9. KAPITEL
Am nächsten Morgen ging es Evie schlecht. Als der Wecker um halb fünf läutete, hatte sie keine zwei Stunden geschlafen. Sie hatte wach gelegen und Robert nicht aus den Gedanken vertreiben können. Ständig hatte sie zwischen der Erinnerung an seine verzehrende Leidenschaft und dem Unbehagen geschwankt, das sie bei dem Gedanken befiel, wie geschickt er die Menschen manipulierte.
Irgendwann nach Mitternacht, während sie in der Dunkelheit an die Decke blickte, war ihr bewusst geworden, was sie an Robert störte. Er zeigte den Leuten nur eine Seite von sich. Die andere, wahrscheinlich jene, die seiner wahren Natur am nächsten kam, hielt er zurück. Er beobachtete und analysierte sorgfältig, prüfte die jeweilige Reaktion seines Gegenübers und entschied, welchen unmerklichen Druck er ausüben musste, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. In diese Seite seiner Persönlichkeit mit der messerscharfen Intelligenz, die beinahe wie ein Computer funktionierte, ließ er niemanden blicken.
Was für einen Platz könnte ich in seinem Leben einnehmen?, überlegte Evie. Robert begehrte sie und war bereit, sie für eine Weile in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu stellen, um sein Ziel zu erreichen: eine sexuelle Beziehung. Falls es ihr nicht gelang, die sorgfältig gehütete Mauer um den Kern seines Wesens zu durchbrechen, würde sie niemals in seine Gefühlswelt eindringen. Robert wäre das gewiss sehr recht. Ihr dagegen würde es das Herz brechen.
Schlimm war nur, dass sie keine Wahl mehr hatte. Robert hatte gestern Nachmittag ihren Widerstand gebrochen. Wie wenig war dafür nötig gewesen. Er hatte nur mit einem Baby zu spielen brauchen. Die kleinen Dinge waren es und nicht die dramatischen Ereignisse, aus denen die Liebe entstand. Sie, Evie, war schon milder gestimmt gewesen, nachdem er Jason und ihr das Leben gerettet hatte. Heute hatte sie sich in ihn verliebt, daran führte kein Weg vorbei. Vielleicht war es unmöglich, Roberts Mauer zu überwinden und sein Herz zu erreichen. Trotzdem musste sie es versuchen.
Endlich fiel Evie in einen ruhelosen Schlaf, aus dem der Wecker sie bald wieder aufschreckte. Benommen duschte sie und trank eine Tasse Kaffee. Es dämmerte erst, als sie in ihren Pick-up stieg.
Der bullige Wagen, der trotz seines hohen Kilometerstands immer zuverlässig gewesen war, gab einige seltsame Geräusche von sich. „Brich mir bloß nicht zusammen“, warnte Evie ihn. Sie bekam gerade erst sicheren Boden unter den Füßen. Eine größere Reparatur konnte sie sich finanziell nicht leisten.
Sie erreichte die Bundesstraße 431 und bog ab. Der Lieferwagen stotterte und klirrte laut. Erschrocken nahm Evie den Fuß vom Gaspedal und warf einen raschen Blick auf die Instrumente. Die Wassertemperatur war in Ordnung. Das Öl – oh nein, die rote Lampe brannte! Sie trat auf die Bremse und steuerte den Wagen an den Straßenrand. Im selben Moment knallte und ratterte es und knirschte erneut. Dichter Rauch stieg unter der Motorhaube hervor und nahm ihr die Sicht. Endlich kam der Wagen zum Stehen.
Evie stieg aus und betrachtete das zischende Ungeheuer, das jeden Moment seinen Geist aufgeben konnte. Normalerweise drückte sie sich äußerst zivilisiert aus. Aber manchmal brauchte man Schimpfwörter, und dies war solch ein Moment. Sie stieß einen Fluch nach dem anderen aus und reihte sie zu höchst merkwürdigen Verbindungen aneinander. Natürlich wurde der Motor dadurch nicht wieder heil, und an ihrem Kontostand änderte sich auch nichts.
Endlich atmete sie tief durch und blickte den Highway zu beiden Seiten hinab. Die Sonne war aufgegangen, und der Verkehr begann zu fließen. Vielleicht kam jemand vorbei, den sie kannte, und sie brauchte nicht die beiden Meilen zur nächsten Telefonzelle zu laufen. Seufzend nahm sie ihre Handtasche und verschloss die Tür.
