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Nexus - Eine Struktur im Äther, die sich im weitesten Sinne als Matrix beschreiben lässt, in der sich verschiedenartige Informationen speichern lassen (* aufprägen) und in der sogar arkane Prozesse in algorithmischer Form ablaufen können. Der Nexus lässt sich leichter über seine Eigenschaften beschreiben als über seine Beschaffenheit. So ist umstritten, ob er eine grobstoffliche Grundlage hat oder ob er eine eigenständige Seinsebene darstellt. Selbst esoterische Konzepte wie »Unterwelt«, »Jenseits« oder »höhere Sphären« wurden mit dem Nexus in Verbindung gebracht.
Seine Ausdehnung gilt als unermesslich. Darin hinterlegte Informationen lassen sich nur wieder auffinden, wenn ihre Position bekannt ist. Ein Informationsaustausch über den Nexus erfordert also entweder die persönliche Abstimmung der beteiligten Magier oder den Zugriff über *Portale, in denen die notwendigen Informationen hinterlegt sind.
Da der Nexus eine rein magische Erscheinung ist, kann er prinzipiell nur von Zauberkundigen manipuliert werden. Doch durch die weite Verbreitung von *Portalsteinen sowie durch öffentlich zugängliche *Portale ist der Nexus inzwischen das meistgenutzte Informationsmedium. Er ist Grundlage des individualisierten *Äthernetzes, für Gesprächsverbindungen, aber auch für Gruppenübertragung von Bild- und Ton- und anderen sensorischen Informationen.
Aus: »TECHNIKLEXIKON«, VON ISKWELZA VON DAUGAZBURG
3. Lichtmond 282 nGdU
Vampire waren unsterblich, und sie alterten nicht - so hieß es.
Rudrogeit stand in seinem kleinen Badezimmer vor dem Waschbecken und schaute in den Spiegel. Das rötliche Licht im Raum war angenehm für die Augen von Vampiren und Nachtalben, und es ließ seinen Teint lebendiger wirken und weniger bleich. Es verfälschte aber auch andere Farben, und in diesem Augenblick hätte Rudrogeit gerne mehr gesehen.
Er fuhr sich mit seinen langgliedrigen Fingern durch die kurz geschnittenen Haare wie mit einem Kamm und kniff die Augen zusammen. Im dumpfen Lampenschein blitzte etwas auf, und er hielt den Atem an.
Graue Haare!
Rudrogeit stellte das Wasser an, dann stöhnte er leise und ließ sich nach vorne sinken. Das hagere Gesicht im Spiegel kam ihm entgegen, die roten Augen, die ihn mit derselben Eindringlichkeit musterten, mit der er das Spiegelbild studierte, verschmolzen zu einem Fleck, als seine Stirn das kühle Glas berührte.
Über die grauen Haare konnte er hinwegsehen. Aber was, wenn es mehr war als nur eine Veränderung der Farbe? Ein Zeichen, womöglich. Ein Symptom!
Kamen ihm die täglichen Kampfübungen nicht seit Jahren immer mühsamer vor? Ihm war, als hätte er einst sogar seine Mutter übertroffen. Doch das war lange her, auf dem Höhepunkt seiner Kraft und seiner Schnelligkeit, der schon Jahrhunderte zurücklag und womöglich ohnehin nichts weiter war als eine verklärte Erinnerung.
Vampire waren unsterblich, so hieß es.
Doch wer sollte das wissen? Es war kaum tausend Jahre her, seit der erste Vampir hinaus ins Mondlicht getreten war, und Rudrogeit zählte zu den ältesten. Wenn die Lebensspanne der Vampire eine Grenze kannte, würde niemand ihn warnen können.
Ein paar harte Schläge gegen die Badezimmertür ließen ihn hochfahren.
»Was ist, Rudi?«, rief seine Mutter. »Bist du im Waschbecken ersoffen? Stimmen die Ammenmärchen der Menschen über Vampire und fließendes Wasser etwa?«
»Einen Augenblick, Mutter«, rief Rudrogeit zurück. »Ich bin gleich so weit.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Swankar. »Ich hab doch keinen Gecken großgezogen, der seine Zeit mit Toilette vertändelt.«
Rudrogeit konnte Swankars spöttisch verzogene Lippen förmlich hören. Hastig wusch er sich das Gesicht mit klarem Wasser. Dann trocknete er sich ab und knöpfte das Hemd seiner Uniform zu.
