»Gut. Aber irgendwer hat Sabine Neuhaus ermordet, nicht wahr?«
Herzog starrte Lina an.
»Und Killer, wie Sie wissen, kann man kaufen. Sie haben es schließlich selbst geschrieben, in Das Schattengericht, erinnern sie sich? Dieser Kerl, der einen Killer engagierte, um die Sache dann dem Liebhaber seiner Frau in die Schuhe zu schieben?«
Herzog nickte langsam. Es stimmte, natürlich.
Dem Liebhaber seiner Frau.
Hatte er wirklich so blind sein können?
»Was, wenn Ihr Agent sich die Idee zunutze gemacht hat, aus einem Ihrer Bücher?«
»So ein Quatsch. Jeder kann schließlich meine Bücher lesen, nicht bloß mein Agent.«
»Okay, dann ist eben auch jeder Ihrer Leser verdächtig, mich eingeschlossen.«
»Theoretisch ja«, gab Herzog zu. »Praktisch aber nicht. Da braucht es eben noch ein Motiv.«
»Und was, wenn Sie ihm die Vorlage dazu geliefert haben?«
Herzog fühlte sich plötzlich wie ein Luftballon, aus dem alle Luft entwichen ist. »Lina, ich glaube, ich habe dem Täter noch viel mehr geliefert als nur das.«
* * *
Die Wohnung war seit mindestens vierundzwanzig Stunden leer. Walkowiak spürte das sofort, instinktiv, noch bevor er mehr als ein paar Schritte in den schmalen Flur hinein gesetzt hatte. In gewisser Hinsicht war das vielleicht gut. Vor allem für Lina Bittner. Er zog sich die Gummihandschuhe über und knipste den Lichtschalter an. Das hieß, er versuchte es, aber nichts passierte.
»Der, äh, ist kaputt«, sagte die Vermieterin in entschuldigendem Ton. Selbstverständlich war sie nicht gerade begeistert gewesen, als sie sie dringend zur Wohnung in der Hans-Sachs-Straße bestellt hatten. Niemand war begeistert, während der Feiertage und bei diesem Wetter außer Haus zu müssen, und da fühlte Walkowiak durchaus mit ihr. Ihr Gezeter konnte einem dennoch gehörig auf die Nerven fallen. Der Kommissar ging weiter.
»Links, die erste Tür, das ist die Küche. Da gibt es Licht«, rief die Vermieterin von der Wohnungstür aus. Es stimmte. Walkowiak tippte auf den Schalter und die Lampe über dem Küchentisch flammte auf. Die Küche war überraschend gemütlich eingerichtet, angesichts des Gesamtzustands der Wohnung. Es gab eine kleine Eckbank im Bauernmöbelstil, mit offenbar selbstgenähten Bezügen. Kaffeetassen und ein paar Teller standen säuberlich aufgereiht im Abtropfbecken neben der Spüle. Jemand wischte hier regelmäßig Staub und hatte die Altbauwohnung in ein gemütliches, kleines Reich verwandelt, so gut es ging. Anheimelnd.
Walkowiak ließ das Licht brennen und ging weiter. Gegenüber der Küche befand sich eine Holztür, auf der ein kleines Keramikschild angeschraubt war. Es verkündete, dass die Bewohnerin dieses Zimmers auf den Namen Bea hörte. Offenbar das Zimmer von Lina Bittners Mitbewohnerin. Walkowiak öffnete die Tür und warf einen flüchtigen Blick auf die Einrichtung. Sauber, gemütlich, aufgeräumt, viel Holz, ein paar Bücher, die aussahen, als seien sie höchstens einmal gelesen und dabei äußerst behutsam umgeblättert worden. Ein riesiger Flatscreen-Fernseher, der fast die gesamte schmale Seite des Zimmers einnahm. Gegenüber ein großes, gemachtes Bett. Eine Unmenge Plüschtiere auf den Kopfkissen. Keine Frage. Die Inneneinrichtung der Küche war ihre Idee gewesen. Das Zimmer sah aus, als sei es für ein paar Tage verlassen worden. Über die Feiertage zum Beispiel.
»Ihre Mitbewohnerin, Frau Kasack? Wo ist die?«
»Frau Kasic«, verbesserte ihn die Vermieterin von ihrem Platz im Flur aus. »Das weiß ich nicht. Die Mädchen sind meine Mieterinnen, keine Gefängnisinsassen, wissen Sie? Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie ist zu ihren Eltern gefahren.«
Natürlich, dachte Walkowiak. Sie ist seit Tagen nicht in der Wohnung gewesen. Gut für sie.
Er verließ das Zimmer und trat in das nächste, unbeschriftete. Als er die Tür öffnete, prallte er regelrecht vor dem Anblick zurück.
* * *
Steinlein traf nur ein paar Minuten später ebenfalls bei der gemeinsamen Wohnung von Lina Bittner und Bea Kasic ein.
»Der Schnee«, entschuldigte er sich. »Es ist immer noch ein totales Chaos.«
Walkowiak nickte und deutete in das Zimmer hinein.
