, Bates, Adams und Bank Street, die am Rande des Flusstales verlief, bis hin zu dem stillgelegten und baufälligen Bahnhof, den ich vom Fenster aus gesehen hatte. Ich musste hinauf zur Babson Street gehen, weil ich nicht noch einmal den offenen Platz passieren oder meine Flucht nach Westen auf einer so breiten Kreuzungsstraße wie der South Street beginnen wollte.
Ich ging erneut los und wechselte auf die rechte Straßenseite, um so unbemerkt wie möglich in die Babson Street einbiegen zu können. In der Federal Street setzte sich der Lärm fort, und als ich mich umblickte, glaubte ich, einen Lichtschimmer nahe dem Gebäude zu sehen, durch das ich entkommen war. Ich wollte so schnell wie möglich die Washington Street verlassen, verfiel in einen leisen Hundetrott und vertraute auf mein Glück, keinem wachsamen Auge zu begegnen. Neben der Ecke Babson Street sah ich zu meiner Bestürzung, dass eines der Häuser noch bewohnt war, wie Vorhänge am Fenster verrieten; doch brannten keine Lichter darin und ich kam ohne Zwischenfall daran vorbei.
In der Babson Street, welche die Federal Street schneidet und mich daher dem Blick der Suchenden aussetzen konnte, drückte ich mich so eng wie möglich an die schiefen, unebenen Gebäude; zweimal verbarg ich mich in einer Türöffnung, als die Geräusche hinter mir für einen Moment anschwollen. Der offene Platz vor mir erstrahlte weit und menschenleer unter dem Mond, doch zwang meine Route mich nicht dazu, ihn zu überqueren. Während meiner zweiten Pause bemerkte ich eine weitere Ausbreitung der undeutlichen Geräusche, und als ich vorsichtig aus meinem Versteck hinausspähte, erblickte ich einen Wagen, der über den offenen Platz und dann Richtung Umland die Eliot Street entlangschoss, die an dieser Stelle sowohl die Babson als auch die Lafayette Street kreuzt.
Während ich mir das ansah – gewürgt von einer plötzlichen Welle des Fischgeruchs –, erblickte ich eine Meute unförmiger, gebückter Gestalten, die in dieselbe Richtung trotteten und watschelten; und ich wusste, dass dies die Gruppe sein musste, welche die Ipswich Street überwachte, da diese Hauptstraße eine Verlängerung der Eliot Street darstellte. Zwei der von mir erspähten Gestalten waren in wallende Gewänder gekleidet, und eine trug einen spitzen Schmuckreif, der im Mondlicht weißlich schimmerte. Der Gang dieser Gestalt war so sonderbar, dass er mich erschaudern ließ – denn mir schien, dass dieses Wesen geradezu hüpfte.
Als der letzte der Meute außer Sichtweite war, setzte ich meine Flucht fort; ich huschte um die Ecke in die Lafayette Street und überquerte sehr rasch die Eliot Street für den Fall, dass noch Nachzügler der Gruppe über diesen Durchgangsweg kamen. Ich hörte tatsächlich einige quakende und rasselnde Geräusche weit entfernt aus der Richtung des Marktplatzes, doch ich legte die Strecke ohne Gefahr zurück. Meine größte Furcht bestand darin, die breite und mondbeschienene South Street – mit ihrem seewärtigen Ausblick – erneut zu überqueren, und nervös musste ich mir selbst Mut zusprechen. Man konnte mich dort leicht entdecken, und mögliche Nachzügler auf der Eliot Street würden mich von einem der beiden Punkte aus mit Sicherheit sehen. Im letzten Moment beschloss ich, dass ich mein Schritttempo besser verlangsamen und die Straße wie zuvor im watschelnden Gang eines durchschnittlichen Einwohners von Innsmouth überqueren sollte.
Als sich wieder der Blick aufs Wasser öffnete – dieses Mal zu meiner Rechten –, war ich halbwegs entschlossen, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken. Ich konnte jedoch nicht widerstehen und warf einen Seitenblick aufs Meer, als ich vorsichtig und im nachgeahmten Watschelgang auf den schützenden Schatten vor mir zuging. Kein Schiff war zu sehen, obwohl ich eines erwartet hatte. Stattdessen erblickte ich als Erstes ein kleines Ruderboot, das sich dem verlassenen Kai näherte und mit einem wuchtigen, von einer Plane verdeckten Gegenstand beladen war. Die Ruderer, die ich indes nur entfernt und undeutlich sah, waren von besonders abstoßendem Aussehen. Mehrere Schwimmer waren noch erkennbar, derweil ich auf dem fernen schwarzen Riff ein fahles, stetes Leuchten, ungleich dem blinkenden Signalfeuer zuvor, sah, das von einer eigenartigen Farbe war, die ich nicht genau bestimmen konnte. Oberhalb der schiefen Dächer über mir und zu meiner Rechten dräute das hohe Kuppeldach des Gilman House, doch dort war es völlig finster. Der Fischgeruch, der einen Augenblick lang durch eine gnädige Brise verweht worden war, brach nun wieder mit irremachender Stärke über mich herein.
