10. KAPITEL

Einen aufmerksameren Begleiter kann sich eine Frau nicht wünschen, dachte Evie irgendwann in der Mitte des Abends. Trotz seiner Weltgewandtheit – oder gerade deswegen – hatten die Höflichkeit und die Umsicht, mit der Robert sie umgab, etwas rührend Altmodisches. Er setzte alles daran, dass sie sich wohlfühlte. Und sie war eine Frau aus den Südstaaten und altmodisch genug, um es als selbstverständlich hinzunehmen. Robert Cannon wollte mit ihr schlafen. Also musste er dafür sorgen, dass ihr der Abend gefiel.

Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich ihr. Er warf keinen einzigen Blick auf die anderen Frauen, obwohl zahlreiche weibliche Gäste ihn verstohlen betrachteten. Er rückte ihr den Stuhl zurecht, wenn sie aufstand oder sich setzte, schenkte ihr Wein nach und bat den Ober, den Thermostat höher zu stellen, sobald er merkte, dass sie fröstelte. Wahrscheinlich lag es an seiner Persönlichkeit, dass seine Bitte sofort erfüllt wurde.

Es dauerte nicht lange, und Evie fühlte sich rundum wohl. Robert hatte sie in ein sehr hübsches Restaurant in Huntsville geführt. Sie wusste natürlich, dass es nicht an die eleganten Feinschmeckertempel in New York, Paris oder New Orleans heranreichte. Robert machte nicht die geringste Andeutung darüber, dass er Besseres gewöhnt war. Andere ebenso weit gereiste, aber nicht so feinfühlige Männer hätten versucht, sie mit Beschreibungen der erstklassigen Restaurants zu beeindrucken, in denen sie sonst verkehrten. Nicht Robert. Er verglich nicht, er genoss einfach. Wahrscheinlich würde er ebenso zufrieden bei einem Barbecue mit den Fingern essen wie mit einem Silberbesteck von Geschirr mit Goldrand.

Meine Güte, dieser Mann spielt nicht nur mit Babys. Er fühlt sich auch in meiner Welt wie zu Hause, überlegte Evie. Noch etwas, das man einfach lieben musste.

Plötzlich wedelte Robert mit den Fingern vor ihrem Gesicht. „Du beobachtest mich jetzt schon beinahe fünf Minuten und lächelst vor dich hin“, sagte er belustigt. „Eigentlich sollte ich geschmeichelt sein, aber es macht mich langsam verlegen.“

„Dazu hast du keine Veranlassung. Ich musste gerade daran denken, dass du dich hier wohlfühlst, obwohl es bei uns ganz anders ist als in New York.“

„Die meisten Unterschiede finde ich äußerst angenehm, obwohl ich nicht auf diese Hitze vorbereitet war“, gab er zu. „In New York haben wir nicht oft dreißig Grad.“

„Dreißig Grad ist doch nicht heiß!“, wandte Evie ein.

Er lachte und wunderte sich erneut, wie mühelos sie ihn zum Lachen brachte. „Das ist eine Frage des Standpunkts. Für den New Yorker bedeuten dreißig Grad eine große Hitze. Für dich sind sie einfach ein schöner Tag.“

„Nicht unbedingt. Dreißig Grad ist auch für uns ziemlich viel. Verglichen mit den fünfunddreißig Grad oder mehr, auf die das Thermometer auch steigen kann, ist die Temperatur allerdings noch erträglich.“

„Wie ich sagte, es ist eine Frage des Standpunkts.“ Robert trank einen Schluck Wein. „Ich mag New York, weil es so ist, wie es ist. Hier gefällt es mir aus demselben Grund. In New York vibriert die Luft vor Leben. Es gibt Oper, Ballett, Museen, Fremdenhass und Abgase. Hier ist die Luft dagegen rein. Es gibt keine Menschenansammlungen und keine Verkehrsstaus. Niemand scheint es eilig zu haben. Und die Bewohner sind sehr freundlich zu Fremden.“ Er sah sie fest an, und seine Stimme klang etwas tiefer, als er weitersprach. „Obwohl ich ein bisschen enttäuscht bin, dass du von ‚euch‘ und ‚mir‘ sprichst und nie ‚wir‘ sagst.“

