7. KAPITEL

Robert hatte nicht vor, Evie am nächsten Tag zu besuchen. Er war ein erfahrener Stratege im ewigen Kampf zwischen Mann und Frau. Nach seinem heftigen Werben erwartete Evie bestimmt, dass er sie anrief oder wieder zur Marina kam. Sein Schweigen würde sie verunsichern und ihre Abwehr weiter schwächen. Eine Frau zu verführen glich einer Schachpartie. Wer den anderen über seine nächsten Züge im Unklaren ließ, behielt die Kontrolle über das Spiel.

Vielleicht dauerte es einige Wochen, aber Evie landete garantiert in seinem Bett. Wenig später würde der Spionagefall geklärt sein. Mercer und Evie waren verhaftet, und er konnte beruhigt nach New York zurückkehren.

Genau dieser Gedanke machte Robert zu schaffen. Er wollte nicht mehr, dass Evie ins Gefängnis kam. War sie überhaupt schuldig? Zuerst war er fest davon überzeugt gewesen, jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Nach seiner Erfahrung waren Spione die kühlsten Menschen der Welt. Ihnen fehlte jedes Gefühl. Von Evie konnte man das nicht behaupten. Sie empfand höchstens zu viel.

War sie wirklich fähig, ihr Land zu verraten? Robert kamen immer mehr Zweifel an seinen eigenen Schlussfolgerungen. Trotzdem durfte er seine Pläne nicht ändern. Falls Evie unschuldig war, würde ihr nichts passieren. Sie würde einige unangenehme Dinge erleben und große Probleme bekommen. Doch er würde rechtzeitig eingreifen, damit am Ende alles gut wurde.

Gereizt blickte Robert auf die Uhr. Es war kurz nach Mittag. Evie musste längst auf der Marina sein. Weshalb hatte er noch nichts von dem Detektiv gehört, der sie auf Schritt und Tritt verfolgen sollte?

Wie aufs Stichwort läutete in diesem Moment das Telefon, und Robert hob den Hörer ab.

„Evie Shaw ist heute Morgen nach Huntsville gefahren“, verkündete eine weibliche Stimme. „Ihr Ziel war ein Bürogebäude. Der Fahrstuhl schloss sich, bevor ich einsteigen konnte. Deshalb weiß ich nicht, bei wem sie gewesen ist. Ich wartete unten, und sie kam nach einer Stunde und dreiundzwanzig Minuten wieder heraus. Anschließend kehrte sie direkt nach Hause zurück, zog sich um und fuhr zur Marina. Mercer war die ganze Zeit in seinem Büro. Die beiden hatten keinen telefonischen Kontakt.“

„Was für Büros befinden sich in dem Gebäude?“, fragte Robert.

„Ich habe es aufgeschrieben: zwei Versicherungen, ein Immobilienmakler, vier Ärzte, vier Rechtsanwälte, drei Zahnärzte, eine Firma für Zeitarbeit und zwei Firmen für Computer programme.“

Verdammt, dachte Robert. „Finden Sie heraus, bei wem sie gewesen ist“, sagte er laut. „Konzentrieren Sie sich zunächst auf die beiden Computerfirmen.“

Verärgert legte er auf. Hätte Evie nicht den Morgen mit Einkäufen verbringen können?

Am liebsten wäre er sofort zu ihr gefahren und hätte sie geschüttelt, bis ihre Zähne klapperten. Noch lieber würde er sie packen, an einen einsamen Ort entführen und so lange mit ihr schlafen, bis sie um Erbarmen flehte. Solche gewalttätigen Gedanken waren ihm normalerweise völlig fremd. Doch Evie ging ihm derart unter die Haut wie keine Frau zuvor.

Seine Wut und seine Enttäuschung nahmen zu, und Robert gab seinen Gefühlen erbost nach. Er zog sich um, verließ das Haus und kletterte in seinen schwarzen Jeep. Wenn er Evie sehen wollte, würde er es tun.

Virgil war wieder bei Evie zu Besuch. Sein Knie täte nicht mehr so weh, behauptete er. Auf der Marina war eine Menge zu tun. Die Kunden gaben sich die Klinke in die Hand, und Virgil hatte schon zahlreiche alte Freunde und Bekannte getroffen.

Evie kassierte gerade den Betrag für das Benzin und ein Päckchen Kekse von einem Fischer, als sich die Tür öffnete. Sie wusste sofort, dass es Robert war. Ihre Haut begann zu prickeln, und sie bekam plötzlich Angst. Sie hatte gehofft, sie würde Robert heute nicht sehen. Ihre gereizten Nerven mussten sich unbedingt erholen, bevor sie morgen mit ihm ausging.

