»Nein, ich denke nicht.«
»Verstehe. Was ist mit Ihrer Kindheit, hatten Sie eine glückliche?«
»Hm, ja. Meine zweite Kindheit, die war in Ordnung. Glücklich, könnte man sagen. Ich hatte Freunde, wir haben oft im Wald gespielt. Auf dem alten Truppengelände, oben beim Hartholz …«
»Ihre zweite Kindheit?«
»Ja. Als ich acht Jahre alt war, kam ich zu Adoptiveltern. Nach einem kurzen Aufenthalt im Heim.«
»Oh.«
»Ja. Und das Heim würde ich zu dem Teil zählen, der nicht besonders glücklich verlief. Dafür war er wenigstens kurz.«
»Ihrer ersten Kindheit, sozusagen?«
»Genau. Meine leiblichen Eltern … als mein Vater starb, war ich sechs. Er hatte einen Unfall, aber später habe ich auch das andere begriffen.«
»Das andere?«
»Er war ein Trinker. Nicht unbedingt ein Alkoholiker, also jemand, dessen Körper von dem Zeug abhängig ist, auch wenn er das ganz bestimmt ebenfalls gewesen ist. Bei ihm, das hat man mir später erzählt, war es eher so, dass er einfach gern betrunken war. Und zum Schluss war er kaum noch etwas anderes. Ich kann mich immer noch an die Streitigkeiten zwischen meinen Eltern erinnern. Sie haben eigentlich ständig gestritten, und ich vermute, dass es dabei oft auch um die Trinkerei ging. Manchmal blieb er lange weg, bisweilen eine ganze Woche. Und wenn er zurück kam, hatten sich die beiden augenblicklich wieder in den Haaren. Es war fast eine Erleichterung, als er …«
»Als er den Unfall hatte?.«
»Ja. Aber auch das war nicht ganz so, wie es mir Mutter damals erzählt hat. Er war natürlich besoffen, als er gefahren ist, soviel konnte ich mir schon damals zusammenreimen. Aber die Polizei fand später, als sie den Wagen aus dem Fluss zogen, heraus, dass er nicht mal die Bremse getreten hat. Im Gegenteil. Er hat beschleunigt.«
»Ihr Vater hat sich umgebracht?«
»Ja. Und vielleicht hat es Mutter deswegen so mitgenommen.«
»Sie sagten, es habe die Situation daheim eher entspannt.«
»Nein. Das hätte so sein sollen, nach all der Streiterei und dem Gezänk zwischen meinen Eltern. Aber ironischerweise ging sein Tod meiner Mutter sehr zu Herzen. Sie fiel in ein riesengroßes Loch, fand selbst zu Alkohol und Pillen und … ich glaube, der einzige Grund, warum sie noch zwei Jahre weitergemacht hat, war ich. Doch irgendwann war sie so sehr in ihrer eigenen Welt, dass sie wohl auch mich übersehen hat.«
»Und was passierte dann?«
»Sie brachte sich um. Hat sich im Schuppen neben der Scheune aufgehängt, an einem Seil, das sie an einen Querbalken geknotet hatte.«
»Das ist ja furchtbar!«
»Ja, aber … aber ich habe sie gehasst, und ich glaube, ich hasse sie immer noch, irgendwo tief in mir.«
»Sie haben sie gehasst?«
»Ja.«
»Weil sie Sie verlassen hat und Ihrem Vater in den Tod folgte?«
»Nein. Das war es nicht.«
»Wieso dann?«
»Weil sie wusste, dass ich es sein würde, der sie finden würde.«
Herzog hatte seinen Gang ganz instinktiv dem cremefarbenen Anzug angepasst, den er jetzt trug. Das hieß, er lief leicht gebückt, eher gemächlich, und zog sogar sein rechtes Bein ein wenig nach, ohne dass er hätte sagen können, warum er das tat. Es schien einfach das Richtige zu sein.
Es funktionierte beinahe.
Er hatte den Tresen im Eingangsbereich der Petrus-Klinik bereits im Blick, als er mit dem rotbebrillten Arzt zusammenprallte. Herzogs Blick war so sehr von seinem Ziel, dem Ausgang, in Anspruch genommen, dass er nicht bemerkte, wie der Arzt um einen Kurve bog und urplötzlich vor ihm auftauchte. Vom Schwung seiner Bewegungen getragen, rannte Herzog in den Bauch des Mannes und sein Gesicht prallte auf dessen mächtigen Brustkorb. Nur die Geistesgegenwart des massigen Arztes bewahrte ihn davor, rücklings auf den Linoleumboden des Krankenhausflurs zu prallen.
»Entschuldigung!«, sagte der Arzt und stellte Herzog, den er für einen gebrechlichen, alten Mann hielt, wieder auf die Füße. Ungefähr so, wie andere Leute ein Kind wieder auf die Füße stellten, oder ein umgefallenes Spielzeug. »Geht’s Ihnen gut?«
Herzog beeilte sich zu nicken, und der Arzt, offenbar sehr in Eile, hastete weiter, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Von den beiden Polizisten keine Spur. Jetzt oder nie. Herzog schlenderte zum Ausgang hinüber und musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um nicht Hals über Kopf loszurennen.
Dann war er draußen.
Was ihm sofort bewusst machte, wie dünn der Anzug des Alten in Wirklichkeit war. Die Kälte biss in Herzogs nahezu ungeschützte Beine und es dauerte auch nur ein paar Sekunden, bis sie den dünnen Strickpulli durchdrungen hatte, der Herzogs Oberkörper schützen sollte.
Wieso hatte Heintze bei seiner Einlieferung nicht wenigstens einen Mantel getragen, lag er etwa schon seit dem Sommer in diesem Zimmer dort herum? Herzog war ihm dankbarer denn je, dass der Alte ihm wenigstens noch Schal und Mütze anvertraut hatte, und das nicht nur, weil es verhindert hatte, dass er gerade eben von Dr. Schaller erkannt worden war. Die Kälte war nicht zum Aushalten und der Schnee hatte noch ein paar Zentimeter zugelegt, seit Herzog das letzte Mal darauf geachtet hatte.
Vor drei Tagen. Oder so sagen sie zumindest.
