25
Magier hinterlegten im Nexus Information, die nur ihnen selbst zugänglich waren: Notizen, magische Tagebücher, womöglich ganze Zauberbücher. Sie vereinbarten mit Vertrauten und Gefährten gemeinsame Orte im Nexus, wo sie einander Nachrichten hinterlassen und abrufen konnten - Orte, die verloren gingen, sobald die Gemeinschaft, die sie nutzte, auseinanderbrach.
Erst der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur machte im Lauf der letzten Jahrhunderte aus dem Nexus die Erscheinung, die wir kennen. Allgemein zugängliche Portale wurden eingerichtet, um Teile des Nexus zu verwalten. Magische Artefakte wurden geschaffen, damit auch magisch unbegabte Personen in den Nexus gelangen können. Einfache technische Sender und Empfänger gewährten bald Zugang zu einem Nexusportal und erlaubten es, von dort Bilder, Töne und Schriften abzurufen, die andere im Nexus hinterlegt hatten. Der letzte Schritt war getan, als die Nexusportale selbst anfingen, sich untereinander zum Äthernetz zu verbinden, sodass inzwischen der Kontakt zu einem einzigen Nexusportal ausreicht, um fast auf alle Informationen zuzugreifen, die irgendwer irgendwo dem Nexus aufgeprägt hat.
Vorausgesetzt, derjenige hat seine Informationen in einem öffentlich zugänglichen Portal angemeldet und sich nicht bewusst dafür entschieden, nur in vertraulicheren Zirkeln unterwegs zu sein.
Aus: »EINE KLEINE GESCHICHTE DER WISSENSCHAFT«,
VON TESLO HOIGAN
Schwere Erschütterungen liefen durch das Schiff. Frafa ließ ihre Sinne ausgreifen und versuchte zu erspüren, was außerhalb der gepanzerten Kammer vor sich ging. Doch das im Skermakial eingearbeitete Metall hemmte ihre Magie und verwischte alle Eindrücke.
Ganz von Ferne bekam sie mit, wie Wisbur dem Doktor Fragen stellte. Descidar sprach nur allzu gern über sein Lieblingsthema, den Nodus, und der Wichtel schien fasziniert davon. Da ließ ein weiterer Stoß den Raum erbeben, der Boden legte sich schräg, und einen Augenblick lang hatte Frafa das beunruhigende Gefühl, als würden sie kippen.
»Verflucht!« Descidar sprang auf. »Die entern das Schiff nicht. Die beschießen es mit schweren Waffen.«
»Das kann nicht sein«, erwiderte Frafa. »Die Elfen haben gar keine schweren Waffen!«
Ein hörbares Ächzen lief durch die Kammer, es knirschte. Zwischen all den schwachen Auren, die dort draußen aufgeregt umherliefen, nahm Frafa etwas anderes wahr. Ein fremder Feind! Sie versuchte, die Natur dieses Angreifers zu erkunden, doch er war so gewaltig, dass Frafa seine Grenzen nicht ermessen konnte. Sie fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
»Leuchmadans Stärke«, keuchte sie. »Wir haben vergessen, dass wir nicht allein hier sind. Leuchmadans Welt selbst erhebt sich gegen uns!«
Wieder lief eine Erschütterung durch den Rumpf. Dreimal wurde das Schiff angehoben und krachte wieder hinab. Alle drei fielen hin und wurden durch die Kammer geschleudert. Descidar schrie erschrocken auf, Biste klammerte sich an einem im Boden verankerten Stuhl fest.
Frafas Gedanken überschlugen sich. Vor ihrem geistigen Auge sah sie es beinahe vor sich, wie all ihre Möglichkeiten und Hoffnungen dahinwelkten. Sie konnte das Schiff nicht mit einem magischen Feld schützen, wie der Nodus es getan hatte. Wenn sie die gepanzerte Kammer verließ, konnte sie dort ihre Kräfte freier entfalten, aber sie wäre selbst angreifbar, und die Soldaten der Union warteten schon auf sie. Sie konnte nicht gegen so viele Feinde auf einmal kämpfen.
