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Die Gründung der Union - In beispiellosem Bemühen überwanden Gulbert und Aldungan, die beiden Staatsoberhäupter der Allianz und der Finstervölker, ihre jahrhundertelangen Differenzen und wohl auch ihren persönlichen Ehrgeiz. Acht Jahre nach dem Tag der Scherben unterzeichneten sie und die Repräsentanten der meisten ihrer Völker den Vertrag von Opponua und gründeten die Union, einen Zusammenschluss der ehemaligen Feinde in einem gemeinsamen demokratischen Staat, dessen Hauptinteresse die Eindämmung des »Blutes der Erde« sein sollte, welches die Natur von Bitan auf Dauer zu verändern drohte.
Gulbert und Aldungan traten von ihren Ämtern zurück und überließen die Macht einer gewählten Regierung der Nationalen Einheit in Opponua. In einer föderalen Verfassung blieben die Rechte und natürlichen Siedlungsgebiete der beteiligten Völker gewahrt, was dem vorherrschenden Misstrauen Rechnung trug.
Das entstehende Staatswesen sollte sich über die Jahrhunderte als stabil erweisen und wuchs vermutlich enger zusammen, als seine Gründer es sich vorgestellt hatten - auch wenn der Einfluss von Gulbert und Aldungan auf ihre immer noch starke Anhängerschar sicher erheblich dazu beitrug dass die Spannungen der ersten Jahre nie zu einem endgültigen Bruch der Union führten.
Aus: »GESCHICHTE DER UNION«, VON TENDOR ISTARIOS,
PROF. EM. DER POLITISCHEN AKADEMIE ZU OPPONUA
8. Lichtmond 282 GdU, an der Sternenklippe
Zwei Nächte darauf erreichte Frafa die Sternenklippe. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit sie Meister Aldungan zur Zeit der Revolution in den tiefsten Grotten dieses Berges aufgespürt hatte - vor einer halben Ewigkeit, vor über neunhundert Jahren. Ganze Reiche waren in dieser Zeit aufgestiegen und wieder vergangen.
Die Sternenklippe hatte sich gleichfalls verändert. Zwanzig Kilometer von den weitesten Ausläufern des Berges entfernt durchschnitt ein Zaun das dürre Buschland, das auch davor schon menschenleer gewesen war und ohne jede Spur einer Ansiedlung. Frafa flog tiefer. Große Schilder warnten davor, das Gelände zu betreten. Die Zäune waren rostig, Stacheldrahtrollen von Buschwerk durchwachsen, die Schilder alt und die Farbe abgeblättert. »Thaumagelförderung« - »Lebensgefahr« konnte Frafa noch mit Mühe entziffern.
Sie flog weiter, stieß auf alte Holzhütten, Unterkünfte für Arbeiter, Pumpräume. Der ganze Berg war mit Rohren überzogen, mit alten Leitungen und mit ganz alten. Von Letzteren zeugten oft nur mehr die Verankerungen und rostbraune Streifen auf dem Felsgestein.
Frafa spürte kein Leben außer Pflanzen, kleinem Steppengetier und einer gewaltigen pulsierenden Präsenz unter dem Boden ... Rasch zog sie ihre Sinne wieder zurück. Sie hatte das Gefühl, als würde sie von etwas aufgesogen.
Das Blut der Erde. Leuchmadans Hort.
Die Anlage war verlassen. Vor langer Zeit hatte Aldungan hier ein Forschungszentrum eingerichtet, so viel hatte Frafa mitbekommen. Sie wusste nicht, ob an dem Berg tatsächlich auch ein Abbau von Thaumagel stattgefunden hatte. Unmöglich war das nicht, denn nirgendwo sonst kam das Blut der Erde so dicht an die Oberfläche.
Auf ihrem Weg hatte Frafa die Gestalt des Falters gegen die einer Fledermaus getauscht, weil die ein besserer Flieger war. Nun flatterte sie dicht über dem Boden, ihre schwarzen Schwingen verschmolzen mit der Nacht. Sie sah mit Nachtalbenaugen, durchkämmte die Luft mit Fledermaussinnen. Aber sie war allein.
