14. KAPITEL

Landon Mercer betrachtete besorgt sein Gesicht im Spiegel. Aus einem unerklärlichen Grund lief im Moment alles schief. Die ganze Zeit war es ihm glänzend gegangen, doch plötzlich war die Hölle los. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten gewesen. Zum Beispiel die Tatsache, dass Robert Cannon aufgetaucht war. Zum Glück war der Ruf, der seinem großen Chef vorausging, erheblich übertrieben. In Wirklichkeit war er nichts als ein weiterer fauler Playboy aus reichem Haus, der keine Ahnung hatte, was es bedeutete, sein Geld selber zu verdienen.

Manchmal wurde es Mercer bei Cannons kühlem Blick allerdings unheimlich. Es war, als könnte sein Chef ihm direkt ins Herz schauen. Die Angst, die er auf Evie Shaws Marina verspürt hatte, würde er so schnell nicht vergessen. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte er gefürchtet, überführt worden zu sein und die Firma hätte irgendwie herausbekommen, was er trieb.

Glücklicherweise hatte Cannon nur interessiert, dass sein Angestellter sich nachmittags zum Angeln freinahm, was sich diesen Sommer garantiert nicht wiederholen würde.

Musste der Mann sich ausgerechnet diese Marina aussuchen? Es gab eine Menge Bootsliegeplätze in Guntersville. Weshalb hatte Cannon Evie Shaws Marina gewählt? Es war weder die größte noch die gepflegteste Anlage. Genau das hatte ihn, Mercer, daran gereizt. Da Evie das Unternehmen praktisch allein führte, konnte sie unmöglich die Augen überall gleichzeitig haben.

Nachdem Cannon Evie kennengelernt hatte, war allerdings verständlich, dass der Chef ständig dort herumhing. Er, Mercer, hatte monatelang versucht, mit der Frau auszugehen. Sie hatte ihn stets abgewiesen. Wahrscheinlich war er ihr nicht reich genug. Auf Cannon war sie dagegen ziemlich schnell geflogen.

Wenn alles so geklappt hätte, wie er es sich vorgestellt hatte, hätte er ebenfalls bald genügend Geld besessen, um Evie für sich zu interessieren. Er hatte die Beträge, die er mit seinen kleinen Nebengeschäften verdiente, nicht mit vollen Händen ausgegeben, sondern sorgfältig angelegt. Die Projekte, die er dafür gewählt hatte, waren äußerst solide gewesen. Auf Investitionen, die ungewöhnlich hohe Zinsen versprachen, aber auch große Risiken bargen, hatte er vorsichtshalber verzichtet und sich für niedrigere, dafür sichere Einkünfte entschieden.

Doch plötzlich waren die Aktien, die so gut gestanden hatten, gefallen. Innerhalb von einer Woche war das bequeme Finanzpolster, das er sich aufgebaut hatte, auf die Hälfte geschrumpft. Schnellstens hatte er seine Anteile verkauft, den Verlust hingenommen und den Erlös in seiner Verzweiflung in den Hochzinsmarkt gesteckt. Und das war prompt schiefgegangen.

Als seine Kontaktleute wegen eines weiteren Geschäfts an ihn herantraten, wäre er ihnen vor Erleichterung am liebsten um den Hals gefallen. Wenn nicht bald neues Bargeld auf sein Konto kam, konnte er weder die nächste Rate für seinen Wagen noch die Außenstände für seine Kreditkarten bezahlen. Der Gedanke, den geliebten Mercedes zu verlieren, war ihm unerträglich. Es gab zwar noch teurere Wagen, und er hatte die Absicht, diese eines Tages ebenfalls zu besitzen, doch der Mercedes war der erste, der allen zeigte, dass er, Mercer, eine Persönlichkeit war – ein Mann auf dem Weg nach ganz oben. Er konnte sich nicht vorstellen, wieder ein Niemand zu sein.

