23
Der Nexus, der heute zu einem allgegenwärtigen Spinnennetz geworden ist, dessen Fäden sämtliche Bereiche unseres Informationszeitalters zusammenhalten, ist keinesfalls eine neue Erscheinung. Berichte über den Nexus reichen viele Jahrhunderte zurück, und wenn man alles hinzuzählt, was möglicherweise Berichte über den Nexus sein könnten, in einer Zeit, da dieser Begriff nicht bekannt war und es an Worten und Verständnis fehlte, um seine Natur angemessen zu beschreiben ... dann muss man seine Geschichte wohl nach Jahrtausenden bemessen.
In jenen Zeiten allerdings waren nur Magiekundige in der Lage, den Nexus zu entdecken und zu gebrauchen, eine kleine Minderheit unter den Menschen, und vermutlich auch nur wenige unter den von Natur aus magischen Völkern. Und weil Magier zu allen Zeiten ein verschlossenes Völkchen waren, das seine Geheimnisse eifersüchtig hütete, musste der Nexus vielfach neu entdeckt werden und wurde zu verschiedenen Zeiten zu den unterschiedlichsten Zwecken verwendet, ohne dass die jeweiligen Benutzer überhaupt wussten, dass sie sich in ein und derselben Sphäre bewegten.
Aus: »EINE KLEINE GESCHICHTE DER WISSENSCHAFT«,
VON TESLO HOIGAN
Rudrogeit sah, wie Sneithan die Ladung an seiner Waffe hochdrehte. Er sprang aus dem Buschwerk. Hinter ihm glitten die schleimigen Wülste, aus denen der Busch bestand, schmatzend wieder zurück.
»He!«, rief er. »Was hast du vor?«
Der Goblin blickte ihm grinsend entgegen und stützte das LIG mit dem Lauf nach oben in die Armbeuge. »Wie sieht's'n aus, Blasszahn? Geb ihr'n Rest, dem Mondgesicht. Scheiße, schau's dir an, hat sich bleichen lassen - wie'n Vampir!«
Er lachte schallend.
Frafa war auf Hände und Knie zusammengebrochen. Das blonde Haar, das ihren Kopf verhüllte, irritierte Rudrogeit. Hatten sie die Richtige erwischt? Aber er hatte schon in Altagrisa gehört, dass sie sich als Elfe tarnte.
Sie röchelte, und das Blut sammelte sich in einer Lache unter ihr. Gesplitterte Knochen ragten am Rücken aus dem zerfetzten Kleid. Die Ladung hatte ihr den Brustkorb aufgerissen. Rudrogeit hätte nicht geglaubt, dass jemand einen solchen Treffer überleben konnte - wäre es nicht gerade um sie gegangen!
»Sie ist erledigt«, sagte er. »Unser Auftrag ist erfüllt, also nimm die Waffe runter!«
»Hä? Ich steck ihr'n Kopf auf einen Pfahl und bring ihn deiner Mama!«
Sneithan ließ den Lauf sinken. Rudrogeit baute sich vor ihm auf. Er kam sich dumm vor, denn niemand stellte sich zwischen eine Waffe und das Ziel, vor allem dann nicht, wenn ein Goblin am Abzug hing.
Eine Nachtalbe, so bleich wie ein Vampir - meine Schwester!
»Wir sind keine Henker. Mit der Wunde kann sie nicht zaubern, und ich habe etwas von dem Zeug dabei...«
Er hatte eine Injektionseinheit eingesteckt, wie die Sicherheitskräfte sie benutzten: mit der Droge, die Zauberer ruhigstellte. Rudrogeit nestelte in den Taschen an seinem Waffengurt danach. Sie hatten nicht damit rechnen können, dass sie Frafa lebend erwischten. Es wäre zu gefährlich gewesen, es zu versuchen. Aber wenn sich zufällig die Gelegenheit ergab, hatten sie auch nicht das Recht, unnötig Gewalt anzuwenden.
»'s mir egal, Junge«, sagte Sneithan. »Geh mir aus'm Weg, sonst stanz ich ein Loch durch euch beide.«
Rudrogeit erstarrte. Er nahm die Hände aus der Tasche, hob den Kopf und starrte den Goblin an. Er blickte in die Mündung des LIG, das nun direkt auf seine Brust zielte. Frafa hinter ihm hustete und würgte.
»Sargente Sneithan«, fuhr er den Goblin an. »Sie richten eine Waffe auf einen Vorgesetzten! Nimm sofort das Ding runter und tu, was ich dir befehle.«
Sneithan spuckte aus. »'s nicht für dich oder die Alte. Tu ich für Leuchmadan! Wenn'ste dich dem in'en Weg stelln willst, sag's ihm selber!«
Sneithan zog mit der Linken ein Phon aus der Brusttasche, warf einen Blick darauf und schüttelte es. »Tausend schleimige Madenschwänze! Kein Empfang. Pisswald, das. Pisswelt.«
Rudrogeit runzelte die Stirn.
Sneithan warf das Phon weg. »Scheißegal. Die Hexe hat Leuchmadan verraten, dafür soll sie sterben. Geh mir aus'm Weg, Rotauge, oder geh mit ihr mit zu'n Geistern!«
Rudrogeit blickte über den Lauf des LIG in das Gesicht seines langjährigen Kameraden. Sneithan hatte die Zähne gefletscht. Es lag kein Lächeln darin, aber auch kein Zorn. Für einen Goblin wirkte Sneithan sogar überraschend ruhig. Seine tief liegenden Augen funkelten entschlossen.
Rudrogeit hob langsam die Hände, trat einen Schritt zurück - und wirbelte herum.
Sein Fuß traf den Lauf in dem Moment, als Sneithan abdrückte. Rudrogeit spürte die Hitze der Ladung an seinem Arm, hörte den prasselnden Einschlag hinter sich im Unterholz. Er sprang auf Sneithan zu. Der Goblin wich zurück, wollte die Waffe wieder anlegen, aber der Lauf war zu lang, und Rudrogeit war zu schnell.