»Wir brauchen den Nodus.« Descidar richtete eindringlich das Wort an sie. »Gib ihn frei. Dann kannst du mit deiner Magie immer noch entkommen, solange die Lichtbringer durch diesen anderen Feind abgelenkt ist. Und ohne einen Zauberer an Bord werden sie dich in den Wäldern dort draußen nicht finden ...«
Ist das die Wahl, die mir bleibt ?, sinnierte Frafa. Hierzubleiben, die wichtigste Waffe des Schiffes zu blockieren und mitsamt meinen Feinden vernichtet zu werden ? Oder zu fliehen, mich zu verstecken und dann auf dieser feindseligen Welt zugrunde zu gehen, mitsamt all meinen Gefährten?
Wenn ihr Schicksal besiegelt war, dann wollte sie wenigstens ihre Feinde mit sich nehmen!
Doch ihr Blick fiel auf Descidar, der sie angstvoll anstarrte, und es kam ihr so sinnlos vor. Selbst wenn sie ihre Gegner auf dieser Welt mit in den Abgrund riss, würden die wahren Feinde daheim doch triumphieren. Gulbert und Aldungan, ihnen war es gleichgültig, wenn die Lichtbringer mitsamt ihren Truppen unterging. Sobald Frafa tot war, hatten sie ihr Ziel erreicht.
Aber wenn dieses Schiff mit seiner Besatzung nach Hause findet, dachte Frafa, dann werden andere von Leuchmadans Welt erfahren. Selbst wenn ich hier zurückbleibe, wird nicht verloren sein, was wir bisher erfahren haben. Ein anderer mag hierherfinden und unser Werk vollenden.
Frafa atmete schwer. »Dann soll es so sein«, sagte sie. »Descidar, wecke den Nodus, sobald ich diesen Raum verlassen habe. Gib mir so viel Vorsprung ... wie deine Gesinnung es eben zulässt. Biste, lass uns fliehen. Der Plan ist gescheitert.«
»Moment mal!«, rief der Wichtel. Er stellte sich Descidar in den Weg, als der sich schon zur Ventilsteuerung begeben wollte. »Ich bin noch nicht fertig mit dem Nodus. Descidar ...« Er wies auf einen Haufen Taschen und Koffer in der Ecke, in der der Doktor seinen Arbeitsplatz eingerichtet hatte. »Was haben Sie da eigentlich alles an Ausrüstung dabei für Ihre Arbeit an diesem Ding?«
»Das geht überhaupt nicht!«, sagte Descidar. »Sie sind viel zu alt. Wir bevorzugen Jünglinge. Sonst lässt sich die Persönlichkeit nicht mehr sauber löschen, und es bleibt ein fremder Wille im System zurück.«
Biste funkelte ihn an. »Genau darum geht es ja gerade: meinen Willen und meine Persönlichkeit dort hineinzubekommen! Wenn Ihnen Ihr System danach nicht mehr rein und sauber genug ist, können Sie sich ja bei den Elfen ausheulen.«
»Aber es wäre im besten Fall eine sehr ungeordnete Mutation. Ich kann Ihre geistigen Fähigkeiten hier kaum erweitern, und Sie sind nicht einmal ein Magier! So eine kleine Hinzufügung würde man im Nodus kaum bemerken.«
»Nun«, erwiderte Biste. »Ich bin mit meinen geistigen Kapazitäten sehr zufrieden. Binden Sie mich einfach so ein, wie ich bin.«
»Wir wissen gar nicht, ob die Einbindung so funktioniert!«
Doktor Descidar und der Wichtel stritten sich, während draußen, außerhalb der Panzerschale im Herzen der Lichtbringer, der Kampf weiterging. Frafa hatte inzwischen auf einem der Sitze Platz genommen und sich angeschnallt. Immer wieder erschütterten Stöße das Schiff.