»Flott jetzt! Sonst kommen wir zu spät zu unserem Ehrentag, Capitan Rudrogeit«, sprach seine Mutter draußen auf dem Flur weiter.
»Sehr wohl, Coronel Swankar«, antwortete er, setzte die Mütze auf und öffnete die Tür.
Rudrogeit betrachtete seine Mutter von der Seite. Swankar hatte einen Körper aus Stahl, der mit den Jahren noch härter geworden war. Sie war inzwischen einen Kopf kleiner als er, aber breiter, als eine Nachtalbe sein sollte. Ihr Leib wirkte jugendlich, weiblich und wohlgeformt, aber Rudrogeit wusste, dass vieles, was sich da in wohlgeschwungenen Linien unter der eng geschnittenen blauen Uniform bewegte, Muskeln waren.
Das kindliche Gesicht über dem Uniformkragen verriet davon wenig. Swankar trug die Schirmmütze etwas schräg auf dem Kopf. Ihre Haare waren so kurz geschnitten, wie es der militärischen Mode der letzten Jahrhunderte entsprach.
Sie sah zu Rudrogeit auf und lächelte.
»Ein Sohn sollte seine Mutter nicht so ansehen«, sagte sie.
Ihre Stimme klang neckend, aber Rudrogeit wandte sich hastig ab. Er fühlte, wie es in seinem Gesicht prickelte.
»Ich habe nachgedacht, Mutter«, sagte er nach einer Weile.
»Oh ja«, erwiderte Swankar. »Das tust du oft, und meist zur falschen Zeit. Halte wenigstens bei unseren Fechtstunden deine Gedanken beisammen. Dann kannst du dir eine Menge Schmisse sparen.«
»Hrm.« Rudrogeit räusperte sich verlegen. »Jedenfalls, ich bin bald tausend Jahre alt. Ich habe mir überlegt - ist es nicht peinlich, wenn ein Junge in meinem Alter noch bei seiner Mutter wohnt?«
Er versuchte zu grinsen, als wäre es ein Scherz, aber es misslang ihm gründlich. Swankar lachte laut auf. Sie stieß ihm den Ellbogen in die Seite, und Rudrogeit zuckte zusammen.
»Junge«, sagte Swankar. »Du bist peinlich! Seit tausend Jahren schon. Weich und versponnen, aber ich behalte dich trotzdem. Weil ich deine Mutter bin und es sich nun mal gehört.«
»Selbst bei den Nachtalben bleiben die Kinder nicht tausend Jahre lang bei den Eltern.«
Swankar wurde ernst. Sie schaute Rudrogeit an. »Du bist kein Nachtalb«, sagte sie. »Du bist ein Vampir. Du brauchst mein Blut, um zu überleben, und das kriegst du nur, weil du mir dienst. Vampire bleiben bei ihren Nachtalbeneltern. Dafür wurden sie geschaffen!«
»Die Zeiten ändern sich«, erklärte Rudrogeit leise. »Es gibt Gesetze. Ein Recht auf Unterhalt. Viele Vampire führen ein eigenständiges Leben, und die Eltern müssen ihnen das Blut zur Verfügung stellen.«
Swankar schnaubte. »Warum sie das mit sich machen lassen, ist mir ein Rätsel. Wir sollten es mal probieren, nur zum Spaß. Du ziehst aus und siehst zu, wie du dein Blut bei mir einklagst. Ich bin ja nicht diejenige, die sich in Krämpfen auf dem Boden windet und bei lebendigem Leib austrocknet, wenn es etwas länger dauert.«
Rudrogeit spannte sich an. Swankar bemerkte es, denn mit einem Mal lachte sie wieder. Sie trat Rudrogeit unvermittelt die Beine weg und nahm ihn in den Schwitzkasten. Er wehrte sich halbherzig, und einen kurzen Augenblick rangen sie miteinander.
