NACHWORT
Wem vertrauen wir? Vertrauen wir unseren Eltern, Lehrern, Freunden?
Was geschieht, wenn dieses Vertrauen missbraucht wird? Wenn das, was wir für die Realität gehalten haben, stückweise zerfällt und hinter jedem Brocken Putz das nackte Entsetzen zum Vorschein kommt?
Was passiert, wenn die, die uns anleiten und führen sollen, ihr wahres Gesicht zeigen? Was passiert, wenn es niemanden gibt, der uns noch glaubt? Was wird dann aus einem Menschen?
Nun, dieser Mensch wird untergehen, verrückt werden, vielleicht Selbstmord begehen. Jahre später in die Tat umsetzen, was er bereits mit dem ersten Schlag, dem ersten aufgezwungenen Kuss beschlossen hat, zu tun, tief drinnen. Als das Begreifen einsetzte.
Dass es niemandem gibt, dem wir wirklich vertrauen können.
Nicht einmal uns selbst.
Und Sie?
Vertrauen Sie dem Erzähler dieser Geschichte? Sind Sie der Meinung, dass er Ihnen die Ereignisse so neutral und wahrheitsgetreu schildert, wie es in der jeweiligen Situation eben möglich ist? Dass Sie sehen, was seine Augen sehen und hören, was seine Ohren hören, nicht mehr und nicht weniger?
Okay. Gut für Sie, denn vermutlich ist dieser Anspruch berechtigt. Festgeschrieben in den unsichtbaren Gesetzen zum Schreiben eines Krimis oder Thrillers. Aber was ist, wenn Sie jetzt ihren Hemdsärmel nach oben ziehen, sich Ihren Unterarm besehen und dann etwas finden, das jemand mit einem Permanentmarker draufgeschrieben hat, oder mit einem Kugelschreiber, vielleicht auch eingeritzt in die weiche Haut, damit die Narben Sie auf ewig an diese Botschaft erinnern? Was ist, wenn dieser kurze Satz in Ihrer eigenen Handschrift geschrieben ist?
Wie wäre es zum Beispiel mit folgendem Satz:
Vertrauen Sie niemals einem Autor!
Das wäre gut, oder? Betont er doch das allzu Offensichtliche. Wie könnten Sie auch einem Menschen vertrauen, der sein tägliches Brot damit verdient, Ihnen perfide Lügenkonstrukte aufzutischen? Jemandem, der Jahre und Jahrzehnte damit verbringt, seine Fähigkeit zum Erschaffen immer gewaltigerer Lügen zu verfeinern, sie zu polieren, bis Sie ihm alles glauben, so fantastisch es auch erscheinen mag. Aber hier ist eine Wahrheit: auch Lügen haben ihre Grenzen. Wenn man eine gute erzählen will, sollte sie immer ein Fünkchen Wahrheit enthalten, nur so funktioniert das Ganze. Denken Sie mal dran, wenn Sie Ihren nächsten Thriller lesen, wenn Sie voll Wonne in all dem zusammengelogenen Blut und Gemetzel schwelgen, das Ihnen einen angenehmen Schauer über den Rücken jagt.
Weil Sie vielleicht glauben, dass all diese Grausamkeiten nur irgendwelchen erfundenen Romanfiguren geschehen. Aber Ihnen doch nicht, schließlich lesen Sie ja nur ein Buch!
Das glauben Sie, und dann holen Sie sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Was aber, wenn der Lichtschalter nicht funktioniert, den Sie in der Küche anknipsen wollen? Was, wenn Sie feststellen, dass das Fenster offensteht, das Sie doch ganz bestimmt verschlossen hatten? Was, wenn Sie plötzlich ein Geräusch hinter sich hören und herumfahren, und …
Wem glauben Sie dann?
Wem glauben Sie?
Es grüßt Sie,
Andreas Herzog
Justizvollzugsanstalt Stadelheim