Ein weiterer Schuss traf die Bäume. Ein Stamm zerbarst mit einem Krachen. Ein Ächzen lief durch den Wald, als er stürzte. Rudrogeit packte zu, riss mit beiden Händen an dem Gewehr und hebelte es aus Sneithans Griff.
Der Goblin ließ los und beugte sich zur Seite. Die tief stehende Sonne stand hinter ihm, ihr Licht fiel durch eine Schneise zwischen den Bäumen geradewegs in Rudrogeits Gesicht. Er kniff geblendet die Augen zusammen.
Sneithan stieß die Klauen über den Lauf gegen Rudrogeits Kopf. Der sah es im letzten Moment. Er zuckte zurück, aber Sneithan rammte ihm den Absatz seines schweren Stiefels auf den Fuß. Rudrogeit stolperte, Sneithan setzte nach. Er trat von vorn gegen das Gewehr, und der Schaft traf Rudrogeit am Kinn. Der Vampir taumelte benommen rückwärts, und Sneithan riss das LIG wieder an sich und machte einen Satz von ihm fort.
Keuchend blieben die beiden stehen, zu weit voneinander entfernt, als dass Rudrogeit den Goblin noch einmal hätte erwischen können. Sneithans Blick wirkte beinahe traurig. »Scheiße, für 'ne Albe, Rudi, 'ne Abtrünnige und 'ne Ketzerin! 'ne zauberstablutschende Hure ...«
»Sie ist meine Schwester, Sneithan!«, fiel Rudrogeit ihm ins Wort.
Sneithan lächelte. »Blöder Vampir«, sagte er und richtete das Beschleunigergewehr auf Rudrogeit.
Es blitzte auf, dann schoss ein Schwall Blut aus Sneithans Kehle. Swankar riss das Schwert zurück, mit dem sie dem Goblin den Nacken durchtrennt hatte. Sein Kopf flog in hohem Bogen durch die Luft und rollte unter einen Strauch, der aussah wie ein Bündel leprotischer Finger.
»Alle Achtung, Rudi«, sagte sie mit überheblichem Grinsen. »Bewegendes Schauspiel, das. Fast den Flug wert und einen Goblinkopf dazu.«
Allmählich bekam Frafa wieder Luft. Sie setzte sich auf. Ihre ganze Brust brannte, aber Schmerz war besser als die Taubheit davor. Schmerz war Leben. Sie sah sich um, bemerkte die Gestalten, die vor ihr standen und sich unterhielten, verschwommene Umrisse, Stimmen, gedämpft, als würde man sie durch eine Wand hören. Der Goblin und der Vampir, die eben gekämpft hatten?
Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen und verschmierte dabei Blut über die Wangen. Die Knochen bewegten sich in ihrem Inneren wie ein Parasit. Ihre Heilkräfte waren wieder da! Frafa sah die Auren der Wesen um sich her, die ätherischen Strukturen. Wie lange schon?
Hatten die wiederkehrenden Kräfte ihr auch geholfen, die Gifte des Waldes zu überleben? Und war das, was sie gesehen hatte, mehr gewesen als Traum und Rausch, ein unkontrolliertes Wahrnehmen der Eindrücke, die sich dem Äther dieser Welt aufgeprägt hatten?
Konnte sie Zauber wirken ?
Eine der Gestalten trat auf sie zu. Frafas Blick klärte sich. Sie sah blanke Stiefel, schlanke Beine, deren ausgeprägte Muskeln sich unter der dünnen blauen Hose abzeichneten, eine Uniformweste mit eingearbeiteten Dilatanzpanzerkissen, ein dunkles Gesicht - eine Nachtalbe. Swankar! Der Goblin lag hinter ihr auf dem Boden, und Blut sickerte aus seinem Halsstumpf.
Frafa schluckte
»Mu... Mutter«, stotterte sie. Ihr Blick war wie gefangen von dem Gesicht, das sie seit über neunhundert Jahren stets nur aus der Ferne betrachtet hatte.
Swankar lächelte. Sie ging in die Hocke, bis sie mit Frafa auf gleicher Höhe war. »Hallo, mein Kind«, sagte sie. »Ist es nicht lustig, wie weit wir beide fliegen mussten, um uns mal wieder zu treffen?«
»Ich...«, stammelte Frafa. Sie konnte sich von Swankars Augen nicht abwenden. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie mit ihr gesprochen hatte. Es war eine einsame, kalte Nacht in Daugazburg gewesen. Wieder spürte sie Tränen in den Augen. Wut, Schmerz, Sehnsucht, Enttäuschung...
Eine vorübergehende Schwäche, dachte sie. Ich bin verletzt. Frafa sah, wie Swankars Arm sich bewegte, geschmeidig und präzise. Swankar hielt ein blutiges Schwert in der Rechten, und mit der Linken hatte sie eine Pistole gezogen. Sie setzte den Lauf der Waffe auf Frafas Bauch und drückte ab.
Rudrogeit hob Sneithans Phon auf. Wen hatte der Goblin anrufen wollen? Hatte er tatsächlich einen Auftrag angenommen, außerhalb der Befehlskette, Frafa zu töten? Sneithan hatte von Leuchmadan gesprochen, aber das war ein alter Gott und niemand, zu dem man eine Gesprächsverbindung aufbaute. Andererseits war der Goblin dumm und abergläubisch gewesen, und womöglich hatte jemand das ausgenutzt.
Er hörte Schüsse und fuhr herum. Swankar jagte seiner Schwester noch eine Kugel in die Brust. Frafa krümmte sich.
»Ich wusste, dass du Ärger machst, Mädchen.« Swankar steckte die Pistole wieder ein. »Aber das hier, das ist schlimmer als alles, was ich mir je vorgestellt hätte. Was du aus dir gemacht hast, ist ekelerregend!«
Rudrogeit trat zu seiner Mutter und legte ihr die Hand auf den Arm. »Was tust du?«, fragte er.
