30. DEZEMBER

  1. Es ist Winter, bemerkt Herzog. Das erste Mal, dass Tommy Schnee sieht. Der letzte Winter, bevor Tommy für immer in den Rollstuhl muss. Ein guter Winter.

  2. »Papa, ’nee!«

  3. »Ja, Tommy, das ist Schnee. Ganz viele, kleine, weiche Flocken, siehst du? Gefrorenes Wasser.«

  4. Tommy schaut ihn aus weit aufgerissenen Augen an, dann hat er nur noch Augen für die weiße Pracht. Vorsichtig geht er in die Knie, tippt den Schnee an und greift sich dann eine Handvoll, ganz vorsichtig, als sei das weiße Häufchen ein kleines, flauschiges Tier. Dann streckt er vorsichtig die Zunge heraus und leckt daran. Tommy trägt eine knallrote Wollmütze mit einer weißen Bommel. Damit er nicht verloren geht, hat Sabine gesagt. Aber das würde er nicht. Herzog würde Tommy niemals verloren gehen lassen. Liebevoll streicht er über den rotbemützten Kopf seines Sohnes, aber der scheint ihn gar nicht zu bemerken. Fasziniert tappt er durch die schneebedeckten Weiten. Der Schnee bringt ihnen die Stille und vielleicht ein bisschen Frieden und manchmal hat Herzog das Gefühl, dass er auch die Macht hat, die Zeit langsamer vergehen zu lassen. Wenn er das doch nur könnte. Herzog bemerkt, dass er lächelt. Auch das scheint der Schnee bewirkt zu haben.

  5. Tommy hat seine Hand ergriffen und zieht ihn jetzt auf den Spielplatz zu. Der ist so gut wie verlassen, verwaist steht das Klettergerüst, der mit Brettern abgedeckte Sandkasten, das kleine Karussell. Tommy dreht sich um und sieht zu Herzog hoch. Will etwas sagen, doch in diesem Moment trifft ihn etwas im Gesicht. Der Kopf des Jungen fliegt zur Seite, und Herzog packt Tommy schockiert an der Kapuze seiner Jacke. Dann stellt er sich schützend vor seinen Sohn, sieht sich hektisch um. Entdeckt den Schützen. Ein kleiner Junge, der hinter einem Baum hervorlugt.

  6. »Scheiße, verdammt!«, schimpft Herzog, »Was fällt dir denn bloß ein? Wenn ich dich erwische!«

  7. Der Junge schaut ihn aus großen Augen an. Und dann lächelt er, schüchtern. Aber nicht in seine Richtung, sondern Herzogs Blick folgt dem des Jungen und er begegnet Tommy, der hinter seinen Beinen hervorlugt, Schnee im knallrot angelaufenen Gesicht. Hervorlugt, wie der Junge hinter seinem Baum. Und die beiden grinsen sich an. Und ehe Herzog noch so recht kapiert, was los ist, hat sich Tommy schon gebückt und einen Schneeball geformt. Ein krudes Ding, eher ein Schneehaufen als ein wirklicher Ball, aber er wirft ihn mit aller Kraft. Er geht mindestens zwei Meter an dem Jungen vorbei, der sich dennoch schnell hinter seinen Baum verzieht.

  8. Von unten hört Herzog ein vergnügtes Quietschen und dann ist Tommy auf und davon und rennt dem anderen Jungen hinterher, in seinem seltsamen Watschelgang, auf dünnen, schwachen Beinen. Aber so schnell er kann.

  9. Herzog setzt sich kopfschüttelnd auf eine der Bänke. Vermutlich wird er sich davon einen unterkühlten, nassen Hintern holen und eine kräftige Erkältung, aber das ist ihm egal. Er steckt sich eine Zigarette an und sieht den beiden Jungs zu, die durch den Schnee tollen. Einfach so, ohne dass sie einander vorgestellt worden wären. Ohne dass jemand höflich klingende Fragen zu Tommys Krankheit hätte beantworten müssen. Und ohne geheucheltes Mitleid. Die Schneeballschlacht ist so gnadenlos wie die Liebe, denkt Herzog lächelnd. Mindestens.

  10. Nach einer Weile verlieren die Jungs scheinbar das Interesse daran, zu versuchen, sich gegenseitig mit Schneebällen zu erwischen. Stattdessen zeigt der fremde Junge Tommy, wie man eine kleine Kugel im Schnee rollen muss, damit eine große draus wird. Tommy quietscht vor Begeisterung und macht es dem anderen Jungen nach, bis sie nach einer Weile tatsächlich drei einigermaßen ansehnliche Kugeln zusammenhaben. Ein Schneemann, denkt Herzog und ist sofort Feuer und Flamme, während er ungläubig dabei zusieht, wie sein Sohn mit einem anderen Kind spielt. Einfach so, als wäre er ganz normal. Ein kleines Wunder. Mindestens so wundersam wie der Schnee, den manche Unwissende nur für einen Haufen Schneekristalle halten mögen.

  11. Herzog zieht ein Taschenbuch hervor und beginnt zu lesen. Ein paar Minuten später verfolgt er gebannt, wie sich Holden Caulfield eine blutige Nase holt, während die vergnügten Geräusche der Jungs zu so einer Art Hintergrundgeräusch verblassen. Hin und wieder markiert er mit dem Daumen einen Absatz und wirft einen Blick auf die beiden in ihr Spiel vertieften Kinder. Dann ist er wieder ganz bei Meister Salinger. Holden hat gerade ins Edmont Hotel eingecheckt, als Herzog ein Schneeball am Kopf trifft. Das Geschoss streift ihn zwar nur, aber es genügt, dass ein mittelschwerer Schneeregen auf die Buchseiten niedergeht. Mit gespieltem Unmut sieht Herzog auf und begegnet Tommys Blick. Dem Jungen läuft ein breiter Streifen Rotz aus der Nase, und ohne es zu merken, leckt er mit der Zungenspitze daran herum, während er seine schneeverklebten Handschuhe in die Höhe reckt, wie um zu sagen: »Ich war es nicht.« Oder aber auch: »Juhu! Ich hab dich getroffen, Papa.«

  12. Herzog lächelt ihn an, trotz des unpassenden Schneefalls im »Fänger im Roggen«.

  13. Dann deutet Tommy auf den Schneemann, und Herzog steht auf und geht hin, um das Kunstwerk zu betrachten. Gemeinsam haben die Jungen die drei Schneekugeln aufeinander getürmt, sodass sie nun fast doppelt so hoch sind wie die beiden, wie immer sie das angestellt haben mögen. Tommy reicht Herzog einen kleinen Zweig.