Wahrscheinlich hätte es doch nichts geholfen, dachte sie kläglich. Robert stahl sich sowohl in ihre Gedanken als auch in ihre Träume.

Nachdem der Fischer gegangen war, sah sie auf. Robert stellte sich gerade Virgil vor, der sich gut an ihn erinnerte. Er trug Jeans und ein lockeres weißes Baumwollhemd. Eine graugrüne Baseballmütze bedeckte sein dunkles Haar. In der Hand hielt er eine teure Sonnenbrille. Das Blut rauschte bei seinem Anblick in Evies Adern. Selbst in dieser Freizeitkleidung wirkte Robert äußerst elegant und gefährlich.

Als er ihren Arm berührte, hatte sie das Gefühl, einen winzigen elektrischen Schlag zu bekommen. „Ich möchte ein bisschen mit dem Boot hinausfahren und mir den Fluss näher ansehen“, erklärte er.

Robert will also nicht den ganzen Nachmittag bei mir auf der Marina verbringen, stellte Evie ebenso erleichtert wie enttäuscht fest. „Hast du schon einen Führer?“

„Nein. Die Fahrrinne ist doch gekennzeichnet, nicht wahr?“

„Ja, natürlich. Du wirst keine Schwierigkeiten bekommen, solange du die Rinne nicht verlässt. Ich gebe dir eine Wasserkarte mit.“

„In Ordnung.“ Nachdenklich sah Robert zu Virgil hinüber. „Hätten Sie Lust, mir den See zu zeigen, Mr. Dodd? Oder haben Sie andere Pläne?“

Virgil strahlte über das ganze Gesicht. „Ich und Pläne? Ich bin dreiundneunzig Jahre alt. Wer würde in meinem Alter noch Pläne schmieden? Ich kann jeden Moment tot umfallen.“

Robert lachte vergnügt. „Dieses Risiko gehe ich ein, falls Sie es ebenfalls wagen.“

Virgil stemmte sich aus dem Schaukelstuhl. „Wissen Sie was, mein Sohn? Diese Gelegenheit, noch einmal in ein Boot zu steigen, lasse ich mir nicht entgehen. Ich werde mir alle Mühe geben, dass Sie anschließend nicht den Leichenbestatter holen müssen.“

„Abgemacht.“

Lächelnd schüttelte Evie den Kopf. Es wäre sinnlos, Virgil den Plan ausreden zu wollen. Außerdem gönnte sie dem alten Mann das Vergnügen, etwas Zeit auf seinem geliebten Fluss zu verbringen. Gewiss steuerte Robert das Boot ebenso geschickt, wie er alles andere tat. Wie hatte er so schnell erraten, dass Virgil furchtbar gern noch einmal aufs Wasser wollte?

„Seid bitte vorsichtig, alle beide“, bat sie. „Vergessen Sie Ihre Mütze nicht, Virgil.“

„Bestimmt nicht“, antwortete er. „Meinst du, ich bin so dumm, ohne Kopfbedeckung nach draußen zu gehen?“

„Ich hole das Boot her“, schlug Robert vor. Evie war ihm dankbar, dass er Virgil den langen Weg zum Liegeplatz ersparte. Er ging zur Tür, hielt inne und kehrte noch einmal zurück. „Ich habe etwas vergessen.“

„Und was?“

Behutsam umfasste er ihr Kinn, beugte sich hinab und küsste sie. Es war kein leidenschaftlicher Kuss, eher ein freundschaftlicher. Trotzdem pochte Evies Herz, als er den Kopf wieder hob. „Das hier“, murmelte er.

Sie hörte Virgils brüchiges Lachen und bemerkte die neugierigen Blicke zweier Kunden, die bei den Haken und Ködern stöberten. Ihre Wangen brannten vor Verlegenheit, und sie beschäftigte sich rasch mit einigen Unterlagen.

Virgil tätschelte ihren Arm. Trotz der Last seiner mehr als neunzig Jahre war er immer noch größer als sie. „Ich habe gehört, dass sich der junge Mann hier vorgestern sehr nützlich gemacht hat“, sagte er.

„Ja. Ohne ihn wären Jason und ich wahrscheinlich ertrunken“, antwortete Evie.

„Er verliert keine Zeit, nicht wahr?“

Wieder errötete sie und scheuchte Virgil hinaus. Weshalb hatte Robert sie vor allen Leuten geküsst? Sie war sicher gewesen, dass er seine Zuneigung niemals öffentlich zeigen würde.