»Ich bringe es zu Ende«, erwiderte sie. »Was ich vor langer Zeit versäumt habe.«
Sie schüttelte seinen Griff ab und hob das Schwert.
»Das ist nicht nötig«, sagte Rudrogeit. »Wir haben die Drogen ...«
»Schieb dir deine alchemischen Zaubereien in den Arsch, Rudi! Man sollte meinen, das Affengesicht hat dir noch was beigebracht vor seinem Tod. Wo man sich einmischt und wo man die Klappe hält.«
»Ja - Sneithan«, stieß Rudrogeit hervor. »Warum hast du ihn überhaupt umgebracht? Ihr scheint doch ganz einer Meinung zu sein, was diesen Auftrag angeht!«
Swankar lachte. Sie wuschelte ihm mit der Linken durch das Haar. Rudrogeit hasste es, wenn sie das tat.
»Rudi, mein Kleiner«, sagte sie grinsend. »Was hat das denn damit zu tun? Seit wann frag ich meine Gegner nach ihrer Meinung, bevor ich sie absteche? Wie lange hätt ich da als Kriegerin wohl überlebt? Ich töte meine Feinde, wenn sie mir im Weg sind, einfach weil sie auf der falschen Seite stehen.«
»Na, Sneithan stand doch wohl ganz auf deiner Seite«, stellte Rudrogeit bitter fest.
Swankar zuckte die Achseln. Sie bemerkte, dass Frafa zu ihren Füßen sich erholte. Also setzte sie das Schwert an und stach es ihr in die Kehle; aber nicht tief, die großen Adern ließ sie unversehrt. Rudrogeit biss die Zähne aufeinander.
»Goblins kommen und gehen, Rudi«, sagte Swankar. »Aber du bist mein Sohn. Wir waren tausend Jahre zusammen, und wenn du nicht schlappmachst, kannst du noch einmal tausend Jahre an meiner Seite stehen, und wir machen weiter wie bisher. Was bedeutet da schon ein Goblin?«
Rudrogeit schluckte. »Immer so weiter...«, murmelte er.
Swankar lächelte liebevoll. »Manchmal bist du ja ein Strohkopf und kannst fast für 'nen weichlichen Bücherwurm gelten. Aber daran hab ich mich gewöhnt im Lauf der Zeit. Wir gehören zusammen bis in den Tod. So ist das mit Nachtalben und ihren Vampiren.«
»Und ...« Rudrogeit räusperte sich. »Was soll ich tun?«
Swankar schob ihn mit der flachen Seite des Schwertes von sich fort. Dunkles Goblinblut blieb auf seiner Uniformweste zurück und perlte von der abweisenden Oberfläche ab.
»Du hast noch einen Zug Soldaten im Wald«, schlug sie vor. »Sie klangen nicht sehr glücklich, als ich zuletzt von ihnen gehört habe. Sind mit ein paar Elfen aneinandergeraten, denke ich. Du könntest dein Sprechgerät mal wieder einschalten. Da draußen tobt ein Krieg, Rudi!«
»Ein Krieg.« Rudrogeit seufzte, und eine tiefe Müdigkeit stieg in ihm auf. »Und er endet nie.«
Frafa presste die Hände auf ihre Kehle und wand sich am Boden. Sie spürte, wie die Wunden sich schlossen, aber es dauerte zu lange. Ihre Magie war zurückgekehrt! Sie wollte zaubern, doch all ihre Kraft floss in die Heilung. Der Schmerz störte ihre Konzentration.
Sie fühlte Swankars Stiefel unter ihrem Kinn. Die kräftige Albe hob den Fuß und drückte Frafa den Kopf nach hinten. Dann trat sie zu. Ein Knochen brach in Frafas Gesicht, die Pein fuhr ihr vom Nacken durch den ganzen Körper.
Swankars Stimme klang ruhig, fast unbeteiligt. »Frafa, Mädchen, was tust du mir an? Eine Albe sollte sich nicht mit elfischen Künsten einlassen, ich habe es immer gesagt. Jetzt schau, was aus dir geworden ist!«
Mit jedem Wort spie sie ihren Abscheu aus. Sie trieb Frafa mit heftigen Tritten vor sich her, bis der nachgiebige Stamm eines Baumes die Bewegung aufhielt. Frafa lehnte mit dem Rücken daran und bemühte sich, die gebrochenen Rippen einzurichten, während sie heilten.
Swankar soll reden!
Wenn sie mich nur einen Augenblick vergisst...
Es war eine verzweifelte Hoffnung, erkannte Frafa.
»Du hast nicht nur Aldungan verraten, sondern dein ganzes Volk. Dass ich dich so sehen muss! Eine Elfe wolltest du werden! Alles, was ich hasse, unsere schlimmsten Feinde. Wie konntest du mir das antun?«
Swankar schrie sie nun an. Sie setzte die Schwertspitze auf Frafas Stirn, drückte sie hinein und zog die Klinge seitwärts. Der Schnitt klaffte bis auf den Knochen.
»Diese Elfenhaut zieh ich dir vom Leib«, zischte Swankar. »Und ich hoffe, dass meine Tochter wenigstens als Nachtalbe stirbt!«
Sie fuhr mit der Klinge am Kopf entlang nach unten, durchtrennte an der Schulter das Kleid und die Haut zugleich. Dann hielt sie noch einmal inne und lächelte auf Frafa hinab.
»Ich habe Geschichten gehört über deine Schwäche«, erzählte sie. »Von Aldungan. Ich habe den Grund erfahren, warum du nie nach der Unsterblichkeit der alten Zauberfürsten gestrebt hast - weil du während Darnamurs Revolution einen Folterkeller gesehen und Angst bekommen hast! Angst, dass der Tod dir als Fluchtweg verwehrt ist, wenn du den Schmerz nicht mehr ertragen kannst. Meine schwache Tochter wählt lieber den Tod als die Macht.«
Frafa blinzelte sich das Blut aus den Augen. Sie starrte Swankar an und fühlte sich so, als gehöre ihr Körper schon jetzt nicht mehr zu ihr, als hinge sie selbst nur noch hilflos an dem gequälten Fleisch, das ganz eigenständig unter Zaubern zuckte. Sie konnte nur zusehen, wie ihre Mutter sie hasste, und sie konnte nichts dagegen tun.