»Biste«, warf sie ein. »Du wirst sterben dabei.«
»Ach?« Der Wichtel wandte sich zu ihr um. Seine roten Haare waren gesträubt, und er hatte etwas von einer gereizten Katze an sich. »Als mit den Elfen auf diesem Stein dasselbe passiert ist, waren alle so empört, weil sie noch leben.«
»Äh ...«, sagte Descidar. »Ja. Das hängt irgendwie davon ab, wie man Leben definiert.«
»Seien Sie still, Descidar.« Frafa hob die Hand und sah Biste eindringlich an. »Du wirst nicht mehr atmen. Dein Herz wird nicht mehr schlagen. Dein Geist mag überleben, aber es ist eine ewige Gefangenschaft. Ich verstehe nicht, warum du so etwas tun willst!«
»Warum nicht?«, fragte Biste. »Die Elfen lassen ihren Geist auch freiwillig in das Netz ihres Waldes eingehen, damit ihr Land elfisch denkt und dem Volk freundlich gesinnt ist. Ist es nicht genau das, was wir jetzt brauchen? Wenn Descidar mich in den Nodus einbindet wie die Elfen ihre Ahnen in den Wald, dann gehört dieses Schiff UNS!«
»Du bist kein uralter Elf«, wandte Frafa ein. »Du bist nicht einmal ein Elf, und nur ein Elf kann so verrückt sein, dass er mit dem Wald verschmelzen will. Du bist ein junger Wichtel...«
»Naja, nicht mehr ganz so jung.« Biste verzog das Gesicht. Er zupfte mit beiden Händen an seiner Weste, die zerschlissen war nach den Erlebnissen im Wald. »Ich bin ein dicker Wichtel, der zu ungeschickt ist zum Laufen und Schleichen und der niemals ohne Hilfsmittel im Äthernetz wandern kann. Ich will kein Wald werden, Frafa, aber dieser Nodus ist eine Maschine! Er ist alles, was ich jemals wollte. Er ist eine Integrationsmaschine, hat Zugang zum Nexus über eigene Portale, und zaubern könnte ich damit auch noch. Ich wäre der großartigste Nexusschnüffler der Welt! Wenn wir zurückkehren, werden die Mächtigen erzittern vor dem, was ich ans Tageslicht bringe. In der Äthernetz-Gemeinschaft wäre ich ein Gott...«
Biste blickte verträumt drein und gestikulierte mit den kurzen Armen.
Frafa lächelte. »Fast frage ich mich, ob die Welt nicht besser dran wäre ohne einen größenwahnsinnigen Wichtel mit solcher Macht.«
»Fast?« Descidar verdrehte die Augen. »Fast fragst du dich das? Ihr seid alle wahnsinnig! Es ist nicht einmal sicher, ob ich ihn überhaupt einbinden kann. Vielleicht wird sein Gehirn einfach kurzgeschlossen, wenn die mutierten Nervenstränge in den Nodus hineinwandern. Er könnte sich verlieren in einer Schleife von Schmerz. Es könnte alles Mögliche passieren!«
»Ich weiß, was passiert, wenn wir es nicht tun«, sagte Biste. »Ich werde sterben, so oder so.«
Frafa nickte. »Wenn es sein Wunsch ist, dann helfen Sie ihm, Descidar.«
»Nein.« Descidar verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich breitbeinig hin. »Bei diesem Wahnsinn mache ich nicht mit.«
»Warum nicht?« Frafas Stimme klang kalt. »Sie haben Dutzende von Versuchspersonen in dieses Konstrukt eingeflochten und ihr Bewusstsein dabei gelöscht. Und das waren keine Freiwilligen, fürchte ich.«
»Äh«, druckste Descidar. »Sie hatten keine Schmerzen. Da waren Zauberer dabei, die den Vorgang auf ätherischer Ebene überwacht haben. Wenn wir hier herumpfuschen, könnte das den Nodus sogar beschädigen.«
Frafa schnallte sich ab und erhob sich von ihrem Sitz. Descidar zuckte zusammen und wich zurück.
»Ich bin auch eine Zauberin«, sagte sie. »Was Feitlaz konnte, kann ich auch - nur besser. Kommen Sie, Doktor. Sagen Sie mir, was zu tun ist.«
Barsemias spürte, wie der magische Schirm des Unionsschiffs zusammenbrach. Er war überrascht, wie schnell der Angriff folgte. Ein ganzer Schwarm von Flugtieren löste sich aus den Ruinen, Tiere, die sie vorher überhaupt nicht bemerkt hatten. Insektenartige Kreaturen, Mücken, aber auch fliegengroße Geschöpfe und Scharen von vielsegmentierten, langen Wesen, die man für Würmer oder für Libellen halten mochte. Dazwischen flogen größere Geschöpfe: fleischige, diskusförmige Wesen ohne erkennbare Gliedmaßen, nackte, rabengroße Hautflügler, die aussahen wie abgetrennte Entenfüße, Geschöpfe wie fliegende Blätter oder wie rote, propellerförmige Ahornsamen, die bis dahin gut getarnt im Bewuchs gesessen hatten. Sie umschwirrten das Schiff in dichten Wolken, hielten aber Abstand.