Evie hatte das Gefühl, aus zwei Persönlichkeiten zu bestehen. Einerseits schwebte sie im siebten Himmel, weil sie Robert liebte. Nicht im Traum hätte sie geglaubt, noch einmal so glücklich zu werden. Die Leere war aus ihrem Herzen verschwunden. Robert war ebenso leidenschaftlich wie fürsorglich. Er behandelte sie so aufmerksam, als stünde sie im Mittelpunkt seines Universums. Nie nahm er etwas als selbstverständlich hin, sondern gab ihr das Gefühl, die begehrenswerteste Frau der Welt zu sein.

Sie sahen sich jeden Tag und schliefen beinahe jede Nacht miteinander. Nun, da Evie ihren eigenen Körper und die Leidenschaft, die Robert darin entfesselte, besser kannte, konnten sie sich mehr Zeit lassen und liebten sich noch intensiver, bis Evie manchmal ekstatisch aufschrie. Robert war ein äußerst erfahrener Liebhaber. Er zeigte ihr neue Stellungen und Praktiken und ging so geschickt vor, dass es ihr nie peinlich wurde. Sie liebten sich jeweils nur ein Mal, aber das lange und äußerst befriedigend. Morgens umarmten sie sich erneut und ließen sich schweigend in jenem halb wachen Stadium dahintreiben, in dem die Welt noch entrückt war.

Evie hätte nicht sagen können, was ihr besser gefiel: die leidenschaftlichen Umarmungen in der Nacht oder die verträumten Liebkosungen am frühen Morgen. Es war erstaunlich, wie sich ihr Körper nach der Sinnenlust mit Robert sehnte. Je weiter der Nachmittag fortschritt, desto weicher wurden ihre Knie vor Erwartung und Verlangen.

Robert wusste es genau. Manchmal merkte sie, dass er sie beobachtete, und hatte den überwältigenden Wunsch, ihn auf den Boden zu drücken und auf der Stelle mit ihm zu schlafen.

Abends saßen sie lange draußen auf der Terrasse, betrachteten die Sterne und unterhielten sich über Gott und die Welt. Robert war äußerst intelligent und interessierte sich für alles. Das Gefühl der Nähe und Vertrautheit mit ihm war ebenso verführerisch wie beängstigend. Der Gedanke, den Mann, den sie liebte, wieder zu verlieren, machte Evie beinahe krank. Sie durfte nicht daran denken, sondern musste die Gegenwart genießen.

Gleichzeitig machte sie sich furchtbare Sorgen wegen des Bankkredits und der Hypothek, die sie auf ihr Haus aufnehmen wollte. Tommy hatte noch nicht wieder angerufen. Viel länger durfte sie nicht warten. Elf Tage waren schon vergangen, und ihr blieben nur noch neunzehn. Wenn ihre Hausbank so langsam arbeitete, musste sie eine andere Möglichkeit finden, das Geld aufzutreiben.

Sie konnte ihr Privatboot verkaufen. Aber das würde nicht einmal die Hälfte der Summe einbringen, die sie benötigte, und ging wahrscheinlich nicht schnell genug. Becky und Paul um ein Darlehen zu bitten kam ebenfalls nicht infrage. Die beiden hatten ihre eigenen finanziellen Verpflichtungen und mussten für zwei Kinder sorgen.

Blieben die Mietboote. Der Erlös dafür würde reichen, aber ihr monatliches Einkommen beträchtlich schmälern. Andererseits hätte sie mehr Bargeld zur Verfügung, nachdem das Darlehen bezahlt war, und konnte gewiss bald neue Fahrzeuge kaufen.

Das Problem war erneut die Zeit. Motorboote waren auch in einer Stadt am Fluss nicht lebenswichtig. Die Leute überlegten gründlich, bevor sie sich zu einem Kauf entschlossen.

Trotzdem stellte Evie ein Schild mit der Aufschrift „Gebrauchte Boote zu verkaufen“ auf und verteilte Handzettel mit diesem Angebot in den Sportgeschäften der Umgebung. Selbst wenn sie nur ein einziges Boot verkaufte, würde sich die Summe, die sie aufnehmen musste, erheblich verringern.