Was ihn direkt vor das nächste Problem stellte, oder genaugenommen vor eine ganze Reihe von Problemen. Erstens, wohin sollte er gehen, jetzt, wo dieser übergewichtige Beamte und seine mehr oder weniger uniformierten Freunde ihn suchten, unterstützt von den Medien? Seine Wohnung war vermutlich ganz weit oben auf der Liste der schlechten Ideen. Überspringen wir für einen Moment Punkt eins, ohne eine Lösung gefunden zu haben und beschäftigen wir uns mit dem logisch daraus folgenden Punkt zwei. Wie sollte er überhaupt von hier fortkommen — egal, wohin? Er besaß keinen einzigen Cent, um ein Taxi zu bezahlen. Falls ihn dessen Fahrer nicht sowieso umgehend zum nächsten Polizeirevier kutschieren würde, nachdem er ihm eine kräftige Dosis Pfefferspray verpasst hatte. Dass Taxifahrer dergleichen bei sich führten, wusste Herzog von Recherchen zu »Das Schattengericht«, und es erschien nur allzu logisch in Anbetracht ihrer oftmals eher zwielichtigen Fahrgäste. Zu denen jetzt wohl auch Herzog gehörte.
Damit fielen auch die öffentlichen Verkehrsmittel aus, es sei denn man nahm die Gefahr in Kauf, beim Schwarzfahren erwischt zu werden. Was ebenfalls umgehend, spätestens bei der Aufnahme seiner Personalien, dazu führen würde, dass Herzog seinen Tag auf einer Polizeiwache beendete, eingesperrt in einen Verhörraum, ihm gegenüber ein ganz spezieller schlecht gelaunter Typ im Regenmantel, und zwar nicht Columbo.
Herzog stopfte die Hände, so tief es ging, in die Taschen des Sakkos, die gottlob echte waren und keine von diesen zugenähten Schmucktaschen, gelobt sei die alte Schneiderskunst! Es brachte trotzdem nicht allzu viel. Seine Fingerkuppen begannen schmerzhaft zu brennen, und er spürte, wie die Kälte allmählich jedes Gefühl aus ihnen verdrängte. Also nahm er die Hände aus den Taschen und steckte sie unter seine Achselhöhlen. Womit er für jeden Passanten sofort wie jemand aussah, der völlig unpassend für die Witterung angezogen war. Wie jemand, zum Beispiel, der gerade aus einem Krankenhaus ausgebrochen war, wegen leichter geistiger Verwirrung, und der schleunigst zurück in sein warmes Bett gebracht werden sollte.
Das, meine Freunde, ist ja mal ein echt beschissener Plot, dachte Herzog. Unser Held, ein bis vor kurzem noch unbescholtener Schriftsteller, jetzt plötzlich ein gefährlicher Psychopath und Killer, sollte wenigstens eine realistische Chance zum Weitermachen haben. Ansonsten ist das Buch nämlich genau hier zu Ende. Also denk, verdammt nochmal, Herzog! Denk nach!
Aber Herzog konnte nicht denken. Für ihn gab es nur ein Ziel. Tommy, sein Sohn. Tommy, dem es gut gehen würde, der nichts abbekommen hatte, weil … weil ihm eben nichts passiert war. Weil es sonst in den Nachrichten gewesen wäre. Tommy, der bestätigen konnte, dass Herzogs nichts, aber auch gar nichts mit dem gewaltsamen Tod von irgendwem zu tun hatte, am allerwenigsten mit dem von Sabine.
Erneut spürte Herzog, wie irreal ihm diese Situation vorkam. Es war absurd. Unwirklich. Nein, es war schlichtweg unmöglich. Diese ganze Sache war ein Schwindel, oder vielleicht eine Verwechslung. Sabine war nicht tot, konnte nicht tot sein und er würde es beweisen. Indem er hinfuhr. Sabine und Tommy besuchte. Dann würden sie von dort gemeinsam die Polizei anrufen und die ganze Sache aufklären. Der nächste Anruf würde Herzogs Anwalt gelten, der ein paar Beamten, die ihn bei dieser Schweinekälte zur Flucht gezwungen hatten, gehörig die Hölle heiß machte. Dieser fette Schimpanse und die seinen würden bezahlen für diese Nummer, und Herzog würde seinem Kumpel Heintze von der Entschädigung einen ganzen Schrank voller Anzüge kaufen, und ein, zwei gefütterte Wintermäntel gleich dazu. Er würde …
»Andreas Herzog?«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Ruckartig fuhr Herzog herum, und bemerkte erst da, dass ihm während seiner letzten Minuten der Schal vom unteren Teil seines Gesichts gerutscht war. Das nun für jedermann gut sichtbar war, wenn auch gerötet von der Kälte. So viel zum Lee-Childs-Phänomen. Ungläubig starrte Herzog in die dunkelbraunen Augen, die ihn leicht amüsiert musterten.
»Andreas Herzog«, wiederholte die Stimme, aber diesmal war es keine Frage mehr.
Er war erkannt worden.
* * *
»Sie sind diese Krankenschwester«, stellte Herzog fest. Er hatte einige Mühe, das Gesicht unter der dicken Kapuze mit dem künstlichen Fellbesatz zu erkennen. Das Outfit ganz in schwarz. Natürlich.
»Bin ich. Aber es kommt auch vor, dass mich die Leute Lina nennen. Lina Bittner.«
Sie streckte ihm die Hand entgegen, die in einem schwarzen Wollfäustling steckte, und Herzog ergriff sie mit einem nervösen Lächeln, das sie gelassen erwiderte. Offen, herzlich, keine Spur von Schüchternheit. Herzog war sie sofort sympathisch, und jetzt, im goldschimmernden Licht der Parkplatzlaterne, musste er zugeben, dass ihre Erscheinung durchaus etwas war, woran zu erinnern sich lohnte. Sie trug ihren schwarzen Eyeliner jetzt noch ein bisschen auffälliger und Herzog wurde klar, warum er sie nicht gleich erkannt hatte. Abgesehen von der Kapuze trug sie Piercings in ihren Nasenflügeln, einen großer Ring durch ihre Nasenscheidewand und dazu passend ein paar kleinere Ringe in ihrer Unter- und Oberlippe. So sehr sich Herzog auch Mühe gab, diesen Gesichtsschmuck als pubertär und unpassend für eine erwachsene Frau und noch dazu eine Krankenschwester zu empfinden — es stand ihr irgendwie. Sexy, auf so eine Mir-doch-wurscht-was-du-davon-hältst-Weise. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben, dachte Herzog, hätte ich jetzt schon ihre Nummer. Mindestens. Bevor dieser Gedanke davongehuscht war, weil sich Herzog dringenderen Dingen zuwenden musste, glaubte er in ihren Augen ein spöttisches Bist-du-dir-da-sicher? aufblitzen zu sehen.