Ich hatte die Straße noch nicht ganz überquert, da hörte ich, wie eine murmelnde Meute sich von Norden her auf der Washington Street näherte. Als sie die breite offene Stelle erreichten, wo ich den ersten beunruhigenden Blick auf das mondbeschienene Wasser erhascht hatte, konnte ich sehen, dass sie nur noch einen Häuserblock weit entfernt waren – und ich erschrak zu Tode über die bestialischen Missbildungen ihrer Gesichter und die hundeähnliche Untermenschlichkeit ihres geduckten Gangs. Ein Mann bewegte sich wirklich wie ein Affe, und seine langen Arme berührten regelmäßig den Boden, derweil eine andere Gestalt – ausgestattet mit Robe und Tiara – sich in einer fast hüpfenden Weise fortzubewegen schien. Ich glaubte, diese Gruppe sei jene, die ich im Hof des Gilman gesehen hatte – daher auch diejenige, die mir am dichtesten auf der Spur war. Als ein paar der Gestalten ihren Blick in meine Richtung wandten, erstarrte ich fast vor Angst, ich konnte jedoch den lässigen Watschelgang beibehalten, den ich angenommen hatte. Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, ob sie mich nun sahen oder nicht. Falls ja, dann musste meine List sie getäuscht haben, denn sie schritten weiter über den mondhellen Platz, ohne ihren Weg zu ändern – derweil sie in einer scheußlich gutturalen Mundart quäkten und nuschelten, die ich nicht bestimmen konnte.
Als ich mich wieder im Schatten befand, nahm ich meinen früheren Hundetrott wieder auf und schlich vorbei an den sich neigenden und baufälligen Häusern, die mit leeren Augen in die Nacht starrten. Nachdem ich auf den westlichen Bürgersteig gelangt war, bog ich um die nächste Ecke in die Bates Street ein, wo ich mich eng an den Gebäuden auf der südlichen Seite hielt. Ich passierte zwei Häuser, die Anzeichen der Bewohnung aufwiesen – in einem Obergeschoss war schwaches Licht zu sehen –, doch ich traf auf keine Hindernisse. Als ich in die Adams Street einbog, fühlte ich mich schon erheblich sicherer, bis ich erschreckt zurückprallte, weil ein Mann unmittelbar vor mir aus einer schwarzen Türöffnung wankte. Er war allerdings hoffnungslos betrunken, wie ich sofort bemerkte, und stellte keine Gefahr dar. So vermochte ich unbehelligt die trüben Ruinen der Lagerhäuser in der Bank Street zu erreichen.
Nichts regte sich in jener toten Straße am Flussufer und das Brüllen der Wasserfälle übertönte meine Schritte. Es war ein langer Hundetrott zu dem verfallenen Bahnhof und die hohen Ziegelwände der Lagerhäuser um mich herum schienen irgendwie bedrohlicher als die Fassaden der Privathäuser zu sein. Endlich sah ich den uralten, mit Säulen versehenen Bahnhof – oder was von ihm übrig war – und bewegte mich geradewegs auf die Gleise zu, die am gegenüberliegenden Ende begannen.
Die Trassen waren rostig, aber größtenteils intakt, und nicht mehr als die Hälfte der Schwellen war verrottet. Auf einer solchen Oberfläche zu laufen oder zu rennen war sehr schwierig; doch ich gab mein Bestes und kam recht gut voran. Eine Weile hielten sich die Gleise am Rand des Flusstales, doch endlich erreichte ich die lange überdachte Brücke, die den Abgrund in schwindelnder Höhe überquerte. Der Zustand dieser Brücke war für meinen nächsten Schritt entscheidend. War es irgend möglich, so würde ich sie benützen; wenn nicht, so würde ich das Wagnis weiterer Straßenwanderung eingehen und die nächste intakte Straßenbrücke nehmen müssen.
Die gewaltige, scheunenartige alte Brücke schimmerte gespenstisch im Mondlicht, und ich sah, dass die Schwellen in ihrem lang gestreckten Inneren zumindest einige Meter weit sicher waren. Als ich eintrat, machte ich von meiner Taschenlampe Gebrauch und wurde fast von einer Wolke von Fledermäusen umgeworfen, die an mir vorüberflatterten. Ungefähr in der Mitte des Weges befand sich eine gefährliche Lücke in den Schwellen, die, so befürchtete ich einen Moment lang, meinem Vorankommen ein Ende setzen würde; doch schließlich riskierte ich einen verzweifelten Sprung, der mir glücklicherweise gelang.
Ich freute mich, wieder das Mondlicht zu sehen, als ich aus diesem makabren Tunnel herauskam. Die alte Trasse kreuzte die River Street auf gleicher Ebene und schwenkte dann sogleich in ein Gebiet ab, das immer ländlicher wurde und immer weniger von dem abstoßenden Innsmouther Fischgeruch aufwies. Hier behinderte mich das dicht wuchernde Unkraut und Gestrüpp und riss an meinen Kleidern, dennoch war ich froh über ihr Vorhandensein, da sie mir im Falle der Gefahr ein Versteck bieten mochten. Ich wusste, dass ein Großteil meines Fluchtweges von der Straße nach Rowley aus sichtbar sein musste.
Das Sumpfgebiet nahm bald seinen Anfang, und die einzelne Trasse verlief über einen niedrigen grasüberwachsenen Damm, auf dem das Unkraut weniger dicht wucherte. Dann folgte eine erhöht liegende Insel, wo das Gleis durch einen seichten, offenen Durchlass verlief, der von Büschen und Dornsträuchern überwuchert war. Ich war über diesen kümmerlichen Schutz sehr froh, denn mein Blick aus dem Hotelfenster hatte mir gezeigt, dass sich an dieser Stelle die Straße nach Rowley in unliebsamer Nähe befand. Am Ende des Durchgangs kreuzte sie das Bahngleis und bog dann in sichere Entfernung ab; doch in der Zwischenzeit musste ich überaus vorsichtig sein. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir voller Dankbarkeit sicher, dass das Gleis selbst nicht überwacht wurde.