Robert entdeckte das Schild sofort. Er kam am späten Nachmittag, setzte die Sonnenbrille ab und sah sie mit seltsamer Miene an. „Welche Boote willst du verkaufen?“

„Die Mietboote“, antwortete Evie und wandte sich an einen wartenden Kunden. Seit ihr Entschluss gefasst war, ließ sie Bedauern gar nicht erst aufkommen.

Robert trat hinter den Tresen, schob die Hände in die Hosentaschen und sah nach draußen. Er wartete, bis der Kunde gegangen war. Dann fragte er: „Und weshalb?“

Evie zögerte einen Moment. Sie hatte Robert nichts von ihren Geldsorgen erzählt und wollte es auch jetzt nicht. Erstens redete sie ungern über ihre persönlichen Probleme. Zweitens durfte sich nicht herumsprechen, dass die Marina in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Ein weiterer Grund war, dass Robert auf keinen Fall glauben sollte, sie bäte ihn unausgesprochen um ein Darlehen. Offensichtlich war er sehr reich, und Geld durfte in ihrer Beziehung keine Rolle spielen. Sonst könnte Robert nie sicher sein, ob sie ihn nicht vor allem wegen seines Vermögens liebte.

„Die Boote werden langsam alt und sind nicht mehr sehr zuverlässig“, antwortete sie. „Ich brauche unbedingt neuere.“

Robert betrachtete sie schweigend. Er wusste nicht, ob er Evie umarmen oder sie schütteln sollte, bis sie ihm die Wahrheit sagte. In Wirklichkeit durfte er beides nicht tun. Obwohl er überzeugt war, dass sie höchstens am Rand mit Mercers Industriespionage zu tun hatte, bestand eine geringe Gefahr, dass er sich irrte. Nun, er würde bald Gewissheit haben.

Er war sicher, dass Mercer in Kürze handeln würde. Seine Detektive hatten ein äußerst verdächtiges Telefongespräch abgehört und Alarm geschlagen. Alle Mietboote waren inzwischen mit winzigen elektronischen Wanzen versehen, sodass sie jederzeit geortet werden konnten. Wichtig war, dass Evie mindestens ein Boot behielt, bis Mercer seinen nächsten Schritt unternahm. Dafür musste er unbedingt sorgen.

„Hast du schon Angebote bekommen?“

Evie schüttelte kläglich den Kopf. „Nein, ich habe das Schild erst heute Morgen aufgestellt.“

„Hast du auch Anzeigen in die Zeitung gesetzt?“

„Nein, aber das werde ich noch tun.“

Dadurch konnten sich mehr Kunden melden, als ihm lieb war, überlegte Robert. Er musste die Veröffentlichung der Anzeigen unbedingt verzögern. Sowohl das Telefon auf der Marina als auch Evies Apparat zu Hause wurden abgehört. Er konnte also feststellen, welche Zeitungen sie anrief. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Evie ihm so viel Arbeit machen würde. Sie war eine erstaunlich einfallsreiche Frau.

Als Evie fünf Tage später neues Benzin erhielt, läutete das Telefon in ihrem Büro. Sie eilte an den Apparat, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und hob den Hörer ab. „Hallo?“

„Evie? Hier ist Tommy Fowler.“

Sobald Evie die Stimme hörte, wusste sie Bescheid. Langsam sank sie auf den Hocker, denn ihre Knie wurden weich. „Wie lautet das Urteil?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.

„Tut mir aufrichtig leid, Evie. Unser Vorstand ist der Ansicht, dass die Bank schon zu viel Geld für Hypotheken auf Immobilien verliehen hat. Dein Antrag wurde abgelehnt.“

„Es ist nicht deine Schuld, Tommy“, antwortete sie benommen. „Danke für deine Bemühungen.“

„Noch ist nicht alles verloren“, versuchte Tommy sie zu trösten. „Dass unsere Bank derzeit keine Gelder für Hypotheken ausgibt, heißt nicht, dass andere Geldinstitute ebenso handeln.“

„Ich weiß. Aber mir bleiben nur noch vierzehn Tage. Ihr habt schon viel Zeit gebraucht, um Nein zu sagen. Wie lange würde eine fremde Bank erst benötigen, um mir die Hypothek zu bewilligen?“

„Es tut mir schrecklich leid, Evie. Gib die Hoffnung trotzdem nicht auf, sondern unternimm sofort etwas.“

„Das werde ich bestimmt“, antwortete sie. „Danke für alles, Tommy.“

Evie legte den Hörer wieder auf und versuchte, mit ihrer Enttäuschung und dem Gedanken an die drohende Katastrophe fertig zu werden. Trotz aller Sorgen war sie zuversichtlich gewesen, dass sie die Hypothek bekommen würde. Bisher hatte sie noch kein einziges Boot verkauft.