»Ist Ihnen nicht kalt?«, wollte Lina wissen.
»Doch, schon. Aber ich …«
»Sollten Sie jetzt nicht in dem Bett liegen, in das ich Sie vor einer Stunde gesteckt habe?«
»Kann schon sein«, antwortete Herzog vorsichtig.
»Mann, ich hätte schon vor einer Stunde Schichtende gehabt und hätte verschwinden können, wenn Sie nicht gewesen wären, und jetzt danken Sie es mir, indem Sie einfach abhauen«, sagte sie und ihr Grinsen wurde noch eine Spur breiter.
»Tut mir leid.«
»Mir nicht. Ich fandʼs cool. Andreas Herzog. Auf meinem OP-Tisch. Na ja, nicht meinem, sondern dem von Dr. Schaller natürlich. Aber cool war’s trotzdem.«
»Wie meinen Sie das?«
»Hallo? Morddurst? Das Schattengericht? Vom Tod der Engel? Ich hab sie alle. Als Hardcover, natürlich. Nicht schlecht, was Sie so schreiben. Das meiste davon zumindest.«
»Danke«, sagte Herzog und begann, mit den Zähnen zu klappern.
»Au Scheiße, ich laber Sie hier voll und derweil erfrieren Sie mir fast. Kommen Sie, ich bring Sie wieder rein.« Sie ergriff seinen Arm, offenbar im Begriff, ihn zurück zum Eingang des Krankenhauses zu führen.
»N-n-n-nein-n!«, war alles, das Herzog zwischen seinen klappernden Zähnen hervorstoßen konnte. Lina schenkte ihm einen langen und überaus skeptischen Blick. Dann seufzte sie: »Nein?«
»N-n-nicht zurück da rein. Ich muss … weg. Etwas Dringendes erledigen.«
»Etwas Dringendes, ja?« Linas Gesichtsausdruck wandelte sich von amüsierter Skepsis zu Sorge.
»Bitte«, sagte Herzog, »Das ist wirklich sehr wichtig. Sie dürfen mich nicht zurückbringen. Bitte.«
Es musste wohl etwas in seinem Blick gewesen sein, das sie überzeugte. Oder die Tatsache, dass er ganz erbärmlich mit den Zähnen klapperte.
»Na gut«, sagte Lina und blinzelte ihm verschwörerisch zu, »verstehe. Na, dann kommen Sie mal.«
Einfach so.
Herzog folgte ihr auf den Parkplatz, wo sie zielstrebig auf einen kleinen Wagen zusteuerte, der aussah wie eine Mischung aus einem Geländefahrzeug und etwas aus einem Überraschungsei. Mit ihrem Ärmel wischte sie den Schnee von der Beifahrertür, rüttelte ein paar Mal an dem Griff und bekam sie schließlich auf.
»Rein da!«, befahl sie Herzog, der nur allzu gern Folge leistete. Lina beugte sich über seine Beine auf die Fahrerseite, ließ den Wagen im Leerlauf an und fummelte dann an irgendwelchen Knöpfen am Armaturenbrett herum. Offenbar mochte sie BHs nicht besonders, dachte Herzog, als er das sanfte Gewicht ihrer Brüste durch den dünnen Stoff seiner Hose spürte. Stress, dachte er, bringt einen auf die absurdesten Ideen, und das in den unmöglichsten Momenten.
»Wird eine Weile dauern«, sagte sie, »bis die Heizung warm wird. Solange nehmen Sie am besten die hier.“ Sie langte an ihm vorbei in den Fond des Wagens und förderte eine Wolldecke zutage, die sie Herzog um die Schultern legte. Auch wenn die Decke selbst kalt war, so fühlte sich diese zusätzliche Stoffschicht bereits himmlisch an, fand Herzog.
»Na bitte«, sagte Lina, schlug die Tür von außen zu. Kurz darauf begann sie, das Auto rings um Herzog von Schnee und Eis zu befreien. Sein Körper schöpfte neue Hoffnung und das Zittern ließ allmählich nach. Als sie mit dem Kratzen fertig war, öffnete sie die Fahrertür, die ohne den geringsten Widerstand aufging, und ließ sich neben Herzog auf den Fahrersitz fallen. Inzwischen war die Heizung des Wagens zum Leben erwacht und sandte warme Luftströmungen durch das Innere. Herzog streckte seine Handflächen der Hitze entgegen, die aus dem Lüftungsgitter im Armaturenbrett strömte.
»Also, wohin fahren wir?«, fragte Lina. Langsam setzte sie den Fiat aus der Lücke und fuhr zum Ende des Parkplatzes.
»In den Süden. Nach Neuried«, sagte Herzog. »Sie wissen, wo das ist?«
Lina nickte und sie setzten ihre Fahrt schweigend fort. Ihr Schweigen passte ganz hervorragend zu der weißen stillen Landschaft draußen. Die Straßen waren mittlerweile weitestgehend geräumt, aber alle Fahrer steuerten ihre Fahrzeuge mit vorsichtigem Bedacht, so auch Lina. Was Herzog nach seinem jüngsten Erlebnis in seinem Porsche für eine ausgezeichnete Idee hielt.
»Warum tun Sie das, Lina?«, brach er schließlich das Schweigen.
»Warum tue ich was?«
»Mir helfen? Ich meine, Sie wissen …«
»Dass Sie ein gefährlicher Irrer sind?« Lina lächelte.
Herzog verschluckte sich beinahe. »Ich, äh ..«
»Mann, für einen Schriftsteller sind Sie aber nicht besonders wortgewandt.« Lina beschleunigte den Wagen sanft, um die Grünphase noch zu erwischen.
»Ich … na ja, ich war es nicht«, antwortete Herzog und musste Lina recht geben. Nicht besonders wortgewandt. »Zumindest glaube ich das.«
»Schon klar«, Lina schmunzelte. »Cool, wie Stenzel.«
»Wer?«
»Na, Stenzel, der Kommissar, den der Geisteskranke in Vom Tod der Engel dazu bringt, seine eigene Familie umzubringen. Das war echt ein starkes Buch, also die Engel. Viel besser als Ihre beiden letzten, wenn ich das mal sagen darf.«
Wie zur Hölle konnte das Mädchen jetzt nur über seine blöden Bücher reden?
