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Maße und Größen - Wie es heißt, übernahmen die Finstervölker schon einmal, ganz unkompliziert und ohne Zwang, die bitanischen Gewichte, Maße und sogar den Sonnenkalender. Dies geschah während der »Knochenmesser-Revolte« vor 900 Jahren, und es blieb ein kurzes Zwischenspiel in einer stürmischen Zeit. Dennoch zeigt es, dass Unsicherheit und Ängste mehr Probleme schaffen als der grimmigste Streit.
Denn das, was 635 Jahre zuvor mitten im Krieg kein Problem gewesen war, wurde eines, als Falinga und Bitan sich friedlich zur Union zusammenschlossen und ihre Größen und Begriffe vereinheitlichen mussten. Über Jahrzehnte wurde in Gremien und Ausschüssen erbittert um jedes Wort gerungen, und noch länger dauerte es, bis die vereinbarten Begriffe sich allgemein durchgesetzt hatten. So groß war die Furcht der beteiligten Völker, bei der Einigung über den Tisch gezogen zu werden und ihre Identität zu verlieren!
Am Ende kam ein Kompromiss heraus. Er bescherte den Bitanern 13 Monate im Jahr, die nach der Tradition der Finstervölker benannt sind, sich aber nach bitanischem Brauch am Sonnenlauf orientieren, und viele weitere Regelungen dieser Art. Dennoch findet man heute noch Traditionalisten, welche hartnäckig die Bezeichnungen ihrer Vorfahren neben der offiziellen Regelung verwenden, alte militärische Ränge, alte Begriffe für Münzen, alte Längenmaße...
Und doch, aller Sturheit zum Trotz, haben sich die unterschiedlichen Bezeichnungen im Alltag einander angenähert. So werden inzwischen beispielsweise zwei Schritte der Finstervölker auf einen bitanischen Meter gerechnet - was allenfalls für eine recht kleine Nachtalbe als Schritt durchgehen kann, was aber das Verständnis und die Umrechnung ungemein erleichtert.
Aus: »GESCHICHTE DER UNION«, VON TENDOR ISTARIOS,
PROF. EM. DER POLITISCHEN AKADEMIE ZU OPPONUA
Aldungan bewohnte einen Turm am Rande der Stadt, der ihm vor Jahrhunderten, als der Nachtalb noch Herrscher aller Finstervölker gewesen war, als Palast gedient hatte. Der Sockel des Bauwerks war so oft umgebaut und wieder überbaut worden, dass er inzwischen einem natürlichen Hügel glich und ein eigenes Viertel in der Vorstadt bildete. Buntscheckige Häuser übersäten seine schrundigen Flanken, wucherten dort wie Muscheln an einem Pfahl: kleine Hütten und größere Villen, Mietwohnungen und Geschäfte. Manche dieser kleinen Häuser standen mit dem größeren Bauwerk in Verbindung, waren womöglich Erker oder ehemalige Gesindehäuser. Andere hatte man später hinzugebaut.
Die beiden oberen Drittel des Turms stachen aus dem verschachtelten Durcheinander empor mit den klaren Linien und den scharfen Kanten einer Waffe, eine Kathedrale aus Glas und Stein, blau schimmernd im Abenddämmer, mit klingenartigen Vorsprüngen und sich überlappenden Balustraden, die an die Schuppen einer antiken Rüstung erinnerten.
Eigene Hochstraßen führten aus verschiedenen Richtungen auf die Tore zu, ruhten erhaben auf schlanken Brückenbögen hoch über dem wilden Durcheinander des Stadtviertels, das im Schatten des Gebäudes gewachsen war.
Das Bauwerk hatte wenig gemein mit jenem schlichten Turm, in dem Frafa vor tausend Jahren gemeinsam mit ihrem Meister gelebt hatte. Es überragte die luftigen Zufahrtswege noch um zweihundert Meter und bildete fast schon eine Stadt für sich, mit Dutzenden von Stockwerken und mit Tausenden von Räumen und Zimmerfluchten im Inneren. Ein Turm nur der Form nach, in Wahrheit ein Palast, der dem von Leuchmadan und der Fei in nichts nachstand, nur dass Aldungan seine Zitadelle in die Höhe gebaut hatte und nicht in die Breite.
Frafa erinnerte sich an alles, als ihr Wagen auf das Gebäude zurollte. Es war im zweiten Jahrhundert seiner Herrschaft gewesen, als Aldungan seinen Wohnsitz an diesen Ort verlegt hatte. Frafa stand auf dem Höhepunkt ihrer Kanzlerschaft und war nach außen hin selbst zur Herrin von Falinga geworden -der Grauen Lande, die längst nicht mehr grau waren. Ein kleiner Sommerpalast war es damals gewesen, abseits von Daugazburg und dem Treiben der Stadt entrückt, umgeben von weitläufigen Gärten. Im Laufe der Zeit war er gewachsen, und in dem Maße, wie Aldungan selbst wieder in Erscheinung getreten war, zeigten sich nach und nach immer weitere Insignien von Macht und Herrschaft in der Architektur.
Seit Gründung der Union war das Gebäude wieder modernisiert worden. Die unteren Gewölbe hatte man abgetrennt, vermietet, versiegelt oder einfach vergessen; in anderen Bereichen hatte man ein Museum eingerichtet, oder man hatte sie stillgelegt. Aldungan selbst benutzte nur noch wenige Stockwerke dicht unter der Spitze.
Für den heutigen Tag waren viele der Hallen, die sonst für öffentliche Führungen zur Verfügung standen, wieder abgesperrt und geschmückt worden. Lange Reihen eleganter Fahrzeuge fuhren von allen Seiten auf den Turm zu, und Fluggeräte landeten in den dafür vorgesehenen Erkern.
