29. DEZEMBER

Aus: Andreas Herzog, »Vom Tod der Engel: Thriller«, 2. Auflage 450.000 Exemplare

Es war unglaublich, ein regelrechter Rausch von visuellen Eindrücken. Eine Bilderflut, ein schwarz-buntes Kaleidoskop von Videosequenzen, manche aus Filmen, hochaufgelöst und mit Effekten nachbearbeitet, um ihnen den Anschein kristallklaren Realismus zu geben. Aber diese waren nicht so gut. Viel besser waren die verwaschenen Aufnahmen, zitternde Bilder. Die Kamera von unsteter Hand gehalten. Die Finger, welche die Kamera umklammerten, zitternd vor Erregung, als sie die unbarmherzige Linse auf ihre Opfer gehalten hatten. Zitternd und unbarmherzig wie seine eigenen Finger und Augen jetzt in diesem Moment.

Finger, die sich um seine hoch aufgerichtete Männlichkeit schlossen, so erregt war er, dass es wehtat. Beinahe hätte er die fleißigen Finger gar nicht gebraucht. Aber dann vergaß er auch das, war nur noch Linse und Band. Sah und speicherte, ununterbrochen, Bild um Bild, Film um Film. Immer schneller ließ er die Grausamkeiten nun auf sich einstürmen. Ein Messer, das hinter der Kameraebene hervorragte und auf eine nackte Frau einstach, die in einer blutbespritzten Badewanne lag, ein Schuss ins Gesicht aus nächster Nähe, ein verstümmelter Torso, der Arm am Schultergelenk herausgerissen, von der rohen Kraft der Mangel, in die der Arbeiter geraten war

Als er spürte, dass er soweit war, schloss er alle Fenster auf dem Bildschirm.

r das Finale.

Er konnte sich jetzt nur noch mit übermenschlicher Anstrengung zurückhalten. Mit routinierten Bewegungen klickte er auf die Datei mit

dem Film

und lehnte sich zurück. Diese Kamera wackelte nicht, sie war auf ein Stativ geschraubt und der fensterlose Raum wurde gut ausgeleuchtet. Ein Keller, vermutlich, oder ein Bunker. Nackte Betonwände, ein Steinfußboden, auf dem ein Stuhl stand, in der geometrischen Mitte des Bildausschnittes. Der Täter hatte die Kamera im äußersten Winkel des Raumes unterbringen müssen, damit sie das gesamte Geschehen einfangen konnte. Damit man das gefesselte Mädchen gut sehen konnte, das auf dem Stuhl auf Zehenspitzen stand. Das tat sie, weil um ihren Hals ein Seil geschlungen war, dessen Ende an der Decke befestigt worden war. Ihr Balanceakt auf dem wackeligen Stuhl war alles, das sie noch von einem tödlichen Sturz in die Tiefe trennte.

Auch an dem Stuhl war ein Seil befestigt.

Er warf einen Blick auf die Zeitanzeige des Videos und drückte seine Hand schmerzhaft um seinen erregten Penis. Noch nicht.

1:52

1:53

Gleich.

Das Seil an dem Stuhl straffte sich und er wurde unter den Füßen des Mädchens fortgerissen, flog geräuschlos davon und landete irgendwo außerhalb des Bildausschnitts.

Aber er interessierte sich jetzt nicht mehr für den Stuhl.

Er hatte bloß noch Augen für das Gesicht des Mädchens, ihre hübschen, dunklen Augen, die sich weiteten in diesem Moment der Panik, über dem Knebel, den der Täter ihr verpasst hatte. Er hatte oft über diesen Knebel nachgedacht. Der Täter wollte nicht, dass sie schrie. Das musste bedeuten, der Täter ging davon aus, dass Menschen in der Nähe waren. Menschen, die ihn hätten stören können. Ihn davon hätten abhalten können, dieses beeindruckende Werk mörderischer Ästhetik zu Ende zu führen. Menschen, die vielleicht ein Stockwerk über ihm schliefen, aßen, Sex hatten, während er

das hier tat.

Das, fand er, war ein wirklich erregender Gedanke. Ein Gedanke, über den man regelrecht die Kontrolle verlieren konnte. Er fetzte ein paar Papiertaschentücher aus der bereitgestellten Packung und presste sie hastig um seinen Schaft.