Die Soldaten an Deck wurden aufmerksam. Barsemias sah Mündungsfeuer aufblitzen. Beschleunigergewehre mit breiter Streuung schlugen Schneisen in die Schwärme, töteten Hunderte mit einem Schuss. Da geriet das Schiff mit einem Mal ins Wanken wie durch einen Stoß von der anderen Seite. Barsemias sah die Ursache nicht, er zuckte vor Schreck zusammen. Soldaten fielen über die Reling, landeten in den Fangnetzen, die zur Sicherheit am Rumpf aufgespannt waren.
Er hörte größere Geschütze. Ein stechender Geruch zog ihm in die Nase.
»Sie lassen nichts aus«, flüsterte Leiri die Späherin.
Seine Schwester stieß ihn an, und erst jetzt dachte Barsemias daran, die Atemmaske anzulegen. Auf der anderen Seite der Lichtbringer bewegte sich etwas Großes, verborgen hinter dem Rumpf. Die Schwärme aus Vögeln und Insekten kreisten unbeachtet, die Ablenkung hatte ihren Zweck erfüllt. Ein paar Soldaten kletterten aus den Fangnetzen empor, andere wurden geborgen.
»Da!«, flüsterte Ledesiel.
Barsemias sah es jetzt selbst, eine Bewegung dicht über dem Grund, über die ganze Länge des riesigen Kreuzers. Barsemias schaute genauer hin, aber er sah nur Schatten. Etwas wuchs am Schiffsrumpf empor ... Ranken!
Jetzt bemerkten es auch die Soldaten. Ein Flammenwerfer sprühte seitlich aus einem Erker. Die Ranken schossen aus der Feuerwolke auf. Sie mochten so dick sein wie Taue, und sie waren beweglich. Sie peitschten auf das Deck, schlangen sich um die Aufbauten und um vorstehende Waffen, schlugen nach den Menschen. Nein, keine Ranken, eher Fühler, Tentakel. Sie schlängelten sich durch den Antennenwald, bogen Masten und knickten Verstrebungen.
»Warum fliegen die Menschen nicht weg?«, fragte Barsemias.
»Sie haben keinen Antrieb, glaube ich«, flüsterte Ledesiel. »Es muss alles mit diesem Nodus verknüpft sein, den die Nachtalbe ausschalten wollte.«
Die Menschen zerschossen einige der Tentakel, doch es wurden immer mehr. Bald war die Lichtbringer von einem zuckenden Wald aus diesen Strängen umgeben, die aus der Ferne nur aussahen wie bloße Fäden. Raketen zischten aus den Luken, kehrten in einem Bogen zurück und fuhren in den Boden. Flammensäulen stiegen aus den Einschlaglöchern, und die Luft war erfüllt von donnernden Detonationen.
Die Odontopter am Heck stiegen auf. Züngelnd stellten die Tentakel sich ihnen in den Weg. Die Cresitflügel durchschnitten einige, dann wurde eine der Flugmaschinen umschlungen. Die Tentakel schüttelten sie wild, zeichneten Muster in die Luft mit den Flammen aus der Gasturbine. Die Maschine krachte auf das Achterdeck. Glühende Trümmer sausten in alle Richtungen, Raketen und Munition zerbarsten in der Luft. Die Krampen der Landefläche sprangen ab. Der zweite Odontopter gewann an Höhe, tauchte in die Schwärme der Flugwesen und spie bald zerstückelte, brennende Tierkadaver aus den Turbinen. Er wurde langsamer, flog nur noch im Flügelbetrieb und schoss auf Vögel und auf Ziele am Boden.
»Wir sollten uns zurückziehen«, flüsterte einer der Hauptleute. »Das ist eine Schlacht, und wenn wir hineingezogen werden ...«
»Noch nicht«, sagte Ledesiel.
Barsemias dachte an ihre Verbündeten im Inneren des Schiffes. Aber vielleicht waren sie besser dran als die Elfen, die bald in den Wäldern um ihr Leben kämpfen mussten.
Immer mehr Trümmer wurden vom Schiff geschleudert, geborstene Scheiben, Masten und Streben, Aufbauten, abgerissene Waffengondeln, tote Körper ... Aber der gepanzerte Rumpf wirkte unbeeindruckt von den trommelnden Tentakeln. An manchen Stellen war er von schwarzen Flecken gezeichnet, die Streuwirkung des eigenen Beschusses.