  14. »’Ase!«, fordert er und Herzog kommt der ehrenvollen Aufgabe gern nach. Unter dem kritischen Blick zweier Augenpaare steckt er das Stöckchen in die Mitte der obersten weißen Kugel, dorthin, wo er das Gesicht des Schneemanns vermutet. Die Kinder klatschen begeistert in die Hände, und in dem Moment hört Herzog eine Stimme von jenseits des Gartenzauns, der den Spielplatz auf drei Seiten umschließt.

  15. »Greeegooor!«, ruft die Stimme, und in Herzogs Erinnerung kommt sie ihm sofort unheimlich nervtötend und unsympathisch vor. Die Stimme einer jungen Frau, offenbar die Mutter des anderen Jungen. Und in dieser Stimme schwingt noch etwas mit. Angst, oder so etwas Ähnliches.

  16. »Komm da weg!«, fordert die übereifrige Mutter. »Komm sofort ins Haus, Gregor. Auf der Stelle!«

  17. Aber der andere Junge bewegt sich kein Stück. Er streckt Tommy die Hand hin, und zögernd hebt dieser seine Rechte. Aber sie erreicht nie die Hand des anderen Jungen, denn die Mutter hat inzwischen den Ort des Geschehens erreicht. Herzog kann sich nicht an ihr Gesicht erinnern, er weiß nur, dass er es nicht leiden kann, wie ihre Stimme.

  18. »Komm da weg!«, wiederholt sie und ergreift ruppig die ausgestreckte Hand des Jungen, dann zerrt sie ihn weg wie einen Gegenstand. Herzog scheint sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, aber sie wirft Tommy einen giftigen Blick zu. Einen langen Blick, voller Abscheu. Nein, das trifft es nicht ganz. Ekel ist das, was in ihrem Blick liegt. Ekel vor dem Jungen mit den seltsam schräg stehenden Augen, den plumpen Gesichtszügen und dem holprigen Gang.Während sie ihren Sohn in die Sicherheit jenseits des Gartenzauns zerrt, glaubt Herzog etwas zu hören, das nach »… ins Heim stecken!« klingt, und dann spürt er, wie die Wut in ihm hochschwappt wie kochender Teer, sich über seine Seele ergießt und seine Erinnerung und seinen Traum.

  19. Als er erwacht, hat er den Traum vergessen.

  20. Aber die Wut, der Teer, der sein Herz verklebt, ist noch da.

* * *

Das erste, das Herzog bemerkte, als er aufwachte, war die Tatsache, dass er einen mordsmäßigen Brummschädel hatte. Aber das war nicht wirklich ein Problem, denn es war zumindest ein vertrautes Gefühl. Das zweite, was er bemerkte, war höllischer Durst. Auch das war ihm nicht neu. Aber dieser Durst war von der Sorte, die ein Glas Wasser nicht stillen würde. Eher ein ganzes Fass, für den Anfang. Er öffnete die Augen und bemerkte, dass es bereits hell war. Wie lange hatte er geschlafen? Zu lange, für die drei läppischen Flaschen Wein, die er gestern Abend gehabt hatte. Allein, mal wieder, denn dieses Mädchen, Lina, schien den Alkohol zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Seltsam.

Er wollte aufstehen, vielmehr: sich träge aus dem Bett schälen, um die Küche anzusteuern. Aber er spürte seine Arme nicht mehr, und seine Beine wollten ihm ebenfalls nicht gehorchen. Das hieß, sie wollten schon. Sie konnten es nur nicht. Konnten sich nicht bewegen, so sehr er die Muskeln seiner Oberschenkel auch anspannte. Konnten es nicht, weil

»Scheiße!«, war der Ausruf, mit dem der erfolgreiche Autor diesen neuen Morgen begrüßte. Nicht sonderlich poetisch, zugegeben. »Was ist warum?«

Dann begriff er es.

Er konnte sich nicht bewegen, weil jemand seine Handgelenke über seinem Kopf ans Bettgestell gefesselt hatte. Auch seine Fußgelenke waren festgebunden. Weitere Seile waren um seine Körpermitte geschlungen und fesselten ihn sprichwörtlich ans Bett.

Dann schlug die Panik über ihm zusammen wie eine Flutwelle. Mit der Panik dämmerte ein totales, allumfassendes Unverständnis für die Situation herauf, in der er sich befand.

»Es tut mir leid«, sagte Lina von einer Ecke des Raumes hinter ihm, und dann: »Ich habe wirklich lange darüber nachgedacht und mich dann entschieden, dass es so das Beste ist. Für uns beide. Zumindest, bis ich in Sicherheit bin. Ich hoffe wirklich, Sie können das verstehen.«

»Lina, was zur Hölle soll das?«

Der Anflug eines Katers war komplett verschwunden, der Durst spielte plötzlich keine Rolle mehr. Aber die Kopfschmerzen waren heftiger als zuvor. Jetzt hämmerten sie in seinen Schläfen, gleichmäßig und kräftig im Rhythmus seines Herzens wie die Pendel von Bohrtürmen.

Buum, buum, buumm

Ihr Gesicht tauchte vor ihm auf. Schöne, dunkle, rätselhafte Augen in einem eine Winzigkeit zu blassen Gesicht.

»Was ist das Beste?«, verlangte Herzog zu wissen, »worüber musst du dir sicher sein? Lina, mein Gott, was ist denn bloß in dich gefahren?«

Lina ging nicht auf seine Fragen ein. Herzog hörte, wie sie sich auf einen Stuhl neben seinem Bett setzte. Dabei ächzte sie wie eine alte Frau.

»Ich habe gestern Abend Schlafsterne gefunden. In dem Medizinschränkchen. Das Sie zerschlagen haben, erinnern Sie sich?«

»Ja«, sagte Herzog. Worauf wollte sie hinaus?