Kurz bevor ich den Durchgang betrat, warf ich einen Blick hinter mich, sah aber keine Verfolger. Die alten Kirchtürme und Dächer des verfallenden Innsmouth schimmerten liebreizend und unwirklich im magischen gelben Mondlicht, und ich dachte daran, wie es wohl früher ausgesehen haben mochte, ehe der Schatten sich herniedergesenkt hatte. Als ich meinen Blick dann von der Stadt in Richtung Inland schweifen ließ, erregte etwas weniger Friedliches meine Aufmerksamkeit und ließ mich eine Sekunde lang erstarren.
Was ich sah – oder zu sehen glaubte –, war die verstörende Andeutung von wellenförmiger Bewegung weit im Süden; eine Andeutung, die mich zu dem Schluss gelangen ließ, eine sehr große Meute müsse sich aus der Stadt über die ebenmäßige Straße nach Ipswich ergießen. Die Entfernung war groß und ich konnte keine Einzelheiten erkennen; doch ich mochte den Anblick dieser vorwärtsstrebenden Kolonne ganz und gar nicht. Sie wogte zu sehr und schimmerte zu hell in den Strahlen des nun westwärts ziehenden Mondes. Ich meinte, leise Geräusche zu hören, obwohl der Wind aus der entgegengesetzten Richtung wehte – eine Andeutung raubtierartigen Krächzens und Brüllens, das noch schlimmer war als das Gemurmel der Gruppen, die ich zuvor belauscht hatte.
Alle möglichen unangenehmen Mutmaßungen kamen mir in den Sinn. Ich dachte an jene äußerst extremen Innsmouth-Typen, die sich angeblich in verfallenden jahrhundertealten Labyrinthen nahe dem Ufer verborgen hielten. Ich dachte auch an die vielen Schwimmer, die ich gesehen hatte. Als ich die Anzahl der bislang gesehenen Suchtrupps und jene, die vermutlich andere Straßen überwachten, zusammenzählte, kam ich auf eine Anzahl von Verfolgern, die eigenartig groß sein musste für eine so entvölkerte Stadt wie Innsmouth.
Woher kamen bloß die vielen Leute in solchen Kolonnen, wie ich sie nun erblickte? Wimmelte es in jenen uralten unerforschten Irrgängen vor entstelltem, unbekanntem und unvermutetem Leben? Oder hatte irgendein ungesehenes Schiff Legionen von Fremden auf jenes höllische Riff ausgespien? Wer waren sie? Weshalb waren sie hier? Und wenn eine solche Kolonne von ihnen den Weg nach Ipswich absuchte, würden dann die Patrouillen auf den andern Straßen ebenso zahlreich verstärkt werden?
Ich hatte den von Gestrüpp überwucherten Durchgang betreten und kämpfte mich in sehr langsamem Tempo voran, als mir erneut jener verfluchte Fischgeruch in die Nase stieg. Kam der Wind nun plötzlich aus östlicher Richtung, sodass er vom Meer aus in die Stadt wehte? So musste es sein, entschied ich, da ich nun erschütternde kehlige Laute aus jener Richtung, in der es bislang still gewesen war, hörte. Da war auch noch ein anderes Geräusch – eine Art allumfassendes, gewaltiges Flattern oder Klatschen, das auf irgendeine Weise Bilder der abscheulichsten Sorte heraufbeschwor. Unwillkürlich ließ es mich an jene schauerlich wogende Kolonne auf der weit entfernten Straße nach Ipswich denken.
Und dann nahmen sowohl der Gestank als auch die Geräusche zu, sodass ich bebend innehielt und dankbar war für den Schutz des Durchlasses. Hier, so erinnerte ich mich, kam die Straße nach Rowley nahe an das alte Bahngleis heran, ehe sie nach Westen abbog und sich entfernte. Irgendetwas kam diese Straße entlang, und ich musste mich flach hinlegen, bis dieses Etwas vorüber war und in der Ferne verschwand. Dem Himmel sei Dank, dass diese Kreaturen keine Hunde zur Spurensuche einsetzten – wenngleich das inmitten des allgegenwärtigen Geruchs der Gegend wohl ohnehin unmöglich gewesen wäre. In die Büsche jener sandigen Spalte gekauert, fühlte ich mich einigermaßen sicher, obschon ich wusste, dass die Suchenden das Gleis vor mir überqueren mussten, und das auch noch keine hundert Meter entfernt. Ich würde sie sehen können, sie mich jedoch nicht – außer durch ein Unglück.
Mit einem Mal fing ich an, mich vor ihrem Anblick zu fürchten, wenn sie vorüberzögen. Ich sah die nahe gelegene, vom Mond beschienene Stelle, wo sie vorbeifluten würden, und hatte eigenartige Gedanken über die unwiderrufliche Besudelung dieser Stelle. Vielleicht waren sie die schlimmsten aller Gestalten von Innsmouth – etwas, an das man sich nicht würde erinnern wollen.