»Aber diese Marketingaktion. Absolut coole Idee, total überzeugend. Ihnen fallen doch echt immer die coolsten Sachen ein. Erst die Band zur Lesung und dann diese Verfolgungsjagd, total geil! Allein die Idee, das Buch am Tag der Veröffentlichung starten zu lassen, das war klasse. War das eigentlich Ihre Idee oder die vom Verlag?«, plapperte sie fröhlich weiter. »Und dann das mit dem Mord. Das muss ja Unsummen gekostet haben, diese Nachricht in der Presse zu lancieren. Aber hey, ich schätze, das spielen Sie mit dem neuen Buch locker wieder ein. Was man so hört, soll es ja wieder in die Richtung der alten Bücher gehen. Ich hab’s mir auch gekauft, noch bei der Lesung am dreiundzwanzigsten. Sie haben’s mir übrigens signiert, aber ich bin Ihnen wohl nicht aufgefallen. Ihre anderen Bücher hab ich übrigens auch mit Widmung. Bis auf Sommerstille hab ich Ihre Unterschrift in jedem. Sie werden sich vermutlich nicht dran erinnern, bei den ganzen Büchern, die Sie andauernd unterschreiben müssen …«
»Stop, Lina, bitte!«, flehte Herzog und legte seine Hand auf ihren Unterarm. »Wovon reden Sie? Welche Marketingaktion?«
»Na, das mit dieser Frau, die Sie ermordet haben sollen. Starke Sache. Hätte nicht gedacht, dass der Sender bei so was mitmacht. Es war ja sogar in der Zeitung, glaube ich.«
Herzog schwieg. Ihm fiel beim besten Willen nichts Vernünftiges ein, das er darauf hätte erwidern können. Sie glaubte, das sei alles nur Theater. Was es vermutlich auch war. Sein musste. Hoffnung keimte in Herzog auf. Alles würde sich aufklären, sobald sie bei Sabine waren. Und Tommy.
»Wohin fahren wir eigentlich? Zu Ihnen nach Hause?« Sie warf ihm einen Seitenblick zu, den er unter anderen Umständen nur allzu gern als Einladung gewertet hätte. Im Moment beschränkte sich all seine Vorstellung allerdings darauf, in ein paar Minuten die Treppe zu Sabines Wohnung hinaufzuhasten, sie und Tommy in die Arme zu schließen, und diesem ganzen Unsinn ein Ende zu machen. Und anschließend ein paar Leuten gehörig in den Arsch zu treten, allen voran einem gewissen Agenten namens Urbaniak, genannt Urby, der uralte Doppelkinnfotos von ihm in Umlauf brachte. Dem ganz besonders fest. Um Linas Nummer konnte er sich später immer noch kümmern.
»Genau. Ich …« Herzog räusperte sich. »Ich muss etwas überprüfen. Hängt mit der Presseaktion zusammen.«
»Oh, die läuft noch? Das ist ein Teil davon, ja? Dann kommt das wohl in Ihrem neuen Buch vor? Oh, verdammt, ich wollte es eigentlich gleich am 24. anfangen, aber es ging nicht, weil ich Schicht hatte, und abends war ich dann so fertig, dass mir nur noch die Augen zugefallen sind. So ein Mist. Jetzt weiß ich doch gar nicht, was ich als Nächstes tun soll. Ich meine, ich will es ja so machen, wie es im Buch steht.«
»Sie machen das ganz ausgezeichnet, Lina.«
»Echt?«
»Echt«, sagte Herzog und versuchte ein Lächeln. Erstaunlicherweise bekam er es sogar hin. Oder irgendetwas in der ungefähren Nähe eines Lächelns. Natürlich stand in Totgespielt kein Wort von einem Krankenhausaufenthalt des Hauptakteurs, der nebenbei bemerkt auch nicht Schriftsteller, sondern Finanzbeamter war (zumindest tagsüber, wenn er nicht gerade seinen nächtlichen Mordgelüsten nachging). Schon gar nicht ließ sich dieser Kerl von Krankenschwestern in einem winzigen Fiat durch die Gegend kutschieren, mit nichts bekleidet als einem viel zu dünnen Sommeranzug, den er einem alten Mann geklaut hatte. Änderungen dieser Größenordnung hätte sich noch nicht mal der ewig nörgelnde Hofbauer, sein Lektor beim Verlag, getraut. Oder? In jedem Fall war jetzt ein denkbar schlechter Augenblick, Lina auf diesen Umstand hinzuweisen, also hielt Herzog einfach die Klappe.
Herzogs Hoffnung, das sich diese gesamt dumme Angelegenheit alsbald in Wohlgefallen auflösen würde, hielt an, bis sie die Parkstraße erreicht hatten. Da nämlich erblickte er das Einsatzfahrzeug der Polizei.
»Scheiße!«, fluchte er und rutschte in seinem Sitz zusammen.
»Weg hier!«, zischte er in Linas Richtung und die reagierte glücklicherweise besonnen. Sie setzte einfach den Blinker und bog ohne große Hast in die nächste Nebenstraße ab. Unbemerkt von den Polizisten, gottlob. Doch Herzog hatte noch etwas gesehen, das sich auf dem verschneiten Gehweg vor Sabines Haus abspielte. Das beunruhigte ihn fast noch mehr als das versammelte Polizeiaufgebot. Ein Junge in einem Rollstuhl, der, in einen knallblauen Anorak und dicke Decken gewickelt, die Stufen zum Hauseingang hochgehievt wurde, von einem Mann mit Brille, dessen ziviler Auftritt ihn eher als einen Arzt als einen Polizisten erscheinen ließ. Der Junge war Tommy. Die Tatsache, dass sein Rollstuhl nicht von Sabine, sondern einem wildfremden Mann geschoben wurde, umringt von einer Meute Polizisten, konnte nur eins bedeuten.
Alles war wahr.
Damit schwand das letzte Stück Hoffnung, das Herzog an diesem Tag gehabt hatte, dahin.
* * *
»Okay, das war jetzt ein bisschen seltsam«, sagte Lina gedehnt und schaute zu Herzog herüber, der sich im Beifahrersitz des Fiat einrollte und düster durch die Windschutzscheibe ins Schneegestöber starrte. »Die waren echt, oder? Ich meine, die Polizei? Das war es, was Sie überprüfen wollten, oder?«
»Ja«, antwortete Herzog leise.