»Und ich dachte, es ist besser, wenn ich sie Ihnen in den Wein tue, als dass Sie sie mir in den Kaffee untermischen. Ich musste einfach sichergehen, dass Sie nicht aufwachen, während ich … na ja, während ich Sie am Bett festmache.«

»Festmachen. Das hast du nett ausgedrückt, Lina. Aber verrätst du mir auch, wieso ich Schlafmittel in deinen Kaffee tun sollte?«

»Nicht Sie«, sagte Lina leise. »Der Andere.«

»Der Andere? Lina, ich beginne mir allmählich Sorgen zu machen, und zwar um dich. Was ziemlich unpassend ist für einen Mann, den du gerade unter Drogen gesetzt und gefesselt hast, findest du nicht?«

»Das tut mir leid, wie gesagt. Also gut, am besten ist es wohl, wenn ich Ihnen jetzt von der SMS erzähle.«

»Aber unbedingt«, bestätigte Herzog. »Ich bitte darum. Welche SMS denn bloß?«

»Gestern, als Sie bei der zweiten oder dritten Flasche Wein waren, habe ich eine SMS bekommen. Von einem Psychologen. Angeblich arbeitet er für die Polizei.«

»Ach was. Und das sagst du mir jetzt?«

»Ja. Ich brauchte Zeit, um mir zu überlegen, was ich tue.«

»Okay. Wie auch immer. Was stand also in dieser SMS?«

»Wissen Sie, was eine Dissoziative Persönlichkeitsstörung ist, Herr Herzog?«

»Zufällig ja. Ich schrieb darüber in einigen meiner Bücher. Wie du sehr wohl weißt. Gestern hast du zumindest noch behauptet, du wärst ein Fan meiner Bücher. Bloß, dass ich mir allmählich vorkomme wie Paul Sheldon in Misery.«

Darüber musste Lina kichern, unbegreiflicherweise. Dann wurde sie übergangslos wieder ernst.

»Ja, ich habe Ihre Bücher gelesen, und ich mag sie, das stimmt. Genau das macht mir ja solche Sorgen. Der Arzt, dieser Psychologe, meinte nämlich, er sei zu der Meinung gelangt, dass Sie unter dieser dieser Krankheit leiden. Dissoziative Persönlichkeitsstörung. Dass Sie nicht Sie selbst waren, als sie diese Frauen oh, Mann, das ist hart als Sie sie umgebracht haben.«

»Ich habe niemanden umgebracht, Lina.«

»Ja, ich weiß. Genau darum ging es ja. Das meinte ich mit Der Andere, eine Persönlichkeit, die in Ihnen lebt. Wenn sie zum Vorschein kommt, dann tötet sie, und Sie können sich nachher an nichts erinnern.«

»Mein Gott, Lina, das ist der größte Blödsinn, den ich den ich seit einer ganzen Weile gehört habe, und ich habe eine Menge Blödsinn in letzter Zeit gehört. Aber das ist der Zuckerguss bisher, wirklich! Ich würde doch wohl wissen, wenn ich DIS hätte! Ich kenne die Symptome, schon vergessen? Ich wache gewöhnlich nicht an seltsamen Orten auf und weiß nicht mehr, wie ich dahin gekommen bin. Ich finde auch keine Blutspritzer an meinen Klamotten und …« Herzog verstummte.

»Bis vor drei Tagen«, sagte Lina. »Seit dem vierundzwanzigsten hatten Sie jede Menge Filmrisse und auch so einiges Blut an Ihren Klamotten.« Mit jedem Wort sprach sie jetzt lauter, und am Ende schrie sie fast. »Ich habs doch selbst gesehen, als Sie eingeliefert wurden!« Ihre tränenerstickte Stimme brach ab.

»Das war etwas anderes, Lina. Ich schwöre, dass ich niemals vorher einen Filmriss hatte, zumindest keinen, der nicht von einer durchzechten Nacht gestammt hätte. Herrgott, ich könnte niemanden umbringen, ich brächte das doch überhaupt nicht fertig! Schon gar nicht Sabine und und dieses Mädchen. Ich bin nur ein Schriftsteller, verdammt!«

»Ja. Aber in Ihren Büchern bringen Sie ständig irgendwelche Leute um, und da sind Sie nicht gerade zimperlich. In Das Schattengericht zum Beispiel beschreiben Sie bis ins kleinste Detail, wie …«

»Herrgott, Lina, das sind Bücher, okay? Ich muss so etwas schreiben, wenn ich meine Thriller verkaufen will! Zum Großteil stammen diese Szenen aus irgendwelchen Gerichtsakten und Polizeiberichten, oder aus Fernsehserien oder ja, auch aus den Büchern anderer Autoren. Das habe ich dir doch schon erklärt. Das ist für mich ein intellektuelles Gedankenspiel, ein Puzzle, wenn du so willst. Aber ich würde niemals, hörst du zu, Lina?, ich würde niemals losgehen und einem anderen Menschen so etwas antun. Das musst du mir glauben.«

Lina schwieg lange, und auch Herzog war vorerst die Puste ausgegangen. »Ich habe meine eigenen Erfahrungen mit Geisteskranken, wissen Sie?«, sagte sie leise.

»Das tut mir leid, Lina.«

»Muss es nicht. Ist ja nicht Ihre Schuld. Mein Stiefvater, also, er konnte der liebste Mensch auf der Welt sein. Meistens. Einmal hat er mir sogar ein Schaukelpferd gebaut, so ein richtig großes, mit Zaumzeug und allem. Er hat es sogar angemalt, stellen Sie sich vor. Es war ein Schimmel, denn das war immer mein Lieblingspferd. Ich hatte mir so gewünscht, ein eigenes Pferd zu haben. Sie wissen doch, wie kleine Mädchen sind, wenn sie im Pferdealter sind?«

»Schon«, sagte Herzog vorsichtig.