Dann kam er genau in dem Moment, als der zappelnde große Zeh des sterbenden Mädchens den Fußboden für den Bruchteil einer Sekunde zu berühren schien. Er stellte sich gern vor, dass sie diese Berührung noch spürte, bevor sie starb. Ein Sekundenbruchteil Hoffnung, bevor es überhaupt keine Hoffnung mehr gab.

Perfekt.

* * *

»Die Morde sind Kopien«, sagte Steinlein.

»Und was«, begann Walkowiak, bevor ihn ein heftiges Gähnen seiner Stimme beraubte, »und was soll das nun schon wieder heißen?«

»Sie sind Nachahmungen«, hörte er die Stimme des Psychologen, die aus dem kleinen Lautsprecher an seinem Ohr krächzte. Er klang heiser. Als ob er die ganze Nacht über den Schundromanen von Herzog gehockt hätte. »Konkret die Nachbildungen der Morde aus Herzogs neuestem Buch. Ich habe es gerade gelesen. Es stimmt alles haargenau überein, zumindest in einem symbolischen Sinne. Die Augen der Opfer in seinen Büchern wurden von dem irren Killer zugenäht, deshalb nannten sie ihn in der Presse Das Schneiderlein. Im Falle von Ann-Marie Werle und Sabine Neuhaus wurden die Augen zwar entnommen und vom Tatort entfernt, aber es läuft letztlich auf das Gleiche heraus. Das Unbrauchbarmachen der Sehorgane, verstehen Sie?«

Walkowiak schwang die Füße vom Bett und suchte im Dunkeln nach seinen Hauspantinen. Er fand sie nicht. Stattdessen tappte er auf dem eiskalten Schlafzimmerboden umher.

»Scheiße!«, zischte er in den Hörer und lief dann, so schnell es sein eher behäbiger Fortbewegungsapparat zuließ, in die Küche, wo er hoffte, Linderung für seine schockgefrosteten Zehen zu finden. Er fand sie in Form zweier Socken, die offensichtlich am Vorabend von Schorschi, dem Familienhund, als Beißspielzeug benutzt worden waren. Fluchend fuhr er in die Reste der einst kuscheligen Fußwärmer. Seine Pantinen teilten vermutlich ein ähnliches Schicksal als teilweise verdaute Klümpchen im Magen des kleinen Lieblings.

»Oh«, ließ sich Steinlein durch den Apparat hören, und plötzlich schwang so etwas wie Besorgnis in seiner Stimme mit. »Habe ich Ihre Frau geweckt?«

»Nein. Ich sitze in der Küche. Es ist nur schweinekalt, unser Hund hat meine Socken zerstört und meine Schuhe entführt und …« Er schaute auf die große Uhr über dem Küchentisch. Viertel vor sechs. »Es ist verdammt früh am Tag.«

»Entschuldigen Sie. Als Junggeselle vergesse ich leider manchmal meine Umgangsformen, was die Schlafenszeiten anderer Leute betrifft. Aber ich fand, das sollten Sie sofort hören. Noch bevor Sie aufs Revier fahren.«

Erinnere mich bloß nicht daran, dachte Walkowiak, aber stattdessen sagte er nur: »Schon gut. Wenn es denn so wichtig ist. Herzog kopiert also Ihrer Meinung nach die Morde aus seinen eigenen Büchern, von diesem Schneiderlein-Mörder?«

»Ja. Auch dieser fesselt seine Opfer und knebelt sie, bevor er mit seiner Arbeit beginnt. Im Buch benutzt er ein Schnitzmesser. So ein kleines, scharfes Ding. Damit fängt er an, sie zu ritzen, bis er sich davon in einen regelrechten Rausch hineinsteigert. Irgendwann rastet er völlig aus und …«

»Ja, ja, schon gut«, unterbrach ihn Walkowiak. Er mochte seinem Magen diese Bilder nicht zutrauen um diese Uhrzeit, schon gar nicht vor der ersten Tasse Kaffee des Tages. Finster starrte er auf die Weihnachtsbeleuchtung am Fenster. »Und deshalb wecken Sie mich mitten in der Nacht? Um mir zu sagen, dass Herzog die Morde im Voraus geplant hat?«