»Okay«, meinte Lina, und Herzog glaubte ein Zittern in ihrer Stimme zu hören. Dann fasste sie sich. Aber jetzt lächelte sie nicht mehr. »Habe ich eine Chance, lebend aus der Sache rauszukommen, wenn ich tue, was Sie sagen?« Herzog bemerkte, dass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortraten, während sie das Lenkrad umklammerte.
»Wie bitte?«
»Nun, offenbar bin ich die größte Idiotin der Welt. Dass Sie die Presse für eine etwas makabre Marketingaktion gewinnen, kann ich mir noch vorstellen. Aber die Polizei? Sehr unwahrscheinlich. Und besonders belustigt sahen die eben auch nicht gerade aus. Oder Sie. Daraus kann ich nur schließen, dass alles wahr ist. Und dass ich gerade tatsächlich einen gefährlichen Verrückten durch die Gegend fahre, der zufällig einer meiner Lieblingsschriftsteller ist.«
»Aber …«
»Also, werden Sie mich töten?« Sie brachte den Wagen zum Stehen und wandte ihm ihr Gesicht zu. Ihre großen, dunklen Augen hatten jetzt eine Spur von Traurigkeit, aber das war auch schon alles. Es war kein Entsetzen darin zu sehen, nicht einmal ein Anflug von Angst.
Sie fragt das im vollen Ernst, schoss es Herzog durch den Kopf. Und wenn ich jetzt ‚Ja’ sagen würde, wäre sie vermutlich nicht einmal besonders überrascht. Wer ist dieses schöne, traurige Mädchen? Was muss sie bloß erlebt haben, um so gleichgültig zu bleiben?
Doch dann ging auch dieser Augenblick vorbei und Herzog beeilte sich, zu antworten:
»Natürlich nicht. Ich werde Sie nicht umbringen. So wie ich auch Sabine nicht umgebracht habe oder sonst irgend jemanden. Das ist alles … ein riesengroßes Missverständnis. Es ist …«
»Okay«, sagte Lina wieder. »In diesem Fall denke ich, es ist an der Zeit, dass wir uns in Ruhe irgendwo unterhalten. Außerdem habe ich Hunger. Meinen Sie, das ließe sich verbinden?«
Sie glaubt es, dachte Herzog. Einfach so. Allmählich gewann er seine Fassung zurück, Babyschritt für Babyschritt. Und irgendwie half sie ihm dabei. Ihre Gleichgültigkeit, die ebenso gut auch nur ein mittelschwerer Schock sein konnte.
»Ich …also, ich würde Sie ja wirklich gern zum Essen ausführen, aber …«
»Verstehe. Ist gerade ein schlechter Zeitpunkt, schon klar. Ich dachte auch eher an etwas zum Mitnehmen.«
»Oh, ja. Klar. Gute Idee! Allerdings bin ich gerade nicht sehr flüssig.«
Lina setzte den Wagen wieder in Bewegung. »Diese Runde geht auf mich.« Dann begann sie unvermittelt zu kichern. »Das wollte ich schon immer mal sagen.«
Zwanzig Minuten später parkten sie Meindlstraße und mampften Burger mit Pommes frites. Lina hatte die Scheibenwischer abgeschaltet und die Scheibe begann sich zusehends mit Schnee zuzusetzen, während Passanten an ihnen vorbeihasteten, ihre Mützen tief in die Stirn gezogen in dem vergeblichen Versuch, sich gegen den anhaltenden Schneesturm zu schützen. Unter anderen Umständen hätte das durchaus gemütlich oder romantisch sein können, fand Herzog und bemerkte, dass er diese Art von Fast Food bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr gegessen hatte. Nicht mehr, seit er Sabine ... Nun ja, der Geschmack hatte sich nicht verändert. Diesmal allerdings kam es Herzog vor, als habe er selten etwas Köstlicheres gegessen.
»War das Ihr Sohn?«, fragte Lina.
»Hmmmggh?«, erwiderte Herzog, der gerade ein großes Stück von seinem Burger abgebissen hatte.
»Der Kleine da, im Rollstuhl.«
»Ja«, sagte Herzog, nachdem er das Stück heruntergewürgt hatte. »Das ist Tommy.«
»Was fehlt ihm?«
»Er ... er hat das Downsyndrom. Und er ist Autist.«
»Ach du Scheiße.«
Herzog kaute schweigend, sah den Vorüberhastenden zu. Dann sagte er: »Tommy ist ein lieber Junge. Nein, das stimmt nicht. Er ist toll. Er ist erst acht, aber er kann zeichnen, so was haben Sie noch nicht gesehen! Und er brüllt auch nicht den ganzen Tag herum, wie viele glauben, oder geht einem auf die Nerven … oder ...« Und dann waren ganz plötzlich die Tränen da, ohne Vorwarnung.
»Scheiße, was ist nur los?«, rief er mit erstickter Stimme. »Was ist nur …«
Lina legte eine Hand auf Herzogs zitternde Schulter. Es wirkte ein bisschen unbeholfen, als ob sie so etwas selten tat. Aber der sanfte Druck ihrer Finger tat dennoch sehr gut. »Tut mir leid«, erklärte sie. »Ich wollte nicht ... ich habe es nicht böse gemeint.«
»Schon gut«, sagte Herzog nach einer Weile. Inzwischen war es ihm gelungen, die Reste des Burgers und die Pommes in die Tüte zurück zu kippen und eine Hand frei zu bekommen. Er zupfte die Serviette aus der Tüte und wischte sich die Tränen fort. »Es stimmt ja. So etwas Ähnliches habe ich anfangs auch gedacht, als ich davon erfuhr, dass Tommy ... dass er behindert sein würde.«
»Aber es ist Ihnen inzwischen egal.«
»Nein, es ist ... komplizierter als das. Ich und seine Mutter, wir haben uns getrennt, kurz nach seiner Geburt. Aber nicht wegen Tommy. Tommy ist ein Schatz, er ist klasse. Aber zwischen mir und Sabine hat es nicht mehr hingehauen. Sabine, das ist die Frau ...«
»Auf dem Foto, ich weiß.«
Sie schwiegen beide eine Weile, und Lina starrte zur Frontscheibe hinaus. Die war inzwischen so zugesetzt, dass es da ohnehin nichts mehr von der Außenwelt zu sehen gab. Herzog pickte sich die restlichen Pommes aus der Tüte und für eine Weile kauten beide bedächtig, bis Herzog schließlich das Schweigen brach.