»Aber das war nicht alles. Manchmal ist mein Stiefvater auch nachts zu mir gekommen. In mein Bett, verstehen Sie?«

»Ach du Scheiße.«

»Das erste Mal, als ich zehn war oder so. Er hat sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten aufgehalten, wie das die meisten machen, wenn sie sich an Kindern vergehen. Ich hab das na ja, ich habs recherchiert. Ein Streicheln hier, ein Küsschen da, das eine Winzigkeit zu lang und zu fest auf den Mund gedrückt wird. So fängt es an.«

»Lina …«

»Nicht so mein Stiefvater, oh nein, der kam gleich zur Sache. Der mochte die harte Tour, von Anfang an. Hat mir einen meiner Hausschuhe in den Mund gestopft, damit ich nicht schreien konnte. Und er hat gesagt, wenn ich die Augen aufmache und ihn ansehe, bringt er mich um. Aber ich habe überhaupt nicht geschrien, und die Augen hätte ich bestimmt nicht aufgemacht, selbst, wenn er es mir erlaubt hätte. Ich war einfach woanders, wenn er das mit mir gemacht hat. Habe mich einfach weggebeamt und überhaupt nichts von all dem mitbekommen. Könnte Ihnen heute nicht mal sagen, was genau er mit mir angestellt hat. Das hab ich selbst meist erst am nächsten Morgen herausgefunden.«

Herzog konnte deutlich hören, dass sie weinte. Sie sprach aber einfach weiter, durch ihr Schluchzen hindurch, als ob sie es selbst gar nicht mitbekäme.

»Am nächsten Tag konnte ich vor Schmerzen kaum aufstehen, und meine Mutter hat mich ausgeschimpft. So sehr, dass ich mich geschämt habe, ihr davon zu erzählen, was in der vergangenen Nacht passiert war. Ich habe mein blutiges Nachthemd versteckt und es auf dem Weg zur Schule heimlich weggeworfen. Als ich wieder nach Hause kam, war mein Stiefvater ganz der Alte. Ein vollkommen liebenswürdiger Kerl, der wollte, dass ich auf seinem Knie reite und ihm von der Schule erzähle. Der meine Hausaufgaben abgefragt hat und immer nachsichtig war, wenn ich mal einen Fehler machte. Das ging wochenlang so, manchmal Monate. Bis er eines Nachts wieder in meinem Zimmer stand. Aber irgendwann begriff ich: Das war nur der Körper meines Vaters, aber etwas anderes hatte von ihm Besitz ergriffen, so was wie sein böser Zwilling. Also habe auch ich einen Zwilling erschaffen. Ein Mädchen, das all diese Qualen ertragen konnte. Ein starkes Mädchen. Immer, wenn er kam, habe ich dieses Mädchen in meinem Körper zurückgelassen und bin selbst ich weiß nicht, an einen anderen Ort gegangen, einen freundlicheren. Einen, wo er nichts war als mein zweiter Papa, der mich lieb hatte und mir Schaukelpferde baute. Ich war dort, wo die Einhörner grasen, verstehen Sie? Wo die Einhörner grasen …«

»Aber deine Mutter«, sagte Herzog. Er spürte, dass er selbst den Tränen nahe war. »Sie muss doch sie muss es doch gemerkt haben.«

»Nein. Hat sie nicht, auch nicht, als es schlimmer wurde. Oder sie hat es nicht merken wollen. Ich schätze, sie hatte ihre eigene Wiese voller Einhörner. Und ihre Pillen und den Schnaps.«

»Was meinst du mit Als es schlimmer wurde?«

Wortlos zog Lina das schwarze Sweatshirt hoch und drehte Herzog den Rücken zu. Herzog hatte mehr von den Tätowierungen erwartet, aber stattdessen fand er eine gänzlich andere Art grotesken Körperschmucks vor. Linas Rücken war eine einzige Kraterlandschaft aus Narben. Langen, ausgefransten, an denen sich glänzendes, neues Fleisch in Zickzackspuren gebildet hatte. Und runde, ungefähr so groß wie ein kleines Geldstück.

»Sind das Verbrennungen?«, fragte er vorsichtig.

»Brandnarben, ja. Von Zigarren. Tropenschatz, die rauchte er gern. Manchmal brauchte er dann eben einen Aschenbecher, um sie auszudrücken.«

»Gott! Lina, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist entsetzlich.«

»Ich glaube, jetzt verstehen Sie, warum ich wieso ich mir die Nacht mit der Frage um die Ohren geschlagen habe, ob ich Ihnen von der SMS erzählen soll oder lieber nicht. Und wieso ich sicherstellen muss, dass Sie mir nicht das Gleiche antun wie mein Stiefvater damals. Oder weitaus Schlimmeres.«

»Lina, du weißt, dass ich so was niemals tun würde!«

»Weiß ich das?«

Herzog überlegte. Lange. Dann sagte er: »Das hängt wohl davon ab, wem du eher geneigt bist, zu glauben, oder? Mir oder diesem Kerl, der dir die SMS geschickt hat.«

»Er hat die SMS nicht an mich geschickt. Sie begann mit Lieber Herr Herzog, ich hoffe, Sie lesen das’.«

»Lieber Herr Herzog?«

»Ja. Vermutlich ging er davon aus, dass Sie inzwischen im Besitz des Handys sind. Er hoffte, dass es so sei und bat Sie inständig darum, dass Sie mir nichts antun. Erzählte, dass man Ihnen helfen würde. Dass er Ihnen helfen würde, weil er Ihre Situation verstünde. Daher nahm ich an, dass er Psychologe oder so was sein muss.«

»Hatte dieser Psychologe denn auch einen Namen?«

»Ja, er nannte sich Dr. Steinlein.«

»Steinlein?«, schnappte Herzog.

»Sie kennen ihn?«

»Ja, ich …« Herzog dachte nach. »Ich habe ihn mal konsultiert wegen eines Buches. Er ist ein ziemlich gefragter Polizeipsychologe. Hat sich auf Serientäter konzentriert, die richtig harten Fälle. Manchmal erstellt er Profile der Täter und sagt als Sachverständiger aus.«

»So eine Art Profiler?«

Herzog lachte humorlos auf. »Nein. So etwas gibt es gar nicht. Ist eine Erfindung von Krimiautoren und dem Fernsehen. Kein seriöser Psychologe würde rein anhand eines Tatorts ein psychologisches Profil des Täters erstellen. Aber wenn es so einen Job gäbe, wäre er wohl recht spannend, daher laufen diese Serien ja auch so gut. Und Steinlein wäre dann wohl so etwas wie der Guru seiner Zunft.«

»Wie es aussieht«, sagte Lina zögernd, »gehören Sie jetzt zu den schweren Fällen. Zumindest sind Sie verdächtig. Aber das bedeutet, dass die SMS wahrscheinlich echt ist.«

»Wahrscheinlich ja, Lina.«

»Und was machen wir nun?«

»Ich schätze, das liegt an dir, oder? Es ist schließlich dein Handy, und ich bin momentan auch nicht gerade in der Verfassung, Wünsche zu äußern, oder?«

»Nein, sind Sie wohl nicht.« Lina sah ihm lange in die Augen. Ihr Blick war traurig und müde. Herzog konnte deutlich die Spuren der getrockneten Tränen auf ihren Wangen sehen.