Sie glitt an den Hängen der Sternenklippe empor, die am Fuß sanft anstiegen, ehe sie dann fast senkrecht emporstießen bis hinauf zu der scharfen Spitze, die dort oben saß wie eine Krone. Frafa kreiselte in Spiralen um den Berg, bis die Luft dünner wurde. Dann landete sie auf einer Straße, die man in die Flanke des Berges gesprengt hatte. Sie war mit Beton geglättet, doch inzwischen an vielen Stellen schon wieder gesprungen und kaum breit genug, um zwei Fahrzeuge vorbeizulassen. Für einen Fußgänger war dieser Weg allerdings so bequem, wie man nur erhoffen konnte, und Frafa folgte ihm, bis er schließlich in den von Höhlungen zerfressenen Bereich unterhalb der Krone mündete.
Hier gab es weitere Gebäude, verlassene Plätze, rostige Maschinen, gesicherte Eingänge in den Berg. Die natürlichen Steinsäulen waren bearbeitet worden. Mancherorts hatte man Raum geschaffen, anderswo Stützen eingezogen, Flanken ausgemauert. Das obere Viertel des Berges ragte drohend über die Fläche, bildete einen dunklen Irrgarten zwischen den steinernen Streben, die dieses Dach trugen.
Frafa suchte nach dem Eingang, den sie kannte, aber sie fand ihn nicht. Mehrere Höhlen führten in den Berg, von rotbraunen Stahltüren versperrt. Anderswo hatte man Häuser halb in die Sternenklippe hineingebaut. Womöglich war dieser Berg im Laufe der Jahrhunderte immer weiter ausgehöhlt worden, aber das Innere war schon damals ein Labyrinth gewesen, und wenn Frafa einfach irgendwo hineinging, konnte sie nicht hoffen, den Weg wiederzufinden, den sie einst gegangen war.
Schließlich trat sie in ein großes Gebäude, das wichtig aussah und das mit dem Berg verbunden zu sein schien. Das Hauptportal war verschlossen und bestand aus metalldurchzogenem Sicherheitsglas, matt und zerkratzt und nur an manchen Stellen gesprungen. Frafa kletterte stattdessen durch ein Fenster an der Seite, das aus dem verwitterten Rahmen herausgebrochen war und eine bequeme Öffnung zurückgelassen hatte.
Dahinter erstreckten sich verlassene Hallen und Büroräume, die voller Staub waren. Eine Treppe, die unter jedem ihrer Schritte knirschte, führte hinab in die Kellergewölbe. Große Pumpen standen hier, Kessel und Glaszylinder, jetzt grau und blind. Frafa sammelte Fluginsekten um sich, ließ sie phosphoreszieren, drang in die dunkleren Flure vor und tastete sich zum hinteren Teil des Gebäudes.
Der Weg endete vor einer schweren Stahltür, die zu den Höhlen führen musste. Frafa sah sich um, aber da war nur ein ganz gewöhnliches Schloss, ein mechanisches Sicherheitsschloss, wie es vor hundert Jahren üblich gewesen war und wie es heute nur noch von besonders fanatischen Magie- und Technikfeinden verwendet wurde. Frafa fluchte. Einen Aurentaster hätte sie beeinflussen können, aber die Mechanik der Tür entzog sich ihrer Macht.
Zögernd legte sie die Hand auf das Metall. Sie betätigte den Türgriff, aber der Stahl war nicht so rostig, dass sie diese Panzertür hätte aufbrechen können. Allerdings schloss die Tür nicht fugenlos. Die Ränder waren zerfressen, und wenn Frafa einen Finger davorhielt, spürte sie einen kühlen Luftzug.