Durch das Fenster beobachtete sie, wie er das schnittige Boot zum Anleger steuerte. Mit der Sonnenbrille vor den Augen wirkte er unnahbar und gefährlich. Plötzlich wurde ihr klar, wie wenig sie über diesen Robert Cannon wusste. Womit verdiente er seinen Lebensunterhalt? Er musste ziemlich reich sein, wenn er sich ein neues Haus, ein neues Boot und einen neuen Jeep leisten konnte.

Woher stammte er? War er schon einmal verheiratet gewesen? Oder war er auch jetzt verheiratet und hatte Kinder? Ein Schauder durchrieselte Evie bei dem Gedanken an alles, wovon sie keine Ahnung hatte.

Andererseits kannte sie Robert inzwischen auch ziemlich gut. Er war kühl und kompliziert und entschlossen, niemanden ganz an sich heranzulassen. Für die körperliche Seite galt das allerdings nicht. Robert war der sinnlichste Mann, den sie sich vorstellen konnte. Wahrscheinlich hielten die meisten Menschen ihn für gefühllos. Sie, Evie, wusste es besser. Unter seiner harten Schale glühte ein Feuer, das ihr Angst machte, weil es sie innerlich verzehren konnte.

Besorgt sah sie zu, wie Virgil auf den Anleger humpelte, während Robert mit dem Boot längsseits anlegte. Er streckte seine starke Hand aus, und der alte Mann ergriff sie und stieg vorsichtig ein. Ein breites Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sich setzte. Robert reichte ihm eine Schwimmweste, und Virgil zog sie gehorsam an, obwohl er wahrscheinlich sein Leben lang keine getragen hatte.

Unendliche Zärtlichkeit durchströmte Evie bei dieser Szene, in die sich gleich darauf heftiger Schreck mischte. Sie konnte unmöglich so viel für Robert empfinden – noch nicht. Dafür musste sie den Mann erst besser kennenlernen. Sie war fasziniert von ihm, das war alles. Und es war verständlich, weil er ihr erster Mann nach zwölf langen, einsamen Jahren war. Mit seinen geschickten Küssen und seinem zielstrebigen Werben hatte er die Leidenschaft in ihr erneut geweckt.

Nie hatte sie sich so zu einem Mann hingezogen gefühlt.

Matt und sie waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten dieselbe Schule besucht und gemeinsam den Abschluss gemacht. Ihre Liebe war langsam und stetig gewachsen und hatte gleichmäßig wie eine Kerze gebrannt. Robert … Robert war dagegen wie ein Flammenmeer. Sie, Evie, konnte leicht in seiner Hitze zu Asche verglühen.

Robert und Virgil waren schon über eine Stunde fort, da schlenderte Landon Mercer herein. „Hallo, Baby“, sagte er. „Wie geht es der hübschesten Frau in diesem Teil des Staates?“

Evie sah ihn ungerührt an. Leider war im Moment nicht viel los, deshalb war sie allein. Eigentlich war es ihr lieber, wenn andere Kunden in der Nähe waren, sobald Mercer bei ihr auftauchte. Andererseits konnte sie ihm heute wieder heimlich folgen. „Guten Tag, Mr. Mercer.“

„Landon“, verbesserte er sie, wie stets. Lässig lehnte er sich an den Tresen, um seinen durchtrainierten Körper zu betonen. Der Mann sieht gut aus, musste Evie zugeben. Trotzdem ließ er sie kalt.

„Möchten Sie ein Boot?“, fragte sie und drehte sich zu dem Schlüsselbrett, als wollte sie feststellen, was frei war. In Wirklichkeit wusste sie es auswendig.

„Natürlich. Ich war schon eine ganze Weile nicht mehr angeln. Deshalb habe ich beschlossen, heute Nachmittag die Arbeit zu schwänzen.“ Er lachte über den eigenen Witz.

Evie lächelte höflich. Mercer hatte dieselbe Ausrüstung dabei wie gewöhnlich.

„Möchten Sie ein bestimmtes Boot?“

„Nein, jedes ist mir recht.“ Er beugte sich vor. „Gehen Sie mit mir essen, wenn ich zurück bin? Nicht hier, sondern irgendwo außerhalb, wo es nett ist? Vielleicht in Birmingham?“

„Tut mir leid, heute Abend habe ich zu tun“, antwortete Evie in einem Ton, der deutlich machte, dass sie kein Interesse an Mercers Einladung hatte. Leider bemerkte er es nicht.