Lina hob das Handy mit spitzen Fingern vom Tisch auf. Dann klappte sie es auf. Langsam und bedächtig, als habe es sich in ein rohes Ei verwandelt. Sie suchte die Nummer im Telefonverzeichnis, wählte sie aus und drückte dann den kleinen Knopf mit dem grünen Telefonhörersymbol. Es tutete in der Leitung, einmal. Zweimal.

Dann knackte es und eine männliche Stimme meldete sich. Die Stimme sagte: »Steinlein, wer ist da?«

* * *

»Hier hier ist Lina Bittner«, sagte die Stimme des Mädchens am anderen Ende. Steinlein grinste. Sie lebte. Sie hatte seine SMS bekommen. Sie rief ihn an. Nur das zählte jetzt.

»Ich freue mich sehr, dass Sie anrufen, Lina. Geht es Ihnen gut?«

»Ja.«

»Ist Herr Herzog bei Ihnen.«

»Ja.«

»Kann ich ihn sprechen, bitte?«

»Nein.«

»Nein? Wieso nicht, Lina? Hat er Ihnen diesbezüglich Anweisungen gegeben? Hört er mit? Das ist auf jeden Fall in Ordnung. Es ist kein Problem, ja? Bitte sagen Sie ihm das. Ich möchte nur kurz mit ihm sprechen.«

»Hören Sie zu«, sagte das Mädchen. Plötzlich war ihre Stimme ungewohnt hart. Kurz angebunden. Vielleicht, dachte der Psychologe, glaubt sie, es ist eine Fangschaltung. Oder vielmehr Herzog. Natürlich vermutet er, dass wir das Telefonat zurückverfolgen. Schließlich schreibt der Mann Krimis.

»Ich höre zu«, sagte Steinlein mit ruhiger Stimme.

»Andreas Herzog ist unschuldig. Davon bin ich überzeugt.«

»Was bringt Sie zu der Einsicht, Lina?«, fragte Steinlein, bewusst im Plauderton. So, als unterhielten sie sich über die Vorzüge von Pay-per-view-TV gegenüber dem Kabelkanal.

»Die Morde. Sie geschehen nach dem Vorbild von Herzogs Büchern.«

»Ja, Lina«, sagte der Psychologe. Sie war gut, wenn sie das allein herausgefunden hatte. »Dieser Ansicht bin ich auch.«

»Aber das heißt nicht, dass er sie auch begangen haben muss. Sein Buch haben Tausende von Menschen gelesen. Das E-Book vermutlich schon Millionen mittlerweile.«

»Auch da stimme ich Ihnen zu, Lina. Ich schrieb Ihnen ja bereits, dass ich bei Herrn Herzog eine schwerwiegende Krankheit vermute. Wenn sich diese Annahme als korrekt erweist, ist er auf keinen Fall schuldfähig.«

»Er war es nicht«, wiederholte Lina, »und er ist nicht krank.«

»Mag sein, Lina. Sie müssen aber auch verstehen, dass es außer Herrn Herzog nur einen recht eingeschränkten Personenkreis von Menschen gibt, die das Buch vor seinem Erscheinen gelesen haben und daher Zeit gehabt hätten, all das …«

»Er war es nicht«, beharrte Lina. Ihre Stimme klang trotzig, ein wenig nur, aber das geübte Ohr des Psychologen nahm diese Nuance trotz der schlechten Verbindung wahr

»Und noch etwas: Er wird mir nichts tun, okay? Ich bin aus freien Stücken bei ihm und er wird mir nichts tun. Ich habe die Situation unter Kontrolle. Haben Sie das verstanden?«

»Ich habe Sie verstanden, Lina. Laut und deutlich.«

»Gut. Dann lassen Sie uns jetzt in Ruhe, okay?«

Damit legte sie auf.

Steinlein starrte auf den Bildschirm seines Telefons. Er würde sie nicht zurückrufen, das war zwecklos. Genauso, wie ihr weitere SMS zu schicken. Gut möglich, dass Herzog sie zu dieser kleinen Verteidigungsansprache gezwungen hatte. Neben ihr stand und sie mit einer Waffe bedrohte. Aber eigentlich glaubte Steinlein das nicht.

Wenn Herzog wirklich hinter diesem Anruf steckte, dann hätte er sich selbst gemeldet. Er hätte eventuell Forderungen gestellt. Handfeste Verhandlungsstandpunkte geschaffen, anstatt erneut seine Unschuld zu beteuern. Das hier war einfach nur kindisch — und es gab nur eine Sorte Erwachsene, die sich derart kindisch benahmen.

Aber das alles war im Moment nicht so wichtig. Sie hatte zurückgerufen, und das war das Entscheidende, und Herzog war ganz ohne Frage in ihrer Nähe, sie hatte es ja selbst gesagt.

Steinlein tätigte einen Anruf. Nachdem er sich dreimal das Hupen des Freizeichens angehört hatte, wurde abgenommen. Steinlein nannte eine neunstellige Identifikationsnummer, seinen Namen und das Geburtsdatum sowie seine derzeitige Adresse.

»Was kann ich für Sie tun, Dr. Steinlein?«, flötete die gelangweilte Stimme der Frau am anderen Ende. Steinlein nannte ihr die Nummer seines Telefons und bat darum, herauszufinden, welchen Sendemast sein letzter Gesprächspartner benutzt hatte. Fünf Sekunden später verfügte er über die gewünschte Auskunft. Er bedankte sich und legte auf.

chelnd klappte Steinlein das Handy zu und vertiefte sich dann wieder in seine Arbeit.

* * *

Herzog verbrachte den Rest des Tages in einer Art Dämmerzustand. Immer wieder döste er weg, wachte auf, rief nach Lina. Die kam und fütterte ihn, flößte ihm Wasser ein. Redete mit ihm. Er aß, trank etwas und schlief wieder ein. Vermutlich mischte sie ihm kleinere Mengen Schlafmittel ins Wasser, aber schließlich musste er etwas trinken. Wenn er ein natürliches Bedürfnis verspürte, gab ihm Lina eine Wasserflasche aus Plastik.

