2. JANUAR. NEUJAHR

»Ihnen ist klar, dass dieser ganze Vorgang immer noch auf Messers Schneide steht, ja?«

»Ja. Aber Sie werden verstehen, dass das für mich momentan keine allzu große Rolle mehr spielt. Tommy lebt, allein das ist mir wichtig. Und Lina natürlich.«

»Na gut. Dann werden wir jetzt Ihre Aussage aufnehmen. Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, heißt das?« Der Polizist sah ihn über den Rand seiner Brille fragend an.

»Ja, natürlich«, sagte Herzog. »Je früher wir diese ganze Sache abschließen, desto besser.«

Der Polizist nickte, lächelte sogar ein bisschen.

»Da stimme ich Ihnen zu. Wobei ich nicht glaube, dass diese Sache allzu schnell abgeschlossen sein wird. Sie hat Wellen geschlagen. Ausgerechnet Steinlein, unser Starermittler, ein verrückter Mörder? Kommissar Walkowiaks Fehlentscheidungen all das wirft leider kein allzu positives Licht auf diesen Einsatz. Unter uns: Das wird noch viele Jahre für Aufregung sorgen.«

Herzog sagte: »Mag sein. Aber vergessen Sie dabei bitte nicht den jungen Beamten, der Lina unter Einsatz seines Lebens rettete. Ich glaube nicht, dass sie noch einen weiteren dieser Stromstöße ausgehalten hätte. Hätte er nicht so beherzt eingegriffen …«

Der Polizist musterte ihn lange, dann nickte er wieder.

»Sie haben recht, wir sollten uns auf das Positive konzentrieren. Und was Steinlein betrifft …« Er überflog die Akte, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Wir haben die die Augen gefunden, die er seinen Opfern entnommen hat. Sabine Neuhaus, Ann-Marie Werle und Urbaniak, es stimmt alles überein. Das Glas stammte aus einer Serie von Einmachgläsern, von denen wir noch ein paar weitere in seiner Wohnung gefunden haben, und es war alles voller Fingerabdrücke. Seinen Fingerabdrücken.«

»Verstehe.«

»Ja, aber all das sind zunächst nur Indizien. Den Ausschlag gab natürlich Frau Bittners Aussage, nach der wir Steinlein einwandfrei identifizieren konnten. Und das Haar.«

»Das Haar?«

»Ja. In ihrem Mund. Es muss ihr wohl gelungen sein, Steinlein ein paar Haare auszureißen, mit den Zähnen. Sie hatte sie noch im Mund, als wir sie ins Krankenhaus brachten. Wir haben sie mit Steinleins Haaren verglichen und sie stimmen überein. Dann waren da noch die Medikamente.« Er blätterte eine Weile im Ordner herum. »Ah hier, ja. Unser Labor hat bestätigt, dass er das Zeug benutzt hat, um Sie für drei Tage außer Gefecht zu setzen.«

»Beinahe«, korrigierte Herzog.

»Ja«, sagte Kersten, »beinahe. Wenn Sie nicht während der Fahrt zu Steinleins Versteck aufgewacht wären, dann …»

»Dann wäre er damit durchgekommen. Mit allem. Und Lina …«Herzogs Stimme stockte.

»Ja«, sagte Kersten erneut. »Frau Bittner hätte es dann nicht überlebt. Man hätte sie erst sehr viel später gefunden, wenn überhaupt. Und was Tommy betrifft …»

»Ja?« Herzog blickte den Polizisten aus aufgerissenen Augen an. »Steinlein war dabei, einen Antrag auf Adoption zu stellen. Sobald die Sache vorbei war, wollte er den Jungen zu sich holen. Um ihm die Einweisung in ein Heim zu ersparen, wie er sagte. Vermutlich wäre seinem Antrag stattgegeben worden.«

»O mein Gott!«

»Ja«, sagte Kersten zum dritten Mal. »Die beiden verdanken Ihnen eine Menge, Herr Herzog. Lina und Tommy, meine ich.«

Herzog nickte bedächtig. »Wenn Sie das sagen.« Und ja, es war ein gutes Gefühl. Ein verdammt gutes Gefühl, wenn es auch für Herzog ein völlig neues war. Aber eines, an das man sich durchaus gewöhnen konnte. »Nun ja«, sagte Herzog, »Sie können sich nicht vorstellen, wie froh ich bin, trotz allem, dass Steinlein sich bei seiner Diagnose geirrt hat, was meinen Geisteszustand betrifft.«

»Verstehe«, erwiderte der Polizist. »Aber ich muss auch sagen, dass Sie im Wesentlichen die Aussage von Lina Bittner entlastet hat. Und Tommys Zeichnung, natürlich, nachdem wir sie erst mal entschlüsselt hatten. Wenn man die Wahrheit kennt …«

»… ist plötzlich alles ziemlich offensichtlich.«

»Ganz recht«, stimmte ihm der Polizist zu, und Herzog glaubte, den Anflug eines Lächelns zu erkennen. »Außerdem fanden wir in dem Bunker die Medikamente, die Steinlein verwendet hat, um Sie für drei Tage außer Gefecht zu setzen. Damit sind Sie wohl endgültig aus dem Schneider, würde ich sagen. Aber offiziell kann ich das erst morgen machen, Sie verstehen ?«

»Natürlich«, antwortete Herzog. »Und was Steinlein betrifft Wir sind uns schon früher begegnet.«

»Ich weiß«, sagte Kersten, »Sie konsultierten ihn wegen der Recherchen zu einem Ihrer Bücher.«