»Was halten Sie davon?«
Steinlein folgte seinem ausgestreckten Arm, und ein sanftes Lächeln stahl sich auf seine markanten Gesichtszüge.
»Wohnlich. Und recht eigen. Hat das die Vermieterin schon gesehen?«
Er ließ seinen Blick über die komplett schwarz getünchten Wände gleiten, die nur gelegentlich von kleinen, gerahmten Porträtfotos und Möbeln unterbrochen wurden. Ein gigantischer Kleiderschrank thronte in der Ecke. Nicht schwarz, aber aus sehr dunklem Holz. Ein Bücherregal, aus demselben oder ähnlichen Holz. Im Gegensatz zu Beas Zimmer war dieses mit Büchern geradezu vollgestopft, und diese sahen alle gelesen aus. Mehrmals. Das Schmankerl jedoch befand sich an der Decke, rings um den mit dunklen Tüchern verhangenen Lampenschirm. Dort prangte ein riesiges, blutrotes Pentagramm in einem Kreis, der einen Durchmesser von knapp zwei Metern besaß.
Steinlein näherte sich dem Bücherregal, überflog ein paar Buchrücken, bis er schließlich gefunden zu haben schien, was er suchte. Er winkte Walkowiak heran.
»Sehen Sie?«, sagte er und deutete auf eine Reihe Bücher, die beinahe das gesamte mittlere Regal einnahmen. Allesamt gebundene Ausgaben, die meisten zusätzlich als Taschenbuch. Und alle hatten denselben Autor. Andreas Herzog.
»Der Mann hat Fans, wie?«, kommentierte Steinlein lakonisch.
»Das ist vollkommen irre«, sagte Walkowiak und deutete in einer ausladenden Geste auf die gesamte Inneneinrichtung des Raums. »Das sieht genauso aus wie bei Herzog. Alles schwarz und rot.«
»Die Lieblingsfarben des Teufels«, sagte Steinlein lächelnd.
»Was?«
»So sagt man zumindest. Um Ihrer Frage zuvorzukommen: Nein, ich glaube nicht, dass Lina Bittner mit Herzog unter einer Decke steckt. Sie liest seine Bücher, ja. Aber sie liest auch jede Menge anderer. Sehen Sie hier: Simon Beckett, Stieg Larsson, Fitzek. Das Übliche halt.«
»Das Übliche?«, fragte Walkowiak.
»Ja«, sagte Steinlein, der sich inzwischen mit einem CD-Turm in der Ecke beschäftigte, vor dem er in die Hocke gegangen war. »Marilyn Manson, Slayer und … hm, keine Ahnung, das kann ich nicht entziffern. Aber jedenfalls finden Sie auch hier jede Menge Pentagramme sowie die Farben schwarz und rot.«
»Und das finden Sie nicht ein bisschen merkwürdig?«, fragte Walkowiak und deutete mit einer kreiselnden Bewegung in seiner Schläfengegend an, was er meinte. »Oder beunruhigend?«
»Hmmm«, machte Steinlein gedehnt, »vielleicht ein bisschen pubertär für ein Mädchen in Linas Alter. Aber durchaus nicht ungewöhnlich. Sie glauben, dass sie mit Herzog unterwegs ist?«
»Das sagte mir der Arzt, Dr. Schaller. Sie wurde gesehen, wie sie gemeinsam mit Herzog den Parkplatz vor dem Krankenhaus verließ, gestern Nachmittag.«
»Sicher fahnden Sie bereits nach dem Wagen?«
»Natürlich. Es ist ein Fiat Panda, in Offroad-Ausführung.«
»Ah, der 4x4-er!«
»Sie kennen den Wagen?«
»Ja, ich besitze selbst ein Offroad-Fahrzeug und habe mich ein wenig mit der Materie beschäftigt. In diesem Winter weiß ich endlich auch, wieso ich mir den Land Rover gekauft habe. Der Panda dürfte jedenfalls nicht schwer zu finden sein. Ziemlich auffälliges kleines Gefährt. Welche Farbe hat er denn?«
»Weiß, sagt Dr. Schaller.«
»Hm. Seltsame Farbwahl für so einen geländegängigen Flitzer, nicht?«
»Glauben Sie denn, dass Gefahr für Lina Bittner besteht? Dass Herzog sie vielleicht als Geisel genommen hat — oder, Gott verhüte, ihr etwas antut?«
»Hmm«, überlegte Steinlein. »Das kommt vermutlich darauf an, wie sehr sie ihm auf die Pelle rücken und wie bedroht er sich fühlt. Und, auch das sollte man nicht vergessen, ob er überhaupt unser Mann ist.«
»Daran zweifeln Sie noch?«
»Wie gesagt, wen ich für den Täter halte, ist nicht wesentlich in der Sache. Ich bin lediglich dafür zuständig, ein Profil seiner Taten zu erstellen. Und Ihnen dabei zu helfen, Herzog ausfindig zu machen, wenn ich kann. Besitzt Lina Bittner ein Mobiltelefon?«
»Was? Na ich denke schon, klar. Davon gehe ich zumindest aus. Hat doch jeder so ein Ding heutzutage.«