Evie unterdrückte ihr Lächeln. „Wieso? ‚Wir‘ ist Plural, und ‚du‘ ist Singular.“

„Aha. Das war mir entfallen.“

„Dass du ein Single bist?“ Sie schwieg erschrocken, denn ihr wurde klar, dass ihre nächste Frage sehr privat sein würde und Robert sich sofort in sein Schneckenhaus zurückziehen könnte. „Warst du schon mal verheiratet?“

Robert trank einen weiteren Schluck Wein und sah sie über den Glasrand an. „Nein“, antwortete er ungerührt. „Auf dem College war ich verlobt. Zum Glück erkannten wir rechtzeitig, dass eine Heirat – vor allem zwischen uns beiden – eine gewaltige Dummheit gewesen wäre.“

„Wie alt bist du?“

„Sechsunddreißig. Und um deinen weiteren Fragen zuvorzukommen: Mein sexuelles Interesse richtet sich ausschließlich auf Frauen. Ich habe nie etwas mit Drogen zu tun gehabt und leide nicht an Kontaktschwierigkeiten. Meine Eltern sind tot, aber ich habe eine Schwester namens Madelyn. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Montana. Außerdem gibt es einige entfernte Vettern und Cousinen. Aber wir haben kaum Kontakt miteinander.“

Evie betrachtete ihn neugierig. Robert war völlig entspannt. Offensichtlich hielt er solche Angaben nicht für besonders aufschlussreich. Für ihn waren es einfach Tatsachen. Trotzdem hörte sie aufmerksam zu, denn diese Mosaiksteinchen bildeten das Gerüst seines Lebens.

„Ein Onkel von mir besitzt eine riesige Farm in der Nähe von Montgomery“, erzählte sie. „Dort findet jedes Jahr im Juni ein Familientreffen statt. Wir hängen nicht wie die Kletten aneinander, aber wir verstehen uns gut. Das Fest gibt uns Gelegenheit, in Verbindung zu bleiben. Ohne diese Treffen hätten meine Nichte und mein Neffe nie ihre Verwandten mütterlicherseits kennengelernt. Deshalb fahren wir hin.“

„Deine Eltern leben nicht mehr?“ Robert kannte die Antwort bereits. Sie hatte in dem zusätzlichen Bericht gestanden, den er über Evie angefordert hatte.

„Nein.“ Ein Schatten legte sich über ihre goldbraunen Augen. „Becky ist meine einzige enge Verwandte. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich bei meiner Schwester und meinem Schwager gewohnt, bis Matt und ich heirateten.“ Ihre Stimme schwankte unmerklich.

„Und wo anschließend?“, fragte Robert freundlich.

„Bei Matts Eltern“, sagte sie beinahe unhörbar. „Das Haus, in dem ich jetzt wohne, gehörte ihnen. Matt war ihr einziges Kind. Nach seinem Tod überschrieben sie alles mir.“

Wieder spürte Robert einen schmerzhaften Stich. Evie lebte in Matts Elternhaus. Kein Wunder, dass sie auf Schritt und Tritt an ihn erinnert wurde. „Hast du nie an einen Umzug gedacht? Dir ein moderneres Haus zu kaufen?“

Evie schüttelte den Kopf. „Das Haus bedeutet mir sehr viel. Mit dem Tod meiner Mutter hatte ich auch mein Zuhause verloren. Obwohl Becky und Paul mich herzlich aufnahmen, war mir immer bewusst, dass es ihr Heim war und nicht meines. Matt und ich lebten zunächst in einem Wohnwagen. Nach seinem Tod konnte ich unmöglich …“ Sie beendete den Satz nicht.

„Nun, seine Eltern baten mich, zu ihnen zu ziehen. Sie brauchten meine Gesellschaft ebenso wie ich ihre. Vielleicht fühlte ich mich deshalb dort so wohl, als wäre es mein eigenes Zuhause. Inzwischen ist es das“, fügte sie schlicht hinzu.

Robert betrachtete sie nachdenklich. Er war nirgends fest verwurzelt. Zwar war er auf einem großen Gutshof in Connecticut aufgewachsen. Aber der war nicht mehr als ein Wohnort für ihn gewesen. Mit seinem Penthouse in New York erging es ihm nicht anders. Evie würde es dort nicht gefallen, obwohl die Zimmer geräumig und elegant eingerichtet waren. Ihm gefiel es dagegen, und der Wachdienst funktionier te ausgezeichnet.