»Es geht noch weiter. Die Morde passierten auch an den selben Tagen wie im Buch. Herzogs Agent hat eine Marketingaktion gestartet, wie Sie vielleicht wissen. Herzogs Lesung in der Kranhalle fand am dreiundzwanzigsten statt. Dem Tag, an dem auch das erste Kapitel im Buch startet. Die anderen Morde ereigneten sich genau zur gleichen Zeit statt wie die Morde im Buch.«

»Was wiederum für Urbaniak als Täter oder wenigstens Komplizen spricht.«

»Wieso meinen Sie das?«

»Sie sagten doch selbst, er habe die Marketingaktion, diese öffentliche Lesung, geplant. Vielleicht hat er danach einfach weitergemacht? Ich verstehe immer noch nicht, warum das nicht hätte warten können, bis wir uns im Revier sehen, Herr Steinlein.«

»Weil es im Buch einen dritten Mord gibt.«

»Was?«

»Ja. Der Täter wird von der Polizei gejagt, doch es gelingt ihm, sich zu verstecken und noch einmal zuzuschlagen, bevor er schließlich geschnappt wird.«

»Ach«, sagte Walkowiak.

»Ja, begreifen Sie es denn immer noch nicht? Wir wissen genau, wann er zum nächsten Mal zuschlagen wird, und wenn wir die Hinweise aus seinen bisherigen Morden in das richtige Verhältnis zu seinem Buch setzen, dann …«

»Dann können wir den dritten Mord vielleicht verhindern und ihn schnappen.« Plötzlich war Walkowiak hellwach.

»Bingo!«

* * *

Lina klappte das kleine Display ihres Handys zu, nachdem sie die SMS gelöscht hatte. Dann drückte sie den Knopf am oberen Ende, bis das Gerät sich mit einem Blinken des seitlich angebrachten LED-Lämpchens abschaltete.

Herzog gesellte sich aus der Küche zu ihr, in jeder Hand einen dampfenden Becher.

»Leider nur noch türkisch, fürchte ich«, sagte der Autor und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. Lina nickte und nahm die Tasse dankbar entgegen.

»Aber es gibt auch gute Nachrichten«, fuhr Herzog fort, »ich habe Brötchen gefunden, solche zum Aufbacken. Der Ofen müht sich gerade damit ab.«

»Hmm«, machte Lina und stellte erst jetzt fest, wie ausgehungert sie seit ihrer letzten gemeinsamen Mahlzeit, Ravioli à la Carbonara aus der Dose, war.

»Ja, nicht? Und Pizza gibt es auch. Wie wäre es damit heute Abend? Dazu ein Gläschen Wein, am Kamin?«

»Gern«, antwortete Lina vorsichtig. Seit Herzog gestern Abend begriffen hatte, nach welchem Muster die Morde geschehen waren, war er wie ausgewechselt gewesen. Von seiner bisherigen Niedergeschlagenheit war plötzlich nichts mehr zu spüren, er wirkte regelrecht beschwingt. Die Jagd hatte begonnen. Fragte sich bloß, was eigentlich gejagt wurde. Oder wer. Aber vielleicht lag das auch an der Flasche Wein, die er vorhin geöffnet und innerhalb einer halben Stunde geleert hatte. Allein, nachdem Lina dankend abgelehnt hatte. Für die zweite hatte er noch nicht mal eine halbe Stunde gebraucht. Anschließend war er aufgestanden und ins Schlafzimmer gegangen. Ohne zu wanken oder sonstige Anzeichen von Trunkenheit zu zeigen. Er hatte nicht mal gelallt, als er Lina eine gute Nacht gewünscht hatte, allerhöchstens hatte er seine Worte eine Winzigkeit überbetont, sie ein bisschen zu deutlich ausgesprochen. Nur, wenn man ganz genau hinsah, bemerkte Lina, fiel einem auf, dass Herzog etwas aufrechter ging als sonst, als sei er plötzlich von neuem Selbstbewusstsein erfüllt. Aber das vielleicht Furchteinflößendste war die dritte leere Weinflasche, die er heute morgen aus seinem Schlafzimmer mitgebracht und neben die beiden anderen auf den Boden neben der Spüle gestellt hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Selbstverständlich war das im Moment nicht Linas einziges Problem. Das andere war die Frage, ob sie auf die SMS antworten sollte. Das, entschied Lina, würde entscheidend vom Verlauf der nächsten Stunden abhängen. Einerseits mochte der Absender durchaus der sein, für den er sich ausgegeben hatte. Was aber, wenn nicht? Was, wenn sie ihm verriet, wo sie waren, um damit Herzog endgültig ans Messer zu liefern, noch bevor der Gelegenheit bekam, seine Unschuld zu beweisen? Was, wenn sie damit auch sich und zwar im Wortsinne selbst ans Messer lieferte, weil der Killer ihre Nummer herausbekommen hatte und nun so tat, als arbeite er für die Polizei? An die Nummer ihres Telefons zu kommen, mochte einigermaßen schwierig sein, aber unmöglich war es ganz sicher nicht. Sollte sie Herzog von der SMS berichten, ihn warnen oder lieber doch nicht, wie der Sender sie so eindringlich gewarnt hatte? Zu viele Fragen, auf die es deutlich zu wenig klare Antworten gab, hatte sie entschieden, und die SMS dann gelöscht. Die Nummer jedoch hatte sie gespeichert. Nur für den Fall.