Der Gestank wurde unerträglich stark, und die Geräusche schwollen an zu einem bestialischen Babel krächzender, kläffender und brüllender Stimmen ohne die geringste Spur menschlicher Sprache. Waren dies tatsächlich die Stimmen meiner Verfolger? Hatten sie nicht doch Hunde bei sich? Bislang hatte ich noch keine Haustiere in Innsmouth gesehen. Jenes Flattern oder Klatschen war ungeheuerlich – ich würde nicht wagen, mir die degenerierten Kreaturen anzusehen, die dafür verantwortlich waren. Ich würde meine Augen so lange schließen, bis die Geräusche im Westen verklangen. Die Meute war nun sehr nah – die Luft war erfüllt vom fauligen Hauch ihrer rauen Knurrlaute, und der Erdboden erzitterte fast unter dem fremdartigen Rhythmus ihrer Schritte. Ich hielt die Luft an, und ich legte jedes bisschen an Willenskraft in die Anstrengung, meine Augenlider geschlossen zu halten.
Ich bin nicht einmal jetzt willens zu sagen, ob das darauf Folgende scheußliche Wirklichkeit oder eine albtraumhafte Sinnestäuschung war. Die späteren Eingriffe der Regierung nach meinen panischen Gesuchen sprechen dafür, es als ungeheuerliche Wahrheit zu bestätigen; doch könnte sich nicht eine Sinnestäuschung unter dem geradezu hypnotischen Bann jener alten heimgesuchten und überschatteten Stadt wiederholt haben? Solche Orte bergen merkwürdige Fähigkeiten, und das Erbe irrer Legenden mag sich inmitten jener toten, von Gestank verpesteten Straßen und Haufen vermodernder Dächer und verfallender Türme auf mehr als nur eine menschliche Vorstellungskraft ausgewirkt haben. Ist es nicht möglich, dass die Saat eines tatsächlich ansteckenden Wahnsinns in den Tiefen jenes Schattens über Innsmouth lauert? Wer kann sich der Wirklichkeit schon sicher sein, nachdem er so etwas wie die Geschichte des alten Zadok Allen vernommen hat? Die Männer von der Regierung haben den armen Zadok nie gefunden und keinerlei Anhaltspunkte, was aus ihm geworden ist. Wo hört der Wahnsinn auf und wo beginnt die Wirklichkeit? Ist es möglich, dass selbst meine jüngste Furcht nur auf einer Täuschung beruht?
Doch ich versuche zu berichten, was ich in jener Nacht unter dem spöttischen gelben Mond zu sehen glaubte – direkt vor meinen Augen die Straße nach Rowley hinab strömen und hüpfen sah, als ich mich inmitten der wilden Dornsträucher jenes verlassenen Bahndammdurchgangs in Deckung kauerte. Natürlich war mein Vorsatz, die Augen geschlossen zu halten, bald hinfällig. Er war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen – denn wer kann sich schon blind hinkauern, derweil eine übel riechende Legion quäkender, kläffender Geschöpfe unbekannter Herkunft kaum mehr als hundert Meter entfernt vorüberwatschelt?
Ich glaubte auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, und nachdem, was ich bisher gesehen hatte, hätte ich auch wirklich vorbereitet sein sollen. Meine anderen Verfolger waren auf verdammenswerte Weise missgestaltet gewesen – hätte ich nicht also bereit sein müssen, noch schlimmere Abnormitäten zu sehen; bereit für eine Begegnung mit Gestalten, in die sich überhaupt nichts Normales mehr mischte? Ich öffnete meine Augen erst, als ich unmittelbar vor mir wilden Lärm hörte. Da wusste ich, dass eine große Anzahl von ihnen deutlich sichtbar sein musste, wo die Seiten des Durchgangs abflachten und die Straße das Gleis schnitt – und ich konnte mich nicht länger davon abhalten, auf jenes Grauen einen Blick zu werfen, welches der lüstern schielende, gelbe Mond offenbaren mochte.
Das war für den Rest meines Lebens auf der Oberfläche dieses Planeten das Ende jeglichen geistigen Friedens und das Ende meines Vertrauens in die Verlässlichkeit der Natur und des menschlichen Verstandes. Nichts, was ich mir hätte vorstellen können – nichts, was ich mir auch nur hätte ausmalen können, selbst wenn ich die irre Geschichte des alten Zadok geglaubt hätte –, wäre in irgendeiner Weise vergleichbar mit der dämonischen, gotteslästerlichen Wirklichkeit, die ich nun schaute – oder zu schauen glaubte. Ich habe es anzudeuten versucht, um das Grauen umgehen zu können, es unverhüllt niederzuschreiben. Kann es möglich sein, dass dieser Planet tatsächlich solche Wesen hervorbrachte; dass menschliche Augen wahrhaft in Fleisch und Blut das gesehen haben, was Menschen bislang nur aus fieberhaften Fantasien und verworrenen Legenden kannten?
Ja, ich habe sie gesehen … sah sie in endlosem Strome – flatternd, hüpfend, quäkend, blökend – unmenschlich durchs gespenstische Mondlicht flutend gleich einem grotesken, bösartigen Tanz fantastischer Nachtmahre. Und manche von ihnen trugen hohe Kronen aus jenem unbekannten weißgoldenen Metall … und manche waren in merkwürdige Roben gehüllt … und einer, der die andern anführte, war gekleidet in einen dämonisch buckligen schwarzen Mantel und gestreifte Hosen, und er trug einen Männerfilzhut auf dem formlosen Ding, das ein Kopf sein sollte …
Ich glaube, ihre Haut war meist graugrün gefärbt, obgleich sie weiße Bäuche hatten. Sie glänzten glitschig, doch die Wülste auf ihren Rücken waren schuppig. Ihre Gestalt deutete entfernt etwas Menschenartiges an, derweil ihre Häupter Fischköpfe waren, mit wundersam hervorstehenden Augen, die sich nie schlossen. An den Seiten ihrer Hälse befanden sich zitternde Kiemen und ihre langen Pfoten waren mit Schwimmhäuten versehen. Sie hüpften unregelmäßig, bald auf zwei Beinen, bald auf allen vieren. Ich war irgendwie froh darüber, dass sie nicht mehr als vier Gliedmaßen besaßen. Ihre quäkenden, kläffenden Stimmen waren eindeutig zur artikulierten Sprache geschaffen und enthielten all die dunklen Schattierungen des Ausdrucks, deren ihre starren Gesichter ermangelten.