Sie wollte etwas sagen, aber die brennende Agonie in ihrem Leib verschloss ihr die Lippen, und ihr Geist wollte nicht glauben, dass das wirklich war, dass ihre Mutter sie bis auf diese Welt verfolgt hatte, um sie zu töten.
Swankar beugte sich vor. »Nun«, sagte sie, »wollen wir mal sehen, wie lange deine Heilfertigkeiten halten. Wie lange du sie aufrechterhalten willst.«
Frafa presste sich gegen den Stamm, als Swankar das Schwert hob. Da ertönte ein Knall. Etwas Feuchtes spritzte Frafa ins Gesicht. Erschrocken riss sie die Arme hoch, sie sah das Loch im Brustkorb ihrer Mutter. Ein Schwall von Blut schoss heraus und durchtränkte den Stoff der Uniform. Knochensplitter ragten aus der Wunde, eine eingenähte Panzerplatte hing nur noch an einigen Fäden von der Jacke herab.
Swankar taumelte. Frafa sah Rudrogeit hinter ihr stehen, die großkalibrige Waffe locker in den Händen. Rauch kam aus der Mündung.
»Tausend Jahre sind genug«, hörte sie ihn sagen.
»Nein!« Mühsam löste Frafa sich von dem Baum. Sie streckte die Hände aus und kroch zu Swankar hin, die in die Knie brach. Rudrogeit schwenkte die Waffe. Frafa hörte die Schüsse nicht, aber sie spürte den Schmerz in ihrem Bein, einen Schlag gegen die Schulter, der sie wieder zurückwarf. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Frafa hatte Zauber in ihren Leib gewoben, die nicht zuließen, dass sie gegen ihren Willen lange die Besinnung verlor. Es konnte nur einen Augenblick gedauert haben, doch als sie die Augen wieder aufschlug, lag Swankar tot da, mit dem Gesicht nach unten, und Rudrogeit trug das Gewehr über der Schulter. Es war die Waffe des Goblins, und der Vampir hatte sie gerade zum zweiten Mal gerettet.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Während ihr Geist den Schock abschüttelte, kroch der Schmerz durch ihre Gliedmaßen, und fast wäre sie wieder bewusstlos geworden. Sie konzentrierte sich, spürte, wie die Wundränder sich aneinanderschoben, wie zerfetzte Gefäße sich schlossen und wie ein Knochen in der Schulter zusammenwuchs ... Nein, wie sie ihn neu bildete, denn die Kugel hatte das Gelenk in viel zu kleine Trümmer zerschlagen.
Dann hob Frafa den Kopf und blickte ihren Bruder an, über den toten Leib ihrer Mutter hinweg. Swankar war tot. Frafa sah, wie die Aura sich zersetzte und sich im fremden Boden, in der Luft verlor.
»Was hast du getan?«, fragte sie.
»Nur ein paar Fleischwunden«, sagte Rudrogeit. »Ich habe die Ladung runtergedreht. Ich musste verhindern, dass du etwas Dummes tust. Sie wieder zusammenflicken, zum Beispiel.«
Frafa blinzelte. Nur träge sickerten die Worte in ihr Bewusstsein.
»Nein«, erwiderte sie dann. »Nicht diese Schüsse. Ich meinte ... deine Mutter. Du hast sie erschossen, Rudrogeit!«
»Oh.« Rudrogeit riss theatralisch die Augen auf. »Wer hätte das gedacht. Du erkennst mich!«
Frafa stützte sich auf und kam mühsam auf die Füße. »Natürlich kenne ich dich«, sagte sie. »Ich habe euch nicht aus den Augen verloren. Ich habe ... Mutters Karriere verfolgt, über all die Jahre.«
»Wohl kaum aus familiärer Bindung, meine große Schwester.« Rudrogeit verzog die Lippen.
»Ich habe aufgepasst, wo ihr gerade seid, und bin euch aus dem Weg gegangen«, sagte Frafa. »Ich dachte mir, so wäre es am besten für uns alle, kleiner Bruder.«
»Vermutlich«, erwiderte Rudrogeit. Er nickte in Swankars Richtung. »Sie war nicht so klug. Sie hat wohl auch deinen Werdegang verfolgt, und ich fürchte, sie hat dich gehasst.«
»Warum?« Frafa konnte nicht glauben, dass Swankar überhaupt ein so starkes Gefühl für sie gehegt hatte.
Rudrogeit zuckte die Achseln. »Sie war eine Nachtalbe. Nachtalben sind so.«
Frafa wollte empört widersprechen, aber ein Blick in Rudrogeits tote Augen schnürte ihr die Kehle zu. Die rote Iris schwamm darin wie ein Tropfen Menschenblut in einem kristallklaren Bergsee.
Rudrogeit lachte. »Was?«, fragte er. »Widersprich mir ruhig, wenn du kannst. Sag, dass du anders bist. Als vierzehnjähriger Jüngling hatte ich solche Träume. Ich lernte eine Nachtalbe kennen, die zerbrechlich wirkte, voller Gefühl und ganz anders als Mutter. Und ich dachte, hey, das ist meine Schwester. Wir können Freunde werden! ... Nun, du weißt, was du mir damals beigebracht hast. Danach kam ich zu dem Schluss, wenn alle Nachtalben so hart und so kalt sind, bleibe ich lieber bei meiner Mutter. Die sorgt wenigstens für mich.«
Frafa öffnete den Mund, schüttelte schließlich den Kopf. Ganz gegen ihren Willen stieg ein Lachen in ihr auf. Litiz, ihre Mutter, Rudrogeit und sie selbst vermutlich auch - es gab so wenige Völker, die der Zeit trotzten und davon unberührt blieben. Hatten sie denn alle nichts Besseres zu tun, als die kleinlichen Verletzungen ihrer Jugend durch die Jahrhunderte zu tragen und lebendig zu halten? Hilflos hob sie die Hände.