Ein livrierter Einweiser winkte Frafas Fahrzeug heran, sie nahm ihre Tasche und stieg aus, und ihr Chauffeur wurde zu den Parkdecks weitergeleitet. Frafa raffte mit der freien Hand ihre schimmernd grüne Robe und schritt über den roten Teppich auf den Haupteingang zu. Die uniformierten Posten ließen sie ein, ohne nach einer Einladung zu fragen.
Sie ging gleich in Richtung der Garderobe, wo sie einen von Aldungans Protokollführern erblickte. Aber auf dem Weg dorthin traf sie auf den Bürgermeister von Daugazburg, auf einige alte Parteifreunde und auf einen früheren Kollegen von der Akademie. Frafa stellte ihre Tasche ab und wechselte ein paar Worte mit der Gruppe, doch als sie wieder zur Garderobe hinblickte, war der Protokollführer verschwunden. Dafür schritt Aldungan selbst über die breite Freitreppe in die Eingangshalle hinab. Der alte Nachtalb trug einen altmodischen dunkelblauen Anzug mit einem Besatz von Goldbrokat. Er und Frafa legten zur Begrüßung die Fingerspitzen aneinander.
»Frafa, meine Liebe. Ich hatte dich früher zurückerwartet...«
»Ja, Meister ... Aldungan.« Frafa deutete einen Knicks an. Auch nach so vielen Jahren wurde sie in Aldungans Gegenwart immer wieder zur Schülerin. »Der Zug ...«
Aldungan winkte ab. »Ein bedauernswerter Zwischenfall, es kam in allen Nachrichten. Zum Glück haben unsere stolzen Luftstreitkräfte diese Intrusion nicht geduldet und die unverfrorenen Elfen in die Schranken gewiesen.«
»Genau genommen habe ich ...«
Aldungan fiel ihr wieder ins Wort. »Ja, die Einzelheiten - lass uns ein andermal darüber plaudern, wenn ein wenig Muße bleibt.«
Frafa nahm ihre Tasche hoch. Sie war unförmig, mehr eine Aktenmappe, und passte nicht zu dem feinen Kleid, das sie trug.
»Womit hast du dich da nur beladen?« Aldungan runzelte die Stirn. »Es ist einer eleganten Albe nicht würdig, bepackt herumzulaufen wie ein Menschensklave. Und nötig hast du es auch nicht, mein Kind. Seit Jahrhunderten rate ich dir, ein neues Taschentier zu erschaffen.«
Frafa schlug die Augen nieder. »Ich ... ich kann nicht. Es wäre so, als ließe Balgir sich einfach ersetzen.«
Aldungan seufzte. Sein Blick schweifte durch die Halle, sah ein bekanntes Gesicht. Er lächelte und winkte und sagte dann zu Frafa: »Was redest du für einen Unsinn. Natürlich lässt er sich ersetzen! Dieses Ding war einfach nur ein Tier ... oder eine Tasche. Du kannst mühelos eine neue machen, und außerdem ist Balgir schon seit ... wie vielen hundert Jahren tot?«
»Es ist keine Frage der Zeit«, gab Frafa zurück. »Balgir war ein Vertrauter.«
Aldungan schüttelte den Kopf. »Mitunter zeigst du eine Rührseligkeit, die einer Albe nicht ansteht. Wenn dir das Ding so am Herzen lag, warum hast du es dann so oft als Echse herumlaufen lassen? Es wäre weniger schnell gealtert und gestorben, wenn du es als Tasche im Schrank gelassen hättest.«
»Balgir hätte das nicht gefallen«, sagte Frafa. »Er wäre nicht so schnell gealtert, aber er hätte auch weniger gelebt.« Sie schaute zur Seite und besann sich auf ihr eigentliches Thema: »Ich habe die Unterlagen in der Tasche, die Dokumente der Reise. Wir müssen sie durchgehen.«
Aldungan schüttelte den Kopf. »Aber doch nicht heute!«, rief er aus. »Du siehst erschöpft aus, Liebes. Hast du gezaubert? Ich spüre eine gewisse ... Leere in dir. Erhol dich ein wenig, feiere. Es gibt ein Buffet für die Ehrengäste im Mondscheinsaal, Tanz, Konzerte ... Du wirst heute Nacht doch nicht arbeiten! Wir reden später über die Ergebnisse deiner Fahrt.«
»Und was soll ich heute Abend tun?«
»Gar nichts.« Aldungan legte Frafa die Hand auf die Schulter. »Wärest du vor zwei Tagen gekommen, wie es geplant war, dann hätte ich dich instruieren können. Es sind wichtige Gäste da, die ich gern deiner Obhut anvertraut hätte ... Aber, wie man so passend sagt, der Zug ist abgefahren. Wenn du dich gut unterhältst und unseren bitanischen Gästen zeigst, dass wir in Daugazburg kultivierte Leute sind und Nachtalben ein angenehmer Umgang, dann tust du genug für unsere Sache.«
»Worum geht es eigentlich bei diesem Empfang?«, fragte Frafa. »Um ein neues Kriegsschiff, habe ich gehört?«
»Das ist der offizielle Vorwand«, erklärte Aldungan. »Heute wurde die Lichtbringer getauft und in Dienst genommen, ein Flugkreuzer der neuesten Generation. Aber das ist Gulberts Lieblingsprojekt, nicht meins, er hat im Hintergrund die Fäden gezogen. Ich nutze bloß den Anlass, wo so viele von Gulberts Freunden in Daugazburg sind, und spiele den Gastgeber, um ein paar Leute zusammenzubringen.«
Er zwinkerte Frafa zu.
»Gulbert.« Frafa seufzte.