Doch trotz all ihrer Monstrosität waren sie mir nicht unvertraut. Ich wusste nur zu gut, was sie sein mussten – denn war mir nicht die Erinnerung an jene böse Tiara in Newburyport noch frisch im Gedächtnis? Dies waren die gotteslästerlichen Fischfrösche der unbeschreiblichen Verzierungen – lebendig und grässlich –, und als ich sie sah, wusste ich auch, woran mich jener bucklige tiarengekrönte Priester im schwarzen Keller der Kirche auf so grauenerregende Weise erinnert hatte. Ihre Anzahl überstieg jede Schätzung. Mir schien, als seien es grenzenlose Scharen – und gewiss hatte mein sekundenkurzer Blick mir nur den geringsten Teil offenbart. Im nächsten Augenblick wurde alles von einer barmherzigen Ohnmacht ausgelöscht – der ersten, die ich je erlebte.
V
Ein sanfter Regen erweckte mich im hellen Tageslicht aus meiner Lähmung auf der von Büschen überwachsenen Bahntrasse. Als ich auf die Straße vor mir torkelte, sah ich keinerlei Spuren im frischen Schlamm. Auch der Fischgeruch war verschwunden. Die verfallenen Dächer und einsturzgefährdeten Türme von Innsmouth ragten grau im Südosten auf, doch in den verlassenen Salzsümpfen um mich herum konnte ich kein lebendes Wesen entdecken. Meine Uhr funktionierte noch und zeigte mir, dass die Mittagsstunde bereits verstrichen war.
Die Wirklichkeit dessen, was ich meinte durchgemacht zu haben, kam mir noch höchst unsicher vor, doch ich fühlte, dass etwas Scheußliches hinter mir lag. Ich musste fort aus dem vom Bösen überschatteten Innsmouth – und deshalb fing ich an, meine erschöpften Glieder zu erproben. Trotz Schwäche, Hunger, Entsetzen und Verwirrung war ich durchaus in der Lage zu gehen; und so begann ich langsam meinen Weg über die von Schlamm bedeckte Straße nach Rowley.
Vor Anbruch des Abends erreichte ich das Dorf, nahm dort eine Mahlzeit ein und beschaffte mir vorzeigbare Kleidung. Ich nahm den Nachtzug nach Arkham und erzählte dort am nächsten Tag lang und ernst Vertretern der Regierung, was ich später in Boston wiederholen sollte. Mit dem Hauptergebnis dieser Unterredungen ist die Öffentlichkeit nun vertraut – und ich wünschte um der Normalität willen, es gäbe sonst nichts mehr zu berichten. Vielleicht ist es der Wahnsinn, der mich überwältigt – vielleicht erfasst mich aber auch ein schlimmeres Grauen – oder ein größeres Wunder.
Wie man sich wohl gut vorstellen kann, gab ich die meisten geplanten Vorhaben meiner restlichen Reise auf – die landschaftlichen, architektonischen und heimatkundlichen Studien, auf die ich mich so innig gefreut hatte. Ich wagte auch nicht, mir jenes merkwürdige Schmuckstück anzusehen, das sich angeblich im Museum der Miskatonic-Universität befand. Ich wertete meinen Aufenthalt in Arkham jedoch dadurch auf, dass ich einige genealogische Daten sammelte, die mich schon lange interessierten; sehr grobe und flüchtige Aufzeichnungen, das stimmt, doch können sie mir von großem Nutzen sein, falls ich mal mehr Zeit habe, sie zu vergleichen und zu ordnen. Der Kurator der dortigen historischen Gesellschaft – Mr. E. Lapham Peabody – war so höflich, mich zu unterstützen, und er zeigte ungewöhnliches Interesse, als ich ihm erzählte, ich sei ein Enkel von Eliza Orne aus Arkham, die 1867 geboren worden war und sich im Alter von 17 Jahren mit James Williamson aus Ohio vermählt hatte.
Es schien, dass einer meiner Onkel mütterlicherseits schon vor vielen Jahren auf einer ganz ähnlichen Suche hier gewesen war. Die Familie meiner Großmutter war in dieser Gegend sogar heute noch bekannt. Man habe, so Mr. Peabody, kurz nach dem Sezessionskrieg viel über die Heirat ihres Vaters Benjamin Orne geredet, da die Abstammung der Braut etwas unklar war. Sie war angeblich eine verwaiste Marsh aus New Hampshire – eine Kusine der Marshs aus Essex County –, war aber in Frankreich aufgewachsen und wusste sehr wenig über ihre Familie. Ein Vormund hatte auf einer Bostoner Bank Barvermögen für sie und ihre französische Gouvernante hinterlegt; aber der Name dieses Vormundes war den Menschen von Arkham unbekannt, und irgendwann verschwand er, sodass die Gouvernante vom Gericht zu seiner Nachfolgerin bestimmt wurde. Die Französin, die nun schon lange tot war, war äußerst verschwiegen gewesen, und einige Leute waren der Ansicht, dass sie mehr gewusst habe, als sie sagen wollte.