»Rudrogeit«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich entschuldige mich bei dir. Ich entschuldige mich bei allen, denen ich jemals mit einer unbedachten Tat oder Geste Leid zugefügt habe. Aber willst du mir wirklich erzählen, dass du tausend Jahre lang deiner Mutter gefolgt bist und ein freudloses Leben geführt hast, das du eigentlich nicht wolltest, nur weil deine Schwester einmal ein paar harte Worte zu dir gesagt hat?«
Der Vampir grinste, sodass Frafa seine spitzen Zähne sah. Nur zwei Zähne, lang und leicht gebogen wie bei einem Raubtier in einem ansonsten menschlichen Gebiss. »Nun«, sagte er. »Es fehlten die sanfteren Worte zwischendurch, die den Eindruck hätten abmildern können. Aber, nein, ich bin nicht so weich, dass ich deswegen zu Mutters Rockzipfel flüchte und da kleben bleibe.«
Er ließ die Waffe sinken und stützte sich darauf, sodass der Lauf sich in den Boden bohrte. Dann schaute er auf Swankars Leiche hinab und sprach weiter. »Die Wahrheit ist wohl, ich bin ein Vampir. Für mich war es damals nicht so leicht, der Mutter Lebewohl zu sagen und ein eigenes Leben zu führen. Später ... Irgendwie schien es nie zu gehen. Wer weiß, wann es zu spät war oder ob es jemals hätte anders sein können.«
»Jetzt hast du sie getötet«, stellte Frafa fest.
»Ich hätte nicht gedacht, dass dir das zu Herzen geht, Schwester.« Bitterkeit lag in seiner Stimme. Sein Blick auf die Tote drückte fast so etwas wie Liebe aus. Verlust. Dennoch hatte er geschossen. Warum?
»Du hast mich gerettet«, sagte Frafa. »Aber was ist mit dir? Du kannst nicht leben ohne ihr Blut!«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich habe lang genug gelebt, nehme ich an.«
»Nein«, widersprach Frafa. »Bleib bei mir. Ich beherrsche die Kunst des Lebens, und ich finde einen Weg, um dich zu verändern. Wir finden einen Weg, damit du lebendig sein kannst und frei.«
Rudrogeit schüttelte den Kopf. Mit der Linken wies er auf den Wald hinter sich. »Wir sind keine große glückliche Familie, Frafa. Und das Versuchskaninchen für deine Zauberkunststückchen will ich auch nicht sein. Geh einfach, und lass mich meine Mutter begraben.«
»Nein.« Frafa ging auf ihn zu, bis nur noch Swankars Leichnam zwischen ihnen lag. »Ich lasse dich nicht hier. Du hast mich gerettet, du hast dich für mich entschieden und gegen sie. Das soll nicht das Ende sein. Du kannst ein besseres Leben anfangen.«
Sie fühlte eine Berührung an der Seite und fuhr herum. Barsemias!
Woher war der Elf so plötzlich gekommen?
Sie wusste nicht, was von den Ereignissen und von den Gesprächen er mitbekommen hatte. Ihr Bruder jedenfalls betrachtete sie unbewegt. Kein Zucken in seinen Augen hatte verraten, dass der Elf von hinten an sie herangetreten war.
»Komm«, sagte Barsemias. »Lass ihn.« Er schaute an Frafa vorbei auf Rudrogeit. »Auch wenn du ihn Bruder nennst: Er ist ein Vampir - ein Geschöpf, das von Nachtalben als Diener gezüchtet wurde. Er gehört nicht zu uns.«
Die Erleichterung über das Wiedersehen schwand.
»Und ich bin eine Nachtalbe!« Wütend stieß Frafa ihn weg. »Was glaubst du, was mir in die Wiege gelegt wurde? In welches finstere Loch willst du mich dann stecken?«
Barsemias sah verlegen zu Boden. »Das ist etwas anderes«, murmelte er.
»Der Elf hat recht«, warf Rudrogeit ein. »Geh mit ihm mit und verschwinde von hier. Ich habe mich gegen meine Mutter gestellt, und es war an der Zeit. Aber das heißt nicht, dass ich anderswo einen Platz hätte.«
Barsemias zog sanft an ihrer Hand. Aber Frafa schaute Rudrogeit an. »Lass dir von diesem Elf nichts einreden«, flehte sie. »Über mich hat er auch nicht viel besser geredet, als wir uns das erste Mal über den Weg liefen. Und schau ihn dir an: Jetzt will er mich nicht zurücklassen!«
Barsemias ließ sie unvermittelt los. Frafa erkannte, dass er knallrot geworden war im Gesicht.
Rudrogeit sagte nichts mehr. Er hatte das Gewehr weggelegt und ging neben Swankar in die Hocke. Barsemias kam wieder heran, und nun schaffte er es, Frafa ein Stück mitzuziehen.
»Du hast recht«, flüsterte er. »Dich will ich nicht mehr zurücklassen. Aber bei ihm ist es anders: Er hat seine Entscheidung getroffen. Du kannst es ihm nur noch schwerer machen.«
Frafa widersetzte sich nicht länger. Auf der anderen Seite der Lichtung wandte sie sich noch einmal um. Rudrogeit kniete neben Swankar und hatte den Kopf der Mutter in seinen Schoß gebettet. Er blickte abwesend drein und ließ ihre Haare durch seine Finger gleiten. Frafa wartete auf einen letzten Blick, aber es war ein einseitiger, ein einsamer Abschied für sie. Rudrogeit teilte ihn so wenig mit ihr, wie sie seinen Abschied von ihrer Mutter teilen konnte.