Sie erinnerte sich an einen anderen Zauber, den sie jedoch nur ungern anwendete. Frafa verdrillte ihre Essenz, zog sie enger und enger, und ihr Leib folgte. Ihre Gestalt schnurrte zusammen, wurde immer kleiner. Der schmutzige Boden kam ihr entgegen. Dreckklumpen ragten auf wie Berge aus Lehm. Sie sah zerfallende Insektenpanzer, kletterte über eine brusthohe Staubschicht oder watete hindurch, wenn der Unrat sie nicht trug. Es roch nicht mehr nach Staub, es roch wie auf einer Müllhalde, wie in einem Gebeinhaus. Im Nu war ihr Kleid mit Schmier und feinen Bröckchen bedeckt, von denen Frafa gar nicht wissen wollte, was für Überreste genau an ihr klebten.
Sie schickte ihre Leuchtinsekten zuerst auf die andere Seite - Mücken, die inzwischen fast groß genug wirkten, um darauf zu reiten. Gleichzeitig tastete sie mit ihren Sinnen den Weg ab, spürte Spinnen und Raubinsekten auf und zwang sie in ihren Bann. Als sie unter dem Türspalt durchgekrochen war, hatte sich die Schar ihrer leuchtenden Anhänger vergrößert, und neben der schimmernden Wolke unter der Decke waren nun auch Boden und Wände von feinen Lichtpunkten bedeckt, die mit ihr wanderten.
Einst, vor langer Zeit, waren mit der Größe auch ihre Kräfte geschwunden. Inzwischen machte das kaum mehr einen Unterschied, und sie konnte ihre Aura in jeder Gestalt weit ausgreifen lassen. Dennoch, während ihres ersten Ausflugs in den Mikrokosmos hatte sie eine derartige Hilflosigkeit empfunden, dass dieses Gefühl in ihrem Geist tiefe Wurzeln geschlagen hatte. So schreckte sie heute noch vor dieser Verwandlung zurück und gebrauchte sie nur, wenn es unumgänglich war.
Frafa nahm wieder ihre große Gestalt an. Der Staub fiel von ihr ab. Sie drückte den Schmutz mit ihrer Magie aus dem Kleid, nieste und fühlte sich wieder wohler.
Sie stand nicht in einem Tunnel aus behauenem Stein, die sie erwartet hatte, sondern in einem Gang, dessen Wände mit glattem Beton verschalt waren. Rohre und Leitungen verliefen an der Decke, und uralte Lampen hingen dazwischen. Manche Lichter brannten sogar, trübe und flackernd und in weitem Abstand, aber hell genug für eine Nachtalbe und so hell, dass ihre leuchtende Insektenschar daneben verblasste und nutzlos wurde.
Frafa ging weiter, schritt durch den Tunnel und suchte nach vertrauten Orten, nach dem alten Hort von Leuchmadan.
Rudrogeit stürmte die Treppe hoch und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Das Haus war billig, die Zimmer kaum abgedämmt. Rudrogeit hörte ein Stöhnen, ekstatische Schreie, das Ächzen von Möbeln. Als er in den Flur einbog, stand eine Menschenfrau vor einer halb geöffneten Tür und lächelte ihm entgegen.
»Hey, Süßer, willste Blut lecken ...?«
Rudrogeit eilte an ihr vorbei, ohne innezuhalten. Er hasste diesen Ort. Er hasste den dreckigen Goblin, der ihn hierhergeführt hatte.
Rudrogeit fand die Zimmernummer, die ihm der Türsteher nach einigem Widerstreben herausgegeben hatte. Dahinter hörte er ein Knallen, ein Winseln, die raue Stimme eines Goblins.
Rudrogeit biss die Zähne aufeinander und trat die Tür auf, sodass sie auf der anderen Seite gegen die Wand knallte.
»Sneithan!«, brüllte er, als er in den Raum stürmte.
Der Goblin stand auf einem überbreiten Bett, die krummen Beine gespreizt. Er hatte gar nichts an, aber er hielt eine Peitsche in der Hand. Zu seinen Füßen lag eine Frau auf dem Bauch, in knapp geschnittenen Ledersachen, das Oberteil so eng geschnürt, dass die üppigen Brüste herausquollen. Sie drehte den Kopf und schaute zur Tür, dann ließ sie ihn wieder auf die Matratze sinken. Ihre Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt.