Keine Minute später hielt ein Lieferwagen neben ihr an. Evie betrachtete ihn näher und entdeckte ein Boot auf der Ladefläche. Zwei Männer saßen in der Kabine, und der Beifahrer kurbelte die Seitenscheibe hinunter. „Haben Sie Schwierigkeiten, Miss Evie?“, fragte er.
Erleichtert stellte Evie fest, dass es Russ McElroy und Jim Haynes waren, zwei Fischer, die sie seit Jahren kannte. „Hi, Russ. Tag, Jim. Mein Motor ist gerade verreckt.“
Russ öffnete die Tür und sprang hinaus. „Steigen Sie ein. Wir fahren Sie zur Marina. Sie sollten nicht hierbleiben. Heutzutage passiert zu viel.“
Dankbar kletterte Evie in die Kabine und glitt auf den Mittelsitz. Russ stieg wieder ein und schloss die Tür. „Haben Sie einen guten Mechaniker?“, fragte Jim, während er anfuhr.
„Ich werde Burt Mardis bitten, sich den Schaden anzusehen. Er arbeitet bei mir und versteht etwas von Motoren.“
Kurz darauf erreichten sie die Marina, und Evie stieg aus. Während sie das Tor öffnete, damit die Männer ihr Boot zu Wasser lassen konnten, sah sie Burt. Evie ging sofort zu ihm und erzählte ihm von ihrer Panne.
Kurz nach Sonnenaufgang läutete Roberts Telefon. Er öffnete ein Auge, betrachtete den goldroten Himmel und griff zum Hörer. „Ja?“
„Der Lieferwagen ist unmittelbar nach der Auffahrt zum Highway zusammengebrochen. Evie Shaw wurde von jemandem zur Marina mitgenommen.“
Robert fuhr erschrocken in die Höhe, und seine Nackenhärchen sträubten sich von einer Mischung aus Wut und Sorge. „Sie ist per Anhalter gefahren?“
„Ja, das gefiel mir ebenfalls nicht. Deshalb folgte ich ihr, um mich zu vergewissern, dass sie keine Schwierigkeiten bekam. Es waren zwei Fischer. Ich nehme an, sie kannte die beiden Männer.“
Diese Nachricht beruhigte Robert keineswegs. Guntersville war zwar keine kriminelle Hochburg. Aber einer Frau konnte alles Mögliche passieren. Außerdem hätte die Panne nicht auf dem Highway eintreten sollen. „Weshalb geriet der Zeitplan durcheinander?“, fragte er verärgert.
„Das Loch im Schlauch muss größer gewesen sein, als West annahm. Wahrscheinlich befindet sich ein großer Ölfleck in ihrer Einfahrt. Evie Shaw hätte ihn entdeckt, wenn sie das Haus nicht schon bei Dunkelheit verlassen hätte.“
„Ich hätte es außerordentlich bedauert, wenn ihr wegen dieses Fehlers etwas passiert wäre“, sagte Robert gefährlich ruhig.
Der Mann am anderen Ende der Leitung schwieg einen Moment. „Verstehe. Es wird nicht wieder vorkommen.“
Robert ging nicht weiter auf den Zwischenfall ein. „Seien Sie vorsichtig, wenn Sie heute Abend zu ihr ins Haus gehen. Ich möchte nicht, dass sie etwas merkt.“
„Das wird sie nicht. Ich werde mich persönlich darum kümmern.“
Robert beendete das Gespräch und legte sich auf den Rücken. Er verschränkte die Hände unter dem Kopf und sah zu, wie die Sonne über den Bergen höherstieg. Seit gestern zweifelte er mehr denn je über die Art von Evies Verbindung zu Mercer. Er war ziemlich sicher, dass sie mit dem Mann auf dem Wasser zusammengetroffen war. Entweder hatte sie Mercer absichtlich nichts von der Anwesenheit seines Chefs erzählt, oder sie hatte keine Ahnung gehabt, in welcher Beziehung er, Robert, zu PowerNet stand.