Als Herzog kurz darauf wieder in der Küche verschwand und mit den Brötchen zurückkam, nahm sich Lina eines und spielte unschlüssig damit herum, bevor sie schließlich hineinbiss.

In der SMS des Kerls, der sich selbst Dr. Steinlein nannte, hatte etwas von einer Krankheit gestanden, die angeblich dafür sorgte, dass Herzog sich unerwartet in eine andere Persönlichkeit verwandelte und dann schreckliche Dinge tat, ohne dass sein anderes Ich etwas davon mitbekam. Der Absender hatte auf medizinisches Kauderwelsch verzichtet, aber Lina wusste auch so, was er meinte. Dissoziative Identitätsstörung, kurz DIS. Ein Fachbegriff, der Lina durchaus nicht neu war.

Lina kaute Ewigkeiten auf dem kleinen Stück Teig herum, während sie nachdachte und versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Wie klug war es, noch länger mit Herzog in der Hütte zu bleiben, falls das stimmte, was in der SMS stand? Was aber, wenn der Absender sich irrte eine Möglichkeit, die der Unbekannte durchaus eingeräumt hatte, mit dem Hinweis, dass es in jedem Fall besser sei, wenn Herzog sich stellte, und zwar sofort? Lina legte ihr noch warmes Brötchen beiseite. Ihr war der Appetit vergangen.

Herzog bemerkte es gar nicht, er schlang das Essen in sich hinein wie ein hungriger Bär.

Am beunruhigendsten war vielleicht der dritte Umstand, auf den der mysteriöse Absender hingewiesen hatte: Dass der Täter wieder morden würde, und zwar noch in diesem Jahr.

Also innerhalb der nächsten beiden Tage.

* * *

»Ich verstehe trotzdem nicht, was das ändert. Herzog ist weiterhin verdächtig, immerhin geschehen die Morde nach seinem Buch. Und das trifft auch auf Karsten Urbaniak zu, der wird das Buch ja wohl vor allen anderen gelesen haben immerhin ist er sein Agent.«

»Richtig, was das betrifft, sind die beiden immer noch verdächtig, und vielleicht sind sie auch tatsächlich beide darin verwickelt, auch wenn ich das aus psychologischer Sicht r die unwahrscheinlichste Variante halte.«

»Aber die Spuren …«

»Ja, beide waren an beiden Tatorten, keine Frage. Aber das macht sie nicht automatisch zu Mördern. Zumindest nicht alle beide. Stellen Sie sich beispielsweise einmal vor, Urbaniak stolpert mehr oder weniger aus Versehen über die Leiche von Ann-Marie Werle. Vielleicht war sie schon tot, als er ihre Wohnung betrat«, sagte Steinlein.

Walkowiak schob ihm eine Tasse des lauwarmen, schlammfarbenen Getränks hin, das er kurz zuvor aus der Kaffeemaschine gezaubert hatte. Steinlein rührte die Tasse nicht einmal an.

»Er hat sich über den Balkon reingeschlichen!«, wandte Walkowiak missmutig ein.