»Ja. Wir haben uns gleich gut verstanden, sind ins Gespräch gekommen. Er schien regelrecht fasziniert von meinen von den Themen meiner Bücher. Wenn ich mir überlege, aus welchem Grund oh, Mann.«

»Verstehe. Nun, zumindest dürften Sie jetzt genug Material für die nächsten Bücher haben. Auch wenn ich natürlich darauf bestehen muss, dass Sie keine laufenden Ermittlungen …»

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen.«

»Nein?«

»Nein. Ich werde nicht mehr schreiben. Zumindest keine Thriller mehr. Ich habe na ja, ich denke, ich habe für’s Erste genug davon. Vielleicht auch für immer.«

»Wissen Sie was? Irgendwie bin ich froh, dass Sie das sagen. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber gelegentlich habe ich mich schon gefragt, welche Art von Mensch man sein muss, um sich all das all diese Grausamkeiten auszudenken, als ob es nicht schon genug davon im richtigen Leben gäbe.«

Herzog nickte. »Und was für eine Art Mensch so etwas liest?«

»Ja, das auch. Oder vielmehr, wieso es überhaupt jemand liest. Wieso die Menschen scheinbar nie genug bekommen von all dem Mord und Totschlag.«

»Nun«, sagte Herzog, »ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Mord und Totschlag ist schließlich auch Ihr Broterwerb, richtig? Und die Opfer Ihrer lle sind wirklich tot.«

»Touché«, erwiderte Kersten. »Irgendwer muss den Job ja machen, oder?«

»Ganz genau«, sagte Herzog und dann schwiegen die beiden Männer für eine Weile.

»Da ist noch etwas», fuhr Herzog schließlich fort. »Steinlein hat mir gegenüber zugegeben, dass er schon früher gemordet hat. Vermutlich nicht nur ein Mal.«

»Ich weiß, das hat er gesagt, als Sie mit ihm allein waren.« Mit einer beiläufigen Handbewegung schlug der Polizist den Papierordner zu. »Steht ebenfalls da drin.«

Herzog nickte.

»Das erscheint mir auch als sehr wahrscheinlich. All diese Vorbereitung und die kaltblütige Ausführung der Morde, das ließ auf eine gewisse Erfahrung schließen. Allerdings …«

»Ja?«

»Allerdings haben wir bis jetzt in seinem Haus keinerlei Notizen oder Hinweise auf diese Morde gefunden. Das Techniklabor macht sich gerade über seinen Rechner her, aber den scheint er nicht allzu oft benutzt zu haben. Er war, so scheint es, ausgesprochen vorsichtig. Er ist sehr planvoll vorgegangen. Falls er früher ebenfalls Trophäen gesammelt hat, dann hat er sie vermutlich in irgendein anderes Versteck gestellt.«

»Oh.«

»Ja. Wir vermuten, dass er noch mindestens ein weiteres Versteck hatte, ähnlich dem im Wald. Unsere Soko sucht fieberhaft nach Hinweisen und versucht jetzt, Steinlein mit Vermisstenfällen aus der Vergangenheit in Zusammenhang zu bringen. Fälle, an denen er mitgearbeitet hat. Wir überprüfen Alibis und bemühen uns, Hinweise zu finden, dass er sich schon vorher am Tatort aufgehalten hat. Aber das meiste liegt ziemlich weit zurück, und es ist sehr mühsam, das alles im Nachhinein noch einmal aufzurollen. Zumal in vielen Fällen die Täter bereits hinter Gittern sitzen, nicht zuletzt aufgrund von Steinleins Einschätzung.« Der Polizist verschränkte die Finger ineinander und legte sie auf die geschlossene Akte. »Es ist schwer, wissen Sie. Nach all diesen Jahren. Verdammt schwer. Ich persönlich mache mir keine allzu großen Hoffnungen, zumal Steinlein ja nicht mehr befragt werden kann.«

»Verstehe«, sagte Herzog. »Und wie geht es Kommissar Walkowiak?«

»Das kommt drauf an, schätze ich.«

»Worauf?«

»Ob Sie vorhaben, Strafanzeige gegen ihn zu stellen.« Kersten sah Herzog eindringlich an.

»Das sollte ich wohl«, überlegte Herzog. »Immerhin hat seine Borniertheit Lina beinahe das Leben gekostet. Aber ich denke, ich verzichte darauf. Ich will endlich mit diesem ganzen Mist abschließen, verstehen Sie?«

»Das tue ich. Unter uns, Walkowiak ist suspendiert und befindet sich derzeit im Krankenhaus. In seinem Magen wurden mehrere Tumore festgestellt.«

»Ach du Scheiße.«

»Ja. Manch einer könnte ihn damit als ausreichend gestraft betrachten.«

»Natürlich, ich es tut mir leid, ich wusste ja nicht «

»Was sein Vorgehen allerdings in keiner Weise rechtfertigt. Bitte nehmen Sie meine persönliche Entschuldigung in dieser Sache an, im Namen aller Beteiligten.«

»Na klar. Wie gesagt, ich bin froh, dass die Sache nun geklärt ist und Steinlein, nun ja keinen Schaden mehr anrichten kann. Vergessen wir das Ganze damit.«

»Ich danke Ihnen.«

»Okay. Darf ich eine Frage stellen?«

»Natürlich«, sagte der Polizist.

»Wann darf ich zu Tommy und zu Lina?«

Der Polizist schien nachzudenken. »Morgen, würde ich sagen. Was halten Sie von morgen?«

»Morgen ist gut«, antwortete Herzog und lächelte den Polizisten an. »Morgen ist ganz ausgezeichnet.«