Während er sein Geschäft verrichtete, hielt ihre Hand die Flasche an der richtigen Stelle unter die Bettdecke, und Lina blickte in eine Ecke des Zimmers. Wenn ihre Hand dann wieder auftauchte und sie die halbvolle Flasche mitnahm, lächelte sie ihn entschuldigend an. Es war ihm peinlich gewesen, dass sie ihn so sah. Beim ersten Mal, dann nicht mehr. Schließlich hatte sie ihn — nein, sie beide in diese Situation gebracht. Außerdem war sie Krankenschwester und an so etwas gewöhnt. Vermutlich hatte sie den Großteil ihrer Patienten bereits in Situationen erlebt, die diese im Privatleben als weit peinlicher empfunden hätten. Im Krankenhaus war das natürlich etwas Anderes. Wenn die Krankenschwester einen im wahrsten Sinne des Wortes an ein Bett gefesselt hatte, natürlich auch.

»Würde es helfen, wenn ich dir verspreche, nicht davonzulaufen? Oder über dich herzufallen?«

Sie hatte langsam den Kopf geschüttelt. »Sie müssen das bitte verstehen«, hatte sie gesagt. »Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht vertraue. Das tue ich, sehr sogar. Ich bin überzeugt davon, dass Sie ein guter Mensch sind.«

»Dann lass mich frei.«

»Das werde ich. Sobald ich sicher sein kann. Sicher, dass wirklich nur Sie in diesem attraktiven Körper wohnen.« Sie lächelte. Da war eine Chance, vielleicht.

»Attraktiv? Findest du? Auch, nachdem du meine Hinterlassenschaften durch die Gegend getragen hast?«

»Ja. Und nein, das macht mir nichts aus. Alle Menschen tun das, wenn Sie mal darüber nachdenken. Dinge hinterlassen. Es macht sie nicht mehr oder weniger anziehend.«

»Danke. Schätze ich.«

Sie nickte ihm lächelnd zu. »Haben Sie einen besonderen Wunsch für’s Abendessen?«

»Wie wäre es mit Kein Holzhammer auf meinem Fußgelenk’?«

Sie musste kichern. »Ich denke, das ließe sich einrichten. Und was das Essen betrifft ?«

»Würdest du mich vielleicht gern mit Pizza füttern?«

»Klar. Das ist sogar ein heimlicher Traum von mir.«

Herzog sah ihr nach, wie sie in der Küche verschwand, zumindest soweit es seine Fesseln zuließen. Er konnte sich einfach nicht entscheiden, ob ihre letzte Bemerkung wirklich nur ein Witz gewesen war. Seine Situation war es in jedem Fall. Er, ein hübsches Mädchen, eine einsame Berghütte und Fesselspiele. Vor ein paar Tagen hätte er sich das durchaus als angenehmen Zeitvertreib vorstellen können, nur ganz bestimmt nicht so.

Als sie nach einer Weile mit der Pizza kam, sagte er: »Weißt du, mir ist etwas eingefallen. Zu den Morden aus meinem letzten Buch, meine ich.«

Er rüttelte an den Seilen, um zu zeigen, was er meinte.

»Wenn ich hier liege, dann kann ich auch nicht den Silvestermord begehen. Was bedeutet, dass die Polizei jemand anderen finden und dafür verantwortlich machen muss. Und dieser Kerl ist dann höchstwahrscheinlich auch der Mörder von Sabine und Ann-Marie.«

»Genau«, sagte Lina und hielt ihm ein Stück Pizza vor die Lippen. »Ich bin froh, dass Sie das genauso sehen. Und bis dahin halten wir es schon irgendwie miteinander aus. Ich mache Ihnen die Zeit so angenehm wie möglich.«

»Ist das ein Versprechen?«, fragte Herzog.

»Psst«, machte Lina und schob ihm das Stück Pizza in den Mund. Aber sie lächelte.

Später kam sie, um ihn zu waschen. Sie benutzte einen Waschlappen und einen kleinen Plastikeimer, beides hatte sie in der Küche gefunden. Mit routinierten und durchaus gefühlvollen Bewegungen reinigte sie seinen Körper. Als sie bei seiner Unterhose angekommen war, zögerte sie.

»Darf ich, ich meine ist es für Sie in Ordnung, wenn ich ?«

»Habe ich eine Wahl?«, fragte Herzog. Mit vorsichtigen, beinahe ehrfürchtigen Bewegungen zog Lina Herzogs Unterhose nach unten und begann, ihn sanft mit dem Lappen abzutupfen.

»Oh«, sagte sie, als sie Herzogs Reaktion darauf bemerkte. Seine allzu deutliche Reaktion.

»Nicht meine Schuld«, sagte er und es klang ein bisschen trotzig, wie bei einem Kind, das sich darüber freut, dass es sich von oben bis unten mit Schmutz beschmiert hat, nachdem es die Mutter zum Spielen nach draußen geschickt hat.

Linas geschickte Hände verharrten für einen Moment auf Herzogs flachem Bauch. Dann glitten sie aus dem Waschlappen. Weiter nach unten. Auch dabei waren sie überaus geschickt.

Wortlos zog sie sich ihr Sweatshirt über den Kopf und gewährte Herzog einen Blick auf ihre festen Brüste, deren Nippel sich bereits in freudiger Erwartung himmelwärts reckten. Ihr schwarzes Haar fiel auf ihre blassen Schultern, während sie beinahe verlegen an ihrem Gürtel nestelte. Der Gürtel fiel zu Boden. Dann holte sie das Handy hervor, legte es auf den Nachttisch, öffnete die Knopfleiste ihrer Jenas und ließ die Hose mitsamt ihres Slips nach unten gleiten.

»Du bist schön«, flüsterte Herzog andächtig. Das war sie tatsächlich, dieses gezeichnete, verletzte und vernarbte Mädchen. Schöner als jede mit Photoshop bearbeitete Idealvorstellung, die einem von einem Modemagazin entgegengrinsen mochte. Denn dieses Mädchen war eine echte Schönheit.

»Unglaublich schön«, wiederholte er, und ließ den Blick über die Tätowierungen an ihren Armen gleiten, die sich bis zur rechten Schulter emporzogen. Ein stilisierter Halbmond umfasste Linas linke Brust, und jetzt, da Herzog genauer hinschaute, konnte er auch auf ihren Armen die Wunden entdecken, die diese Tattoos so geschickt zu verbergen suchten, auf ihrem Oberkörper und sogar auf ihren Brüsten. Jetzt sah er das alles ganz deutlich.