»Freilich! Wenn sie tatsächlich schon tot war, konnte sie ihn ja wohl schlecht zur Tür reinlassen. Als er sie da liegen sah, bekam er Panik. Vergaß Herzogs Buch, weswegen er wahrscheinlich gekommen war, und floh Hals über Kopf. Das würde die massenhaften Spuren am Tatort erklären. Er war einfach zu aufgeregt, sie zu verwischen, auch wenn er das vielleicht ursprünglich vorhatte.«

»Kann sein. Die Technik prüft das alles derzeit noch.«

»Ja. Kurze Zeit später ist ihm klargeworden, dass er automatisch verdächtigt werden würde, und dass er seine Spuren überall am Tatort hinterlassen hatte. Und als kleine Dreingabe ist er im Treppenhaus auch noch von diesem älteren Herrn, äh …«

»Koroljow.«

»… Koroljow gesehen worden. Was hätten Sie denn an seiner Stelle gemacht, außer unterzutauchen und zu warten, bis die Polizei den wirklichen Täter festnimmt?«

»Schöne Theorie, aber sie ändert nichts an den Fakten. Ich halte mich lieber an das, was ich habe. Und das sind nun mal Urbaniaks Spuren am Tatort in der Schwanthaler Straße, die er da ungefähr zur Tatzeit hinterlassen hat. Und sein Sperma in Sabine Neuhaus, nicht zu vergessen.«

»Dasselbe trifft auf Herzog zu, nur umgekehrt.«

»Eben. Und deswegen werde ich mir beide schnappen.«

»Viel Erfolg! Aber es gibt noch etwas, das Sie vielleicht wissen sollten.«

»So?«, fragte Walkowiak gedehnt. Er merkte allmählich, wie sehr er die zusätzliche Stunde Schlaf hätte gebrauchen können, die ihm Steinlein mit seinem aufgeregten Anruf am frühen Morgen gestohlen hatte. »Was denn?«

»Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem bisherigen Geschehen und den Morden in Herzogs neuestem Roman

Walkowiak nippte an dem lauwarmen Getränk, verzog das Gesicht und forderte Steinlein dann mit einer Geste zum Fortfahren auf. »Lina Bittner. Im Buch entführt der Täter niemanden. Die Flucht gelingt ihm, weil er eine Komplizin hat, die von Anfang an mit drinsteckte. Dieser Punkt gehört also nicht zu seinem Plan, wenn er nach der Handlung in seinem Buch vorgeht. Was Sie übrigens mal lesen sollten. Ich habs Ihnen mitgebracht.«

Er schob Walkowiak ein Buch hin. Auf dem Cover prangte in fetten Druckbuchstaben der Name des Autors, und darunter, etwas kleiner

TOTGESPIELT

Thriller

Daneben fand sich das in düsteren Farben gehaltene Bild einer Stoffpuppe, der jemand Augen und Mund mit einem dicken, roten Faden zugenäht hatte. Sie lag in einer Blutlache, vom selben auffälligen Rotton wie der Nähfaden. Walkowiak klappte es auf, blätterte lustlos darin herum, bis sein Blick auf die erste Seite fiel. Jemand hatte etwas dort hingekritzelt, direkt unter die Wiederholung des Titels vom Cover.

Viel Vergnügen,

stand da in weit ausladender, geschwungener Schrift. Und dann,

Andreas Herzog, München, den 23. Dezember

»Sie haben sich das Ding signieren lassen?«, fragte Walkowiak und gab sich Mühe, seine Überraschung hinter einem Ausdruck offener Missbilligung zu verbergen. Der Psychologe schüttelte den Kopf.

»Ebay. Die Signatur ist vermutlich nicht mal echt.«

»Aha. Na jedenfalls, nein danke, ich habe momentan keine rechte Muße zum Lesen, wissen Sie? Zufällig muss ich nämlich gerade die Ermittlungen in einem Mordfall leiten.«

Wortlos steckte der Psychologe das Buch wieder ein.