„Dann morgen. Morgen ist Sonnabend. Wir könnten sogar nach Atlanta fahren und uns richtig amüsieren, da wir am nächsten Tag nicht zu arbeiten brauchen.“

„Die Marina ist sieben Tage in der Woche geöffnet.“

„Oh. Nun, dann fahren wir eben nach Birmingham.“

„Nein, danke, Mr. Mercer. Morgen geht es auch nicht.“

„Aber Evie, so beschäftigt können Sie doch nicht sein.“

Evie reichte es allmählich. „Ich bin morgen Abend bereits verabredet.“

„Jetzt werde ich eifersüchtig. Wer ist der glückliche Kerl?“

„Sie kennen ihn nicht.“ Sie nahm einen Zündschlüssel vom Haken und schob ihn über den Tresen. „Hier, die Nummer fünf. Das Boot liegt ganz am Ende.“

Mercer zog seine Brieftasche hervor und reichte ihr zwei Zwanzigdollarscheine. „Ich bringe es in zwei Stunden zurück.“

„In Ordnung.“ Evie lächelte gequält. „Viel Spaß. Ich hoffe, Sie fangen eine Menge.“

„Das ist mir noch nie gelungen. Aber der Spaß ist die Mühe wert“, erklärte er und verließ das Büro.

Evie legte das Geld in die Kasse und sah zu, wie Mercer den Steg hinabeilte. Er blickte sich aufmerksam um und beobachtete den Parkplatz sowie den Verkehr auf der Straße.

Rasch rief sie Burt an, der in der Werkstatt arbeitete. „Ich muss kurz weg und schließe das Büro ab“, verkündete sie. „Behalten Sie bitte die Tanksäulen im Auge.“

„Selbstverständlich“, antwortete er, ohne weitere Fragen zu stellen. Burt Mardis war kein bisschen neugierig.

Mercer war schon hinter den Wellenbrechern, bevor Evie ihr Boot erreichte. Sie hörte seinen Motor aufheulen. Zu ihrem Bedauern durfte sie ihm nicht mit voller Kraft folgen. Die starken Wellen hätten die Boote an den Liegeplätzen ins Schwanken gebracht und vielleicht sogar beschädigt. Erst als sie an den Wellenbrechern vorüber war, schob sie den Schalthebel nach vorn, und der Bug hob sich aus dem Wasser. Gleich darauf lag der Rumpf wieder flach, und das Boot schoss davon.

Evie suchte das Wasser nach Mercer ab. Leider war er so weit weg, dass sie ihn nicht mehr erkennen konnte. Drei Schnellboote fuhren vor ihr her, kleine Flecken, die hüpften, während sie die Wellen zerteilten. Welches war Mercers?

Die Sonne stand noch ziemlich hoch am Himmel und verwandelte den See in einen blendenden Spiegel. Die heiße Luft schlug Evie entgegen und zerrte an ihrem Haar. Der Geruch des Wassers stieg ihr in die Nase und erfüllte sie mit freudiger Erregung. Diese Seite ihres Lebens liebte sie: den Wind im Gesicht, die Geschwindigkeit, das Gefühl, wenn das Boot über das Wasser schoss und über die Wellen sprang.

Plötzlich verlangsamte eines der Boote seine Fahrt und fuhr zu einem fremden Anleger zurück. Evie erkannte, dass zwei Leute an Bord waren. Damit schied es aus.

Blieben die beiden anderen. Langsam holte sie das erste Boot ein, während das zweite sich immer weiter entfernte. Vorsichtshalber ließ sie sich zurückfallen und behielt so viel Abstand, dass er sie nicht erkennen konnte.

Wie beim letzten Mal fuhr Mercer auf die zahlreichen kleinen Inseln zu, die sich aus dem See erhoben. Zu nahe durfte Evie nicht herankommen, denn sobald er den Motor zurückschaltete, konnte er sie hören.

Er verringerte die Geschwindigkeit und steuerte zwischen zwei Inseln hindurch. Evie folgte ihm. Er näherte sich der rechten Insel, und sie lenkte in die entgegengesetzte Richtung.

Ein Schleppkahn kam flussabwärts. Er war schwer beladen und lag tief im Wasser. Wenn sie das Schiff zwischen sich und Mercer passieren ließ, würde sie ihn verlieren. Fuhr sie dagegen vor dem Kahn vorüber, kam sie Mercer wesentlich näher, als ihr lieb sein konnte.

Evie hatte keine Wahl. Sie schob ihren langen Zopf, an dem sie am leichtesten zu erkennen war, unter das T-Shirt und überquerte den Fluss unmittelbar vor dem Kahn.