»In der Tat.« Steinlein zog sein eigenes hervor. Es war ein Smartphone mit großem Bildschirm und einer kleinen Reihe winziger Tasten am unteren Ende. Walkowiak hatte so eins noch nie gesehen, es sah ziemlich futuristisch aus. Und teuer. Steinlein strich mit dem Daumen über die kleine Tastatur und der Display leuchtete auf. »Wie ist ihre Nummer?«
»Oh. Die, äh, da müsste ich im Krankenhaus anrufen. Die müssten die haben.«
Steinlein fixierte ihn für einen Augenblick und steckte dann sein eigenes Telefon wieder weg. Verdammt, dachte Walkowiak, wieso bin ich nicht auf diese simple Idee gekommen? Ihr Telefon, natürlich. Sie würde es dabei haben. Wenn sie tatsächlich mit Herzog unterwegs war …
»Okay, tun Sie das. Auf der Fahrt.«
»Fahrt wohin?«
»Zum Labor. Man hat die Ergebnisse der Obduktion an Sabine Neuhaus und Ann-Marie Werle vorliegen.«
* * *
»Also denken Sie, dass ich vielleicht doch dort war, bei Sabine? Als es passierte?«
»Ja. Oder zumindest wäre das eine Möglichkeit. Ich habe mir das alles gestern Nacht in Ruhe überlegt …«
»Gestern Nacht?«
»Ja. Während Sie geschlafen haben. Ich … ich brauche nicht so viel Schlaf. Habe ich mir während der Nachtschichten abgewöhnt.«
»Okay«, sagte Herzog. »Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?«
»Es passt. Vom zeitlichen Ablauf, meine ich. Überlegen Sie mal. Sie erinnern sich noch, wie Sie am Vormittag des vierundzwanzigsten unterwegs zu Sabine gewesen sind?«
»Ja. Und?«
»Ihr Unfall war aber erst drei Tage später, am siebenundzwanzigsten, richtig? Am Tag, als Sie ins Krankenhaus eingeliefert wurden.«
»Ich hätte den Unfall schon vorher haben können. Die Gegend war nicht sonderlich dicht besiedelt, wenn ich mich recht entsinne.«
»Und dann bei diesen Temperaturen drei Tage im Schnee gelegen haben? Dann wären Sie längst erfroren. Sie hatten aber kaum mehr als leichte Erfrierungen, und die gehen wohl eher auf Ihren Gewaltmarsch nach Buchendorf zurück. Und außerdem … Ihre Muskeln.«
»Meine Muskeln?«
»Ja. Wenn Sie tatsächlich drei Tage lang bewusstlos irgendwo herumgelegen hätten, wären die viel schwächer, Sie hätten sich kaum auf den Beinen halten können. Muskelschwund setzt rascher ein als die meisten Leute denken. Bei diesem Wetter hätte Ihr Körper angefangen, jede Energiequelle anzuzapfen, derer er hätte habhaft werden können. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie Ihren Unfall erst am siebenundzwanzigsten hatten.«
»Na fein. Und wo war ich dann während der drei Tage davor?«
»In einem Schockzustand. Der eine Amnesie ausgelöst hat.«
»Und den Schock …«
»… hat der Mord an Sabine ausgelöst, genau. Dessen Zeuge Sie geworden sind. Das würde doch alles erklären, oder? Ihre Fingerabdrücke, die Sie mit Sicherheit am Tatort hinterlassen haben, immerhin konnten Sie ja nicht ahnen, was Sie in der Wohnung vorfinden würden. Herrgott, vielleicht haben Sie im Reflex sogar die Tatwaffe angefasst, oder Sabine oder was weiß ich. Vielleicht hat Sie auch einer der Nachbarn gesehen, als Sie aus dem Haus gestürmt sind. Vielleicht sind Sie anschließend einfach durch die Gegend gefahren, haben sich in irgendeinem Motel eingemietet und …«
»Und das soll ich alles vergessen haben?«
»Nicht vergessen, es ist nur blockiert. Stellen Sie es sich vor wie einen undurchsichtigen, schwarzen Vorhang, der momentan auf Ihrer Erinnerung liegt. Sie waren ja, wenn meine Vermutung stimmt, unter Schock, und zwar kräftig. Die alltäglichen Handlungen Ihres Lebens haben für Sie weiterhin funktioniert. So ähnlich wie das bei manchen Schlafwandlern passiert. Sie erledigen alles unterbewusst und haben im Anschluss nicht die leiseste Erinnerung daran, was sie gemacht haben. Autofahren, essen, trinken. In ein Hotel einchecken. All das konnten Sie tun, ohne groß darüber nachzudenken. Aber die ganze Zeit war Ihr Gehirn damit beschäftigt, die Bilder auf die Reihe zu bekommen, die es in Sabine Neuhaus’ Wohnung gesehen hat.«
»O Mann. Aber Buchendorf ist nur ein paar Kilometer von Sabines Wohnung entfernt, sie wohnt ziemlich außerhalb. Wohnte. Oh, verdammt.« Herzog senkte den Blick und beschäftigte sich intensiv mit der leeren Kaffeetasse, die er seit ein paar Minuten nervös zwischen seinen Handflächen hin- und herrollte.