»Das heißt also, wenn ich Sie richtig verstehe, stehen die Chancen für Lina Bittner gar nicht so schlecht im Moment. Zumindest, wenn wir sie finden, bevor der Killer im Buch alias der Autor erneut zuschlägt.«

Steinlein nickte. »Sie stehen vielleicht sogar noch ein bisschen besser als das.«

Walkowiak schüttete den restlichen Inhalt seiner Tasse in sich hinein. »Wieso glauben Sie das?«

»Weil sein letztes Opfer ein Mann ist. Steht alles in dem Buch.«

»Hm. Und steht da auch, wann genau dieser Mord passiert?«

»Ja, am einundreißigsten Dezember. In der Silvesternacht. Das bedeutet, wir haben noch etwas über zwei Tage, um Herzog zu finden, bevor der nächste Mord passiert. Natürlich nur, wenn er sich weiterhin an das Buch hält.«

»Bloß weiß ich nicht, ob das so gute Nachrichten sind. Wenn ich mir den Erfolg unserer bisherigen Ermittlungen so vor Augen halte. Ich meine, wir haben noch nicht mal eine Spur von ihm, nicht den Hauch einer Spur, und mit seinem Agenten ist es dasselbe.«

»Stimmt«, sagte Steinlein, »Aber ich habe da ein paar Ideen, wie wir das ändern könnten.«

»Ich nehme nicht an, dass Sie mir Ihre Ideen mitteilen möchten?«

»Sie haben Ihre Methoden«, sagte Steinlein und stand auf, »und ich habe die meinen.«

»Aber …«

»Aber natürlich werde ich Sie in Kenntnis davon setzen, wenn ich etwas erreicht habe, keine Sorge.«

Damit ließ er den Kaffee stehen und den verdutzten Kommissar einfach sitzen.

* * *

»Ist es okay, wenn wir ein bisschen Radio hören?«, fragte Lina.

»Klar«, sagte Herzog und breitete seine Arme auf der Lehne der Couch aus. Dann legte er seine Füße auf den flachen Couchtisch. Er grinste, und seine Wangen hatten eine deutliche rote Färbung angenommen.

Lina stand auf und ging hinüber zum Radio. Unschlüssig legte sie den Finger an den Einschaltknopf. Was, wenn es doch keine so gute Idee war? Was, wenn sie im Radio irgendetwas brachten, das ihn ausrasten ließ? Was, wenn er sich tatsächlich vor ihren Augen in jemand anderen verwandelte und sie

Unbewusst tasteten ihre Finger zu dem harten Gegenstand, den sie in den Bund ihrer Jeans gesteckt hatte. Du hast es einmal ausgehalten, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf, du hältst es auch nochmal aus. Lina schrak zusammen. Diese Stimme hatte sie sehr lange nicht mehr gehört. So lange, dass sie der Meinung gewesen war, diese ganz spezielle Stimme habe sie gänzlich verlassen. Oder sie sei vielleicht gestorben. Habe sich irgendwo in der hintersten Ecke ihres Verstandes wie ein ausgetrocknetes Insekt zusammengerollt und sei dann einfach zu Staub zerfallen. Aber freilich zerfielen die speziellen Stimmen nicht zu Staub. Oder rollten sich zusammen. Oder starben. Nachdem Lina ihren ersten Schock überwunden hatte, war sie beinahe froh, dass die Stimme wieder da war. Sie hatte etwas Tröstliches. Beinahe wie eine alte Freundin, die man lange nicht gesehen hat. Oder gehört.

Denn die Stimme würde wissen, was zu tun war.

»Alles klar, Lina?«, fragte Herzog von der Couch. Gutgelaunt. Zog die Stirn übertrieben kraus, wie ein Vater, der befürchtete, dass sein Kind sich beim Spielen ein Knie aufgeschlagen hatte und sich eventuell gleich in einen Sturzbach von Tränen auflösen würde. Grinste sie fröhlich an.

Weil er besoffen ist, sagte die Stimme wie aus der Pistole geschossen, und das solltest du nutzen. Das musst du sogar. Sie war eindringlich, diese Stimme, ohne laut zu sein. Eine Stimme, die wusste, dass sie gehört werden würde, ohne herumbrüllen zu müssen.

»Ja, ja. Alles klar. Ich hatte nur gerade ein Déjà-vu oder so was.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. Das sie erstaunlich überzeugend zustande bekam. Alles ging leichter. Jetzt, da die Stimme wieder da war, und der harte Griff des Messers im Bund ihrer Jeans, verborgen unter dem weiten, schwarzen Sweatshirt, das ihre Tattoos so zuverlässig verdeckte wie die Wunden überall auf ihrem Körper.