Die bisherigen Ermittlungen hatten ergeben, dass es sich um einen sehr professionellen Spionagering handelte. Wenn Evie darin verwickelt war, hätte sie wissen müssen, wen sie vor sich hatte. Zumindest hätte Mercer sie sofort von seiner Ankunft verständigen müssen. Welchen Grund konnte er gehabt haben, sie im Unklaren zu lassen?
Möglich war auch, dass Evie durchaus gewusst hatte, wer er war, die Nachricht, dass er einen Liegeplatz bei ihr gemietet hatte und ein starkes persönliches Interesse an ihr entwickelte, aus irgendwelchen Gründen aber nicht weitergegeben hatte.
Eines stand fest: Evie hatte keine gute Beziehung zu den übrigen Mitgliedern des Spionagerings. Diese Schwäche konnte er nutzen, brachte sie aber womöglich in Lebensgefahr.
Evie ließ den liegen gebliebenen Lieferwagen zur Marina schleppen, und Burt blickte prüfend unter die Haube. Anschließend nahm er ein Rollbrett und sah sich den Wagen von unten an. „Der Schaden ist zu groß“, erklärte er, nachdem er wieder aufgetaucht war. „Sie sollten lieber einen neuen Motor einbauen lassen.“
Evie hatte die Antwort erwartet und war in Gedanken schon ihre Finanzen durchgegangen. Einige Tage konnte sie ohne den Wagen auskommen und mit dem Boot zur Arbeit fahren. Falls sie unbedingt irgendwohin musste, würde sie sich Beckys Wagen leihen, allerdings nur ungern.
„Ich werde herumtelefonieren und versuchen, einen Motor aufzutreiben“, sagte sie. „Haben Sie Zeit, ihn mir einzubauen?“
„Natürlich“, antwortete Burt sofort. „Auf der Marina ist im Moment nicht viel zu tun.“
Als Craig sie ablöste, war schon alles erledigt. Evie hatte einen Motor gefunden. Sobald er eintraf, wollte Burt mit der Arbeit beginnen. Wenn nichts dazwischenkam, konnte sie morgen Abend wieder mit dem eigenen Wagen nach Hause fahren.
Trotz ihrer Sorgen genoss Evie die Heimfahrt mit dem Boot. Das Wasser war grün, und die Berge ringsum schimmerten bläulich. Möwen segelten über das Wasser, und in der Ferne stieg ein Adler auf. Der Tag war so schön, dass man ihn unmöglich drinnen verbringen durfte.
Sobald Evie zu Hause war, schob sie ihre Geldsorgen beiseite und holte ihren Rasenmäher heraus. Sie entdeckte den großen Ölfleck in der Einfahrt, wo ihr Lieferwagen gestanden hatte. Wäre es heute Morgen schon hell gewesen und hätte sie nicht die Schicht mit Craig getauscht, hätte sie das Öl gesehen und den Wagen stehen lassen. Dann wäre der Motor noch in Ordnung, und die Reparaturrechnung fiele erheblich niedriger aus.
Es war ein ausgesprochen dummes Zusammentreffen.
Nachdem der Rasen gemäht war, kehrte Evie ins Haus zurück, um sich abzukühlen und ein bisschen Hausputz zu machen. Gegen drei Uhr setzte sie sich auf den Rand der Holzterrasse und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Es hatte keinen Sinn, wegen des Wagens mit dem Schicksal zu hadern. Sie würde auch diese finanzielle Krise überstehen, indem sie eisern sparte, bis alle Rechnungen bezahlt waren. Etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig, da ihr keine gute Fee eine größere Summe in den Schoß legen würde.
Notfalls konnte sie morgens eine Teilzeitarbeit in einem Fast-Food-Restaurant annehmen, das Frühstück ausgab. Die vierzig Dollar pro Woche würden für ihre Stromrechnung reichen und sogar einen Teil ihrer Benzinkosten decken. Aber daran mochte sie jetzt nicht denken. Sie wollte einfach dasitzen und das friedliche Bild vor Augen genießen.
So fand Robert sie. Er kam um das Haus herum und blieb fasziniert stehen, als er Evie auf den verwitterten Bohlen entdeckte. Sie hatte die Augen geschlossen und hielt das Gesicht in die Sonne. Der dicke, goldblonde Zopf fiel über ihre Schulter und gab den Blick auf ihren verlockenden Nacken frei. Sie trug ausgewaschene Jeansshorts und ein weißes, ärmelloses Top.