»Mutter«, keuchte Rudrogeit. »Die Leute!«
Sie hatten inzwischen das Apartmenthaus für Militärangehörige verlassen und die Straße erreicht, eine Brücke, die sich hoch oben zwischen den Wohntürmen von Daugazburg spannte. Rings um sie brauste der Verkehr, Selbstfahrer auf den beiden Fahrspuren in der Mitte, Flieger aller Art über ihnen. Und Passanten, die einen verstohlenen Seitenblick auf die rangelnden Offiziere warfen.
Rudrogeits Sonnenbrille war verrutscht, und er kniff die Augen vor der Abendsonne zusammen.
»Huch! Sie gucken alle!«, rief Swankar in gespieltem Entsetzen. Dann lachte sie wieder, ließ Rudrogeit los und schob ihm die Mütze zurecht.
»Tausend Jahre, und du machst dir immer noch Sorgen, was Menschen von dir denken könnten!« Sie machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm. Angehörige aller Völker waren dort unterwegs, Alben und Gnome und Nachtmahre, sogar vereinzelte Zwerge. Aber mindestens die Hälfte der Fußgänger waren Menschen, die schon seit Jahrhunderten die Mehrheit der Bürger von Daugazburg stellten, schon vor der Zeit der Union.
»Wie willst du da alleine leben?«, fragte Swankar. »Wo willst du leben? Du weißt, was die Menschen von Vampiren halten. Und du brauchst ihr Blut ebenso wie meins. Willst du dich allein um alles kümmern, allein unter Nachbarn leben, die dich verabscheuen und fürchten? Wie kommst du auf so eine Idee?«
Sie maß ihren Sohn mit einem abschätzigen Blick.
»Hm.« Rudrogeit zögerte. »Ich bin bald tausend Jahre ...«
»Ja«, sagte Swankar. »Und ich bin noch älter. Kein Grund, darauf herumzureiten.« Sie knuffte ihn.
»Nun«, sagte er. »Ich meine ... Die ganze Zeit haben wir ... Ich habe mich nur gefragt, wenn man tausend Jahre lang dasselbe tut, sollte da nicht irgendwie noch etwas anderes sein? Vielleicht bin ich zu alt geworden, um an deiner Seite zu kämpfen. Ich fürchte, ich werde langsamer, und gerade dachte ich ... werden meine Haare grau?«
Swankar sah ihn an. »Ah«, sagte sie. »Das ist es also.« Sie musterte seinen Schopf. Dann griff sie blitzschnell zu und riss ihm ein paar Haare aus.
»Ich hab davon gehört«, fuhr sie fort. »Vampire sind nicht wie wir Nachtalben. Die menschliche Seite kommt durch - du warst wirklich schon mal flotter auf den Beinen. Aber keine Sorge ...«
Sie legte ihm den Arm um die Schultern und drückte ihn freundschaftlich. Swankars Freundschaft tat weh.
»... Ich verstoße dich schon nicht, nur weil du älter wirst. Ich habe dich jahrhundertelang ausgebildet. Wenn ich mir jetzt einen neuen Vampir heranziehe, dauert es Jahrzehnte, bis er so viel taugt wie du.«
Swankar löste sich von Rudrogeit und gab ihm einen wohlwollenden Klaps auf den Hintern.
»Ich gönn dir dein Gnadenbrot an meiner Seite. Bis du irgendwann so altersschwach wirst, dass sich das Problem in irgendeinem Kampf von selbst erledigt.«
»Danke, Mutter«, erwiderte Rudrogeit. »Sehr tröstlich.«
»Es ist, wie es ist«, sagte Swankar. »Wir sind Krieger. Wir leben so lange, wie wir stark genug sind. Daran wirst du nichts ändern.«
Sie folgten der Brücke durch das ausgeschnittene Stück eines Hochhauses. Es war wie ein Tunnel. Am anderen Ende lagen Terrassen mit Parkplätzen.
Noch vor dem Ausgang löste sich ein Goblin aus dem Schatten der Wand. Er trug eine graue Uniform mit den Winkeln eines Sargente und legte lässig einen Finger an die Kappe.