»Und was machen wir jetzt?«
»Gute Frage. Oder anders formuliert: Haben Sie mir gerade meine Henkersmahlzeit ausgegeben?«
»Ich denke, in dieser Hinsicht können Sie beruhigt sein. Ich glaube nicht, das Sie Ihre Exfrau … Sie wissen schon.«
»Dass ich sie umgebracht habe?«
»Ja. Ich werde Sie nicht zur Polizei fahren.«
»Gut. Es gibt allerdings noch zwei Probleme, und ich denke, ich schulde Ihnen, Sie darauf hinzuweisen.«
»Und die wären?« Nun starrten sie beide auf die Scheibe, als ob es da irgendwas zu sehen gäbe. Was es nicht tat, außer einer gleichmäßigen weißen Fläche auf der Frontscheibe.
»Erstens machen Sie sich strafbar, wenn Sie mir helfen. Je länger Sie mir helfen, desto schlechter werden Sie aus der Sache wieder rauskommen.«
»Damit kann ich leben.«
»Oh. Einfach so?«
»Einfach so. Ich bin schon groß, wissen Sie? Ein großes Mädchen.«
»Das sind Sie ganz bestimmt.«
»Na, danke schön!« Sie schenkte ihm ein entzückendes, halbseitiges Grinsen. Wenn darin ein Vorwurf lag, so war er nicht echt.
»Entschuldigung«, beeilte sich Herzog zu sagen. »Ich meinte bloß, Sie wirken erwachsen. Sie scheinen zu wissen, was Sie tun. Besser als ich im Moment zumindest.«
»Hm«, sagte Lina. »Und die zweite Sache?«
»Um ganz ehrlich zu sein: Ich weiß wirklich nicht, was ich in den letzten drei Tagen getan habe. Ich habe eine Gedächtnislücke, so groß, dass ein LKW hindurchpasst, samt Anhänger.«
»Eine temporäre Amnesie, ja. Dr. Schaller sprach vorhin davon. Das kommt wohl von Ihrem Unfall. Das ist nichts Ungewöhnliches. Normalerweise vergeht das ein paar Stunden bis Tage später. Ihr Gehirn scheint ja nicht angegriffen worden zu sein. Ist Ihnen schlecht oder so was?«
»Nein, mir geht es gut. Aber das ist nicht das Problem.«
»So? Was denn dann?«
»Meine Gedächtnislücke setzt ein, kurz bevor diese Sache mit Sabine passiert ist. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich auf dem Weg zu Sabine und Tommy war, und da habe ich noch mit Sabine telefoniert. Dann ist es plötzlich drei Tage später und ich erwache auf Dr. Schallers Operationstisch.«
»Oh.«
»Ja.«
»Heißt das, Sie können nicht gänzlich ausschließen, dass Sie es vielleicht doch waren?« Auch jetzt fehlte jeder Anflug von Angst in ihrer Stimme. Da war nur Interesse herauszuhören, wie bei einem Arzt, dem ein besonders interessanter Krankheitsverlauf berichtet wurde. Bewunderungswürdig, fand Herzog. Er hätte vermutlich bei nächster Gelegenheit die Flucht ergriffen, anstatt einen potenziell hochgefährlichen Psychopathen zu Burger und Pommes einzuladen.
»Na ja«, sagte Herzog, »ich habe das hier.« Er zog den Ärmel des Sakkos nach oben, damit Lina einen Blick auf sein Tattoo (temporäres Tattoo wie in ‚Temporäre Amnesie’) werfen konnte.
»Du warst es nicht.« Lina hatte einige Mühe, die verblasste Schrift zu entziffern. »Das ist schräg«, stellte sie fest. Zutreffend, dachte Herzog. »Wissen Sie zufällig, wessen Schrift das ist?«
»Zufällig ja, Lina. Es ist nämlich meine.«
* * *
»Was ist denn das für eine verdammte Scheiße, bitte?«, verlangte Kommissar Walkowiak zu wissen. Schaller ertrug die Schimpftiraden des übergewichtigen Ermittlers bereits seit ein paar Minuten, ohne sich davon sonderlich beeindruckt zu zeigen. Jahrelange Erfahrung im Umgang mit streitsüchtigen Patienten und Angehörigen hatte ihn gelehrt, dass Menschen immer dann am lautesten zu brüllen pflegten, wenn sie sich eingestehen mussten, dass der unerwünschte Ausgang einer Sache hauptsächlich auf ihr eigenes Verschulden zurückzuführen war.
Walkowiak wandte sich erneut an Herrn Heintze und gab sich sichtlich Mühe, sein Temperament wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Dr. Schaller erwog für einen Moment, den Kommissar darauf hinzuweisen, welche überaus ungesunde Kombination Übergewicht und eine Neigung zu Wutausbrüchen für die Gesundheit des Herzens darstellten, ließ es aber dann bleiben. Schwer vorstellbar, dass Walkowiak seine Ratschläge in irgendeiner Weise beherzigen würde. Vermutlich würden sie sich spätestens zum ersten Infarkt wiedersehen, und der würde vermutlich nicht mehr lange auf sich warten lassen.
»Also nochmal.« Walkowiaks Wurstfinger nestelten an der Bettdecke von Herrn Heintze. Für einen Moment befürchtete Schaller, der Kommissar werde dem alten Mann die Decke wegreißen und drohen, sie ihm erst zurückzugeben, wenn der mit der ganzen Wahrheit rausrückte. »Herzog hat Sie gebeten, die Nachrichten laut zu stellen. Und dann?«
»Dann hat er se sich anjesehen, die Nachrichten, nich?«
»Und ist aus dem Bett gesprungen, hat sich Ihre Klamotten geschnappt und ist fortgerannt.«
»Jenauso waret jewesen. Aber …«
»Aber?« Walkowiaks Gesicht wechselte im Sekundentakt zwischen einer intensiv tiefroten und einer käsig weißen Färbung hin und her. Kein gutes Zeichen, dachte Dr. Schaller mit einem Anflug von Mitleid. Welches sich allerdings schnell wieder verflüchtigte.