Lina schwieg, während sie ihm unverwandt in die Augen schaute. Nicht lächelnd, sondern ernst, und dann, mit feierlicher Andacht, kam sie näher. Herzog stöhnte auf, als Lina sich rittlings auf ihn setzte und zu ihm herunterbeugte, bis sich ihre Lippen berührten.

Als er in sie glitt, keuchte er laut und hatte Mühe, sich nicht sofort in sie zu ergießen. Sie verhinderte das mit geschickten Bewegungen ihres Beckens. Dann begann sie, ihre Hüften kreisen zu lassen, in einem stetigen, allmählich schneller werdenden Rhythmus, und Herzog schloss die Augen. Noch immer gab sie keinen Laut von sich. Ihr weiches Haar kitzelte ihn, als ihre Lippen erneut die seinen suchten und unhörbare Schwüre murmelten, während ihr Atem schwerer wurde. Sie blieben nicht lange leise.

* * *

Auszug aus dem Forum der Andreas-Herzog-Fanpage:

»Herzog ist der Beste. Den kriegen sie nie!« — KILL3RS3PP

»Kein Wunder, dass der durchdreht. Muss man bloß mal lesen, was der so schreibt. Völlig Banane, der Kerl.« — Seven7Seven

»Go, Herzog, go!« — Yournemesiz

»Ihr habt keine Ahnung, ihr Idioten! Ist alles nur ein Werbegag. Werdet ihr schon sehen! Solche Deppen wie ihr fallen einfach auf jeden Scheiß rein ... « — Der_Sucher

»Der Typ ist genauso scheiße wie die Bücher von dem, der ist nen beschissener Irrer! Hoffe, sie erwischen den und knallen ihn gleich ab. Knast ist noch zu gut für den Hurensohn.« — DrD00m

»Ich stell mir vor, dass der bei mir klingelt. Ich würd ihn bei mir verstecken, solang der will, und es ihm richtig gut besorgen, yeah! Das wär geil. Der ist nämlich echt verdammt hot, oder? Sollte echt mal eins seiner Bücher lesen. So eine geile Sau, hoffentlich kriegen sie den nie!« — YOLO23

»Lieber Andreas Herzog! Meine Eltern nerven total, aber mein großer Bruder ist fast noch schlimmer. Können Sie sich vielleicht um die kümmern, wenn Sie mal Zeit haben? Ich wär Ihnen da echt dankbar. Ich hab alle Bücher von Ihnen gelesen, sogar die beiden langweiligen!« — Martin_02

»Den sollten sie selber die Augen rausschneiden und an die Eier aufhäng!« EvilHexy86

* * *

Herzog erwachte allein. Es war stockdunkel im Schlafzimmer. Ein Blick auf die phosphoreszierenden Zeiger seiner Armbanduhr verriet ihm, dass es kurz nach neun war. Der Blick verriet ihm noch etwas, wie er mit einiger Verspätung begriff: Lina hatte eine seiner Hände losgebunden.

Er öffnete und schloss sie ein paar Mal zur Faust, dann tastete er auf dem zerwühlten Laken herum. Dem Laken, das sie zerwühlt und zerknittert hatten, bis sie schließlich auf ihm zusammengebrochen war, sich keuchend an ihn geklammert hatte, während die letzten Zuckungen ihres Höhepunktes verklangen. Stumm hatte sie seinen Hals geküsst und ihren warmen Körper an seinen gepresst. So hatten sie gelegen, Minuten, Stunden, eine Ewigkeit. Bis die Dunkelheit sich über sie gelegt hatte wie ein dunkles Tuch. Dann hatten sie erneut begonnen, sich zu lieben. Oder wie immer man das nennen wollte, was sie getrieben hatten.

Auf der Höhe seiner Hüfte ertastete Herzog einen Gegenstand, den seine Finger rasch als die Flasche mit dem abgeschnittenen Hals erkannten. Lina hatte sie dagelassen, für den Fall, dass er sich erleichtern musste. Daher auch die gelöste Fessel. Irgendwie brachte ihn das gegen seinen Willen zum Lächeln. Und zu der Erkenntnis, dass er vorhin auf eine Weise mit ihr Sex gehabt hatte wie nie zuvor in seinem Leben mit irgendjemandem.

Nicht mit den Groupies oder seinen zahlreichen Eroberungen aus den Clubs.

Auch nicht mit Sabine.

Ich will, dass du mich schlägst. Fest, damit ich mich wieder spüren kann. Spüren kann, dass ich noch lebe.

Schon gar nicht mit Sabine.

Das mit Lina war wie der Sex zweier scheuer Wesen gewesen, eines gefesselt, damit es sich nicht verwandeln und dem anderen wehtun konnte. Das andere geschützt durch einen Panzer aus Narben und Wunden. Spuren, die das Leben auf ihnen hinterlassen hatte. Spuren der Schmerzen, die es ihnen zugefügt hatte.

Noch nie, begriff Herzog, war er einem Menschen so nahe gewesen. Einem anderen Menschen.

Es machte leise »Ping!«, und an Herzogs linkem Gesichtsfeld blinkte etwas auf. Ein kleines, rotes Licht nur und dennoch ein Leuchtturm in der Finsternis der Hütte – und erlosch wieder. Linas Handy. Sie musste es auf dem Nachttisch vergessen haben. Oder hatte sie es absichtlich liegen gelassen?

Spielte das eine Rolle? Vermutlich nicht.

Was eine Rolle spielte, war die Tatsache, dass es da lag. Und dass er eine freie Hand besaß.

Bloß, dass es die falsche war. Sie hatte seine rechte Hand losgebunden, damit er nach der Flasche greifen und sich bei Bedarf erleichtern konnte. Dennoch war er an den drei restlichen Gelenken festgebunden, auch wenn er den Eindruck hatte, dass die Fesseln nicht mehr ganz so fest saßen wie noch zu Beginn des Tages. Er dehnte sich nach links, soweit es seine Sehnen zuließen. Tastete nach dem Nachttisch. Erreichte die Kante des Tisches mit Müh und Not. Dehnte sich noch ein Stück, bis ein scharfer Schmerz durch seine Muskeln fuhr.

Zwecklos.