»Gulbert ist nicht mehr unser Feind«, tadelte Aldungan sie milde. »Heute sind wir alle eine große Familie, Finstervölker und Bitaner, und dieser Empfang soll dazu beitragen, die Grenzen noch weiter abzubauen. Genieße den Abend, Frafa, und lebe einfach ... Es ist nicht gut für uns, stehen zu bleiben und an der Vergangenheit festzuhalten. Ob es um Taschentiere geht, um magische Herzen oder um andere Dinge.«
Er wandte sich ab, holte ein Phon aus der Tasche und meldete sich bei seinen Protokollführern. Frafas Arbeitgeber und früherer Lehrmeister überließ nichts dem Zufall. Er ließ sich eine Liste der wichtigsten Gäste und ihres gegenwärtigen Aufenthaltsortes geben, bevor er entschied, in welchem Raum und bei welcher Gruppe er wie absichtslos auftauchen wollte.
Erst als er fort war, fiel Frafa eine Merkwürdigkeit auf.
Lichtbringer.
Das war eine althergebrachte Bezeichnung für Leuchmadan und wohl eine vage Übersetzung seines Namens. Es war ein Begriff der Finstervölker, Gulbert hingegen war jahrhundertelang der Hochkönig der Völker des Lichts gewesen und hatte sogar gegen Leuchmadan selbst gekämpft. Wenn dieses Schiff also sein Projekt war, weshalb wählte er dann den Namen eines alten Feindes dafür?
Das Buffet war an der Stirnseite des Mondscheinsaals angerichtet, auf einer kleinen Empore, die bei anderen Veranstaltungen als Bühne diente. Eine lange Reihe Tische stand dort, beladen mit Vorspeisen und Desserts und zahllosen Delikatessen. Bedienstete in weißem Gewand und mit roter Schürze legten die Speisen vor.
Frafa schlenderte unentschlossen an den aufgereihten Köstlichkeiten entlang. Sie bewunderte die Dekoration, ganze Landschaften mit Wäldern und Hügeln und kleinen Tieren, aus Gemüse geschnitten und mit Kräutern begrünt; naturgetreue Blüten aus Zuckerwerk und Marzipan. Frafa kam spät, und viele der Platten mit den Hauptgerichten waren schon fast leer; andere kaum angerührt oder wurden eben neu aufgedeckt.
Ein rundlicher Mensch, einer der Honoratioren von Daugazburg, stand vor den Meeresfrüchten und wollte sich einen Hummer vorlegen lassen. Da richtete sein Nachbar das Wort an ihn: »Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte er. »Ich bin Arzt und möchte Ihnen sagen, dass Sie den Hummer womöglich nicht nehmen sollten.«
Frafa kannte den Daugazburger, aber den Fremden, der ihn angesprochen hatte, kannte sie nicht. Es war ein kleiner Mann, kaum größer als Frafa, in mattbraunem Anzug und mit einem aufgefältelten roten Tuch am Kragen.
Der Dicke riss seinen Teller zurück, als hätte das Schalentier ihn gezwickt. »Warum?«, fragte er hastig. »Meinen Sie, er wäre nicht bekömmlich?«
»Das hoffe ich doch«, erwiderte der Arzt ungerührt. Geschickt schob er seinen Teller unter dem Arm seines Nachbarn hindurch, drückte resolut mit der anderen Hand die Speisezange herunter und lud sich den Hummer selbst auf den Teller. »Es ist der Letzte auf dem Buffet, und ich hätte gern davon gekostet.«
Er zog mit seiner Beute ab. Der Daugazburger blickte ihm fassungslos nach. Dann tat er einen Schritt hinter dem Räuber her und lief selbst so rot an wie ein Hummer. »Was für eine Un...«, stieß er hervor, hielt dann inne und schnappte nach Luft.
Frafa drehte den Kopf, damit der Mensch ihr Grinsen nicht bemerkte. Eilig zwängte sie sich an ihm vorbei, legte sich ein paar Kleinigkeiten auf den Teller und entfernte sich. Sie sah den frechen Mann in seinem braunen Anzug allein an einem Tisch sitzen, und kurz entschlossen gesellte sie sich zu ihm.
»Ein starkes Stück, mein Herr«, sprach sie ihn an. »Marigar ist eine einflussreiche Persönlichkeit in Daugazburg. Er liefert Schuhe an das Militär, aber das ist nur eins der ehrbareren Geschäfte, an denen er beteiligt ist. Er mag Ihnen schaden.«
Der Fremde blickte kurz von seinem Teller auf, sah Frafa an und lächelte. »Militärstiefel?«, fragte er. »Da werde ich wohl aufpassen müssen, dass er mir nicht auf die Füße tritt.«
Der Hummer war aufgebrochen, und der Mensch löste das Fleisch mit dem Messer aus der Schale. Er handhabte die Klinge präzise, doch es war die Präzision eines Barbaren, der sein Essen mit der Waffe zerlegt, eines Barbaren, der mit der Waffe besser vertraut war als mit der Speise.
»Außerdem bleibe ich nicht lange in Daugazburg«, fügte er hinzu. »Mit ein wenig Fortune bin ich wieder fort, ehe dieser Schuster mir ans Leder kann.«
»Und wenn nicht?« Frafa stützte das Kinn auf den Handrücken und ließ die spitzen Zähne aufblitzen. »Ihr Menschen seid so kurzlebig und so anfällig. Man sollte meinen, ihr wäret achtsamer.«
Der Bitaner zuckte die Achseln. »Umso wichtiger ist es doch, keine Zeit mit Sorgen zu verlieren. Stellen Sie sich vor, Mademoiselle Nachtalbe, ich hätte gezögert. Dann wäre dieser Hummer mir entgangen, und wer weiß, ob ich in meinem kurzen Menschenleben noch dazu gekommen wäre, diese Delikatesse zu kosten.«
»Sie sind tatsächlich Arzt?«, fragte Frafa.