»Aber ick hab ihm vorher noch meine Mütze und meinen Schal jegeben. Sonst holt det Männeken sich ja den Tod.«
»Das ist Fluchthilfe, Mann!«Walkowiak presste die Worte zwischen seinen seinen wulstigen Lippen hervor. »Ich kann Sie wegen Komplizenschaft mit einem Straftäter anklagen!«
»Na, denn tunse mal, wat se nich lassen können, wa?« Dr. Schaller verkniff sich ein Grinsen. Der alte Kerl hatte Eier, wenn auch nur noch im übertragenen Sinne, genaugenommen. »Ist ziemlich kalt draußen«, fuhr Heintze fort. »Konnte ihn ja schlecht in Strümpfen türmen lassen!«
»Aha!«, rief Walkowiak und streckte seinen dicken Zeigefinger triumphierend in Richtung des Alten, als wolle er ihm ein Auge ausstechen. »Also wussten Sie, dass er fliehen wollte, und haben ihm ganz bewusst dabei geholfen!«
»Na logo«, gab Heintze unumwunden zu. »Der arme Kerl hatte ja nüscht. Nich mal ne eigene Unterhose. Ich weiß nich, obse wissen, wie det is, wenn ma jar nüscht hat. Aber ick weeß, wie det is. Keen anjenehmet Jefühl, der kannick Ihnen flüstern.«
Heintze begann zu kichern, als sei das das Lustigste, was er diese Woche erlebt hatte.
»Aber bevorse hier den jroßen Maxe markieren, sollten se eenes wissen, Herr Kommissär. Ick habe nich mehr lang uff dieser Erdenkugel und wennse mich in irjend nen Jerichtssaal schleppen wollen oder in de Arrestzelle, dann nur zu. Ick glaube allerdings nich, dass Se noch lange Freude an mir haben werden, versteh’n se?«
Walkowiak warf einen fragenden Seitenblick zu Dr. Schaller. Der nickte kaum merklich. Es stimmte. Heintzes Organe waren voller Metastasen, er bekam Unmengen an Schmerzmitteln, aber unter dem Strich war der alte Mann praktisch bereits auf dem Weg in eine hoffentlich bessere Welt. Nicht, dass ihn Schaller auch nur einmal hatte klagen hören. Auch wenn er sich sicher war, dass der Mann unerträgliche Schmerzen leiden musste, trotz der Unmengen an Schmerzmitteln, die er mittlerweile bekam. Heintze war vieles, aber ganz bestimmt kein Jammerlappen. Der Kommissar musste erst noch geboren werden, der es zustande brachte, diesen Veteranen einzuschüchtern.
»Und ick will Ihnen noch nen juten Rat geben, Herr Kommisär. Sparense sich den Aufwand. Dieser Herzog da, den Se jagen wollen, der ist janz bestimmt keen Mörder. Ich hab n paar Mörder kennengelernt, ick seh es einem an der Nase an, könnte man sagen. Dieser Herzog, det ist ’n anständiger Kerl, und wennse auch nur halb so viel erlebt hätten wie ich, mein Junge, dann wüsstense das, sobaldse ihm nur mal die Hand zum ‚Guten Tag’ geben.«
»Na gut.« Walkowiak stand auf, ohne auf die letzte Bemerkung des Alten einzugehen. »Zu Fuß kann er nicht weit gekommen sein. Welche Farbe, sagten Sie, hatte Ihr Anzug?«
»Det war ein janz schöner, so’n cremefarbener. Und passen Se mir bloß auf, dasse da keene Löcher rinschießen, ja? Ist nämlich meen bester.« Diesmal gelang es Dr. Schaller nicht, ein Lächeln zu verbergen. Zumindest bis zu dem Moment, da das heisere Lachen des Alten zu einem bellenden Husten wurde. Dann stand er auf und warf Walkowiak einen ernsten Blick zu. »Ich glaube, das genügt.«
Walkowiak bewegte sich bereits auf die Tür zu. Als er sie geöffnet hatte, drehte er sich noch einmal zu dem älteren Patienten um und nuschelte etwas, das mit viel Fantasie ‚Gute Besserung’ hätte heißen können.
»Ja, Sheriff«, erwiderte Heintze, gänzlich ohne zu nuscheln. »Sie mich ooch, wa?«, und stieß noch einen heiseren Lacher aus. Die Tür fiel hinter Kommissar Walkowiak ins Schloss.
Ja, überlegte Dr. Schaller, während er selbst zur Tür ging — ohne große Eile, denn er legte keinen allzu großen Wert darauf, Walkowiak draußen auf dem Gang gleich wieder in die Arme zu laufen — ja, rein instinktiv war er geneigt, Heintze und seiner sicherlich nicht unbeträchlichen Erfahrung in puncto Menschenkenntnis recht zu geben. Herzog war einfach nicht der Typ, den man sich beim Zerstückeln seiner Exfrau vorstellen konnte. Andererseits — war das nicht gerade typisch für erfolgreiche Psychopathen, dass sie unerkannt in der Masse untertauchen konnten, ohne aufzufallen? Und, was noch wesentlich schwerer wog: als sie Herzog mit ein paar Skalpellschnitten von seinem Gucci-Jeans befreit hatten, war das gute Stück regelrecht von eingetrocknetem Blut getränkt gewesen. Zu viel Blut und zu alt, um allein aus Herzogs Unfallwunden zu stammen. Irgendetwas sagte ihm, dass die Spurensicherung der Polizei das Blut als das von Sabine Neuhaus identifizieren würde.
* * *
»Okay«, sagte Lina, »Ich habe drüber nachgedacht. Ich werde Ihnen helfen.«
»Das kann ich nicht von Ihnen verlangen. Ich kann es noch nicht mal zulassen. Die Tatsache, dass Sie bis jetzt noch nicht die Polizei gerufen haben, war schon mehr, als ich von einer Wildfremden erwarten kann. Viel mehr.«
»Vielleicht bin ich gar keine Wildfremde«, sagte Lina leise.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe auch ein paar Tattoos, wissen Sie?« Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte sie aus ihrer Jacke und schob den Ärmel ihres schwarzen Sweatshirts nach oben, wie es Herzog soeben mit seinem Anzugärmel getan hatte. Allerdings war dort wesentlich mehr zu sehen als ein mit einem Permanentmarker hingekritzelter Spruch. Ihre Arme waren von einem dichten Netz aus Linien, geometrischen Symbolen und kleinen bildhaften Darstellungen bedeckt. Da waren große, dunkle Sterne und etwas, das wie eine Schwalbe mit gebrochenen Flügeln aussah, verbunden durch ein wildes Gestrüpp dornengespickter Ranken. Alles in allem wirkte keines der dargestellten Symbole besonders positiv oder gar lebensbejahend, aber Herzog war sich sicher, dass in jedem einzelnen eine tiefe Bedeutung für ihre Trägerin lag. Was Herzog hier erblickte, hatte nichts mit einem Modetrend oder reiner Hautverschönerung zu tun. Vielmehr waren diese Bilder Narben, nach außen getragen, vermutlich damit die Besitzerin sich daran erinnerte, wer oder was ihr diese Narben zugefügt hatte — und dass sie überlebt hatte. Trotzdem.