»Natürlich. Als der Schock nachließ, sind Sie ganz automatisch zum Ort des Geschehens zurückgekehrt. Ich kann nur annehmen, dass Sie deshalb ein wenig unaufmerksam waren. Oder vielleicht kamen plötzlich die Erinnerungen zurück …«
»Ich weiß nicht«, sagte Herzog unschlüssig. »Kommt so etwas denn häufig? Dieses Schlafwandeln im Wachzustand, meine ich?«
»Keine Ahnung. Ich bin kein Psychologe. Ich kann Ihnen einen Verband legen oder eine Spritze setzen, aber dann hört’s auch schon auf. Das mit dem Schock habe ich aus dem Internet. Private Recherchen, wenn Sie so wollen«. Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
»Okay, Sie haben eine These. Aber die erscheint mir offengestanden sehr gewagt.«
»Gewagter als die Möglichkeit, dass Sie Ihre Exfrau umgebracht haben?«
Herzog blickte sie lange an, schaute in ihre großen, dunklen Augen.
»Nein«, sagte er schließlich. »Nicht gewagter als das.«
»Okay.« Lina stand auf. »Warum lassen Sie mich dann nicht beweisen, ob ich mit meiner Theorie richtig liege oder nicht?«
* * *
Walkowiaks Blick schwenkte langsam von einem verdeckten Körper zum anderen. Auch Dr. Hansbacher, der Gerichtsmediziner, hatte schon ein paar Mal auf seine Armbanduhr gesehen. Sie warteten auf Steinlein, mal wieder. Vermutlich hatte der Kerl bei der Auswahl der passenden Krawatte keine zufriedenstellende Entscheidung treffen können. Oder vielleicht, gab sich Walkowiak der stillen Hoffnung hin, war er im Schnee stecken geblieben und sprang jetzt fluchend um sein Auto.
Andererseits: Steckenbleiben, in einem Land Rover, auf Münchens frisch geräumten Hauptstraßen? Unwahrscheinlich.
Ich besitze selbst ein Offroad-Fahrzeug, hatte Steinlein gesagt. Angeber. Walkowiak stellte mal wieder fest, dass er den Psychologen einfach nicht leiden mochte. Nicht mal, wenn er sich Mühe gegeben hätte. Dessen Partytricks mochten ja bei den Eierköpfen in der Polizeischule Eindruck schinden, aber sie ersetzten keinesfalls solide Ermittlungsarbeit, wie Walkowiak sie bevorzugte. Diese solide Ermittlungsarbeit hatte mittlerweile einige Erkenntnisse zutage gefördert.
Erstens: Sie hatten Lina Bittners Kreditkarte überprüft — sie hatte damit in einem Secondhandladen Klamotten gekauft. Winterklamotten aus der Herrenabteilung. Wundervoll. Walkowiak ging davon aus, dass sie — ob nun freiwillig oder nicht — für ihren Lieblingsautor den guten Samariter spielte und die Klamotten für Herzog gekauft hatte, schließlich hatte der bisher nur den leichten Sommeranzug dieses alten, senilen Spinners aus dem Krankenhaus besessen. Natürlich hätte Herzog die Klamotten auch selbst kaufen und mit Linas Karte bezahlt haben können, aber das glaubte Walkowiak nicht. Nur: mehr als glauben blieb ihm da nicht übrig. Natürlich hatte sich die Verkäuferin aus dem Secondhandladen an kein Gesicht, Geschlecht oder sonst irgendetwas erinnern können.
Zweitens. Daraus folgte, dass Herzog freiwillige oder unfreiwillige Unterstützung bei seiner Flucht hatte. Wenn er sich keinen weiteren Fehler leistete, konnte er inzwischen schon ein ganzes Stückchen Vorsprung haben, und wenn er seinen Grips benutzte, hatte er Lina Bittners Fiat Panda (in der geländegängigen Ausführung) inzwischen irgendwo versenkt und war mit dem nächsten Wagen unterwegs nach Nirgendwo. Wenn man den bisherigen Verlauf der Sache betrachtete, war es nur wahrscheinlich, dass er mit dem Wagen auch gleich Lina Bittner losgeworden war. Eine Frage der Zeit, bis irgendein Streifenpolizist den Wagen finden würde, aber in jedem Fall zu spät. Auf einem Rastplatz oder einem Waldweg unter einer Schneewehe, und im Kofferraum die zerstückelte Leiche des Mädchens. Walkowiak wünschte dem Unglücksseligen einen starken Magen.