Eine Band trat in dem Restaurant auf. Dem Stil des Hauses entsprechend, spielte sie traditionelle Musik. Robert streckte die Hand zu Evie hinüber. „Wollen wir tanzen?“

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Dann zögerte sie plötzlich und wurde unsicher. „Es ist so lange her“, sagte sie aufrichtig. „Ich weiß nicht einmal, ob ich es noch kann.“

„Verlass dich ganz auf mich“, beruhigte er sie. „Es ist wie Radfahren. Man verlernt es nie.“

Evie schmiegte sich in seine Arme. Zuerst war sie ein bisschen steif, entspannte sich aber bald und ließ sich von der Musik davontragen. Robert war ein ausgezeichneter Tänzer. Sie hatte nichts anderes erwartet. Er hielt sie fest genug, damit sie sich sicher fühlte, aber nicht so eng, dass ihre Körper sich intim berührten. Wieder der perfekte Gentleman, dachte sie.

Kurz darauf wurde ihr alles klar. Robert brauchte gar nicht deutlicher zu werden. Dieser Tanz war eine einzige Verführung. Mit einer Hand hielt er zärtlich ihre Rechte, die andere lag fest auf ihrem Rücken. Sein warmer Atem strich durch ihr Haar, und der frische Duft seiner Haut stieg ihr in die Nase. Von Zeit zu Zeit streiften ihre Brüste seinen Oberkörper oder seinen Arm, oder ihre Schenkel stießen zusammen. Es war ein gekonntes, unaufdringliches Liebeswerben, und sie blieb nicht unempfänglich dafür.

Um Mitternacht verließen sie das Restaurant. Während der dreiviertelstündigen Fahrt nach Guntersville saß Evie schweigend da. Sie sprachen erst wieder, als Robert in die Einfahrt zu ihrem Haus bog und den Motor abschaltete.

„Morgen Abend?“, fragte er, legte einen Arm auf das Lenkrad und drehte sich zu ihr.

Evie schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Ich habe nichts mit Craig ausgemacht. Er übernimmt wie üblich die Frühschicht. Außerdem möchte ich es auch nicht. Das entspricht nicht unserer Verabredung.“

Robert seufzte resignierend. „Also gut, finden wir einen Kompromiss. Könntest du wenigstens einmal pro Woche die Schicht mit Craig tauschen? Wäre das mit deinen merkwürdigen Skrupeln zu vereinbaren? Schließlich arbeitet der junge Mann für dich und nicht umgekehrt.“

„Craig ist auch ein guter Freund. Er tut mir häufig einen Gefallen. Das will ich nicht ausnutzen.“ An ihrer kühlen Stimme erkannte Robert, dass er Evie gekränkt hatte.

Er stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. Während er ihr beim Aussteigen half, fragte er beinahe kleinlaut: „Versuchst du trotzdem, ein bisschen Zeit für mich heraus zuschlagen?“

„Ich werde mit Craig reden“, versprach sie.

„Bitte, tue das.“

Evie holte den Schlüssel aus der Tasche, und Robert nahm ihn ihr ab. Er schloss die Tür auf, schaltete das Licht ein und trat zurück. „Danke“, sagte Evie.

Er legte die Hand auf ihren Arm und hielt sie fest. „Gute Nacht, Darling“, flüsterte er und senkte den Kopf.

Sein Kuss war warm, aber ziemlich unverbindlich. Abgesehen von der Hand auf ihrem Arm, berührte er Evie nicht. Sie seufzte unwillkürlich vor Lust und öffnete die Lippen, damit seine Zunge eindringen konnte.

Als er den Kopf wieder hob, prickelten ihre Brüste, und sie atmete schneller als gewöhnlich. Zu ihrer Befriedigung klang Roberts Atem ebenfalls rau. „Bis morgen“, sagte er, küsste sie erneut und ging zu seinem Wagen.

Evie verriegelte die Tür, lehnte sich dagegen und wartete, bis der Jeep in der Ferne verschwunden war. Am liebsten hätte sie gleichzeitig gejubelt und geweint.

Stattdessen zog sie die Schuhe aus und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Ihr linker Fuß berührte etwas Nasses, und sie sprang erschrocken zurück. Rasch schaltete sie das Licht ein und starrte entsetzt auf die Pfütze vor ihrem Kühlschrank. Merkwürdigerweise war nicht das geringste Summen zu hören. Ahnungsvoll öffnete sie die Tür, doch das Innere blieb dunkel.

„Oh nein, das nicht auch noch!“, stöhnte Evie. Musste der Kühlschrank ausgerechnet jetzt seinen Geist aufgeben? Sie konnte sich keine weitere Reparatur leisten. So alt das Gerät war, hätte es nicht noch ein weiteres Jahr halten können? Schon sechs Monate hätten eine Menge ausgemacht.