Sneithan starrte Rudrogeit an, fluchte wütend und schlug mit der Peitsche zu. Ein blutiger Striemen erschien zwischen den leicht geröteten Streifen, die sich kreuz und quer über den nackten Rücken der Hure zogen. Die schrie auf, drehte den Kopf und brüllte den Goblin an.
»Du Affenhirn! Das war zu fest! Das war nicht vereinbart.«
»Halt's Maul, Nutte«, knurrte Sneithan. »Sonst zieh ich's dir durch die Fratze!«
Rudrogeit verzog das Gesicht und lehnte sich gegen die Tür. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die Szene ihn anwiderte - einschließlich des baumelnden Geschlechtsteils zwischen den Beinen seines Sergeants. Der Goblin hätte sich nur lustig gemacht, wenn Rudrogeit eine Schwäche zeigte.
»Tut mir leid, wenn ich deinen Spaß unterbreche«, sagte er. »Aber wir haben einen Auftrag. Bist du taub, oder was? Los, schmeiß dich in deine Uniform und pack deine Eier wieder ein.«
Sneithan bleckte die Zähne und drohte mit der Peitsche. Dann schleuderte er sie in eine Ecke des Zimmers und stieg vom Bett. Dabei trat er der Prostituierten auf den Hintern und kniff sie mit seinen Klauenfüßen.
Die schimpfte wütend, wand sich in ihren Fesseln und fuhr den Goblin an: »Ich zeig dich an für den Schlag! Blutet das? Blutet das? Dass dein Kumpel zuschaut, war auch nicht vereinbart. Das kost' extra, du Haufen Scheiße!«
Sneithan grunzte und schlüpfte hastig in seine Hose. Er griff nach seiner Jacke, holte ein paar Scheine aus der Tasche und warf sie aufs Bett. »Da«, sagte er. »Mehr, als du wert bist, Wabbelfresse. Kann ich mir im Osten zwei Menschenfrauen für kaufen. Junge und schöne noch dazu.«
Er lachte und ging zur Tür.
»Was ist mit den Handschellen?«, brüllte die Frau ihm nach.
»Bleib liegen, bis ich wiederkomm«, rief Sneithan. »Dich rührt eh keiner an, hässliches Stück.«
Er hängte sich die Uniformjacke über die Schulter, verließ mit Rudrogeit das Zimmer und ließ die schimpfende Nutte zurück. Rudrogeit war überrascht, dass der Lärm niemanden sonst herauslockte. Selbst die Prostituierte, die ihn angesprochen hatte, war verschwunden.
Er stieß Sneithan einen Finger vor die Brust und sagte: »Wenn du schon deine Perversionen in so einem Haus abziehen musst, dann lass beim nächsten Mal dein Phon angeschaltet. Ich bin nicht dein Laufbursche, der dich persönlich abholt, Sergeant Sneithan.«
»Is klar, Chef.« Der Goblin fasste sich in den Schritt und nestelte umständlich herum, als hätte er einiges zu sortieren. Dabei grinste er Rudrogeit an. »Hat dich erschüttert, was du gesehn hast, eh? Mann oder Muli, ist halt nicht jeder gleich gebaut.«
Rudrogeit spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Was du da drin geschwungen hast, sah mir nicht grad nach einem strammen Schwanz aus.«
Sneithan spuckte auf den Steinboden. »Muss nicht zahln, wenn ich mein' Schwanz wegstecken will. Aber'n echter Goblin braucht auch mal was anderes.«
»Ein echter Goblin braucht öfter mal was Widerwärtiges«, erwiderte Rudrogeit trocken. »So viel hab ich im Lauf der Zeit schon verstanden.«
»Na«, sagte Sneithan. »Scheiß Zivilisation hier. 'n Goblinkrieger muss das Winseln von Sklaven hör'n. Da gönn ich mir den Spaß, selbst wenn's nichts Echtes ist. Auch nicht anders als dein Blut aus Konserven, Rudi.«
»Nenn mich nicht so«, knurrte Rudrogeit. »Wenn du leben willst wie ein echter Goblin, zieh doch zu deinen Brüdern im Osten. Auf der Steppe, so heißt es, halten die Stämme noch Sklaven, wenn sie können.«
»Nai«, sagte Sneithan. »Auf die Steppe flieg ich mit'm 'topter. Lass Feuer vom Himmel fallen und verbrenn die Fratzen. Scheiß Zivilisation, aber wenn's ans Schlachten geht, steh ich lieber bei den Gewinnern auf der Seite. Schafsdämliche Goblins auf der Steppe, hab'n se Sklaven, aber keine anständigen Waffen.«
Er schaute zu Rudrogeit auf. »Isses das? Fliegen mal wieder raus und sorgen für Ordnung? Lang her, der letzte Ritt zu mein' Brüdern!« Er grinste.