Barsemias führte sie durch den morgendlich erhellten Wald. Es war fast so wie in den nächtlichen Trugbildern, aber greifbarer. Alles wirkte bunt und friedlich und entrückt, erfüllt von den Geräuschen des Lebens. Barsemias stützte sie, und Frafa lehnte sich gern an ihn, auch wenn sie mit jedem Schritt an Kraft gewann. Bei manchen Bewegungen knirschte es noch in ihrem Leib; einige Knochen waren falsch zusammengewachsen - sie würde sich später darum kümmern. Sie roch das eigene Blut, mit dem sie über und über besudelt war, und sie versuchte so zu laufen, dass Barsemias nichts davon an seine Kleidung bekam.
Was dachte er?
Er ging mit keinem Wort auf ihren Zustand ein, er wich nicht zurück, sondern hatte den Arm um sie gelegt.
»Du hast deine Magie wieder«, stellte er fest.
»Hm-hm«, sagte sie.
Ein Pfeifen hallte durch den Wald, schrill, aber weit entfernt. Ein Geschöpf wie eine bunte Girlande kroch vor ihnen davon und raschelte, als es sich bewegte. Frafa ließ ihre Sinne ausgreifen, all ihre magischen Sinne, die sie so lange entbehrt hatte, und das Idyll zerbrach.
Sie spürte eine lauernde Präsenz, die vor ihrem Tasten zurückwich und wiederkehrte, wenn sie nicht aufmerksam war. Während Frafa ihre Umgebung sondierte, wurde sie selbst betrachtet, und sie wusste nicht, von wem. Magie stieg vom Boden auf, erfüllte die Wurzeln und alles Leben ringsum, verwob den Wald zu einer Einheit, die sich ganz auf sie zu konzentrieren schien.
Frafa erschauderte.
Es war gewiss eine Täuschung. Sie kannte diese Welt nicht, ihre magischen Sinne kehrten eben erst zurück. War es da nicht möglich, dass sie das Spiel der Auren an diesem Ort falsch interpretierte? Dennoch beschlich sie das Gefühl, dass ihre Unruhe gestern schon ein Ausdruck ihrer wiederkehrenden Kräfte gewesen war. Dass sie gespürt hatte, wie etwas in ihrer Umgebung sich veränderte.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie. »Wie seid ihr aus dem unheimlichen Waldstück herauskommen, letzte Nacht?«
»Wir waren wohl etwas verwirrt in der letzten Nacht«, antwortete Barsemias. »Da flogen Sporen in der Luft, ein Gift. Ledesiel hat es zu spät bemerkt. Biste musste uns erst etwas wachrütteln. Auf ihn hat es nicht gewirkt.«
»Ja«, sagte Frafa. »Es liegt Stärke in der Vielfalt.«
»Was?«, fragte Barsemias.
»Ein alter Wahlspruch der Finstervölker.« Sie knuffte ihn schalkhaft. »Manchmal haben wir eben doch recht, nicht wahr?«
»Vielleicht. Wie auch immer, wir hatten vier der stärksten Zauberer unseres Volkes bei uns, und so sind wir herausgekommen. Fünf, wenn man mich mitzählen möchte, aber ich bin ja fast nutzlos hier am Boden. Dann haben wir dich gesucht. Die Schüsse haben mich schließlich in die richtige Richtung geführt.«
Er atmete tief durch. »In den letzten Stunden ist eine Menge geschehen, Frafa. Unser Volk kämpft. Menschensoldaten gegen Elfenzauberer im Wald, das ist gar nicht mal so schlimm, damit werden wir fertig. Aber der Wald, Frafa, der Wald!«
Er sah sich beunruhigt um und fasste Frafa fester. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass er sie nicht nur stützte, sondern dass er selbst Halt suchte. »Es ist, als hätte diese Welt sich gegen uns erhoben. Die Krankheiten waren der Anfang. Die Tiere werden feindseliger. Die Pflanzen bilden Gift. Es geschehen ... Dinge. Kein gezielter Angriff, aber man erkennt eine Richtung. Es ist wie ein Kratzen, aber es ist diese ganze Welt, die sich kratzt, und wir sind ihre Flöhe!«
Genau das war es, was Frafa ebenfalls fühlte. Was sie bereits gestern wahrgenommen hatte. Dennoch fiel es ihr schwer, diese Welt als Bedrohung anzusehen. Sie erinnerte sich an all die Bilder der vergangenen Nacht, daran, wie sie das Leben an diesem Ort durchschaut und bewundert hatte. Es mochte ein Wachtraum gewesen sein, doch jetzt war es ihre Erinnerung, und es war eine Erinnerung daran, dass diese Welt schön war! Und war sie nicht eben erst gerettet worden? Waren sie nicht alle gerettet worden, nachdem sie sich im Wald verirrt hatten?
Sie konnte in diesem Moment nichts anderes empfinden als Dankbarkeit.
»Wenn die Geschöpfe dieser Welt uns so wenig mögen«, sagte sie leichthin und verfolgte den Flug zweier schillernder Insektenwesen, »dann sollten wir froh sein, dass wir auf ihrer Welt sind und nicht sie auf unserer.«
»Nun«, entgegnete Barsemias. »Etwas von dieser Welt ist auf die unsere gekommen. Darum sind wir überhaupt erst hier! Und ich denke, wir bekommen gerade ein paar Hinweise darauf, warum wir bei uns zuhause solche Probleme haben - auch wenn wir sie nicht deuten können.«
Frafa blieb stehen. Sie fasste Barsemias bei der Jacke, zog ihn zu sich, blickte zu ihm auf. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Sie schlang die Arme um seinen Leib und hielt ihn fest, und einen Moment lang erwiderte er die Umarmung.
Dann wand er sich verlegen aus ihrem Griff, trat einen Schritt zurück und räusperte sich.