»Käpt'n. Leun't«, schnarrte er. »Steht'r Wagen bereit.«
»Coronel. Capitan«, verbesserte Rudrogeit ihn. »So lange bei der Truppe, und Sie können immer noch nicht die Dienstgrade auseinanderhalten, Sargente Sneithan.«
Der Goblin grinste, sodass man zwei Reihen scharfer Reißzähne sah. Er trug spitze Goldkronen auf den beiden größten Hauern. »Änd'rt sich so schnell«, erwiderte er. »So'n Jüngelchen sollt Leutnant sein ... höchst'ns.«
»He, Sargente«, rief Swankar. Sneithan drehte sich um. Sie stieß ihm den Fuß ins Gesicht. Er riss die Arme hoch und schlug klatschend das Bein zur Seite. Swankars Körper fing die Bewegung ab, tänzelte elegant und stand sicher.
»Eine respektlose Affenfresse, der alte Sneithan«, stellte sie fest. »Aber schnell.« Sie grinste Rudrogeit an. »Er denkt auch nicht so viel nach. Im Kampf zählt das mehr als die richtigen Titel. Ich glaub also, den Zottelkopf mustern wir auch noch nicht aus.«
»Schweinescheiße. Pass auf, du schwanzloser Gashebelwichser! He! Aus'm Weg, Nutte. Steig aus'm Wagen, wennste'm Straßenrand stehn willst!«
In halsbrecherischem Tempo lenkte Sneithan den Selbstfahrer über die Hochstraßen von Daugazburg, und sein Gasturbinenfahrzeug ließ die trägeren thaumatechnischen, thermischen und mechanischen Stadtwagen hinter sich. Ruckartig wechselte er die Spur, zwängte sich in winzige Lücken und schrammte mitunter sogar über die Mittelschwelle auf die Gegenspur, bevor er sich schleudernd wieder in den fließenden Verkehr Richtung Stadtrand einfädelte.
Rudrogeit blickte zwischen den beiden Vordersitzen hindurch und tastete mit der Linken verstohlen nach dem Gurt auf der Rückbank. Es schien schwer vorstellbar, dass Sneithan nicht im nächsten Augenblick einen anderen Wagen touchierte oder durch die Randbegrenzung brach und Hunderte von Metern tief in die Häuserschluchten stürzte. Und doch war die Fahrweise, entgegen allem Anschein, kein Zeichen für den üblichen Leichtsinn der Goblins.
Sneithan fuhr nur so schnell, wie er den Wagen beherrschte. Und was er alles beherrschte, hatte er in den achtzig Jahren bewiesen, die er an der Seite von Swankar und Rudrogeit als Kampfpilot diente.
Swankar lächelte Rudrogeit im Rückspiegel an. »Du siehst blass aus, Rudi«, sagte sie.
»Sehr witzig«, gab Rudrogeit zurück. »Ich bin ein Vampir, keine schwarze Albe.«
Der Verkehr wurde spärlicher, als sie in die Außenbezirke kamen. Mit einem Mal betätigte Sneithan alle Bremsen zugleich. Der Selbstfahrer wirbelte um die eigene Achse, legte sich schräg ... Es krachte am Bodenblech, als der Goblin das Fahrzeug über die Seitenmauer lenkte.
Rudrogeit sah Funken am Seitenfenster aufblitzen, Stahl schrammte über Stein, dann stürzten sie drei Meter tiefer auf eine kleinere Seitenstraße. Der Goblin fuhr ein paar Schlangenlinien, bis der Wagen wieder in der Spur lag.
»Da vorn wäre eine Ausfahrt gewesen«, stellte Rudrogeit fest.
Er lauschte. Die Karosserie ächzte ein wenig, und in das Motorengeräusch mischte sich ein Schaben, das vorher nicht da gewesen war.
»Irgendwann wirst du deine Karre zu Schrott fahren«, merkte Swankar an.
Sneithan zuckte die Schultern. »Nai. Is'n Dienstwagen. Scheißegal. Fahr auf'n Rübenacker, Pissbauer!«, brüllte er einem Fahrer zu, während er halb über den Gehweg rechts an ihm vorbeiraste.