Rudrogeit schüttelte den Kopf. »Eher ein ... Polizeiauftrag. Wir sollen die Lichtbringer bereithalten für die Jagd auf eine Nachtalbe.« Er verzog das Gesicht.
»'n Schlachtschiff für 'ne einzelne Albe? Is nicht 'ne Kugel genug?«
»Für diese Albe vielleicht nicht. Es ist Aldungans ehemalige Assistentin. Sie hat ihn verraten und ist zu den Elfenterroristen übergelaufen, heißt es. Sie soll eine mächtige Zauberin sein. Frafa.«
Rudrogeits Stimme wurde immer leiser, während er sprach. Am Ende fiel Sneithan ihm ins Wort. Der Goblin blieb stehen, klatschte sich selbst auf die Oberschenkel und rief: »Dame Frafa, Scheiße! Letzte Nacht hab ich se noch gesehn und laufen lassen. Hätt ich da gewusst, dass sie'n Herrn verraten hat, da wär die Jagd schon zu Ende. Scheiße auch!«
Rudrogeit sah ihn skeptisch an. »Klar wär die Jagd dann zu Ende - nämlich für dich, Sneithan! Man schickt kein Schlachtschiff, wenn ein Goblin auch reicht.«
»Ach was«, erwiderte Sneithan. »Ein Goblin reicht, wenn's drauf ankommt. Dienen Leuchmadan, und Tod den Verrätern!«
Frafa irrte tagelang, so empfand sie es, durch ein Gewirr von Gängen, das seit ihrem ersten Besuch ins Unermessliche angewachsen war. Kein Raum, kein Tunnel kam ihr bekannt vor, jedenfalls erkannte sie keinen der Orte wieder. Der glatte Beton löschte die alte Textur aus. Alle Gänge, alle Wände glichen einander, sämtliche Räume sahen gleichermaßen neu aus, ob es nun Kammern aus Leuchmadans Tagen waren oder solche, die man erst später in den Fels geschlagen hatte.
Manche der Gänge waren eher Röhren, wie von mechanischen Tunnelbohrern ausgefräst. Aber selbst dort konnte Frafa nicht sicher sein, ob sie nicht auf alten Pfaden wandelte, denn natürlich mochte es sein, dass die Tunnelbohrer die Wege nicht neu geschaffen, sondern nur Bestehendes erweitert hatten.
Frafa wanderte durch die gelblich erleuchteten Gänge, sie meditierte, wenn sie Erholung brauchte, und nährte sich von der Macht des Äthers, die an diesem Ort ungewöhnlich heftig pulsierte. Immer mehr sank sie ein in die magische Natur dieses Ortes, und während ihr Leib ziellos durch die Hallen streifte, während ihre Insektenschar sich zerstreute, sank ihr Geist tief hinab in den Fels, zum Blut der Erde. Frafa bemerkte Strukturen darin, sie sah die Kraftlinien.
Und dann, sie mochte fünf Tage gewandert sein oder eine Woche, da verstand sie. Die Muster ergaben einen Sinn. Frafa erkannte Flüsse und Wirbel, und sie wusste, wie das Blut der Erde den Stein erfüllte, welchen Weg es nahm. Wie es an einem Punkt besonders hoch emporstieg und wie sich dort alle Kraftlinien vereinten und wahrhaft ein Herz bildeten.