»Doktor Descidar aus Kamparika, zu Diensten, Mademoiselle.« Er ließ das Besteck kurz sinken und lächelte Frafa an. »Spezialist für Thaumagel-Exposition. Allerdings bin ich mehr in der Forschung tätig als in der Heilkunde. Ein weiterer Grund, weswegen mir als kurzlebigem Menschen keine Zeit bleibt für Bedenken. In der Forschung darf ich nicht zaudern, wenn ich Ergebnisse sehen will! Immerhin steht mir nicht die Lebensspanne einer Nachtalbe zur Verfügung.«
Er hielt Frafa die Hand hin. Sie berührte nur seine Fingerspitzen und stellte sich ebenfalls vor: »Ich bin Frafa, Privatsekretärin von Meister Aldungan.«
Descidar nahm Frafas Hand nach Menschenart. Sie spürte seine Aura: kraftvoll, bewegt, aber durchwoben von etwas Fremdem. Man sah es ihm nicht an, aber Frafa konnte spüren, dass er dem Blut der Erde lange ausgesetzt gewesen war. Thaumagel-Forschung ... fürwahr.
Descidar drückte ihre Hand kurz. »Privatsekretärin - und einiges mehr«, erwiderte er.
Sie sah ihn an, und er nickte.
»Ich kenne Sie selbstverständlich, Mademoiselle Frafa. Wie könnte ich nicht? Dekanin der Akademie von Daugazburg, Begründerin des Zweiges des Lebens ... und einige Titel mehr, die Sie im Laufe der Zeit gesammelt haben. Ich müsste als medizinischer Wissenschaftler ein arger Ignorant sein, wäre ich nicht vertraut mit Ihren Arbeiten.«
Frafa zog ihre Hand zurück. »Ach«, sagte sie. »Das liegt Jahrhunderte zurück. Schon an der Akademie habe ich mehr Zeit mit administrativen Aufgaben verbracht als mit Forschung.«
»Dennoch.« Descidar musterte sie unverwandt. Ein Funkeln lag in seinen Augen. »Jahrhunderte. Ich bin mir sicher, ich könnte einiges lernen von Ihnen, wenn wir uns ein wenig über meine Arbeit unterhielten.«
Frafa schwieg. Sie wandte sich ihrem Essen zu. Der Mensch war unterhaltsam gewesen, als er sich leichtfertig und wider alle Sitten am Buffet sein Essen verschafft hatte. Aber wenn es um kleinliche Alltagsfragen bei der Verwendung von Thaumagel ging ... Frafa hatte derlei Themen lange hinter sich gelassen. Und das Thaumagel dieses Thaumateknischen Zeitalters war für sie immer das Blut der Erde geblieben.
Nach einer Weile schaute Descidar sich nervös um und tupfte sich mit der Serviette über die Lippen.
»Hm, ja«, sagte er. »Ich gebe zu, ich hätte Sie gern wegen meiner Arbeit um Rat gefragt. Aber das wäre ohnehin nicht möglich. Betriebsgeheimnis. Sie müssten eine Sicherheitseinstufung haben, und ich fürchte, bei meinem Arbeitgeber möchten Sie sich gewiss nicht bewerben. Also muss ich wohl allein durchfinden.«
Frafa folgte seinem Blick - und entdeckte Gulbert. Der Zauberer entfernte sich soeben vom Buffet, umringt von aufdringlichen Schmeichlern und mit einem Servierer, der ihm den Teller nachtrug. Er beachtete seine Begleiter nicht, sondern schaute unverwandt zu dem Tisch, an dem Frafa mit dem Doktor saß. Sie rutschte so hastig zurück auf ihrem Stuhl, dass die Beine laut über das Parkett schabten.
»Sie arbeiten für Gulbert?«, fragte sie den Doktor.
Descidars Lippen hatten bislang bei allem, was er tat oder sagte, einen spöttischen Zug beibehalten. Nun zuckten sie beinahe schmerzlich. »Nicht direkt. Ich bin für eine kleine Biotechnologie-Firma in Bitan tätig. Gulbert ist Anteilseigner und Vertreter im Aufsichtsrat. Aber er hat ... Interesse an meinen Projekten.«
Gulbert kam auf sie zu. Frafa erhob sich halb und erwog, die Flucht zu ergreifen, bevor der Zauberer an den Tisch kam. Aber das wäre zu unhöflich gewesen. Aldungan hätte es nicht gebilligt.
Frafa hob den halb leeren Teller. Am liebsten hätte sie ihn sich wie einen Schild vor den Leib gehalten. Sie setzte ein bemühtes Lächeln auf.
Gulbert trug einen strahlend weißen Anzug aus Leinen, das Hemd unter dem Jackett setzte dagegen einen bläulichen Konter, kaum mehr als der Schimmer auf einer klaren Eisfläche. Gulberts Bart und sein Haupthaar waren so weiß wie eh und je. Die Haare fielen ihm in wirren Strähnen auf die Schultern, aber den Bart trug der Zauberer nicht mehr so lang und wallend wie in alten Tagen. Sorgfältig geschnitten, reichte er ihm nur mehr bis zur Brust.
Seine breiten Zähne funkelten hinter den dicken Lippen.
»Schau, die Dame Frafa«, begrüßte er sie und machte Anstalten, sie zu umarmen. Aber dann hätten die Speisen auf ihrem Teller einen Abdruck auf seinem Bart hinterlassen, und somit hatte das Geschirr in ihrer Hand seinen Zweck erfüllt.