Bis morgen früh konnte sie nichts unternehmen. Obwohl sie todmüde war, wischte Evie das Wasser auf und breitete einige Handtücher auf dem Boden aus, für den Fall, dass weitere Tropfen nachsickerten.

Als sie endlich im Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen. Es würde ihr nichts übrig bleiben, als sich tatsächlich eine Teilzeitarbeit zu suchen. Der Abend mit Robert, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, erwies sich am Ende noch als der beste Teil des Tages.

Am nächsten Morgen saß Evie um sieben Uhr am Telefon und sprach mit Becky. Während die Schwester sich bei ihren Freunden nach einem gut erhaltenen, gebrauchten Kühlschrank erkundigte, rief Evie alle entsprechenden Telefonnummern aus den Zeitungsanzeigen an. Wie sie befürchtet hatte, waren selbst zu dieser frühen Stunde schon einige Geräte verkauft.

Gegen neun Uhr hatte Becky einen Kühlschrank aufgetrieben. Mit hundert Dollar kostete er mehr, als Evie sich eigentlich leisten konnte. Aber er war erheblich preiswerter als eine Neuanschaffung. Eine halbe Stunde später machte sich Sonny, ein guter Freund, der erst mittags arbeitete, auf den Weg.

Becky kam herüber und half Evie, den alten Kühlschrank auszuräumen. Die Gefrierkost und die meisten Sachen im Kühlabteil waren noch brauchbar. Nur die Eier und die Milch warfen sie vorsichtshalber fort.

„Soll ich den alten Kühlschrank mitnehmen?“, fragte Sonny.

„Nein, Sie müssen zur Arbeit“, antwortete Evie. „Schieben Sie ihn einfach auf die Terrasse. Ich schaffe ihn fort, sobald mein Lieferwagen repariert ist. Danke, Sonny. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie getan hätte.“

„Keine Ursache“, antwortete er gutmütig und wuchtete das alte Gerät nach draußen.

Nachdem er gegangen war, sagte Becky: „Ich weiß, dass du dringend zur Marina musst. Deshalb gehe ich jetzt und rufe dich heute Abend an. Ich kann es gar nicht erwarten, jede sündhafte Einzelheit über deinen Abend mit Robert zu erfahren.“

Evie blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es war schön“, sagte sie und lächelte, weil sie wusste, dass Becky über ihre Antwort enttäuscht war. „Ich hatte mir umsonst Sorgen gemacht. Robert war den ganzen Abend ein perfekter Gentleman.“

„So etwas Dummes“, murmelte ihre einst so besorgte Schwester.

Todmüde erreichte Evie die Marina und stellte fest, dass sich ihre gestrigen Befürchtungen bewahrheitet hatten. Burt hatte nachmittags etliche Aufträge für Bootsreparaturen erhalten, die er erledigen musste, bevor er ihren Motor einbauen konnte. Da ihre Existenz von den Kunden auf der Marina abhing, hatte Evie nichts gegen diese Verzögerung. Im Gegenteil: Je mehr Reparaturen in der Werkstatt anfielen, desto leichter konnte sie ihre Rechnungen bezahlen.

Craig kam zu ihr auf den Steg. Er legte den Arm um ihre Taille, betrachtete sie nachdenklich und meinte: „Frau Chefin, Sie brauchen dringend eine Mütze Schlaf. Falls Sie sich ein bisschen hinlegen wollen, bleibe ich gern noch ein oder zwei Stunden. Heute Abend habe ich eine Verabredung. Aber jetzt hätte ich Zeit.“

Evie lächelte gerührt. „Danke, Craig, das ist nicht nötig. Fahr nach Hause. Ich werde mir eine Teilzeitarbeit besorgen, um alles bezahlen zu können, was derzeit zu Bruch geht.“

„Was ist zu Bruch gegangen?“, fragte eine tiefe Stimme hinter ihnen. Craig und sie drehten sich um. Ein Boot war vorübergetuckert und hatte Roberts Schritte übertönt. Im Gegensatz zu ihr sah er wunderbar ausgeruht aus. Äußerlich war ihm nichts anzumerken. Doch Evie war sicher, dass ihm Craigs Arm um ihrer Taille nicht gefiel.