Sein Puls begann zu rasen beim Anblick ihrer zarten Schultern, der hübschen glatten Arme und der schlanken, wohlgeformten Beine. Evies Haut schimmerte wie ein reifer Pfirsich. Sein ganzer Körper begann zu prickeln. Das Wasser lief ihm buchstäblich im Mund zusammen, und er musste ein paarmal schlucken. Noch nie hatte er eine Frau so begehrt. Am liebsten hätte er sich auf sie gestürzt und sie ohne jedes Vorspiel auf der Stelle genommen.
Evie bemerkte Roberts Anwesenheit erst, als die Holzbohlen der Terrasse unter seinen Schritten leicht vibrierten. Ohne das geringste Anzeichen von Besorgnis drehte sie sich um und sah ihm freundlich entgegen. Jeder Fünfjährige in der Großstadt ist misstrauischer als die Leute hier, dachte Robert. Er setzte sich neben Evie und zog seine Schuhe ebenfalls aus.
„Hi“, sagte sie breit und lächelte vergnügt.
Robert lächelte unwillkürlich zurück, und sein Herz hämmerte wie wild. Er hatte Evie vom ersten Moment an begehrt und war mehr als einmal von ihr hingerissen gewesen. Beides traf auch jetzt zu. Er kam sich wie verzaubert vor.
Er hatte mit unzähligen schönen Frauen getanzt, die eine Menge für ihr Aussehen taten und sich die teuerste Garderobe und den kostbarsten Schmuck leisten konnten – Frauen, die er wirklich gemocht hatte. Er hatte sich viel Zeit bei ihnen gelassen und in einer luxuriösen Umgebung mit ihnen geschlafen. Außerdem hatte er einige Frauen in sein Bett gelockt, bei denen die Gefahr einen zusätzlichen Reiz lieferte. Dennoch war er nie erregter gewesen als in diesem Augenblick auf einer verwitterten Holzterrasse in der brennenden Nachmittagssonne, die beinahe brutal hell war und alles in gleißendes Licht tauchte. Schweißperlen rannen ihm den Rücken und die Brust hinab. Sein ganzer Körper prickelte vor Leben. Sogar seine Fingerspitzen pochten. Es kostete ihn größte Selbstbeherrschung, Evie nicht auf den Rücken zu drücken und ihre Beine zu spreizen.
Obwohl er es vor drängendem Verlangen kaum aushielt, war er bereit zu warten. Er würde Evie schon bekommen. Im Augenblick musste er sich noch mit ihrem bezaubernden Lächeln, dem sanften Schimmer ihrer Haut und dem warmen, weiblichen Duft begnügen, an den kein Parfüm heranreichte.
Robert rollte die kakigrünen Hosenbeine in die Höhe und steckte die Füße in den Fluss. Das Wasser war lauwarm, bot aber eine willkommene Erfrischung. Er fühlte sich beinahe wohl.
„Es ist noch nicht sieben“, stellte Evie lächelnd fest.
„Ich wollte mich vergewissern, dass du nicht kneifst.“
„Noch nicht. Lass mir noch zwei Stunden Zeit.“
Trotz ihrer Neckerei war Robert sicher, dass Evie sich nicht drücken würde. Sie würde nervös sein, vielleicht sogar ein bisschen zögerlich. Aber sie hatte seine Einladung angenommen und würde Wort halten. Ihre mangelnde Begeisterung über den gemeinsamen Abend mit ihm hätte ihn vielleicht gekränkt, wäre ihre eindeutige Reaktion nicht gewesen. Welchen Grund Evie haben mochte, ihm gegenüber misstrauisch zu sein, ihrem Körper war es egal.
Evie sah zu, wie das Wasser um ihre Fersen wirbelte. Eine volle Minute überlegte sie, ob sie das Thema anschneiden sollte, das ihr so zu schaffen machte. Dann war ihr Entschluss gefasst. „Hast du jemals einen Menschen nahe an dich herangelassen, Robert? Kennt dich jemand wirklich?“, fragte sie leise, ohne ihn dabei anzuschauen.