Sie erinnerte sich, wie sie Aldungan gefunden hatte in der zentralen Kammer dieser Höhlen, in jener Grotte, wo das Blut der Erde in einem Becken an die Oberfläche kam. Wenn sie den Kraftlinien unter ihren Füßen folgte, wenn sie sich auf jenen Knoten zubewegte, wo diese Linien aufeinanderstießen, dann würde sie unweigerlich an ihr Ziel kommen.
Das zu erkennen war leicht. Den Weg zu finden war schwieriger. Frafa vertraute sich ganz ihren magischen Sinnen an, doch die Gänge zwangen sie auf bestimmte Wege. Es war unmöglich, sich in gerader Linie dem Ziel zu nähern, aber immerhin hatte sie jetzt ein Ziel, einen festen Punkt, an dem sie sich ausrichten konnte wie an einem Kompass. Wo immer sie war, wo immer sie sich hinbewegte -stets wusste sie, in welcher Richtung ihr Ziel lag, und sie kam diesem Ziel näher.
Sie stieß an Wände, hatte das Gefühl, dass nur wenige Meter Stein zwischen ihr und der Quelle lagen, womöglich nur eine Mauer. Mehr als einmal dachte sie darüber nach, mit Magie durchzubrechen, doch sie scheute vor Gewalt zurück, vor Zaubern, die weitab von ihrem Fachgebiet lagen und mit denen sie nicht vertraut war. Was für Folgen mochte das haben, an diesem Ort? Nein, es musste einen richtigen Zugang geben!
Frafa bahnte sich ihren Weg durch Türen, kroch durch Kabel- und Belüftungsschächte. Dann stand sie ein weiteres Mal vor einer Wand. Sie tastete mit den Fingern und mit ihrem Geist, sie klopfte dagegen und war überzeugt davon, dass es sich nur um eine dünne eingezogene Trennwand aus Formbein handelte.
Sie legte beide Handflächen darauf, konzentrierte sich. Das Material wurde weich und gab nach. Frafa trat einen Schritt vor, das Formbein floss um ihren Leib, gab mit einem Schmatzen nach - und sie war hindurch.
Eine weite Halle lag vor ihr, deren Dach zur einen Seite abfiel. Während Frafa dastand und blinzelte und versuchte, etwas zu erkennen, flammten oben unter der Decke strahlende Linien auf. Uralte Magie erwachte zum Leben und füllte den weiten Raum mit kaltem Licht.
Frafa sah Tische und Schmelzöfen, ein alchemistisches Labor, und auf der anderen Seite der Halle, weit entfernt, das winzige Becken, bei dem sie einst Aldungan gefunden hatte, und sie wusste, dass sie am Ziel war.
Die Quelle des Blutes. Wo sie vielleicht eine Antwort fand - eine Antwort auf die Frage, wen sie vor beinahe tausend Jahren zurück nach Daugazburg geholt hatte.
Die Halle hatte sich verändert. Eine moderne alchemistische Arbeitsstätte war hier eingerichtet worden - und nun schon wieder seit Jahrhunderten veraltet.
Hinter der falschen Mauer aus Formbein fand Frafa verschiedene Räumlichkeiten: eine Bibliothek, Schlafsäle, Vorratskammern - aber alles war verlassen. Die Vorratskammern waren leer, in den Schlafräumen standen fleckige Möbel und rostige Bettgestelle.
Frafa verbrachte viel Zeit in der Bibliothek. Die Bücher waren noch da, doch sämtliche Notizen, die verrieten, woran genau man an diesem Ort gearbeitet hatte, wer hier gewesen war, das alles war verschwunden. Frafa blätterte in Folianten und prüfte jede Schriftrolle.
In manchen Werken fand sie ganze Stratigraphien an Marginalien - Unterstreichungen und handschriftliche Erläuterungen am Rand, Korrekturen der Erläuterungen und Erläuterungen zu den Erläuterungen.