Nun, bisher war der Wagen jedenfalls noch nicht aufgetaucht, und wenn man sehr optimistisch war, konnte man das sogar als ein gutes Zeichen werten. Natürlich wurde inzwischen deutschlandweit nach dem Panda gefahndet, was an sich ein schlechter Witz war, da die meisten Überwachungskameras auf den Autobahnen kaum mehr als Nahaufnahmen des Schneegestöbers vor ihren schneeverklebten Linsen lieferten. Inzwischen waren ein paar Sichtungen von Autos eingegangen, die Lina Bittners Panda sein mochten, oder auch nicht. Bis sie die Straßensperre aktiviert hatten, war Herzog vermutlich längst über alle Berge. Seine Leute hatten unheimlich viele Sympathiepunkte bei der hiesigen Bevölkerung gesammelt, als sie den ohnehin zähfließenden Verkehr noch zusätzlich aufgehalten hatten. Den Leuten war es im Moment herzlich egal, ob ein gestörter Serienkiller draußen herumlief, solange sie nur so schnell wie möglich nach Hause und ins Warme kamen. Und, nicht zu vergessen, auf der A8 hatte es einen schweren Auffahrunfall gegeben, als sie im Schneesturm ihre Barriere aufgebaut hatten. Aber das war nur das Tüpfelchen auf dem i. Seit Herzog ihm praktisch vor seiner Nase aus dem Krankenhaus entwischt war, stand Walkowiak ohnehin unter Dauerbeschuss von Kriminalrat Kersten. Der freilich großzügig übersah, dass Walkowiak weder für das Wetter noch für unfähiges Personal im Krankenhaus und schon gar nicht für die Blödheit der Kollegen vom Verkehr zuständig war. Scheiß was drauf, sobald diese Sache abgeschlossen war, nahm sich Walkowiak vor, würde er von einer äußerst mysteriösen Krankheit heimgesucht werden, dank derer er für einen ganzen Monat ans heimische Bett gefesselt wäre, mindestens.
Drittens. Urbaniak, Herzogs Agent. Und mutmaßlicher Komplize. Ebenfalls untergetaucht. Seine Spuren waren in der gesamten Wohnung von Ann-Marie Werle, dem zweiten Opfer, verteilt gewesen. Vermutlich hatte ihn Herzog in die Wohnung geschickt, um irgendwelche Hinweise zu beseitigen. Aber entweder war Urbaniak ein kompletter Vollidiot oder der Aufgabe einfach nicht gewachsen gewesen und hatte versagt. War kopflos aus der Wohnung gestürmt, ohne die Beweise zu entfernen. Da war das Buch mit Herzogs Widmung, die das Mädchen unzweifelhaft mit ihm in Verbindung brachte. Wenn sich Walkowiak nicht gewaltig irrte, würde Dr. Hansbacher ihn gleich von weiteren Spuren in Kenntnis setzen. Am Opfer, und vermutlich auch in ihr.
Ich will dich tanzen sehen, schönes Mädchen.
Was für ein aufgeblasenes Arschloch musste man sein, um so was in ein Buch zu kritzeln? Und welche Art von Mädchen musste man sein, um es sich von so einem Kerl besorgen zu lassen? Es war zum Kotzen, ekelhaft. Von dem Kokain auf Ann-Marie Werles Küchentisch ganz zu schweigen, mit dem das irre Schwein sie gefügig gemacht haben musste. Nun, dachte Herzog, der hat die längste Zeit Unsummen mit diesem kranken Schund verdient, den er schreibt. Die nächsten Romane kann er im Knast schreiben. Und nicht in irgendeiner Wischiwaschi-Anstalt, wie sie Steinlein vielleicht vorschwebte. Das war viel zu gut für so einen.
»Guten Morgen!«Steinlein, der Zuspätkommer. Er und Dr. Hansbacher schüttelten sich die Hände.
»Peter«, sagte Steinlein herzlich. Dr. Hansbacher grinste zurück.
»Markus.« Plötzlich schien der gute Doktor vergessen zu haben, dass er durch den bummelnden Psychologen zu gut zehn Minuten tatenlosem Herumstehen gezwungen worden war. Die Herren kannten sich. Natürlich, das war ja zu vermuten gewesen. Wer würde nicht gern mit gefeierten Kriminalpsychologen golfen gehen oder in einer Sauna herumlungern oder was immer diese Typen sonst so in ihrer Freizeit trieben.
»Kommissar Walkowiak«, wandte er sich an den Kommissar. Den er freilich bisher nicht nach dem Vornamen gefragt hatte. Kein Hallo Markus! für ihn. Und wenn schon. »Bitte entschuldigen Sie meine kleine Verspätung. Ich habe mich vorhin noch auf einen Espresso mit Klaus Markhart getroffen.«
Während er noch seine Entschuldigung aussprach, wandte sich Steinlein bereits den Tischen mit den Leichen zu. Das sorgte dafür, dass sich Walkowiak augenblicklich vorkam wie ein vorgeführter Schuljunge. Was zweifellos haargenau Steinleins Absicht gewesen war.
»Soll mir der Name etwas sagen, Dr. Steinlein?«, fragte Walkowiak.
»Aber ja! Er ist der Türsteher vom Zacherl.«
»Hä?«
»Der Club Zacharias in der Kurfürstenstraße.«
»Von Herzogs Widmung in Ann-Marie Werles Buch?«
»Eben jener. Ich kenne Markhart über einen gemeinsamen Bekannten und rief ihn an, um ihn zu fragen, ob er am dreiundzwanzigsten an der Tür Dienst hatte.«
»Und?«, fragte Walkowiak, viel zu verblüfft, um sich über die krude Einmischung Steinleins in seine Ermittlungen aufzuregen.