Doch das Erstaunlichste an der ganzen Sache war die allgemeine Unfähigkeit, die namentlich dokumentierten Eltern der jungen Frau – Enoch und Lydia (Meserve) Marsh – einer der bekannten Familien New Hampshires zuzuordnen. Möglicherweise, so deuteten viele an, war sie das uneheliche Kind eines berühmten Marsh – jedenfalls hatte sie die einzigartigen Marsh-Augen. Das größte Rätselraten begann aber erst nach ihrem frühen Tod; sie starb bei der Geburt meiner Großmutter – ihres einzigen Kindes. Da ich in Verbindung mit dem Namen Marsh einige unangenehme Eindrücke gewonnen hatte, freute ich mich nicht über die Nachricht, dass diese Familie zu meinem eigenen Stammbaum gehörte; auch war ich wenig erfreut über Mr. Peabodys Äußerung, ich hätte ebenfalls die einzigartigen Marsh-Augen. Ich war jedoch dankbar für alle Informationen, von denen ich wusste, dass sie sich als nützlich erweisen würden, und ich fertigte umfassende Notizen und Listen über die gut dokumentierte Geschichte der Familie Orne an.
Von Boston aus fuhr ich unverzüglich heim nach Toledo, und später verbrachte ich einen Monat in Maumee, um mich von meinem Martyrium zu erholen. Im September schrieb ich mich zu meinem ersten Semester in Oberlin ein, und von da bis zum nächsten Juni war ich mit dem Studium und anderen gesunden Tätigkeiten beschäftigt – an das vergangene Grauen wurde ich nur erinnert durch gelegentliche Besuche von Regierungsbeamten im Zusammenhang mit der Kampagne, die auf meine Appelle und Beweise hin gestartet worden war.
Ungefähr Mitte Juli – genau ein Jahr nach dem Erlebnis in Innsmouth – verbrachte ich eine Woche bei der Familie meiner verstorbenen Mutter in Cleveland, wo ich meine neu gewonnenen genealogischen Daten mit verschiedenen Aufzeichnungen, Überlieferungen und ein paar Familienerbstücken, die es dort gab, vergleichen konnte, um nach Möglichkeit eine Tafel mit weitläufigeren Verbindungen zu erstellen. Diese Aufgabe erfüllte mich nicht gerade mit Begeisterung, da ich die Atmosphäre des Hauses der Williamsons stets als bedrückend empfunden hatte. Sie wies eine Spur von Morbidität auf, und meine Mutter hatte mich in meiner Kindheit nie dazu ermuntert, ihre Eltern zu besuchen, obwohl sie ihren Vater stets willkommen geheißen hatte, wenn er nach Toledo kam. Meine aus Arkham stammende Großmutter war mir immer fremd und beinahe erschreckend erschienen, und ich glaube nicht, dass ich über ihr Verscheiden sehr bekümmert gewesen war. Ich war damals acht Jahre alt, und es hieß, sie sei in den Tod gegangen aus Trauer über den Selbstmord meines Onkels Douglas, ihres ältesten Sohnes. Er hatte sich nach einer Reise durch Neuengland erschossen – zweifelsohne war das die Reise, aufgrund derer man sich seiner bei der Historischen Gesellschaft von Arkham noch erinnerte.
Dieser Onkel war ihr ähnlich gewesen. Auch ihn hatte ich nie gemocht. Irgendetwas an dem unverwandt starren Gesichtsausdruck der beiden hatte mir ein undeutliches, unerklärliches Unbehagen bereitet. Meine Mutter und Onkel Walter hatten nicht so ausgesehen. Sie glichen ihrem Vater, obgleich mein armer kleiner Vetter Lawrence – Walters Sohn – fast ein vollkommenes Ebenbild seiner Großmutter war, bevor sein Zustand es verlangte, dass man ihn in dauerhafte Verwahrung in ein Sanatorium in Canton gab. Ich hatte ihn seit vier Jahren nicht gesehen, doch mein Onkel deutete an, dass er sich sowohl geistig als auch körperlich in sehr schlechtem Zustand befinde. Diese Sorge sei vermutlich ein entscheidender Grund für den Tod seiner Mutter vor zwei Jahren gewesen.
Der Haushalt in Cleveland bestand nun aus meinem Großvater und seinem verwitweten Sohn Walter, doch hing die Erinnerung an alte Zeiten wie ein dichter Schleier über allem. Ich hegte nach wie vor eine Abneigung gegen den Ort und versuchte, meine Nachforschungen so rasch wie möglich abzuschließen. Mein Großvater lieferte mir reichlich Aufzeichnungen und Überlieferungen über die Williamsons, doch für Material über die Ornes musste ich mich an meinen Onkel Walter wenden, der mir den Inhalt all seiner Akten zur Verfügung stellte, darunter Notizen, Briefe, Zeitungsausschnitte, Erbstücke, Fotografien und Miniaturen.
Als ich mich nun mit den Briefen und Porträts der Ornes beschäftigte, wuchs in mir ein unerklärliches Grauen vor meiner eigenen Abstammung. Wie ich bereits sagte, hatten meine Großmutter und mein Onkel Douglas mich schon immer verstört. Nun, Jahre nach ihrem Verscheiden, blickte ich auf ihre Bilder mit einem merklich gesteigerten Gefühl von Abscheu. Ich verstand diesen Wandel zuerst nicht, doch allmählich drängte sich meinem Unterbewusstsein ein grauenhafter Argwohn auf, ungeachtet der standhaften Weigerung meines Bewusstseins, auch nur die geringste Andeutung davon zuzulassen. Es war klar, dass der typische Ausdruck dieser Gesichter nun etwas nahelegte, was zuvor nicht der Fall gewesen war – etwas, das blanke Panik auslösen würde, falls ich zu offen darüber nachdachte.