»Äh.« Er wischte sich die Stirn. »Wofür war das? Ein, äh - Nachtalbenbrauch?«
Frafa lachte. »Ganz im Gegenteil! Ich habe keine Lust mehr auf Nachtalbenbräuche. Ich musste gerade an meine Mutter denken und an meinen Bruder und an mich! Ich habe etwas gelernt auf dieser kleinen Lichtung: Tausend Jahre sind eine zu lange Zeit, um sie in Gefangenschaft zu verbringen. Und ich war gefangen, gefangen von ein paar wenigen Erfahrungen, ein paar wenigen Jahren, die allein dadurch die Herrschaft über mein Leben erringen konnten, weil sie früh gekommen sind und ich noch nicht wusste, wie ich mich dagegen wehren sollte!«
Barsemias musterte sie verständnislos. »Frafa«, sagte er. »Geht es dir gut? Die Verletzungen ...«
Frafa wischte seine Worte fort. »Es geht mir besser. Ich habe mich von meiner Vergangenheit fesseln lassen, Barsemias, und dabei die Gegenwart versäumt. Ich habe mehr darauf geachtet, keine Fehler zu machen, nicht mehr verletzlich zu sein, als darauf, zu leben. Das war dumm von mir. Man darf nicht nur bewahren, was man ist, und sich allem anderen verschließen. Leben ist Veränderung, Barsemias. Und warum sollte eine Nachtalbe nicht einen Elf küssen? In tausend Jahren kann man alles sein! Und ich habe es versäumt...«
Sie schaute Barsemias an. »Ich will es nicht länger versäumen. Ich will lieben und mich verändern und die Welt in meinem Inneren fühlen. Auf dieser Lichtung habe ich erkannt, dass wir leben!«
Sie kamen an eine Lichtung. Frafa stutzte, als sie den wolkengrauen Kriegsodontopter in der Mitte stehen sah. Dann fiel ihr Blick auf die Elfe Ledesiel, die auf einem moosbewachsenen Stein saß. Wisbur und Biste standen neben ihr. Ein kleines Tier lag zu ihren Füßen, und der Gnom und der Wichtel beäugten es misstrauisch. Aber Frafa spürte schon aus der Ferne, dass das Geschöpf tot war.
»Ledesiel!«, rief sie. »Es freut mich, dass es Euch gut geht!«
Die Elfe schaute nur flüchtig auf. »Euch haben wir das jedenfalls nicht zu verdanken.«
»Ledesiel!« Barsemias hob beschwichtigend die Hand. »Gib Frafa nicht die Schuld daran. Ich habe sie losgelassen. Und sie wäre beinahe gestorben, weil wir sie allein gelassen haben.«
»Sie lebt, wie ich sehe.« Ledesiel musterte Frafa von Kopf bis Fuß und rümpfte die Nase. »Und ihr Blut ist grün geblieben. So ist das mit den Nachtalbenzaubern. Sie täuschen die Sinne, aber im Inneren verändern sie nichts.«
Frafa biss die Zähne aufeinander. Was die unbestimmte Drohung des Waldes nicht geschafft hatte, gelang Barsemias' Schwester im Handumdrehen: Ihre gute Stimmung schwand.
»Wo sind die anderen?«, fragte sie. »Barsemias meinte, es ginge allen gut.«
»Gut ist etwas übertrieben«, erwiderte Ledesiel. »Mein Volk ist in Bedrängnis. Ein halbes Dutzend unserer besten Zauberer können nicht tatenlos hier herumsitzen und warten. Die Übrigen haben sich den Spähtrupps angeschlossen oder widmen sich dem Schutz der Hilflosen.«
»Na«, sagte Frafa schnippisch. »Da kann ich aber froh sein, dass die große Zauberin Ledesiel, die Hoffnung ihres Volkes, um meinetwillen hier zurückgeblieben ist.«
Barsemias zischte begütigend und tätschelte hilflos ihren Arm. Ledesiel lupfte eine Augenbraue.
»Ich bin nicht Euretwillen geblieben«, erklärte sie. »Ich habe auf meinen törichten Bruder gewartet. Und dieses Beutestück ist zu wichtig, als dass wir es unbewacht lassen dürften.«
Sie wies auf den Odontopter. Es war ein schlankes Modell, zierlicher als der klobige Transporter der Kopfgeldjäger. Insgesamt mochte er nicht kleiner sein, aber der Rumpf war dünn und langgezogen, die beiden Kanzeln am Kopfende waren winzig. Tatsächlich glich dieses Fluggerät viel mehr einer Libelle, und der Schwanz war bestückt mit Tanks, Raketenwerfern, Munitionscontainern ...
»Der Gnom meint, er kann das Ding fliegen«, sagte Ledesiel. »Mein Volk kann auf eine solche Waffe nicht verzichten, wir haben nicht viele andere. Und doch weiß ich nicht, was wir damit anfangen sollen. Gegen das Schlachtschiff kann die Maschine jedenfalls auch nicht viel ausrichten.«
Frafa schüttelte den Kopf. »Nein«, bestätigte sie. »Ich hatte mehrere Male mit dem Schiff zu tun. Es ist ... ein Ungeheuer. Bei den ersten Zusammenstößen habe ich versucht, mich mit Magie zu wehren, aber es gibt keinen Schwachpunkt.«
Ledesiel deutete ein Nicken an. »Das müsst Ihr mir nicht sagen. Wir haben schon mit unserem ganzen Wald dagegen gekämpft, wenn Ihr Euch erinnert. Und seither haben sie das Schiff noch aufgerüstet! Wir haben ein paar Soldaten gefangen genommen und befragt und Informationen gesammelt.«
Frafa trat näher heran und schaute zu der Kreatur hinunter, die zu Ledesiels Füßen lag. Barsemias stellte sich auf die andere Seite und betrachtete das Tier ebenfalls neugierig. Es war so groß wie ein kleiner Hund, hatte schlanke Gliedmaßen mit Klauen und ein stumpfes kräftiges Maul. Frafa bückte sich und schob die Lefzen hoch. Die Zähne darunter wirkten ungewöhnlich lang, die Krallen an den Pfoten waren rasierklingenscharfe Sicheln. Das Wesen war unbehaart, und es lag in einer Lache aus Schleim. Die Haut fühlte sich feucht und klebrig an, und das ganze Geschöpf hatte etwas seltsam Unfertiges an sich.
»Was ist das?«, fragte Frafa.