Aber auf eine gewisse unpersönliche Weise verrieten die Werke Frafa doch einiges: Es waren alte Schriften darunter, die außerhalb dieser Hallen in Vergessenheit geraten waren, ebenso wie neuere Aufzeichnungen, die bis in die Zeit vor dreihundert Jahren zurückreichten. Nichts, was neuer war. Damit ließ sich die Zeit eingrenzen, an der zuletzt hier gearbeitet worden war: vor knapp dreihundert Jahren, kurz vor Gründung der Union.
Womöglich hatte man eben deshalb das Labor in Leuchmadans Hort verschlossen und geräumt, weil Aldungan wusste, dass er bald als Herrscher zurücktreten würde und weil dieser Ort auch nach seiner Zeit geheim bleiben und keine Aufmerksamkeit erregen sollte.
Doch Frafa erfuhr nicht nur, wann hier zuletzt gearbeitet worden war - sie konnte auch schlussfolgern, woran. In den Büchern ging es um Magie, die Magie des Lebens, und um das Blut der Erde. Das war nicht überraschend, wenn man die Natur dieses Ortes bedachte: All diese Grotten dienten nur dem Zweck, dem Blut der Erde nah zu sein, damit zu arbeiten und daran zu forschen. Hinzu kamen allerdings Bücher zu anderen Themen, die nicht so selbstverständlich waren: zur Dämonologie und zur Herstellung von magischen Herzen.
Allein aus dem Inhalt der Bibliothek schloss sie, dass die letzte Phase der Forschung an Leuchmadans Hort um die Unsterblichkeit gekreist hatte, um die Erschaffung magischer Herzen - und um deren Bearbeitung.
Doch wer hätte hier an magischen Herzen forschen sollen, und warum?
Aldungan hatte ein magisches Herz besessen, bevor diese Bibliothek eingerichtet worden war. Und nach ihm, soweit Frafa wusste, war es keinem Zauberer mehr gelungen, ein solches Herz zu erschaffen. Wem also hatte diese Forschung gedient?
Sie dachte an Aldungans Versuche, sie selbst dazu zu bewegen, ein magisches Herz zu prägen. Und an ihre Gründe, das abzulehnen - ihre ganz persönlichen Gründe. War es vor dreihundert Jahren gewesen, dass Aldungan sie zum ersten Mal darauf angesprochen hatte? Es mochte sein. Vor dreihundert Jahren hatte sie die Akademie zu Daugazburg geleitet, hatte den Höhepunkt ihrer magischen Fähigkeiten erreicht. Es wäre die richtige Zeit gewesen, nach einem Herzen zu streben wie die Zauberer der alten Tage.
Es wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, dass Aldungan dieses Thema ansprach und ihr seine Hilfe anbot.
Aber wenn sie nun bedachte, dass zu ebenjener Zeit hier an dieser Sache geforscht worden war, dann drängte sich der Verdacht auf, dass Aldungans Angebot nichts mit Frafas Entwicklung zu tun gehabt hatte, sondern mit seinen eigenen Interessen, seinen eigenen Forschungen. Mit dem, was in den Höhlen unter der Sternenklippe vorgegangen war.
Das schuf eine Verbindung zwischen diesem Ort, Aldungan und ihr. Grund genug, nicht einfach wegzugehen, sondern mehr zu erfahren.
Und dann, unter dem steten Zupfen an ihrer Essenz, das von der Lebenskraft ausging, die im Blut der Erde lag, hatte Frafa eine Idee. Eine Idee, wie sie mehr herausfinden konnte, mehr über die Personen, die hier gewirkt hatten, und über die tatsächlich geleistete Arbeit - weit über die indirekten Hinweise hinaus, die sie den Werken der Bibliothek entnehmen konnte.
Frafa stellte das letzte Buch, in dem sie geblättert hatte, entschlossen ins Regal zurück. Sie ging in die nächste Schreibstube, sah die leer geräumten Schreibtische, die vertrockneten Tintenstifte und die vergilbten, unbeschriebenen Blätter, die unten in einer Schublade vergessen worden waren.