Doch dann hob sich der Rumpf aus dem Boden in einer fließenden Bewegung und schnell!
Sie heben ab!, wollte Barsemias rufen.
Doch das Schiff kippte nach hinten, während die Mitte und der Bug noch immer hochstiegen. Ein Schatten ragte unter dem Schiff auf, ein Keil, ein kleiner Berg, der aus dem Boden fuhr wie von einer unsichtbaren Riesenfaust geschoben. Er drückte die Lichtbringer empor, und das Schiff rutschte von der Spitze herab. Holzplanken spritzten beiseite, als der Keil den Rumpf aufschlitzte. Ladung, Ausrüstung, die Eingeweide des Schiffes, alles fiel heraus. Es war, als wäre der Kreuzer ein Schiff zur See, das gerade auf ein Riff fuhr.
Dann rammte sich das hintere Ende in den Grund. Soldaten fielen vom Deck, Trümmer und Überreste des Kampfes. Der Bug kippte seitlich von dem Bergkeil herunter, und die Spitze zog eine Narbe vom Kiel bis zur Reling. Der Rumpf landete in einem Gewimmel von Tentakeln. Es sah aus, als würde er darin schwimmen!
Wogend und brodelnd schoben sie den Fremdkörper aus der Stadt hinaus und auf den Waldrand zu. Zu Barsemias und seiner Schar.
Frafa blieb in der Schleusenkammer. Durch das kleine Fenster aus Cresit sah sie ein Stück vom Nodus, ein Netz von verschlungenen Strängen, von Fäden und Knoten in einem kränklichen rötlichen Grau. Descidar war zu erkennen in seinem weißen Schutzanzug, aber Biste war zu klein und blieb außerhalb ihres Sichtfelds.
Sie ließ ihre Essenz in den Nodusraum ausgreifen. Es war leichter, wenn sie mit den Augen die Verbindung zwischen sich und ihrem Ziel in der stofflichen Welt herstellen konnte. Allerdings war sie immer noch von Hüllen aus Skermakial umgeben, und das Metall darin störte ihre Magie nach wie vor. Es fühlte sich an, als wäre ihr Geist in einem Morast gefangen, in dem sie sich jede Bewegung erkämpfen musste.
Frafa sah den Wichtel nicht, aber sie spürte ihn. Seine Gedanken strahlten lebendig neben dem Nodus, dessen schwere Aura nichts weiter war als ein schläfriges Murmeln im Äther. Und sie fühlte, wie Biste sich veränderte ...
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Frafa wollte sich gar nicht vorstellen, was Descidar mit dem Leib des Wichtels anstellte. Aber sie konnte verfolgen, wie Bistes Aura sich verzerrte, wie der Fluss seiner Gedanken verwirbelte und in den Nodus einging wie ein Strom ins Meer. Sie konnte den Schmerz sehen und die Verwirrung, und sie versuchte, den Geist des Wichtels zu erhalten, während sein Körper verging und sich in vielfachen Berührungen mit dem Nodus vereinte.
Frafa formte seine Aura, führte sie zwischen den Strängen des Nodus hindurch. Die stoffliche Veränderung, die das Thaumagel bewirkte, würde der Aura folgen, so wie das Leben der Nachtalben von ihrer magischen Form bestimmt wurde.
Immer wieder wurde das Schiff getroffen. Der nächste Stoß war so hart, dass Frafa nach vorn geschleudert wurde. Sie klammerte sich an einen Griff in der Schleusenkammer. Der Boden unter ihren Füßen wurde schräg, immer steiler, und sie fühlte sich, als würde sie stürzen.
Sie krallte sich mit beiden Händen fest, ihre Füße verloren den Halt, und durch das Fenster sah sie noch, wie Descidar durch den Nodusraum flog und in die Nervenstränge fiel. Fäden splitterten wie Glas, und die thaumagelverseuchten Überreste spritzen durch die Luft. In der ätherischen Welt, in der Frafa immer noch halb verweilte, spürte sie die Schäden, die Descidars Körper schlug. Sie empfand es wie einen Schmerz in ihrem eigenen Leib.
Ein Aufprall schleuderte Frafa fort von der Tür und gegen die Panzerwand. Sie blieb benommen liegen und rang nach Atem. Doch wenig später hatte sie sich wieder erholt. Sie kam auf alle viere hoch. Der Boden bebte unter ihr, und immer noch hatte sie das Gefühl einer Bewegung.