Robert erstarrte innerlich und antwortete so unbekümmert wie möglich: „Seit ich dich zum ersten Mal sah, versuche ich dich nahe an mich heranzulassen.“
Sie drehte den Kopf und merkte, dass er sie mit seinen unergründlichen Augen aufmerksam beobachtete. „Das war eine nette Ausflucht. Damit hast du exakt bewiesen, was ich meinte.“
„Was habe ich bewiesen?“, flüsterte er, beugte sich vor und drückte seine Lippen auf ihre nackte Schulter.
Evie ließ sich von der köstlichen kleinen Liebkosung nicht beirren. „Dass du allen persönlichen Fragen ausweichst. Du hältst jeden auf Armeslänge von dir, beobachtest und manipulierst ihn und verrätst nicht, was wirklich in dir vorgeht.“
Robert blickte sie nachdenklich an. „Du wirfst mir vor, schwer zu durchschauen zu sein, obwohl du selber offen wie die Sphinx bist?“
„Wir sind beide ziemlich verschlossen“, gab Evie zu.
„Wie wäre es, wenn ich die Frage zurückgebe?“, schlug Robert vor und ließ sie nicht aus den Augen. „Hast du jemals einen Menschen ganz an dich herangelassen, sodass er dich wirklich kannte?“
Ein schmerzhafter Stich durchzuckte Evies Brust. „Natürlich. Meine Familie … und Matt.“
Sie schwieg plötzlich, und ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Wieder dieser Mann, dachte Robert verärgert. Was hatte der Achtzehnjährige an sich gehabt, dass Evie noch nach zwölf Jahren bei der Erwähnung seines Namens in diese traurige Stimmung geriet? Es gefiel ihm nicht, dass er derart eifersüchtig auf den verstorbenen Jungen reagierte. Andererseits hatte die Erinnerung Evie von ihren unbequemen Fragen abgelenkt. Und das war ihm sehr recht.
Ihr Scharfsinn beunruhigte Robert. Er legte größten Wert darauf, einen Teil seiner Persönlichkeit der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Das Bild des reichen, gewandten Geschäftsmanns, das er aller Welt bot, war nicht falsch. Nur war es nicht vollständig. Bisher hatte dies sowohl geschäftlich als auch privat fabelhaft geklappt.
Nicht einmal seine engsten Mitarbeiter ahnten, wie sehr er das Abenteuer oder den Kitzel der Gefahr liebte. Sie wussten nichts von den äußerst gefährlichen Aufträgen, die er manchmal für Ministerien und Sonderdienste übernahm. Auch nichts von dem Spezialtraining, dem er sich unterzog, um dafür körperlich und geistig fit zu bleiben. Sie hatten keine Ahnung von seinem aufbrausenden Temperament und seinem Kampfgeist, weil er beides eisern unter Kontrolle hielt.
Wie hatte Evie nach so kurzer Bekanntschaft erkennen können, was anderen ein Leben lang verborgen blieb? Robert fühlte sich ihr beinahe ausgeliefert und nahm sich vor, in Zukunft besser achtzugeben. Er fand, dass Evie lange genug geschwiegen hatte, und fragte so beiläufig wie möglich: „Wo ist dein Wagen?“
„Ich lasse einen neuen Motor einbauen. Wahrscheinlich bekomme ich ihn morgen Nachmittag wieder. Bis dahin fahre ich mit dem Boot.“
Robert wartete. Doch zu seinem Erstaunen erzählte sie keine weiteren Einzelheiten. Er war es gewöhnt, dass die Leute mit ihren Schwierigkeiten zu ihm kamen, und war sogar darauf gefasst gewesen, dass Evie ihn um ein Darlehen bitten würde. Sie hatte sein neues Boot, den neuen Jeep und sein Haus gesehen und musste wissen, dass er eine Menge Geld besaß.
Natürlich hätte er ihr nichts gegeben, denn es hätte seiner Absicht geschadet, sie finanziell unter Druck zu setzen. Trotzdem wunderte er sich, dass Evie die Wagenpanne von sich aus nicht erwähnt hätte.
„Ruf mich an, wenn du irgendwohin musst“, bot er ihr an.
„Danke. Aber ich habe nichts vor, was sich nicht verschieben ließe.“
„Das ist nicht nötig. Ruf mich einfach an“, drängte er sie sanft.