»Herr Gulbert.« Frafa deutete einen Knicks an. »Ich hoffe, Sie genießen diese kleine Feier, die Herr Aldungan für Sie vorbereitet hat?«
»Für mich?« Gulbert beschrieb eine abwehrende Geste mit der Hand. »Wohl kaum. Dieser Tage bin ich nicht mehr als ein Privatmann. Wer würde einen solchen Aufwand treiben wegen meiner Person? Sind wir nicht alle alt geworden in diesen Zeiten und haben uns zur Ruhe gesetzt, meine Dame? Aldungan hat Minister und Generäle zu Gast heute Abend. Sehr generös von ihm, dass er seine Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. Wenn ich auch sagen muss, an seinem Buffet hapert es ein wenig.«
»Verzeiht.« Der Servierer meldete sich mit einem Bückling zu Wort. »Die Bahnlinie in den Süden ist unterbrochen. Einige Lieferanten haben unerwartete Schwierigkeiten, und wir mussten bei manchen Speisen umdisponieren ...«
»Fürwahr, die infamen Elfen!« Gulbert schüttelte den Kopf. »Diese Umtriebe müssen ein Ende haben, meinen Sie nicht auch, Dame Frafa?« Seine buschigen Augenbrauen sträubten sich sorgenvoll. »Ich muss sagen, ich schäme mich meiner früheren Untertanen. Sie vergeben mir hoffentlich die Unannehmlichkeiten, die Ihnen hier durch mein Versagen entstanden sind? Ich beneide Sie darum, wie wohlgeordnet Sie Ihr Land in die Union geführt haben.«
Frafa wich einen kleinen Schritt zurück. »Sie schmeicheln mir, Gulbert. Ich hatte längst nicht mehr die Verantwortung für das Land, als die Union geschlossen wurde.«
»Nein.« Gulbert runzelte sorgenvoll die Stirn. »Es ist schon wahr: Noch immer tut es mir in der Seele weh, wie wenig ich damals, bei der Begründung unseres Bündnisses, meiner Verantwortung gerecht geworden bin. All die Jahre habe ich darum gekämpft, die Sezession zurückzunehmen und die Elfen in unseren Bund zurückzuholen.«
»Na, das wird sich vielleicht bald ändern.« Doktor Descidar stand auf und trat zwischen sie. »Bei dem Ausmaß, das diese Anschläge inzwischen erreicht haben, findet sich womöglich bald eine Mehrheit, die den gewaltsamen Anschluss der Elfenländer befürwortet. Zumindest dürfte die Regierung in Opponua das Budget für weitere Nodus-Kampfschiffe wohlwollend diskutieren. Glauben Sie nicht auch, Gulbert?«
Er zwinkerte dem Zauberer zu.
Gulbert musterte ihn missbilligend. »Ich finde die Haltung zynisch, die Sie zu diesen ruchlosen Anschlägen an den Tag legen, Doktor Descidar.« Er wandte sich zu Frafa hin und lächelte wieder. »Man sollte beim Essen nicht über Geschäfte sprechen. Und nicht über Terroristen. Das macht den Magen sauer.«
Frafa trat einen Schritt zurück. »Vielleicht finden wir später Zeit für eine ausführlichere Unterhaltung, bevor Sie wieder abreisen«, sagte sie halbherzig.
Aber es war Doktor Descidar, der darauf antwortete.
»Das würde mich freuen«, hörte sie seine fröhliche Stimme, als sie davoneilte. »Wenn ich diese Gelegenheit verstreichen lasse ... wer weiß, ob ich jemals wieder nach Daugazburg komme und Sie noch einmal sehe!«
Frafa verließ die Räumlichkeiten, die für den Empfang hergerichtet waren, und fuhr in den 52. Stock hinauf. Sie betrat ihr Büro und schaute aus dem Fenster. Die Lichter draußen vereinigten sich in der Ferne und strebten empor zur grandiosen Silhouette der Innenstadt von Daugazburg - Hunderte kleinerer und größerer Wohn- und Geschäftstürme, die silbrig beleuchtet unter dem klaren Sternenhimmel glänzten.
Frafas Blick suchte andere Formen im Lichtermeer, ein anderes Daugazburg. Unter einer hell erleuchteten Hauptstraße konnte sie noch den Verlauf eines mächtigen Walls erahnen, der nur in der Linienführung des Stadtgrundrisses überlebt hatte. Die Halle der Helden hatte die Zeiten überdauert und kauerte nun wie ein unförmiger Käfer zu Füßen der höchsten Türme.
Der Anblick brannte in Frafas Augen, und wie von selbst bewegte sie die Hand und zog den Hebel, der die Scheibe schwarz werden ließ. Die Stadt, wie sie war, verschwand.
Wie viele Städte kann man zur gleichen Zeit vor sich sehen, mit den Augen und mit der Erinnerung, ohne in seinem Innersten zu zerreißen?
Frafa wandte sich ab. Ihr Büro lag zu offen, um eine Zuflucht zu bieten. Doch es gab andere Orte in dieser Zitadelle.
Sie fuhr zwei weitere Stockwerke nach oben, hinauf in Aldungans Allerheiligstes, zu seinen persönlichen Gäste-, Empfangs- und Besprechungsräumen, über denen sich nur noch sein Wohnbereich befand. Hier war der Teppich so weich und so lebendig wie in Frafas eigener Stadtwohnung. Sie zog die Schuhe aus und lief barfuß über die züngelnden Fasern. Vor einer mit Leder gepolsterten Türe hielt sie inne und legte die Hand auf den Aurentaster.
Nichts geschah.
Hatte Aldungan die Türschlösser verändert, oder war der Mechanismus defekt? Frafa zögerte kurz. Dann zuckte sie die Achseln. Sie war kein Mensch, der sich von einem falsch eingestellten Aurentaster aufhalten ließ!