Das Schiff fuhr!
Sie stürmte zur Schleusentür und schaute in den Nodusraum. Von Descidar war nichts zu sehen, aber Frafa konnte seine Aura erkennen. Er lebte, und er war unversehrt. Sie berührte ihn mit ihrem Geist, versuchte, ihm schneller auf die Beine zu helfen. Der Doktor brach aus dem Nodus hervor wie aus einem trockenen Dickicht. Sein weißer Schutzanzug war mit Thaumagel verschmiert, das sich langsam zu Tropfen zusammenzog und über die Oberfläche kroch. Unter seiner Haube liefen Descidar Tränen über das Gesicht.
Er kam auf den Schleusengang zu, gestikulierte mit den Händen vor dem Fenster, und Frafa verstand. Sie zog sich in den Kontrollraum zurück. Descidar trat von der anderen Seite in die Schleuse, zog mit geübten Bewegungen den Anzug aus, ohne die Außenseite zu berühren, und warf ihn in eine Klappe. Dann kam er heraus.
Er war kreidebleich, und seine Finger zitterten. Dennoch ging er als Erstes zu dem Ventil, das den Nodus betäubte, und schloss es wieder. Erst dann setzte er sich hin, legte die Hände in den Schoß und schaute Frafa an.
»Das war ... furchtbar. Ich hätte den Raum nicht während eines Kampfes betreten dürfen. Diese Schäden ... Es ist furchtbar.«
Sein Kopf fiel kraftlos nach vorn.
»Haben Sie den Wichtel eingebunden?«, fragte Frafa.
Descidar zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht einmal, was ich im Nodus angerichtet habe.«
Frafa streckte wieder ihre Essenz aus und suchte nach Bistes Aura. Sie fand die Überreste, verloren im Äther und schwer fassbar zwischen all dem Metall. Sie erschrak, dann erkannte sie, dass der Wichtel in derselben Lähmung gefangen war wie der Rest des Nodus. Das betäubende Gas umhüllte seine nackten Nervenstränge, jetzt, wo er ohne Körper war.
Die Wirkung ließ bereits nach. Rings um die Seele des Wichtels brodelte eine andere Präsenz empor, ein kaltes Denken ohne Stimme, ohne Bewusstsein. Frafa fand kleine Inseln des Wahnsinns darin, kunstvoll zusammengeschnürt und in Schleifen gefangen - lebende Geister, ineinander verstrickt und auf ewig in den fremden Gedanken der anderen verloren. Das Werk eines Zauberers.
Frafa zuckte vor einer Berührung zurück wie vor eitrigen Pusteln.
Sie versuchte, Bistes Aura zu kräftigen, seinen Geist zu erreichen und in das größere Netz zu führen, das er gesucht hatte. Aber sie konnte ihn nur stützen, sie konnte ihn nicht leiten, zu wenig verstand sie, worin er da eingebunden war. Und dann verschwand er in dem Ganzen, und Frafa konnte seine Aura nicht mehr unterscheiden.
Etwas veränderte sich.
Nach einigen kräftigen Stößen lag das Schiff plötzlich ruhig. Das Dröhnen und Krachen und Knistern, das den gepanzerten Kern der Lichtbringer fast beständig umhüllt hatte, wurde leiser und verstummte ganz. Frafa hörte ein Zischen hinter sich, ein schwerer Geruch nach Hitze lag in der Luft.
Sie fuhr herum.
Rot und träge tropfte geschmolzener Stahl aus den Ritzen der Eingangstür. Frafa sprang von ihrem Sitz und verkroch sich hinter einer Konsole. In diesem Augenblick schwang das Schott auf. Reste von flüssigem Stahl perlten in winzigen Tropfen davon ab und flogen umher. Qualm stieg von Bildtafeln und Schreibfeldern auf. Ein Tröpfchen traf Descidar am Arm, und der Doktor fiel vom Stuhl und brüllte.