„Mein Kühlschrank ist gestern Abend verreckt“, antwortete sie. „Ich habe den ganzen Morgen gebraucht, bis ich ein gutes Gerät aus zweiter Hand gefunden hatte.“

Robert schwieg eine ganze Weile und sah sie nachdenklich an. Sein nächtlicher Plan war misslungen, weil er einen wichtigen Punkt nicht bedacht hatte. Er hatte immer genügend Geld besessen und war nicht auf die Idee gekommen, dass Evie ein gebrauchtes Gerät kaufen könnte. Zwar hatte er sie finanziell stärker unter Druck gesetzt, aber immer noch nicht genug.

„Du hast letzte Nacht nicht viel Schlaf bekommen, nicht wahr?“, fragte er endlich.

„Nur ein paar Stunden. Dafür werde ich heute Nacht wie ein Murmeltier schlafen.“

„Wenn Sie mich wirklich nicht mehr brauchen …“, begann Craig.

„Nein. Danke. Wir sehen uns morgen.“

„Dann bye-bye.“ Pfeifend schlenderte er davon. Robert sah dem großen, kräftigen Jungen nach, der einmal ein gut aussehender junger Mann sein würde.

„Du hast keinen Grund, eifersüchtig auf Craig zu sein“, erklärte Evie kühl und ging an ihm vorüber ins Büro.

Robert folgte ihr verblüfft. Sobald sie im Haus waren, meinte er: „Ich erinnere mich nicht, so etwas gesagt zu haben.“

„Nein. Aber es war dir deutlich anzumerken.“

Robert erschrak. Evie war nicht nur scharfsinnig. Sie konnte Gedanken lesen!

„Ich kannte Craig schon, als er noch ein kleines Kind war. Unsere Beziehung hat absolut nichts Sexuelles.“

„Aus deiner Sicht vielleicht nicht“, antwortete Robert ungerührt. „Aber ich war selber einmal ein Teenager.“

„Ich habe keine Lust, mich jetzt über verwirrte Hormone zu unterhalten. Wenn du nur meckern willst, geh bitte. Ich bin zu müde, um mit dir zu streiten.“

„Das stimmt.“ Robert zog sie in die Arme und legte ihren Kopf an seine Schultergrube. Besänftigend streichelte er ihr Haar. Es war von der Sonne gewärmt und wie immer zu einem Zopf geflochten. Gestern Abend hatte Evie es zu einem eleganten Knoten geschlungen. Eines Tages – besser gesagt, eines Nachts – würde er es lösen und auf seinem Kissen ausbreiten.

Zärtlich wiegte er Evie hin und her. Sein fester Körper war ein so wunderbarer Halt, dass ihr die Augen zufielen. Plötzlich merkte sie, dass sie jeden Moment einschlafen konnte, und machte sich entschlossen los. „Das genügt. Sonst schlafe ich noch in deinen Armen ein.“

„Das wirst du demnächst sowieso tun“, antwortete Robert. „Nur in einer anderen Umgebung.“

Ihr Herz tat einen heftigen Sprung. Unwillkürlich musste sie an die einzige Nacht denken, die sie in Matts Armen gelegen hatte. Schon am nächsten Tag war die schöne Erinnerung vom Kummer und Leid über seinen Tod überschattet worden. Mit Robert würde es ganz anders sein.

Robert bemerkte die Trauer in ihren Augen und schäumte innerlich. Jedes Mal, wenn er glaubte, bei Evie weiterzukommen, trat Matts Schatten dazwischen. So unwahrscheinlich es klang, er bezweifelte nicht mehr, dass Evie seit dem Tod ihres Mannes enthaltsam lebte. Eine körperliche Beziehung mit Landon Mercer hatte sie gewiss nicht. Er, Robert, würde sich nicht mit so wenig begnügen.

„Bist du aus einem bestimmten Grund gekommen?“, fragte Evie.

„Ich wollte dich nur einen Moment sehen. Essen wir einen Happen, bevor du nach Hause fährst?“

„Nein, lieber nicht. Ich bin so müde, dass ich sofort schlafen gehen möchte.“

„In Ordnung.“ Zärtlich streichelte er ihre Wange. „Dann sehen wir uns morgen. Pass gut auf, wenn du nachher über den See fährst.“

„Das tue ich immer. Die Tage sind so lang, dass ich zu Hause sein werde, bevor es dunkel ist.“

„Pass trotzdem auf.“ Er beugte sich zu ihr, küsste sie und schlenderte anschließend davon.