Die Straße fiel allmählich auf Bodenniveau ab, die Gebäude zu beiden Seiten wurden kleiner. Das verwirrende Geflecht von übereinander- und ineinandergebauten Brücken blieb hinter ihnen zurück und bildete zusammen mit den hohen Türmen der Innenstadt eine bizarre Silhouette am Horizont. Bald kam in der Ferne der Militärflughafen in Sicht.
Sneithan bog vor dem Haupteingang ab und hielt auf das Werftareal zu. Außerhalb des Geländes, vor dem Zaun, hatte man hohe Tribünen aufgebaut. Sie waren festlich geschmückt, Leuchtgirlanden säumten die Balustrade und alle Zufahrten, und auf einem großen Freigelände daneben war ein Parkplatz eingerichtet worden.
Eine Wache stand gelangweilt vor der Schranke am Nebentor; der Wachhabende in der Stube hielt den Blick gesenkt, so als würde er lesen. Beide Posten waren Menschen. Sneithan bremste nicht; er gab Gas und drückte mit seiner Klauenhand auf die Hupe.
Mit aufheulendem Motor und dröhnendem Signalhorn raste er auf die Schranke zu. »Mach'n Baum auf! Schleimbeutel in Uniform, kriegst'n nicht hoch, oder was?« Er brüllte wild und fuchtelte mit der Hand, die er nicht für die Hupe brauchte.
Der Soldat an der Schranke nestelte an seinem Gewehr, der Wachhabende sprang auf. Kreidebleich blickten sie dem gepanzerten Selbstfahrer entgegen, der auf sie zuraste.
»Wir sind nicht am Haupttor«, bemerkte Swankar ruhig. »Die beiden kennen dich nicht.«
»Scheiße.« Sneithan trat auf die Bremsen. Der Wagen wurde so unvermittelt langsamer, dass sie nach vorn geworfen wurden, und Rudrogeit glaubte, er würde sich überschlagen. Das Heck brach aus, und zwei Handbreit vor dem Posten kam das Fahrzeug zum Stehen. Der Soldat stand zitternd da, das Gewehr vorgereckt. Der Wachhabende eilte aus der Stube und hielt eine Pistole in der Hand.
Swankar streckte den Kopf aus dem Fenster. »Na los!«, rief sie. »Macht hin mit der Kontrolle. Ich will zu meinem Schiff.«
»Coronel Swankar...?« Der Sargente vom Tordienst ließ unschlüssig die Waffe sinken. Der Wachsoldat ging um das Fahrzeug herum und stützte sich an der Motorhaube ab.
»Den Ausweis ...«, stotterte er.
Rudrogeit zog den Dienstausweis aus der Jackentasche, Swankar hielt den ihren schon in der Hand. Aber Sneithan streckte seinen langen Arm aus dem Seitenfenster, packte den Soldaten am Hals und riss ihn zu sich heran, bis das Gesicht des Mannes nur Zentimeter von den goldüberkronten Reißzähnen entfernt war.
»Dienstanweisung, blöde Ratte!«, schrie er ihn an. »Personenkontrolle am Tor, keine leuchmadanverschissene Ausweisbeschau. Bin Sergeant Sneithan, sieht man ja wohl, was?«
Swankar blickte den Wachhabenden freundlich an, sodass der ihre spitzen Zähne sah. »Ich muss zugeben - das ist Sneithans Art, sich auszuweisen!«, erklärte sie liebenswürdig. »Am Haupttor würden sie ihn gar nicht reinlassen, sondern ihn für einen Doppelgänger halten, wenn er anders ankommt.«
Die Lichtbringer war kein großes Schiff. Vom Bug bis zum Heck maß sie weniger als zweihundert Meter. Sie war schlank und schnittig, und der Rumpf war aus Holz gefertigt statt aus Stahl. Rudrogeit wusste, dass man dieses Holz in keinem Wald der Welt fand -jedenfalls nicht in einem Wald der Elfen, die Wert auf unverfälschte Natur legten. Die Bäume, von denen dieses Holz stammte, waren mit Magie und Bio-Alchemie vom Samen an neu gebildet und auf Festigkeit hin gezüchtet. Sie standen Stahl kaum nach, aber sie sahen weiterhin aus wie Holz. Auch das trug dazu bei, dass die Lichtbringer so schwerelos wirkte.