Es ist gut, dass er betrunken ist. Auch wenn es nicht so aussieht, aber es macht ihn langsam. Erhöht deine Chancen. Also sorg dafür, dass er betrunken bleibt. Bis er so betrunken ist, dass er einschläft. Und dann

* * *

»Bist du bescheuert, Mann?«, zischte Klaus Markhart den Agenten an, der aus der Reihe der Wartenden auf ihn zugetreten war. »Verpiss dich!«

»Klaus, Mann. Ich brauch doch nur ein bisschen was. Preis ist egal, ehrlich. Ich hab Bares dabei, kein Problem.« Urbaniak versuchte, ebenfalls leise zu reden, aber er schien seine Stimme nur noch mit Mühe unter Kontrolle bringen zu können. Gehetzt sah er sich nach allen Seiten um, aber die Menschen in der Schlange waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich lachend gegenseitig auf den Füßen herumzutrampeln, als dass sie dem langen, dünnen Kerl Beachtung geschenkt hätten, der den Türsteher volllaberte.

»Hey, ihr da!«, rief Markhart und deutete auf zwei hübsche, etwas übertrieben aufgetakelte Mädchen am Anfang der Reihe. »Ja. Du, und deine Freundin. Rein mit euch!« Juchzend vor Freude tippelten die beiden Dorfgrazien an ihm vorbei auf den Eingang zu.

Dann wandte er sich, wesentlich leiser, wieder dem Agenten zu. »Mann, verschwinde! Die Bullen waren hier und haben mich auseinandergenommen wegen deinem durchgeknallten Kumpel, diesem Schriftsteller da. Ich bin momentan total auf Eis verstehst du? Und wenn ich was hätte, dann nicht hier und schon gar nicht an dich, im Moment.«

»Klaus, bitte!«, Urbaniaks Stimme hatte einen quengelnden Ton angenommen, wie bei einem verzweifelten Kind, das schien er gar nicht mehr kontrollieren zu können. Er ekelte sich vor sich selbst.

»Reiß dich zusammen, Mann«, zischte ihm der Türsteher zu. »Das ist erbärmlich.« Er winkte einem der bulligen Männer in Anzügen zu, die in der Nähe der Tür Aufstellung bezogen hatten. Der Mann kam herangeschlendert und baute sich drohend vor Urbaniak auf. Er schaffte das, obwohl Urbaniak ihn um gut einen Kopf überragte. Urbaniak warf einen letzten verzweifelten Blick in Richtung des Türstehers, der ihn schon gar nicht mehr beachtete.

»Du«, rief Markhard einem jungen Mann zu, der sich lautstark und in bester Laune mit seinem Freund unterhielt, offenbar waren beide angetrunken. »Abmarsch! Du kommst hier nicht rein. Und nimm deinen Kumpel gleich mit.«

Der Bullige legte seine Hand auf Urbaniaks Schulter, nicht einmal besonders grob, es sah beinahe freundschaftlich aus. Dann drückte er zu, nur ganz leicht. Er lächelte dabei. Urbaniaks Gesicht verzog sich zu einer Fratze des Schmerzes.

»Auf Wiedersehen«, sagte der Bullige ausnehmend freundlich. Der entwand seine schmerzende Schulter dem Griff, drehte sich um und lief davon.

Er schlang den für die Witterung unpassend dünnen Herbstmantel enger um seine dürren Schultern und kramte in der Tasche nach dem Schlüssel für seinen Wagen, bis ihm einfiel, dass er ja gar nicht mit dem Wagen hier war. Weil den Wagen ja die Bullen hatten. Die ihn suchten, weil sie glaubten, er habe Sabine umgebracht. Zerstückelt und umgebracht, wohlgemerkt! Und diese Studentin, Ann-Marie Irgendwas, gleich mit. Was selbstverständlich Blödsinn war. Herzog? War der es gewesen? Schwer zu sagen. Aber durchaus einleuchtend, wenn man es aus einem gewissen Blickwinkel betrachtete. Dem Blickwinkel eines Mannes zum Beispiel, der Herzog auf Koks erlebt hatte, und auf Alk. Und ohne. Kein schöner Anblick, besonders letzteres. Die vielen Gesichter des Andreas Herzog, davon konnte Urbaniak das ein oder andere Lied singen, oh ja. Warum sollte nicht auch das Gesicht eines völlig Irren dabei sein? Eines Irren, wie Herzog sie seit Jahren in seinen Büchern beschrieb. Irgendwo musste das alles ja schließlich herkommen, oder?