Sie ließ ihre Aura in den Taster hinein ausgreifen. Dahinter lag ein thaumaturgischer Kristall, ein Hauch von Magie, vernetzt mit technischen Komponenten: mit einer Datenbank, einer Sensormatrix, mit Alarmsystemen, einer Aurenfalle ... Frafas Geist schlängelte sich an allem vorbei, was ihr im Weg stand, und prägte sich dem Kristall auf. Es klickte in der Wand, und mit einem leisen Zischen sprang die Tür einen Spaltbreit auf.
Eine Tür aus Leder und Holz mit einem Kern von Stahl, verschlossen von drei Riegelbolzen -Aldungans Kaminzimmer war wie eine Festung. Doch wenn man erst einmal darin stand, war wenig von dem harten Panzer zu spüren, der diesen Raum umgab: Die Wände waren mit Leder verkleidet, geschwungenes Holz und warme Lederbezüge bestimmten die Möbel. Gleich hinter der Tür stand ein großer Tisch mit einer Platte aus rotbraunem Marmor. Es gab Schränke für Gläser und Getränke, und am anderen Ende des Zimmers einen Kamin, in dem beständig ein magisches Feuer glühte, einige Sessel mit hoher Lehne und davor eine Couch, dazu ein schweres Bücherregal in einer Nische zwei Schritte entfernt.
Papiere lagen auf dem Tisch ausgebreitet; anscheinend hatte Aldungan hier gearbeitet. Ob er wohl das Türschloss neu geprägt hatte, weil seine Arbeit vertraulich war? Frafa beugte sich über die Unterlagen. Seit tausend Jahren arbeitete sie nun mit Aldungan zusammen - schwer vorstellbar, dass er Geheimnisse hatte vor ihr.
Ein Siegel oder ein Signet am Rand eines Blattes fing ihre Aufmerksamkeit. »Die Insel der Seligen« stand in verschnörkelten Buchstaben inmitten eines Musters, das an einen Wald mit verschlungenen Kronen erinnerte oder an ein säulengestütztes Dach. Die Worte weckten ein vages Erinnern in Frafas Geist. Diese Bezeichnung hatte sie schon einmal gehört. Eines von Aldungans Unternehmen?
Es fiel ihr nicht mehr ein.
Vermutlich etwas Belangloses, das sie aufgeschnappt und dann wieder vergessen hatte. Aldungan hatte seine Finger in vielen Dingen, und Frafa war nicht in alles eingeweiht.
Flüchtig streifte ihr Blick eine Reihe Zahlen ... Geschäfte vermutlich. Sie erinnerte sich daran, wie Aldungan sich einmal abfällig über Krämer und Kaufleute geäußert hatte, doch das war lange her. Heute war alles Geschäft.
Frafa lächelte.
Wenn man es so betrachtete, hatten die Krämerseelen und Kaufleute den alten Magier am Ende doch in die Knie gezwungen und zu einem der ihren gemacht.
Sie ging zum Kamin, stand eine Weile vor den Flammen und setzte sich dann auf das Sofa.
Das falsche Feuer prasselte, Lichter schillerten sanft an den Wänden. Aldungans Zitadelle - und Frafa fühlte sich tatsächlich geschützt vor der Welt. Sie war dem lärmenden Empfang da unten entrückt, die Lehne des Sofas schirmte sie wie ein Schutzwall von allem ab, auch von dem Raum selbst. Frafa schlug die Beine unter und kauerte sich in ihre Nische.
Sie fühlte sich immer noch erschöpft. Die Reise nach dem Zwischenfall am Zug war beschwerlich gewesen. Es bedurfte mehr als der üblichen Meditation, damit sie sich von dem Zauber erholte, den sie dort gewirkt hatte. Der Gedanke war verlockend, die Nacht hier zu verbringen, allein. In den Morgenstunden, wenn die meisten der menschlichen Gäste fort waren, ergab sich vielleicht die Gelegenheit zu einigen ungestörten Worten mit ihrem alten Meister.
Frafa konzentrierte sich, riss den Äther um sich auf und zog ihre Aura ganz nach innen. Sie schirmte sich ab, wurde zu einer Lücke in der Wirklichkeit. Sie dämpfte ihre Lebensfunktionen und versenkte sich in Meditation. Niemand würde sie jetzt aufspüren können, niemand würde sie stören. Die Welt versank in Stille, und die Zeit hielt inne. Frafa löste sich von allem.
Da waren Stimmen in ihrem Kopf. Frafa hörte sie wie das ferne Flüstern von Wind in den Blättern, und als sie ihrer gewahr wurde, wusste sie nicht, wie lange sie schon da waren. Sie haschte nach den Lauten, ohne ihre Trance zu verlassen, wob die Worte in ein Netz bedeutungsloser Assoziationen.
Blut.
Scherben.
Bruder.
Die Insel der Seligen.
Pläne.
Ein Verstehen dämmerte in ihr auf, das aus den raunenden Stimmen mehr werden ließ als ein bloßes Echo in ihrem Kopf. Ein Gefühl zupfte am Rand ihres Verstandes, geleugnet von einem Geist, der sich allem Körperlichen entrückt fühlte. Neugier. Stark genug, um Frafas Bewusstsein aufsteigen zu lassen.
Verschwommen sah sie das Flackern der Flammen. Hörte die Unterhaltung. Erkannte die Stimmen.
Aldungan und Gulbert waren hereingekommen, während sie meditierte. Die beiden Zauberer saßen hinter ihr am großen Tisch. Wussten sie, dass Frafa im Raum war, verborgen von der Sofalehne und magisch abgeschirmt, wie sie war? Frafa hörte, wie Hände in Papieren blätterten. Sie erwog, sich zu erkennen zu geben, aber sie zögerte.