Zwei gepanzerte Soldaten stürmten in den Raum, aber da hatte Frafa schon ihre Zauber bereit. Die Männer brachen zusammen, sie fielen in Schlaf, und Frafa ließ ihre Essenz durch die offene Tür in den Korridor ausgreifen, wo sie weitere Menschen fand. Sie zwängte sich in ihre Gehirne, reizte gewisse Punkte, brachte Betäubung, Schwere, Gleichgültigkeit. Ein halbes Dutzend Angreifer sanken dort zu Boden. Mit einem letzten Blick auf die Schleuse, hinter der ihr Begleiter verschwunden war, wandte Frafa sich dem Ausgang zu. Ihr war schwer zumute ...
Der Nodus ist wieder da...
Sie wusste es. Irgendwo auf der Brücke des Schiffes saßen Offiziere, und sie hatten die Anlage unter Kontrolle. Jedenfalls das, was davon übrig war. Sie hatten den magischen Schild wieder aufgerichtet. Und wer wusste, wozu sie sonst noch imstande waren. Den ersten Angriff hatte Frafa zurückgeschlagen, doch sie musste sich durch ein Schiff voller Soldaten nach draußen kämpfen, und das würde nicht so einfach werden wie in der Polizeistation in der Provinz.
Sie steckte den Kopf durch die Türöffnung, hielt sich vorsichtig fern von den heißen Stellen und von den Metallpfützen, die sich durch den Bodenbelag bis auf die Panzerung darunter durchgebrannt hatten. Sie blickte mit den Augen und sah neben den Bewaffneten auch zwei Techniker bei einem großen Kasten liegen. Sie tastete sich mit ihren Sinnen weiter den Gang entlang.
Der Weg bis zur nächsten Biegung schien frei zu sein, aber ihr Blick fiel auf eine Sichtlinse. Sie wusste, dass man jeden ihrer Schritte verfolgte, dass ihre Feinde schon die nächsten Fallen planten ...
Ein Knistern hinter ihr ließ sie aufschrecken. Sie hörte einen Laut wie eine abgehackte Stimme, halb übertönt von Descidars Wimmern.
Die beiden Soldaten, die sie in Schlaf versetzt hatte!
Frafa fuhr herum. Die Körper in den gepanzerten Kampfanzügen lagen da, wo sie hingesunken waren. Aber über der freien Fläche in der Mitte der Behelfsbrücke bewegte sich etwas. Eine grüne Gestalt, durchschimmernd wie ein Geist. Die verschwommenen Umrisse zogen sich zusammen, wurden schärfer. Schrumpften auf die Größe eines Wichtels ...
»Biste!«, rief Frafa.
Das Abbild wandte den Kopf in ihre Richtung, doch es sah aus leeren Augen an ihr vorbei.
»Frafa«, meldete sich eine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher. Mit jedem Wort klang sie natürlicher, bekam Ton und Leben. »Ich sehe die Menschen auf dem Flur liegen. Kannst du mir mal deinen Schlafzauber leihen? Mir scheint, ich hab so was nicht hier im Nodus gespeichert.«
Das Schiff lag am Waldrand, leicht zur Seite geneigt, und drückte die Bäume nieder. Manche Kronen ragten über die Reling hinaus, die runde Hülle aufgerissen und das Geäst wie ein Dickicht auf dem Deck ausgebreitet. Weitere Pilzbäume lagen zerquetscht und zerschmettert unter dem Rumpf. Ein schwaches Flimmern umspielte die fremdartigen Pflanzen, wo der magische Schutzschirm sie durchdrang.
Frafa saß mit Barsemias auf dem Steg, der außen um die Brücke herumführte. Hier hatten sie ein wenig Ruhe. Der Steg war schmal, aber an der Seite des Aufbaus musste niemand vorbei, und sie waren niemandem im Weg. Frafa blickte von dort aus auf die Ruinenstadt. Eine lange aufgewühlte Furche durchschnitt die geometrischen Strukturen und markierte den Weg, auf dem die Lichtbringer in den Wald geschleift worden war. Frafa war froh, dass unter dem Rumpf nicht mehr die unterirdischen Kammern und Gänge lagen, sondern sicherer Boden war - was auch immer das auf dieser Welt bedeuten mochte.