»Er hatte. Und er erinnert sich an Herzog. Er hat ihn mit einem anderen Mann reingehen sehen, an dessen Gesicht er allerdings keine Erinnerung hat. Und er hat ihn rausgehen sehen — mit einem Mädchen, dessen Beschreibung ausgezeichnet zu Ann-Marie Werle passt. Mehr als das, er hat die beiden höchstpersönlich rausgeworfen. Ein Gast hatte sie auf der Toilette erwischt, als das Mädchen gerade dabei war, Herrn Herzog einen zu … nun ja, ihm gewisse Freuden mit Hilfe ihres Mundes zu verschaffen.«
»Was?!« Walkowiak spürte, wie das Blut in seinen Schläfen schmerzhaft zu pochen begann. Es rauschte in seinen Ohren und aus dem beständigen Zwicken in der Magengegend wurde urplötzlich ein kleiner, heißer Kloß, der fiebrige Spinnenfinger in alle Richtungen aussandte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stieß er hervor: »Was zum Teufel fällt Ihnen ein, Steinlein?«
»Bitte?« Der Psychologe und der Gerichtsmediziner sahen ihn beide mit einem fast identischen Ausdruck schockierter Verblüffung an.
»Sie können sich nicht einfach in offizielle Polizeiermittlungen mischen und irgendwelche Leute befragen, wenn Ihnen der Sinn danach steht. Noch leite ich diese Ermittlung und …«
»Und verraten Sie mir auch, wie Sie an Klaus Markhart rangekommen wären? Sie kennen ihn nicht, und, was viel wichtiger ist, er kennt Sie nicht. Er hätte Ihnen gegenüber kein Sterbenswörtchen über das Benehmen oder die Identität seiner Gäste verloren. Er hätte ganz einfach seinen Anwalt angerufen und sich dann wieder wichtigeren Geschäften zugewandt.«
»Was?«
»Lassen Sie es mich mal so ausdrücken: Klaus Markhart hat recht eigene Vorstellungen, was die Zusammenarbeit mit gewissen Behörden betrifft, insbesondere der Polizei. Er ist der Meinung, was im Inneren des Zacharias passiert, geht auf der Welt nur zwei Leute an: ihn und Celil Oker, den Besitzer. Er hat in der Vergangenheit so seine Erfahrungen gemacht. Man hat mehrmals seine Villa gestürmt, weil er in Verdacht stand, manchen Kunden etwas mehr zu verkaufen als nur Eintrittskarten.«
»Lassen Sie mich raten. Drogen?«
»So lauteten die Anschuldigungen, ja. Aber man
hat ihm nie etwas nachweisen
können. Seitdem ist er
verständlicherweise nicht
besonders gut auf die Behörden zu
sprechen.«
»Aha. Aber mit Ihnen hat er
geredet, ja?«
»Ja. Wir haben einen gemeinsamen Freund, wie gesagt.«
»Wunderbar. Das heißt aber auch, dass seine Aussage für uns nicht verwertbar ist, weil er sie wohl kaum vor einem Richter wiederholen wird, wenn er schon solche Probleme mit der Polizei hat.«
»Richtig. Das wird er ganz bestimmt nicht. Doch es nützt uns insofern, als dass wir jetzt eine Bestätigung für Herzogs Anwesenheit im Zacharias haben. Und es mit einem Mädchen, aller Wahrscheinlichkeit nach Ann-Marie Werle, wieder verlassen hat.«
»Und dabei muss ich mich auf Ihre Aussage verlassen, von einem Kerl, der sich weigern wird, als Zeuge aufzutreten?«
»Genau«, sagte Steinlein und schenkte Walkowiak ein entwaffnendes Lächeln. Walkowiak kniff die Augen zusammen und massierte seine Augenlider. Im Geiste machte er sich eine Notiz: Seine seltsame Krankheit würde ihn nicht nur einen Monat, sondern ein halbes Jahr ans Bett fesseln, vielleicht auch länger. Und er würde die ganze Zeit damit verbringen, Dartpfeile auf ein Foto von Professor Dr. Markus »Großkotz« Steinlein zu werfen. Von seinem Bett aus.