Die Zeit spielte eine entscheidende Rolle. Würde sie, Evie, in der verbliebenen Frist ein Darlehen von einer anderen Bank bekommen? Sie glaubte es nicht. Es war, als hätte sich alles gegen sie verschworen.

Niedergeschlagen schloss Evie das Büro abends ab, stieg in ihren Wagen und fuhr nach Hause. Irgendjemand wollte ihr die Marina wegnehmen. Er hatte ihr kein Angebot gemacht. Also wusste er, dass sie nicht verkaufen würde. Der geheimnisvolle Unbekannte war so einflussreich und hatte so gute Beziehungen zu den Banken am Ort, um zu verhindern, dass sie eine Hypothek aufnehmen konnte. Wahrscheinlich steckte er auch hinter dem Verkauf ihrer Schuldverschreibung an die New Yorker Bank. Allerdings fiel ihr niemand ein, der eine solche Macht besaß.

Sie durfte die Marina nicht verlieren, ganz gleich, was es sie kostete. Wenn sie keine Hypothek aufnehmen und ihre Boote nicht verkaufen konnte, blieb nur eine Möglichkeit. Es war der letzte Ausweg, aber es ging nicht anders.

Vor einem kleinen Supermarkt entdeckte Evie eine Telefonzelle. Ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Rippen. Wenn sie wartete, bis sie zu Hause war, verlor sie vielleicht den Mut. Sie musste den Schritt sofort tun, denn sie hatte keine andere Wahl. Verlor sie die Marina, verlor sie ihre Existenzgrundlage. Opferte sie dagegen das Haus, blieb ihr zumindest die Marina.

Evie hielt an, stieg aus und ging zu der Telefonzelle. Ihre Beine bewegten sich automatisch. In der Zelle lag kein Telefonbuch, deshalb wählte sie die Auskunft und erhielt die gewünschte Nummer. Sie warf eine weitere Vierteldollarmünze ein und drückte die Ziffern. Dann drehte sie sich mit dem Rücken zur Straße, steckte einen Finger in das rechte Ohr, um den Verkehrslärm zu dämpfen, und horchte auf das Läuten am anderen Ende der Leitung.

„Walter? Hier ist Evie. Seid ihr immer noch an meinem Haus interessiert?“

„Auf der Heimfahrt hat sie an einer Telefonzelle gehalten und telefoniert“, berichtete die tiefe Stimme.

„Konnten Sie feststellen, wen sie angerufen hat?“, fragte Robert.

„Nein, Sir. Der Apparat wurde von ihrem Körper verdeckt.“

„Haben Sie gehört, was sie sagte?“

„Nein, tut mir leid, Sir. Sie drehte uns den Rücken zu, und der Verkehr war sehr laut. Sicher ist nur, dass sie nicht mit Mercer gesprochen hat.“

„Na gut, dann kann man nichts machen. Wo ist sie jetzt?

„Sie fuhr direkt nach Hause.“

„Verständigen Sie mich, falls sie weitere Anrufe tätigt.“

„Selbstverständlich, Sir.“

Robert legte den Hörer auf und sah nachdenklich hinaus auf den See. Wen hatte Evie angerufen und weshalb? Den großen Unbekannten, dem Mercer die gestohlenen Computerprogramme verkaufen wollte? Steckte sie am Ende doch bis zu ihrem hübschen Hals in der Sache? Er hatte sie finanziell in die Enge getrieben, um die Wahrheit herauszufinden. Doch er fürchtete plötzlich, dass ihm das Ergebnis nicht gefiel.