Wie auch immer. Das Dumme und momentan Wesentliche an der Sache war jedoch, dass er, Urbaniak, an beiden Tatorten zugegen gewesen war und jede Menge Spuren hinterlassen hatte. Spuren, die dazu führten, dass die Bullen gar nicht anders konnten, als ihn ebenfalls mit den Verbrechen in Verbindung zu bringen. Urbaniak wusste, wie die Bullen tickten. Bullen waren einfach gestrickt, das konnte man in jedem Krimi nachlesen. Die würden einfach den Mann festsetzen, den sie zuerst erwischten. Und festgesetzt zu werden war etwas, das Urbaniak sich im Moment überhaupt nicht leisten konnte.

Die Leute sagten, dass Kokain einen nicht abhängig machte, aber die Leute wussten einen Scheiß. Immerhin, beglückwünschte sich der Agent, war er intelligent genug gewesen, die Vorräte aus seinem Büro mitgehen zu lassen, als er Hals über Kopf untergetaucht war. Nur die waren längst aufgebraucht, er fror und auch sein Geld ging allmählich zur Neige. Alles, was er jetzt brauchte, war ein ruhiges Plätzchen und etwas Zeit zum Überlegen. Und etwas von dem Zeug, das einen klar denken ließ. Dann würde er ganz bestimmt einen Ausweg finden aus dieser ganzen, verworrenen

»Hey!«

Urbaniak schrak zusammen.

»Hey, Mann!« Etwas bewegte sich in den Schatten, eine Hand, jetzt beschienen von dem spärlichen Lichtkegel, den die Straßenlaterne durch den Schneenebel nach unten sandte. Urbaniak blieb stehen, sprungbereit. Kampfbereit, wenn es sein musste. Zumindest redete er sich das ein.

Die Stimme aus den Schatten sagte: »Hab’ dich gerade mit dem Klaus plaudern sehen. Schien nicht allzu begeistert zu sein, dich zu sehen, der große Macker. Glaubt wohl, er sitzt ganz hoch oben auf seinem hohen Ross. Könnte aber sein, dass ich dir helfen kann. Sein Verlust is mein Kunde. Was meinste?«

Dann trat der Kerl aus den Schatten. Grinste.

Urbaniak atmete auf und begann ebenfalls zu grinsen.

* * *

Aus dem »Münchner Rundblick« vom 29. Dezember:

Mordverdacht kurbelt Umsätze an

Die Verkäufe des seit Weihnachten flüchtigen Thrillerautors Andreas Herzog (38) erreichen Rekordzahlen, während der Hauptverdächtige in mittlerweile zwei brutalen Mordfällen immer noch erfolgreich vor der Polizei auf der Flucht ist. Die beiden Morde an der Exfrau sowie einer mutmaßlichen Geliebten des Bestsellerautors könnten aus einem seiner Bücher stammen (der »Münchner Rundblick« berichtete) und noch immer hat die Münchner Polizei keine Spur von dem inzwischen per internationalem Haftbefehl gesuchten Schriftsteller. Derweil ist die erste Auflage seines neuen Romans »Totgespielt«, den der Autor in einer Lesung einen Tag vor Beginn der schrecklichen Mordserie selbst vorstellte, komplett vergriffen. Ein Sprecher des Verlages bestätigte gegenüber dem »Rundblick«, dass eine Zweitauflage in aller Eile nachgedruckt wird. Diese soll nach Aussagen des Verlags deutlich über einer Million Bücher liegen. Im Verlag zeigte man sich optimistisch, dass auch die Zweitauflage recht schnell verkauft werden wird. »Man muss hier den Autor von seinem Werk trennen«, sagte ein Sprecher des Verlags, »wir sind nicht die Instanz, die entscheiden muss, ob an den Vorwürfen gegen Andreas Herzog etwas dran ist. Wir sind lediglich dafür zuständig, seine Bücher zu verkaufen. Wie Sie sehen, herrscht eine enorme Nachfrage nach seinem Werk und wir gedenken, diese zu befriedigen.«