Du warst es nicht.
Du lebst noch.
Vielleicht hatten sie doch mehr gemeinsam, als Herzog zunächst angenommen hatte. Soweit er es erkennen konnte, zogen sich die Hautbilder oberhalb von Linas Handgelenk über den gesamten Arm, verschwanden dann unter ihrem Ärmel, von wo sie sich vermutlich bis zur Schulter weiterzogen. Oder noch weiter.
»Bei der Arbeit muss ich natürlich immer langärmelige Klamotten tragen«, sagte Lina mit einem entschuldigenden Lächeln. »Das kann ganz schön belastend sein, besonders im Sommer. Aber es geht nicht anders.«
Dann, leiser, fügte sie hinzu: »Verstehen Sie?«
Herzog nickte.
Fasziniert folgte er den verschlungenen Linien und Symbolen auf Linas Haut, die sich wie Blutgefäße über ihren Arm zogen. Als sein Finger behutsam über ihren Unterarms strich, bemerkte er, dass es noch einen zweiten Grund für die Tätowierungen gab. Im Bereich von Linas Handgelenk tastete er über hartes, vernarbtes Gewebe. Als er diese Stelle berührte, zog sie rasch den Arm weg und fuhr hastig wieder in ihre Jacke.
»Ich verstehe«, sagte Herzog. Denn das war etwas, das er nur zu gut verstand.
Es geht nicht anders.
»Aber ich kann trotzdem nicht verantworten, dass Sie meinetwegen Ärger bekommen. Ich werde jetzt aussteigen und Sie fahren nach Hause und vergessen, dass Sie mich jemals außerhalb Ihrer Arbeit gesehen haben. Danke für den Burger. Sobald ich wieder auf den Füßen bin, werde ich mich erkenntlich …«
»Nein«, unterbrach ihn Lina, und dann leiser, fast flehend: »Bitte!«
Für eine Schrecksekunde hörte sich ihre Stimme wie eine hundertprozentige Kopie von Sabines an.
Tu mir weh, damit ich mich wieder spüren kann. Damit ich weiß, dass ich noch lebe.
Herzog konnte gerade noch die Tür aufreißen, da spülte die Flutwelle auch schon seine Gedanken fort und er übergab sich keuchend auf den Gehsteig.
Stumm reichte Lina ihm eine Serviette. Herzog wischte sich den Mund ab und warf die Serviette neben die halbverdauten Resten seiner letzten Mahlzeit in den Schnee. Eine ältere Frau rümpfte die Nase ob der Sauerei und hastete rasch weiter, wobei sie einen winzigen Hund an einer pinkfarbenen Leine hinter sich her zerrte.
Herzog schloss die Tür.
»Das war das Anästhetikum«, meinte Lina. »Sie hätten noch etwas warten sollen mit dem Essen.«
»O Mann«, sagte Herzog und ließ sich in den Sitz sinken. »Das tut mir leid.«
»Keine Ursache. Ich habe schon weit Schlimmeres gesehen. Ich bin Krankenschwester, schon vergessen?«
»Shit«, sagte Herzog, »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Im Moment scheint sich mein Leben um mich herum mit rasender Geschwindigkeit zu drehen. Ein bisschen wie ein Wasserstrudel, wenn man in einem gigantischen Waschbecken den Stöpsel gezogen hat. Wen wundert’s, dass einem davon schlecht wird?«
»Wie der Strudel in einem riesigen Waschbecken. Hm, das gefällt mir«, bestätigte Lina. »Wissen Sie was? Sie sollten Schriftsteller werden.«
»Sehr witzig.«
»Stimmt«, sagte Lina und nickte bestimmt. »Ich bin ein echter Witzbold. Okay, haben Sie einen Ort, wohin Sie können? Wo Sie ein paar Tage ungestört sind? Vermutlich wäre es keine gute Idee, wenn wir jetzt zu Ihnen fahren.«
»Ungestört? Ich vermute mal, dass die Polizei inzwischen eine Großfahndung nach mir ausgerufen hat. Ich kann natürlich nicht nach Hause, und bei Sabines Wohnung waren wir grade.«
»Hm, zu mir können Sie leider auch nicht. Meine Mitbewohnerin …«
»Ich komme schon klar. Wenn Sie unbedingt wollen, fahren Sie mich zum Bahnhof.«
»Und dann? Sie haben kein Geld und noch nicht mal vernünftige Winterklamotten, und was glauben Sie, wo die Polizei Sie als Erstes suchen wird, mal von den Flughäfen abgesehen.«
»Scheiße, ja. Das stimmt vermutlich.«
»Und wo wollen Sie von da überhaupt hin?«
»Ich …« Herzog dachte nach. »Es gibt eine Hütte. In den Bergen. Sie gehört einem Freund, der sich gerade in Asien die Sonne auf den Bauch scheinen lässt. Dorthin war ich unterwegs, bevor …«
»Bevor Sie Ihr Gedächtnis verloren haben, verstehe. Weiß irgendjemand von der Hütte? Außer Ihrem Freund, meine ich? Jemand, der der Polizei davon erzählen könnte?«
»Sabine, aber …« Herzog verstummte.
»Verstehe. Dann mache ich Ihnen einen Vorschlag. Ich fahre Sie zu dieser Hütte. Dort können Sie in Ruhe nachdenken, was Sie der Polizei erzählen und sich vielleicht daran erinnern, was während Ihres dreitägigen Blackouts passiert ist.«
»Ich muss der Polizei nichts erzählen, Lina, oder mir was ausdenken. Ich war es nicht!«