Doch der schlimmste Schock kam, als mein Onkel mir in einem Tresorraum in der Stadt den Familienschmuck der Ornes zeigte. Manche der Stücke waren durchaus kostbar und schön, doch gab es eine Schatulle mit sonderbaren alten Stücken von meiner geheimnisvollen Urgroßmutter, die mein Onkel mir nur äußerst widerwillig zeigte. Sie seien, so sagte er, von überaus grotesker und fast abstoßender Gestaltung und wären seines Wissens nie öffentlich getragen worden, wenngleich meine Großmutter sie sich gerne betrachtet hätte. Vage Legenden, dass sie Unglück bringen würden, rankten sich um die Stücke, und die französische Gouvernante meiner Urgroßmutter hatte gesagt, man solle sie nicht in Neuengland tragen, obgleich es völlig ungefährlich sei, dies in Europa zu tun.
Als mein Onkel langsam und widerwillig begann, diese Gegenstände auszupacken, hielt er mich dazu an, mich nicht über die Merkwürdigkeit und Scheußlichkeit der Gestaltung zu entsetzen. Künstler und Archäologen, die sie gesehen hatten, hätten das handwerkliche Geschick als überragend und exotisch bezeichnet, obgleich keiner von ihnen in der Lage gewesen sei, das Material genau zu bestimmen oder die Stücke einer bestimmten künstlerischen Tradition zuzuordnen. Es handelte sich um zwei Armreifen, eine Tiara und eine Art Pektorale, wobei Letztere im Hochrelief mit Gestalten von fast unerträglicher Verrücktheit verziert war.
Während dieser Betrachtung hatte ich meine Gefühle stark in Zaum gehalten, doch mein Gesicht verriet wohl meine wachsende Furcht. Mein Onkel sah besorgt aus und hielt mit dem Öffnen der Schatulle inne, um meinen Gesichtsausdruck zu erforschen. Ich bedeutete ihm, er solle fortfahren, was er nach neuerlichem Zögern auch tat. Er schien eine Reaktion zu erwarten, als das erste Stück – die Tiara – sichtbar wurde, doch ich bezweifle, dass er wirklich auf das gefasst gewesen war, was dann tatsächlich geschah. Auch ich hatte es nicht erwartet, denn ich glaubte mich gründlich vorgewarnt, was diese Schmuckstücke betraf. Ich fiel still und leise in Ohnmacht, genau so wie ich es in jenem von Dorngestrüpp überwucherten Bahndurchgang ein Jahr zuvor getan hatte.
Von jenem Tage an ist mein Leben ein Albtraum aus Trübsinn und banger Erwartung gewesen, wenn ich auch nicht weiß, wie viel davon schreckliche Wahrheit und wie viel Wahnsinn ist. Meine Urgroßmutter war eine Marsh unbekannter Herkunft, deren Gatte in Arkham lebte – und hatte Zadok nicht gesagt, dass die Tochter von Obed Marsh und seiner monströsen Gattin durch einen Trick an einen Mann aus Arkham vermählt worden war? Was hatte der uralte Trunkenbold über die Ähnlichkeit meiner Augen mit jenen Kapitän Obeds gemurmelt? Auch der Kurator in Arkham hatte mir gesagt, ich habe die wahren Marsh-Augen. War Obed Marsh mein eigener Ururgroßvater? Wer – oder was – war dann meine Urgroßmutter? Aber vielleicht war all das Wahnsinn. Jene weißgoldenen Schmuckstücke hätten ohne Weiteres von einem Seemann aus Innsmouth stammen können, erstanden vom Vater meiner Urgroßmutter, wer immer er auch gewesen sein mag. Und jener Blick auf den starräugigen Gesichtern meiner Großmutter und meines selbstmörderischen Onkels mochte reine Einbildung von mir sein – reine Einbildung, gestärkt durch den Schatten über Innsmouth, der meine Fantasie so finster verfärbte. Doch warum hatte mein Onkel sich nach einer Ahnensuche in Neuengland getötet?
Mehr als zwei Jahre lang wehrte ich diese Gedanken mit gewissem Erfolg ab. Mein Vater verschaffte mir eine Anstellung in einem Versicherungsbüro und ich begrub mich so tief wie möglich im Arbeitsalltag. Im Winter 1930/31 begannen jedoch die Träume. Zu Anfang waren sie sehr selten und schleichend, doch nahmen sie im Laufe der Wochen an Häufigkeit und Lebendigkeit zu. Große Wasserflächen taten sich vor mir auf, und ich schien durch titanische versunkene Säulengänge und Irrgärten algenüberwucherter zyklopischer Mauern zu wandern, und groteske Fische waren meine Wegbegleiter. Dann tauchten allmählich die anderen Gestalten auf, die mich mit namenlosem Entsetzen erfüllten, sobald ich erwachte. Doch während der Träume entsetzten sie mich ganz und gar nicht – ich war eins mit ihnen; ich trug ihre diabolischen Schmuckstücke, beschritt ihre Unterwasserwege und betete auf ungeheuerliche Weise in ihren verderblichen Tempeln am Grunde des Meeres.