»Okay«, sagte der Ermittler, an Dr Hansbacher gewandt, »was haben Sie rausgefunden?«
* * *
»Im Ernst?«, fragte Herzog. »Hypnose? Sie wollen einen Mordverdacht mit Hilfe eines Partytricks entkräften?«
»Kein Partytrick. Hypnose ist eine Möglichkeit, direkt auf die in unserem Unterbewusstsein gespeicherten Erinnerungen Zugriff zu erhalten, und zwar ohne den Filter des Wachbewusstseins zu aktivieren.«
»Hä?«
»Unsere Erinnerungen sind gefiltert, genau wie unsere Wahrnehmung.«
»Selektives Gedächtnis.«
»Genau. Wir entnehmen unserer Umgebung die Informationen, die uns in dem Moment nützlich erscheinen, da wir sie sehen. Nehmen Sie zum Beispiel eine Ampel. Wenn Sie im Auto sitzen, interessiert Sie lediglich die Information, die diese Ampel aussendet: Ist sie grün, gelb oder rot? Ob die Ampel selbst alt und verrostet oder frisch gestrichen ist, ob sie Rostflecken besitzt und welches Muster in die Glasabdeckung des Ampellichts eingefräst ist — all das interessiert Sie nicht in diesem Moment, also ‚sehen Sie es nicht.’ Das heißt, Sie sehen es sehr wohl, und zwar mit Ihrem Unterbewusstsein. An Ihr Wachbewusstsein dringt diese Information allerdings nicht, weil Sie mittlerweile längst mit dem Überqueren der Kreuzung beschäftigt sind und schon auf neue Einflüsse reagieren müssen. Kommen Ihnen Autos entgegen? Wird dieser Fußgänger vielleicht unvermittelt auf die Straße rennen? Solche Sachen. Die Ampel haben Sie dann schon längst vergessen.«
»Aber im Unterbewusstsein ist sie noch abgespeichert.«
»Ja, und zwar noch eine ganze Weile. Es wird
Ihnen allerdings nicht ohne Weiteres gelingen, diese Information
abzurufen, weil Sie ja der Meinung sind, diese
Information
überhaupt nicht bekommen zu haben. Sie wissen
nur noch, dass die Ampel
grün war und Sie deshalb
gefahren sind. Oder zumindest schließen Sie das eine aus dem
anderen.«
»Aber das heißt ja, dass
wir ständig irgendwelche
Löcher in unserer Erinnerung
mit uns herumschleppen.«
»Im Wachzustand? Ja. Das Bewusstsein ist wie ein Schweizer Käse. Sonst könnten wir unmöglich auf die ganzen Einflüsse reagieren, die täglich auf uns einprasseln. Wir würden vor lauter Faszination überhaupt nicht mehr vom Fleck kommen und stundenlang die Lichtreflexion im Glas der Ampel bewundern.«
»Kommt mir bekannt vor«, nuschelte Herzog.
»Ja. Diesen Effekt hat man zum Beispiel bei Leuten beobachtet, die LSD genommen haben. Der vorübergehende Verlust aller Wahrnehmungsfilter. Die totale Reizüberflutung. Das, äh … habe ich zumindest gelesen.«
»Natürlich.« Herzog grinste. »Ich auch.«
»Also?«
»Was also?«
»Wollen Sie sich nun von mir hypnotisieren lassen?«
Herzog sah Lina lange an. Dann nickte er langsam. »Versuchen wir’s. Aber versprechen Sie mir, dass Sie mir keine peinlichen Fragen stellen, während ich weg bin, okay?«
»Haben Sie eine Kerze?«
»In der Küche«, antwortete Herzog. »Linkes Schubfach über der Spüle.«
Lina kam mit einer Kerze zurück, stellte sie auf den Tisch und zündete den Docht an. Dann machte sie das Licht aus. Das Innere der Blockhütte war jetzt in einen goldenen Schimmer getaucht, dessen Zentrum das Licht der Kerze bildete. Irgendwo im Hintergrund prasselte das wärmende Feuer im Kamin und sandte den heimeligen Duft brennenden Holzes durch den Raum.
»Und wo haben Sie das schon wieder her?«, fragte Herzog. »Recherchen zum Privatvergnügen?«
»Haargenau. Zufällig habe ich die Techniken, die ich gelernt habe, schon über fünfzig Mal erfolgreich angewendet. Wenn auch meist als …« Sie lächelte verschmitzt. » … wenn auch meist als Partytrick.«
»Na gut«, sagte Herzog. »Probieren wir es. Warten Sie, ich habe hier noch irgendwo etwas …« Er erhob sich von der Couch und ging zum Schreibtisch hinüber. An Sommertagen mochte man von hier einen wundervollen Blick auf das malerische Gebirge und saftige grüne Wiesen haben. Vielleicht mit ein paar Milchkühen, die darauf grasten. Momentan war die Sicht auf die endlose, weiße Weite nur durch einen schmalen Spalt oberhalb der Schneewehe möglich, und vermutlich würde das bisschen Aussicht innerhalb der nächsten Stunden auch noch verschwinden.
Herzog wühlte in den Schubladen des Schreibtisches herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Triumphierend hielt er ein kleines, schwarzes Diktiergerät in die Höhe.
»Vorsintflutlich, ich weiß«, erklärte er. »Aber gelegentlich benutze ich es noch für Gedankenskizzen beim Schreiben, oder wenn ich auf der Couch herumliege und vor mich hin deliriere.« Herzog warf einen Blick auf den Zählmechanismus am Gerätes. Er spulte die Kassette bis an den Anfang zurück und drückte den Knopf, der den Zähler auf Null setzte. Dann gab er Lina das Gerät. Die nahm den kleinen elektrischen Apparat mit so etwas wie Ehrfurcht entgegen und legte ihn vorsichtig vor sich auf den flachen Tisch.
»Sind Sie sicher, dass das okay ist? Ich möchte nicht aus Versehen die Ideen zu Ihrem nächsten Bestseller löschen.« Nun klang sie wirklich besorgt.