Mit Aldungan hatte Frafa seit tausend Jahren mehr Unternehmungen und geheime Winkelzüge geplant, als ein Mensch zählen konnte. Da schien es kaum eine Rolle zu spielen, ob sie nun etwas hörte, was nicht für ihre Ohren bestimmt war. Wäre ihr Lehrmeister allein hier gewesen, hätte sie sich einfach zu ihm gesellt und sich darauf verlassen, dass der uralte Alb kein Wort darüber verlor.
Aber bei Gulbert war es anders.
Sie traute ihm nicht.
»Ich muss zugeben, es war von allen möglichen Orten der ungünstigste«, stellte Gulbert gerade fest.
»Du selbst hast den Brand entfacht«, erwiderte Aldungan. »Wolltest du nicht die Flammen lodern lassen und auf dem Wind gleiten, der davon aufsteigt?«
»Ja, kehr du nur den lyrischen Nachtalb heraus. Aber es war deine Kreatur, die uns in den Rücken gefallen ist.«
»Meine Kreatur?« Aldungan lachte. »Ich habe sie nicht erschaffen. Genau genommen ist die Fatu sogar älter als ich und verfolgt ihre eigenen Pläne. Ich habe niemals versucht, ihr das zu verwehren. Du weißt, wie wir spielen: hier und da ein kleiner Stoß. Solange die Richtung der Bewegung insgesamt stimmt, mag jede Kugel ihren eigenen Weg nehmen.«
Gulbert schnaubte. »Diese Kugel hat meine Kegel umgestoßen. Die Bewegung stimmt immer noch, aber mir fehlen nun die Mittel, um sie richtig zu nutzen.«
Frafa hörte einen Ledersessel knarzen, so als würde jemand sich zurücklehnen. »Finde Ersatz.«
»Menschenkinder mit einem Gespür für Magie wachsen nicht auf Bäumen.«
Frafa kauerte wie erstarrt auf der Couch. Sie ließ kein Leben in ihr Fleisch, aus Angst, sich damit zu verraten. Zuerst hatte Frafa geglaubt, dass die beiden von dem Anschlag auf die Bahnlinie sprachen und dass möglicherweise Gulbert dahintersteckte. Hatte nicht Doktor Descidar festgestellt, dass Gulbert einen Nutzen zog daraus? Aber nun redeten sie von Kindern, und dass Gulbert welche brauchte. Wo war da der Zusammenhang?
Und hatte Aldungan seinen alten Feind Gulbert wirklich einen »Bruder« genannt, ganz am Anfang, in jenen Teilen des Gesprächs, die Frafa nur unvollständig mitbekommen hatte?
»Ich denke, du misst deiner Insel zu viel Bedeutung bei«, stellte Aldungan eben fest.
»Fürwahr«, knurrte Gulbert. »Ich könnte die Lücken auch mit Nachtalben schließen.«
Aldungan lachte. »Selbst der schwächste Nachtalb widersteht deinen thaumaturgischen Experimenten noch viel zu gut. Nein, Gulbert: Es war von Anfang an ein Weg, ansonsten unbrauchbare Menschen aufzuwerten. Das ist überhaupt die einzige Rechtfertigung für deine Abschweifungen.
Es ist keine Schande, dass du weiterhin menschliche Interessen verfolgst«, fuhr er fort. Frafa hörte ein Klappern und ein Rascheln. »Wir alle pflegen unsere kleinere Seele. Und warum auch nicht, solange kein Schaden entsteht... Möchtest du eine Zigarre, Gulbert?«
»Nein. Nein, das ist nichts Kleines, Aldungan! Unser Leib wächst weniger schnell, als es möglich wäre. Wir könnten immer noch aufgehalten werden. Mit den neuen Schlachtschiffen werden wir Elfen und Zwerge unterwerfen und unseren Griff um die anderen Kontinente festigen.«
Frafa roch den Rauch von Aldungans bevorzugtem Tabak. Es dauerte einige Augenblicke, bis ein blauer Dunst langsam in ihr Blickfeld sank. Ihr Meister sprach ruhig weiter.
»Die Elfen und Zwerge schmeicheln ihrem Eigensinn, indem sie auf ihre Freiheit pochen, aber sie stehen uns nicht im Weg. Der Samen auf den anderen Kontinenten ist längst gelegt. Das Blut fließt, und niemand kann es aufhalten. Wenn wir hier unser Volk verlieren, weil du unvorsichtig wirst, wäre das weitaus gefährlicher.«
Er verstummte.
Die beiden alten Zauberer bewegten sich, und Frafa spitzte die Ohren. Zu gerne hätte sie ihre Essenz ausgestreckt, in den Raum gegriffen und zu erspüren versucht, was hinter ihrem Rücken vor sich ging. Doch sie wagte es nicht. Sobald sie ihren Schirm aufgab, würden Gulbert und Aldungan ihre Anwesenheit bemerken.
»Ich sehe es«, sagte Aldungan. »Komm, alter Freund. Lass uns nach oben gehen. Wir werden dort weitersprechen.«
»Aber...«, setzte Gulbert an, doch dann kam nichts mehr. Nur ein Rascheln und Schaben, so als würden die beiden Männer zusammenpacken. Der Umschwung im Gespräch und der Aufbruch kamen unvermittelt. Hatten sie Frafa entdeckt? Warum sprachen die beiden sie dann nicht einfach an?
Das Licht über dem Tisch, das die beiden Männer angeschaltet hatten, erlosch. Die Tür fiel zu. Es wurde still. Das Zimmer fühlte sich leer an, aber wie konnte Frafa sicher sein, wenn sie außer ihren Ohren keine weiteren Sinne zur Verfügung hatte?