»Wir sollten die Pflanzen abschneiden, die in den Schirm hineinragen«, stellte sie fest. »Das sind Schwachstellen. Alles könnte dort an Bord kriechen!«
»Hm, ja«, sagte Barsemias. »Das wird getan werden müssen. Bäume fällen ist keine populäre Tätigkeit bei meinem Volk. Auch nicht bei Bäumen, die so fremd sind wie diese hier.«
»Sie sind verdorben«, stichelte Frafa. »Gewachsen auf verseuchtem Boden. Ist es nicht das, was ihr daheim über Bitan und Falinga immer erzählt? Und wo wäre die Vegetation stärker von Leuchmadans Blut beeinflusst als hier?«
Barsemias verzog das Gesicht. »Meine Leute werden es dennoch aufschieben, solange genug anderes zu tun bleibt. Und solange es keinen zwingenden Grund gibt. Wer weiß, vielleicht ist das auch klüger so? Wir müssen diese Welt nicht noch mehr reizen.«
Hinter den Baumwipfeln ging schon wieder die Sonne unter. Trotzdem herrschte größte Betriebsamkeit auf dem Schiff. Die Elfen hatten es geentert, und es gab viel zu tun. Einige Techniker in der Uniform der Union liefen auf dem langen Vordeck herum, bewacht von Hunderten von Elfen. Allein diese Überzahl machte es unmöglich, dass der Feind das Schiff wieder zurückerobern konnte. Aber die Menschen wollten ebenso nach Hause zurück wie ihre Gegner, und darum halfen sie nach Kräften und taten alles, um die Schäden am Antennenwald auszubessern.
Wenn Barsemias und Frafa aufstanden, konnten sie durch die großen umlaufenden Fenster auf die Brücke schauen. Aber das mussten sie nicht: Die Scheiben waren zerbrochen, und sie konnten Ledesiel hören. Gemeinsam mit Solis und einigen anderen Ältesten hatte sie im Befehlsstand des Kriegsschiffes Posten bezogen. Als der Abend voranschritt, wurde es ruhiger. Aber die Arbeiten gingen weiter. Scheinwerfer wurden an Deck gebracht, und noch immer kamen weitere Elfen aus dem Wald und suchten die Sicherheit der magischen Schilde.
»Wenn diese Bäume anfangen, Gift hinter unsere Barriere zu pumpen«, sagte Frafa, »dann zählt das für euch hoffentlich als zwingender Grund!«
Barsemias lachte leise. »Sei nicht immer so düster wie eine Nachtalbe, Frafa. Wir haben gesiegt, und eigentlich sollten wir feiern und nicht arbeiten!«
Frafa legte Barsemias eine Hand auf die Schulter, und der schaute sie an und berührte mit den Fingern ihre Wange.
»Du hast dein Gesicht wieder«, sagte er.
Frafa nickte.
»Du hast seltsam ausgesehen vorher. Aber bei einem flüchtigen Blick konnte man dich wirklich für eine Elfe halten. Ist es nicht seltsam? Diese kleine Veränderung hat mir gezeigt, dass auch Nachtalben schön sein können.«
»Wenn sie blond sind und helle Haut haben?«
»Nein.« Barsemias schüttelte den Kopf. »Es hat eher meinen Blick verändert auf die Alben allgemein!«
Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Frafa lehnte ihren Kopf gegen seinen.
»Hätten wir das geglaubt«, sagte sie, »bei unserer ersten Begegnung im Tal der Blumen, dass wir irgendwann so beieinandersitzen?«
»Es war ein langer Weg«, erwiderte Barsemias. »Und ich weiß noch immer nicht, wohin er führt.«
»Ich habe vieles erkannt in den letzten Tagen«, sagte Frafa. »Vor allem, dass man leben sollte und nicht nur Zeit verbringen. So vieles von meiner Vergangenheit ist tot. Es ist an der Zeit, neu anzufangen. Ganz neu! Glaubst du, dass ein Elf und eine Nachtalbe einander lieben können?«
»Lieben?«, fragte Barsemias.
Frafa schaute ihn erwartungsvoll an. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, aber sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten.
»Ich dachte«, fuhr er fort, »Nachtalben kennen nur Leidenschaft. Die Partner erweisen ihren Wert in Streit und Wettkampf und in allerhand Nachstellungen, und wenn sie zusammenfinden, ist die Beziehung meist kurz, doch sie ist immer voller Feuer und lebt vom Kitzel der Gefahr.«
Sein Tonfall klang scherzhaft, doch Frafa fühlte die Zweifel hinter den Worten. Sie seufzte. Sie schaute an Barsemias vorbei, und ihr Blick verlor sich in der Leere. »Ja«, sagte sie. »Als ich jung war, dachte ich das auch. Mein Kopf war voll mit diesen Geschichten.«