Evie lächelte reizend und ging nicht weiter auf das Thema ein. Selbst wenn er sich auf der Marina niederließe, bis ihr Wagen repariert war, würde sie ihn nicht um Hilfe bitten.
Robert nahm ihre Hand und streichelte zärtlich ihre Finger. „Du hast mich noch nicht gefragt, wohin wir heute Abend gehen“, sagte er.
Evie sah ihn erstaunt an. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ Das war die reine Wahrheit. Es war ihr egal, wohin sie fuhren. Die eigentliche Tatsache, dass sie mit Robert ausgehen würde, beschäftigte sie unablässig.
„Das ist nicht sehr schmeichelhaft für mich“, meinte er lächelnd.
„Ich habe nicht behauptet, dass ich nicht an das Essen gedacht hätte. Über den Ort habe ich mir keine Gedanken gemacht.“
Die erfahrenen Frauen, mit denen er sonst in New York oder den anderen bedeutenden Städten dieser Welt ausging, hätten niemals solch ein Geständnis gemacht. Und wenn doch, hätten sie es in einen Flirt gekleidet. Evie flirtete nie. Sie sprach einfach die Wahrheit aus und überließ es ihm, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Am liebsten hätte er sie geküsst, hielt sich aber zurück. Evie würde sich in seiner Gegenwart schneller entspannen, wenn sie nicht jedes Mal auf einen Verführungsversuch gefasst sein musste.
Plötzlich drehte sie sich zu ihm und sah ihn mit ihren braunen Augen ernst an. „Ich hatte dir eine Frage gestellt“, sagte sie. „Bitte, beantworte sie mir.“
Das Problem war also nur aufgeschoben und nicht aufgehoben gewesen. „Ich bin ein sehr zurückhaltender Mensch und erzähle nicht jedem meine Lebensgeschichte“, erklärte Robert ungerührt. „Du tust es ebenfalls nicht und solltest eigentlich Verständnis dafür haben.“
Sie beobachtete ihn eine ganze Weile und wandte sich schließlich ab. Robert spürte, dass seine Antwort sie nicht befriedigt hatte. Trotzdem würde sie keine weiteren Fragen stellen. Der Gedanke, dass sie so schnell aufgab, gefiel ihm nicht. Aber er wollte auch nicht, dass sie nachhakte.
Er blickte auf die Uhr. Bevor er Evie zum Essen abholte, musste er noch einige Anrufe erledigen und natürlich duschen und sich umziehen. Deshalb küsste er sie erneut auf die Schulter und stand auf. „Ich muss gehen. Bleib nicht mehr lange sitzen, sonst bekommst du einen Sonnenbrand. Deine Schultern sind schon ziemlich rot.“
„In Ordnung. Dann bis sieben.“ Evie rührte sich nicht, und Robert blickte verärgert auf ihren von der Sonne gebleichten blonden Schopf. Immer wenn er glaubte, ernsthaft bei Evie weiterzukommen, zog sie sich innerlich in ihr Schneckenhaus zurück. Heute Nachmittag war sie in einer besonders seltsamen Stimmung aus Zufriedenheit, Melancholie und Resignation. Vielleicht machte sie sich Sorgen wegen des Wagens. Oder sie war nervös wegen ihres ersten gemeinsamen Abends. Allerdings war ihm nicht ganz klar, weshalb, nachdem er sie schon halb nackt gesehen hatte.
Tatsache war, dass er Evie absolut nicht durchschaute. Er wusste nie, was sie als Nächstes tun würde oder was sie dachte. Das machte ihn langsam verrückt. Trotzdem ließ er sie jetzt ungern allein. Nur wenn er bei ihr war, brauchte er sich keine Sorgen darüber zu machen, was sie gerade trieb.
Es ist schlimm, so besessen von einer Frau zu sein, die man keine Sekunde aus den Augen lassen darf, dachte Robert kläglich und kletterte in seinen Jeep.
Evie wartete, bis das Brummen des Motors in der Ferne verklang. Robert hatte ihre Frage einfach abgeblockt. Er würde sie nicht an sich heranlassen. Wenn sie eine Beziehung mit ihm aufnehmen wollte, musste sie sich mit dem wenigen begnügen, das er ihr geben wollte.
Endlich zog sie die Füße aus dem Wasser und stand auf. Es war an der Zeit, sich für den großen Abend fertig zu machen.