Da war noch viel mehr, woran ich mich nicht erinnern konnte, doch auch das, dessen ich mich jeden Morgen entsann, wäre ausreichend gewesen, mich als Irren oder als Genie abzustempeln, hätte ich je gewagt, es niederzuschreiben. Ein fürchterlicher Einfluss, so fühlte ich, versuchte, mich nach und nach aus der normalen Welt gesunden Lebens in einen unnennbaren Abgrund der Schwärze und Fremdheit zu zerren; und dieser Prozess nahm mich schwer mit. Meine Gesundheit und mein Aussehen verschlechterten sich stetig, bis ich mich schließlich dazu gezwungen sah, meine Stellung aufzugeben und das einförmige, abgeschiedene Leben eines Invaliden zu führen. Ich litt an irgendeinem sonderbaren Nervenleiden, und zuweilen war ich nicht mehr in der Lage, meine Augen zu schließen.
Zu dieser Zeit blickte ich mit immer größerer Bestürzung in den Spiegel. Die langsamen Verheerungen einer Krankheit sind nicht schön zu beobachten, doch in meinem Fall lag etwas Subtileres und Verwirrenderes im Hintergrund. Meinem Vater schien es ebenfalls aufzufallen, denn er begann, mich eigenartig und fast furchtsam anzusehen. Was spielte sich mit mir ab? Konnte es sein, dass ich meiner Großmutter und meinem Onkel Douglas immer ähnlicher wurde?
Eines Nachts hatte ich einen furchtbaren Traum, in dem ich meine Großmutter unter Wasser traf. Sie wohnte in einem phosphoreszierenden Palast mit vielen Terrassen, mit Gärten voll merkwürdig lepröser Korallen und grotesker vielarmiger Blütenformen, und sie hieß mich mit einer Warmherzigkeit willkommen, die geradezu hämisch war. Sie hatte sich verändert – wie es mit jenen geschieht, die ins Wasser gehen – und erzählte mir, sie sei nie gestorben. Stattdessen sei sie an einen Ort gegangen, von dem ihr Sohn erfahren habe, und sie sei in ein Reich eingetaucht, dessen Wunder – die auch ihm bestimmt gewesen seien – er mithilfe einer rauchenden Pistole verschmäht hatte. Dies sollte auch mein Reich werden – ich könne ihm nicht entgehen. Ich würde niemals sterben, sondern mit jenen leben, die schon gelebt hatten, bevor der Mensch die Erde betrat.
Ich traf auch das Wesen, das ihre Großmutter war. Seit achtzigtausend Jahren lebte Pth’thya-l’yi schon in Y’ha-nthlei, und dorthin war sie auch nach Obed Marshs Tod zurückgekehrt. Y’ha-nthlei wurde nicht zerstört, als die Menschen der Oberwelt Bomben ins Meer schossen. Es wurde beschädigt, aber nicht zerstört. Die Tiefen Wesen konnten niemals zerstört werden, wenngleich die urzeitliche Magie der vergessenen Alten Wesen sie zuweilen einzudämmen vermochte. Für den Augenblick würden sie ruhen; doch eines Tages, wenn sie sich erinnerten, würden sie sich erneut erheben, um den Tribut zu erbringen, den der Große Cthulhu verlangt. Beim nächsten Mal würde es eine größere Stadt als Innsmouth sein. Sie hatten vor, sich zu verbreiten, und das hervorgebracht, was ihnen dabei helfen würde, doch nun mussten sie erneut warten. Dafür, dass ich den Menschen der Oberwelt geholfen hatte, den Tod zu bringen, würde ich Abbitte leisten müssen, doch drohe mir keine schwere Strafe. Dies war der Traum, in dem ich zum ersten Male einen Shoggothen sah, und der Anblick ließ mich schreiend erwachen. An jenem Morgen offenbarte mir der Spiegel, dass ich nun endgültig aussah wie einer aus Innsmouth.
Bislang habe ich mich noch nicht erschossen, wie mein Onkel Douglas es tat. Ich habe mir eine Automatikpistole gekauft und hätte fast diesen Schritt vollzogen, doch gewisse Träume hinderten mich daran. Das Würgen des Grauens nimmt ab und ich fühle mich sonderbar in die unbekannten Meerestiefen hinabgezogen, anstatt sie zu fürchten. Im Schlaf höre und verrichte ich seltsame Dinge, und ich erwache in einer Art Erregung anstelle von Entsetzen. Ich glaube nicht, dass ich auf die völlige Verwandlung warten muss, wie es die meisten mussten. Täte ich das, so würde mein Vater mich wahrscheinlich in einer Irrenanstalt einsperren, wie es mit meinem armen kleinen Vetter geschehen ist. Wundersame und unerhörte Großartigkeiten erwarten mich dort unten, und ich werde sie bald aufsuchen. Iä-R’lyeh! Cthulhu fhtagn! Iä! Iä! Nein, ich werde mich nicht erschießen – man kann mich nicht dazu bewegen, mich zu erschießen!
Ich plane die Flucht meines Vetters aus jenem Irrenhaus in Canton. Gemeinsam werden wir in das von Wundern überschattete Innsmouth gehen. Wir werden hinaus zu jenem finstren Riff im Meer schwimmen und tief hinabtauchen durch schwarze Abgründe ins zyklopische und säulenreiche Y’ha-nthlei, und in jenem Zufluchtsort der Tiefen Wesen inmitten von Wunder und Glanz dürfen wir wohnen für alle Zeit.