»Tiere, die an Bäumen wachsen«, sagte Ledesiel.
Frafa starrte sie fragend an.
»Ich habe es gefunden, kurz nachdem Barsemias beschlossen hat, sich Euretwegen in Gefahr zu bringen«, erklärte Ledesiel. »Es ist eine Art Embryo. Er schwamm in einer Blase, die wie eine Frucht an einem der Korallenbäume hing.«
Frafa hob die Brauen. »Das deutet ja daraufhin, dass diese Welt ganz andere Lebenszyklen kennt als wir! Womöglich gibt es gar keinen Unterschied zwischen Flora und Fauna. Wie merkwürdig. Dabei hat dieses Geschöpf noch die vertrauteste Form, die ich bisher hier gesehen habe. In einer bitanischen Stadt könnte es fast als Hund durchgehen!«
»Hässlicher Köter«, murmelte Biste.
»Mit dem Lebenszyklus dieser Welt hat das rein gar nichts zu tun.« Ledesiel betrachtete das tote Tier grimmig. »Ich habe es mit meinen magischen Sinnen untersucht - und es ist wie wir!«
Wisbur lachte auf. »Wie ein Elf oder wie ein Wichtel?«, fragte er.
»Die Zähne passen besser zu einem Nachtalb oder zu einem Gnom!«, widersprach Biste.
Ledesiel bedachte die beiden mit einem strafenden Blick. »Unser Erbgut«, sagte sie. »Oder vielmehr Bruchstücke davon, die neu zusammengefügt wurden, um das hier wachsen zu lassen!«
»Oh.« Barsemias erbleichte.
Frafa schaute argwöhnisch auf die Kreatur, dann auf Ledesiel. Wollte die Elfe sie zum Narren halten? Ein Tier aus ihrer eigenen Welt, das es dort gar nicht gab, das aber hier auf Bäumen wuchs?
»Wie kann das sein?«, fragte sie.
»Das liegt doch auf der Hand.« Ledesiel verzog verächtlich die Lippen. »Es ist eine Waffe! Mit den Krankheitserregern fing es an, und so geht es weiter. Jetzt wissen wir wenigstens, dass es ein gezielter Angriff ist!«
Frafa glaubte es nicht. »Das wirkt nicht gezielt, sondern sinnlos kompliziert. Wer auch immer uns auf dieser Welt angreifen möchte, der findet hier genug heimische Geschöpfe, mit denen er vertrauter sein dürfte.«
»Denkt darüber nach, Frafa«, sagte Ledesiel. »All das haben unsere unsichtbaren Feinde schon versucht. Sie haben ihre eigenen Krankheitserreger an uns angepasst, und sie haben ihre eigenen Pflanzen Gifte bilden lassen, die auf uns wirken. Ihre Tiere haben uns angegriffen. Aber ihre Biologie ist so weit entfernt von uns, dass diese Angriffe nicht richtig treffen, und wir sind so weitab vom Beuteschema ihrer Raubtiere, dass deren Aggression ... uninspiriert wirkt.«
»Also hat dieser Baum tatsächlich nach dem Odontopter geschlagen!«, rief Wisbur.
Ledesiel sah ihn skeptisch an. »Vielleicht«, räumte sie ein. »Aber das wäre schon sehr weit hergeholt. Diese Raubtiere allerdings, nach unserem Vorbild geschaffen ...« Sie wies auf den Hund zu ihren Füßen. »Wenn sie reif werden und leben, dann werden sie Hunger haben auf unser Fleisch, sie werden riechen, was wir ausdünsten. Sie sind eine Waffe, die auf uns zielt, und nur auf uns!«
Frafa stand da wie festgefroren. Sie ging im Kopf die Möglichkeiten durch, überlegte, was nötig war, um so ein Geschöpf zu züchten ... nein, von Grund auf neu zu entwerfen und es aus dem Nichts wachsen zu lassen. »Unmöglich«, flüsterte sie. »Was für ein Zauberer soll das sein, der eine solche Chimäre innerhalb eines Tages entwirft? Niemand kann das. Man würde immer von einem vertrauteren Muster ausgehen!«
»Auf unserer Welt«, sagte Ledesiel. »Aber was, wenn es unseren Feinden leichter fällt, etwas im Kopf zu entwerfen, als uns zu beobachten und unsere Schwächen äußerlich zu studieren? Wenn ihr Verstand einfach so groß ist, dass sie den Bauplan eines Organismus von Grund auf neu berechnen können, und sie sich deswegen gar nicht damit aufhalten müssen, Vorhandenes zu variieren?«
»Eine Welt, die sich kratzt«, flüsterte Barsemias.
Frafa erinnerte sich an die Eindrücke, die sie von dieser Welt gesammelt hatte. In ihren Visionen. Gab es darin einen Hinweis auf die Zauberer? Oder war es tatsächlich die Welt selbst, die gegen sie arbeitete ... ein vernetzter Organismus wie ein Elfenwald? Oder eine Maschine, wie es auch ein Elfenwald letztlich war, gesteuert von Meistern, die im Verborgenen blieben.
£5 muss nicht einmal Meister geben, dachte Frafa. Die Elfen schickten die Geister ihrer Zauberer in den Wald, um ihn zu lenken. Was, wenn der Wald und die Geister bleiben, aber alle Bewohner längst fort sind?
»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«, fragte sie. »Bis diese nächste Waffe gegen uns einsatzbereit ist?«
Ledesiel zuckte die Achseln. »Wenn dieser Hund ein typisches Beispiel ist? Wenn ich die Zeit bis zum Schlüpfen schätzen soll? Vielleicht nur ein Tag, vielleicht länger ...«
»Dann«, sagte Frafa, »brauchen wir rasch einen Plan, um hier fortzukommen. Lasst uns über diese Informationen reden, die Eure Leute von den gefangenen Soldaten erhalten haben ...«
Frafas Blick schweifte zur Mitte der Lichtung. »Und am besten«, fügte sie hinzu, »bevor sich herumspricht, was mit diesem Odontopter geschehen ist.«