Das Flugschiff ruhte auf einem Gerüst, gleich neben einem Turm, den Tribünen auf der anderen Seite des Zauns gegenüber. Sneithan verließ die geebnete Straße und fuhr quer über das Gelände auf ihr Ziel zu. Rudrogeit lehnte sich aus dem Fenster und schaute nach vorn.
»Da ist wohl demnächst Sonderdienst angesagt, Sargente Sneithan. Grundausbildung. Sie müssen sich wirklich einmal die militärischen Ränge der Union einprägen.«
Sneithan spuckte aus dem Fenster. »Scheiß auf Union«, knurrte er. »Bin seit vier'ndert Jahren bei der Truppe. Sergeanten war'n gut genug für Goblins. Sargentes sind nackte Bitanerscheiße.«
»Vierhundert Jahre?«, erwiderte Rudrogeit spöttisch. »Ganz schön viel für jemanden, der nicht mal bis vier zählen kann.«
Sneithan griff mit dem linken Arm nach hinten und zeigte vier scharf geschliffene Klauenfinger, dann ballte er sie zur Faust und hielt sie Rudrogeit unter die Nase.
»Vier'ndert Jahre, Vampirjunge«, brummte er. »Hab ich ohne mein' Mama überlebt.«
Rudrogeit hörte ein unterdrücktes Prusten vom Beifahrersitz und beschloss, das Thema nicht zu vertiefen. Er stieß Sneithans Hand zur Seite und blickte zur Lichtbringer empor.
Der Rumpf des Schiffes ragte hoch über ihnen auf, vorn scharf geschnitten, an den Seiten und am Heck wohlgerundet und mit Aufbauten und Erkern bedeckt, die fast aussahen wie Augen. Das flache Deck konnte man von hier unten nicht sehen, nur einen Wald von Antennen, mit denen es gespickt war. Die meisten davon würden die Strahlungsmembran tragen, wenn die Lichtbringer erst einmal flog. Dazwischen verbargen sich sicherlich eine Menge sensorische Antennen, und vermutlich auch ein paar Geräte, deren Zweck Rudrogeit nicht einmal verstand.
Es gab größere Schiffe als die Lichtbringer, aber dieses Schlachtschiff war das Modernste, was die Union zu bieten hatte, der erste Kreuzer der Nodus-Klasse und der Stolz der Luftflotte. Der schlanke Rumpf barg die neuesten Errungenschaften der Militärtechnologie, Anlagen, in denen Gerüchten zufolge die Grenze zwischen Magie und Technik endlich überwunden war, und nach der feierlichen Indienstnahme am heutigen Abend würde Swankar diesen Kreuzer kommandieren.
Ein Leutnant begrüßte sie an Deck, um sie durch das Schiff zu führen. Rudrogeit schaute sehnsüchtig zum Heck, wo hinter dem Brückenaufbau zwei Odontopter von Klampen gehalten in ihrer Startposition hingen. Er wäre gern eingestiegen und davongebrummt, allein in seinem Cockpit, losgelöst und frei.
Sneithan ließ die Mannschaft antreten - trieb sie zusammen, war wohl der bessere Ausdruck. Der Leutnant öffnete eine Luke zu Füßen des Brückenturms, und von unten kam ihnen ein Zivilist entgegen, ein Mensch in einem gedeckten braunen Anzug. Gleich hinter ihm ging ein Nachtalb in der blauen Robe eines Flottenmagiers. Die Rangabzeichen, die ihn als Oberleutnant auswiesen, hatte er nur nachlässig auf die Schultern genäht.
Swankars schmale Augenbrauen zogen sich so dicht zusammen, dass sie eine geschlossene Linie bildeten. Ihr rundes Nachtalbengesicht bekam einen harten Zug. Rudrogeit wusste die Geste zu deuten: Nachtalben waren magische Geschöpfe, aber nicht jeder Nachtalb war ein Magier. Die meisten von ihnen vermochten vielleicht ein, zwei schwache Zauber zu weben; manchen blieb kaum mehr als ein vages Gespür für Magie.