»Keine Angst. Auf das, was da vielleicht drauf ist, kann ich getrost verzichten. Also, was muss ich tun?«
»Nicht viel. Setzen Sie sich bequem hin, entspannen Sie sich und … äh ... Hören Sie einfach auf meine Stimme, okay?«
»Gern«, sagte Herzog. Er setzte sich in den Sessel, der neben der Couch stand, klappte das Fußteil aus, sodass er in eine halb liegende Position kam. Lina tastete sie an dem Diktiergerät herum.
»Der rote Knopf.«
»Natürlich.« Die kleine Kassette in dem Gerät begann sich geräuschlos zu drehen.
»Okay«, sagte Lina und rollte ihren Kopf mit einem leisen Knacken auf den Schultern von links nach rechts. »Fangen wir an.«
Plötzlich hatte ihre Stimme alle Aufregung verloren, die vorher stets unterschwellig darin mitgeschwungen hatte. »Sehen Sie die Kerze auf dem Tisch?«
»Ja, natürlich.«
»Gut. Dann konzentrieren Sie sich jetzt darauf. Sie müssen sie nicht anstarren oder sich anstrengen. Achten Sie nur darauf, auf die Kerze zu schauen. Schauen Sie nur auf die Kerze.«
»Okay«, sagte Herzog.
»Gut. Dann tun Sie jetzt dasselbe mit meiner Stimme. Hören Sie mir zu, aber nicht angestrengt. Hören Sie einfach nur hin und lassen Sie die Worte auf sich einrieseln. Können Sie das?«
»Ja«, sagte Herzog matt.
»Atmen Sie!«, sagte Lina. »Atmen Sie in langen, gleichmäßigen Zügen. In Ihren Bauch hinein, ganz tief. Benutzen Sie Ihr Zwerchfell. Lassen Sie sich einfach vom Luftstrom tragen. Ein und wieder aus.«
Die kleine Flamme der Kerze vor Herzogs Augen verschwamm, und er wurde unsäglich müde.
»Ihre Augenlider werden schwer«, sagte Lina, von der Couch, vom anderen Ende des Zimmers, aus weiter Ferne …
»Okay, das war’s«, sagte Lina plötzlich. Herzog warf ihr einen Blick zu. Es mochte an dem fahlen Licht der Kerze liegen, aber sie wirkte unnatürlich blass. Als sie seinen Blick bemerkte, schlug sie rasch die Augen nieder.
»Es hat nicht geklappt, oder?«, fragte Herzog enttäuscht. »Sie können mich nicht hypnotisieren, stimmt’s? Ich habe gehört, das klappt auch nicht mit jedem, machen Sie sich nichts draus. Zumindest wäre ich beinahe eingeschlafen, also …«
Wortlos deutet Lina auf das Diktiergerät. Der Zähler drehte gerade von
2234
auf
2235.
»Es hat doch geklappt, Lina!«, freute sich Herzog. »Es ist etwas auf dem Band. Beinahe zehn Minuten, würde ich sagen, wow! Ich … ich habe überhaupt nichts davon mitbekommen. Es war, als wäre ich gar nichtweggewesen. So, als hätte ich Zeit verloren …«
Lina nickte stumm. Sie schaute ihn immer noch nicht an.
Herzog griff sich das Gerät, stoppte die Aufnahme und spulte das Band zurück. Als es am Anfang angekommen war, klackte es und der Rücklauf wurde automatisch gestoppt.
Herzog drückte die ‚Play’-Taste.
* * *
»… dann sinken Sie noch tiefer in diesen angenehmen Zustand. Sie fühlen sich wohl, denn Ihnen kann nichts passieren. Sie sind nur ein passiver Beobachter.«
»… Passiver … Beobachter«, vernahm Herzog seine eigene matte Stimme.
»Gut. Dann gehen Sie jetzt zurück zum vierundzwanzigsten Dezember. Sie sind unterwegs zu Sabine Neuhaus und Tommy, Ihrem Sohn.«
»Tommy …«
»Ja. Wo sind Sie?«
»Im Auto, ich … Ich sitze ... in meinem Wagen. Ich bin auf dem Weg zu Sabine ... Ich will ... es kurz machen diesmal, wegen ... wegen der Sache, die beim letzten Mal passiert ist. Aber ich will auf alle Fälle Tommy sehen, bevor ich in die ... in die Berge fahre. Ich habe meine Sporttasche dabei mit den Sachen für die Hütte. Ich fahre weiter. Links auf die M4, dann kommt ein Stück freies Feld und ich beschleunige etwas, weil niemand hier unterwegs ist. Ich habe den kleinen Umweg über den Ring genommen, weil – durch die Stadt ist es aussichtslos. Es ist nicht mal besonders glatt, der Porsche hat guten Grip auf der dünnen Schneedecke. Ich … ich fahre in die Planegger Straße. Dann links, vorbei an der kleinen Siedlung, wo ich im Sommer manchmal mit Tommy eine kleine Runde drehe. Tommy ...«
Herzog schnappt nach Luft.