Sie verharrte eine Weile, die Aura ihres Leibes eng an sich gezogen. Der Zigarrenrauch tanzte vor ihrem Gesicht, ihre kaum spürbaren Atemzüge verstreuten ihn und ließen feine Wirbel entstehen. Wo der Dunst über ihren Kopf strich, fing er sich in einer feinen Wechselwirkung mit der magischen Leere, die sie zu ihrem Schutz um sich gezogen hatte, und schwebte über ihr wie ein Gebinde von grauem Gestrüpp.
Aber das sah sie nicht.
Als Gulbert aus dem Aufzug trat, eilte Ciriador an seine Seite. Der Leibdiener hatte viele Stunden in der Eingangshalle auf ihn gewartet, doch als er seinen Herrn erblickte, war er von einem Augenblick zum nächsten wieder hellwach.
Mit einer leichten Verbeugung begrüßte er Gulbert. »Soll ich Ihnen etwas bringen? Möchten Sie in den Tanzsaal treten? Ich habe darauf geachtet, welche wichtigen ...«
Gulbert winkte ab. »Nicht heute, Ciriador«, sagte er. »Nur meinen Mantel. Wir fahren zurück zum Hotel.«
Ciriador eilte mit einer weiteren Verbeugung davon. Dann half der Leibdiener Gulbert in seinen weißen Mantel, reichte ihm Schal, Hut und Spazierstock.
Es war Hochsommer in Daugazburg, und selbst zu dieser Stunde war die Luft noch mild. Wie ein warmer Atemzug blies der Wind aus der Steppe über den hoch gelegenen Turmplatz. Auf Gulberts Gesicht, umrahmt von dem Hut und dem dichten Bart, zeigte sich kein Schweißtropfen. Der Wagen fuhr vor, von Ciriador über das Phon gerufen, und die beiden stiegen hinten in den geräumigen Fond.
Ciriador reichte seinem Herrn aus der Fahrzeug-Bar einen Branntwein mit Eis, und Gulbert vergewisserte sich, dass die Sprechverbindung zum Fahrer vorn unterbrochen war. Als der Wagen über die Hochstraße brauste und die Lichter vom Straßenrand gedämpft über die abgedunkelten Scheiben huschten, lehnte der alte Zauberer sich mit dem Glas in der Hand zurück und betrachtete seinen Diener, der ihm gegenübersaß.
»Wüsstest du gern, was ich mit Aldungan besprochen habe?«
»Wenn Sie es mir sagen wollen«, erwiderte Ciriador zögernd.
»Ich schätze deine Zurückhaltung. Leider, fürchte ich, wird deine vorausschauende Diskretion nicht von jedem geteilt. Weißt du, auch Aldungan war einst Herr eines bedeutenden Landes. Ich jedoch hatte das Glück, unter Menschen zu leben, während Aldungan ein Nachtalb ist. Und deren Langlebigkeit kann zur Plage werden.«
Er beugte sich zu Ciriador hinüber und senkte die Stimme. »Auch Aldungan hat eine Vertraute«, erklärte er. »Frafa, die Nachtalbe. Ich fürchte, sie hat an diesem Abend Worte gehört, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren.«
Ciriador nickte. »Was hielt Herr Aldungan davon? Dies scheint mir eine Angelegenheit zu sein, um die er sich kümmern müsste.«
»Fürwahr, das sollte er! Diese Frafa allerdings dient Aldungan schon seit einem Jahrtausend. Da entsteht eine Vertraulichkeit, die durchaus schädlich sein kann.«
Ciriador schwieg.
Gulbert seufzte und sprach weiter: »Aldungan vertraut seiner Sekretärin. Tausend Jahre sind eine lange Zeit, Ciriador, da mag durchaus das Gefühl einer Bindung entstehen. Vertrauen, welches so lange Bestand hat, kann wie etwas Beständiges wirken, wie etwas Festes und Greifbares. Aber natürlich ist es das nicht.
Vertrauen ist ein Gefühl, und ein Gefühl ist etwas, was man selbst im Kopf oder im Herzen trägt. Es ist kein sicheres Band, das einen anderen fesseln würde. Ich denke, Aldungan macht einen Fehler, wenn er im Umgang mit Frafa auf Vertrauen setzt, anstatt einen entschiedeneren Pfad zu beschreiten.«
Der Wagen wurde langsamer. Sie fuhren bereits am Hotel vor, doch Gulbert sprach weiter.
»Aldungan glaubt außerdem, dass er auf Frafa nicht verzichten kann. Aber wir beide wissen, dass auch ein langjähriger und treuer Dienstmann ersetzbar ist. Hat es mir etwa zum Nachteil gereicht, als du den Platz deines Vorgängers eingenommen hast, oder dass ich mich zu jeder Zeit meines Wirkens auf sterbliche Menschen stützen musste?«
Ciriador schüttelte den Kopf. »Ob tausend Jahre oder nicht«, sagte er entschieden. »Ein Mensch weiß zu jeder Zeit besser als ein Nachtalb, was Treue bedeutet!«
Gulbert lächelte. »Siehst du, mein Freund! Aldungan irrt, wenn er denkt, er könne nicht jederzeit einen Ersatz für Frafa finden - einen Ersatz, der es an Treue mit dieser alten und allzu eigenständigen Nachtalbe aufnehmen kann. Aldungan weiß es auch selbst. Dennoch wird er nichts unternehmen, und da diese Gefahr uns beide betrifft, werde ich die Initiative nicht allein ihm überlassen.«
Ciriador empfand ein Frösteln bei diesen Worten. Gulbert plauderte weiter, als bemerkte er das Unbehagen seines Dieners überhaupt nicht ... was vermutlich auch der Fall war. »Ich denke«, erklärte er, »ich werde dafür sorgen, dass die Dame Frafa heute Nacht noch Besuch bekommt.«