Seine Finger tasteten für einen Moment an der Unterseite des kleinen Tisches herum, fanden eine Kante, rutschten ab. Herzog drehte sich zurück und unterdrückte ein schmerzerfülltes Stöhnen. Dann versuchte er es erneut. Das Seil schnitt schmerzhaft in sein linkes Handgelenk, während das um sein rechtes Fußgelenk seine Sehnen bis zum Zerreißen spannte, aber diesmal wusste er wenigstens, wohin er greifen musste. Er erreichte die Unterkante der Tischplatte, krümmte seinen Zeigefinger darum, schließlich seinen Mittelfinger. Zog daran, bis die scharfe Kante in die weiche Stelle zwischen den Fingergelenken biss. Aber der Tisch bewegte sich. Einen Zentimeter, zwei. Herzog fiel zurück in die Kissen, entspannte seine Gliedmaßen und wartete, bis der Schmerz verging.

Dann begann er von vorn.

Diesmal ging es leichter, auch wenn sein ganzer Körper schmerzte, und nach ein paar Minuten hatte er den Tisch zu sich herangezogen, bis die Kante beinahe die Matratze des Bettes berührte. Dann zog er wieder an der Tischplatte, aber diesmal so, dass der Tisch in eine leichte Schräglage geriet. Er drückte und zog mit seiner Hand, was brüllende Proteste der Pein durch seinen Arm feuerte. Er ignorierte sie. Zog, drückte, kippelte, bis er hörte, wie ein kleiner Gegenstand auf dem glatten Holz der Tischplatte ins Rutschen kam und sich auf ihn zubewegte.

Langsam jetzt!

Herzog verringerte den Druck auf die Tischplatte, sodass sie weniger steil aufragte. Wenn er das Telefon nicht beim ersten Mal erwischte, würde es von der Platte rutschen, auf den Boden fallen dann wäre es für immer verloren und außerhalb seiner Reichweite.

Herzog startete einen neuen Versuch. Vorsichtig drückte er das Ende der Tischplatte nach unten und lauschte dem Geräusch des rutschenden Handys. Dann senkte er die Platte vorsichtig ab. Mit einer erneuten Anstrengung dehnte er seine Sehnen bis an die äußerste Schmerzgrenze und zwang sich, die Tischplatte systematisch und vorsichtig abzusuchen, auch wenn der Schmerz in seinen Fingern nahezu unerträglich war. Langsam tastete er über die Tischplatte. Er bemerkte beiläufig, wie ihm Schweiß von der Stirn lief, wie sich Tränen zwischen seinen zusammengepressten Augenlidern lösten und in dem stoppeligen Bart auf seinen Wangen sickerten.

Dann hatte er es.

Mit allerletzter Kraft zog er die glatte Plastikoberfläche des Handys zu sich heran und schließlich o Wonne! schlossen sich seine entkräfteten Finger darum. Sein Körper schnellte zurück und minutenlang lag er nur da, wartete, bis die Schmerzen in seinen Gelenken erträglicher wurden und schließlich vergingen. Er hatte die Bettdecke von sich gestrampelt und spürte nun, wie die kühle Luft des Schlafzimmers über seinen Körper strich, der vollständig von einem Schweißfilm bedeckt war. Schließlich klappte er das Telefon auf und schaute auf den Bildschirm. Als ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit hatte das Handy ein Bedienfeld mit zwölf Tasten. Der aufgeklappte Bildschirm war winzig und die Grafik darauf ungewohnt pixelig. Andererseits war es genau diese Tatsache, die dafür gesorgt hatte, dass er das Gerät jetzt überhaupt noch benutzen konnte. Sein eigenes Smartphone, wesentlich komfortabler und mit einem kristallklaren High-Definition-Farbdisplay ausgestattet, hätte schon vor Tagen den Akku leergesaugt.

Allzu weit war dieses kleine, vorsintflutliche Gerät allerdings auch nicht mehr davon entfernt. Herzog las die kleine Botschaft, die in Form einer winzigen, stilisierten Sprechblase auf dem Bildschirm aufgetaucht war, und die wohl dafür gesorgt hatte, dass die kleine rote LED an der Seite des Handys aufgeblinkt hatte.

Akku schwach. Bitte laden!

Na wunderbar. Allein, Herzog konnte es sich nicht leisten, über die Chancen nachzudenken, die ihm jetzt noch blieben. Er musste sie einfach nutzen.

Er drückte den Menü-Button über dem Zahlenfeld und tippte sich durch die wenigen Optionen des Gerätes, bis er auf Profile stieß. UEr suchte den ‚Stumm’-Modus aus.

Dann wählte er das SMS-Menü und tippte die Nummer von Urbaniak ein. Sie wurde vom Gerät automatisch vervollständigt. Logisch, er hatte ja bereits mit dem Agenten über dieses Telefon telefoniert. Er brauchte eine Weile, um sich an das Tippen mit den winzigen Tasten zu gewöhnen, die jeweils drei Buchstaben enthielten, die man durch Durchdrücken anwählen konnte. Ein unsagbar mühsamer und langwieriger Prozess. Aber einer, den man problemlos mit dem Daumen einer Hand erledigen konnte. Herzog schrieb:

Hier ist Stenzel. Können wir uns treffen?

Es schien ihm eine gute Idee zu sein, den Namen eines seiner weniger bekannten Romanhelden zu benutzen. Stenzel war ein Nebencharakter, den er in seinem ersten Buch erfunden und ihm in jedem folgenden eine unbedeutende Rolle im Hintergrund zugedacht hatte, selbst wenn Stenzel im Buch zuvor eines der vielen Opfer des Mörders geworden war. Eine Art interner Gag, den nur sehr eingefleischte Herzog-Fans überhaupt je bemerkt hatten. Selbst die wussten nicht, dass Stenzel eigentlich Andreas Herzog war, benannt nach einem Spitznamen aus Kindertagen. Urbaniak würde jedoch sofort verstehen, wer schrieb, und entsprechend reagieren wer konnte schon wissen, wer sonst noch mitlas oder wo sich Urbaniaks Handy gerade befand?

Er musste keine Minute auf die Antwort warten.



Wir *müssen* uns treffen, dringend! Wo bist du?

Bayrischzell

Okay, wo genau?

Schwer zu erklären. Nähe Berghotel Adler.

Das finde ich. Gib mir zwei Stunden.