Swankar würde Magie allenfalls spüren, wenn man ihr einen magischen Dolch mitten ins Herz stieß. Und sie hasste die Alben, die ihrem Empfinden nach »Zauberkunst zur Schau stellten« und sich »für was Besseres hielten«.
Der Mensch fing ihren Blick auf, blieb abrupt stehen und wich einen Schritt zurück. Dann nickte er kurz und rang sich ein Lächeln ab. »Guten Abend, gnädige Frau.«
»Was treibt dieser Zivilist an Bord?«, fragte Swankar. Sie schaffte es, über den Menschen hinweg direkt den Magier anzusprechen, obwohl der Zivilist zwischen ihnen stand und einen Kopf größer war als die Alben.
»Ähm, das ist Doktor Descidar«, erwiderte der Alb. »Wir haben gerade ...«
»Der Schiffsarzt?«, unterbrach Swankar ihn.
»Nein, nein ...«, sagte der Magier. »Obwohl, in gewisser Hinsicht...«
»Stammeln Sie nicht rum, Mann! Wer sind Sie überhaupt?«
Der Magier nahm Haltung an. Er richtete sich auf und legte die Arme an den Körper. Er sah aus wie eine Dame, die sich anschickte, ihr Kleid zu raffen. Rudrogeit lächelte. Swankar wirkte nicht amüsiert.
»Oberzauberer Feitlaz«, sagte der Alb. »Verzeihung. Doktor Descidar ist öfter hier an Bord. Er muss diese neue Anlage nachjustieren. Den Nodus.«
Der Mensch nickte. Er nestelte mit zwei Fingern an dem rotbraunen Samttuch, das er anstelle einer Krawatte trug. Eine Nadel mit einem einzigen hellen Brillanten blitzte auf. »Vor der Vorführung wollte ich mich vergewissern, dass alles seine Richtigkeit hat.«
»Hm.« Swankar schwankte sichtlich zwischen Neugier und dem Bestreben, diesem Zauberer das Leben schwer zu machen. Dann aber siegte die Neugier. »Was ist dieser Nodus? Ich habe ein wenig darüber gehört, aber für mich klingt es nach einem ganz normalen Nexusportal.«
»Oh, es ist viel mehr als das ...«, sagte der Magier.
»Sehr viel mehr...«, ergänzte der Doktor.
»Gut«, fiel Swankar ihnen ins Wort. »Dann zeigen Sie es mir, Feitlaz. Aber verabschieden Sie sich vorher von Ihrem Echo. Der Doktor kann sich zu den anderen Zivilisten auf die Tribüne setzen. Wir übernehmen das hier.«
Descidar nickte wieder und verabschiedete sich. Aber Feitlaz, der Schiffszauberer, ging ihnen voran die steile Treppe in den Rumpf hinab und redete dabei über das, was anscheinend sein liebstes Spielzeug hier an Bord war.
»Der Nodus kann tatsächlich eine Verbindung zum Nexus herstellen, ganz wie ein gewöhnliches Portal. Aber er ist selbst so etwas wie ein kleiner Nexus, ein eigenständiges, denkendes Konstrukt, das diesem Schiff ungeahnte Möglichkeiten verschafft.«
»Eine Integrationsmaschine?«, fragte Swankar zweifelnd.
»Mehr als das.« Feitlaz wandte sich zu ihnen um und strahlte über das ganze Gesicht. »Fast ein künstlicher Zauberer, könnte man sagen. Ich bin eigentlich nur an Bord, um den Nodus zu lenken. Meine eigenen bescheidenen Fähigkeiten sind nichts verglichen mit dem, was er bewirken kann.«
Feitlaz führte die übrigen Offiziere durch einen schmalen Gang an seitlichen Schotts vorbei bis zu einer Tür aus Skermakial. Dahinter lag der Steuerraum, ganz mit Metallkeramik verkleidet. Portalsteine, Bildwerfer und Kommunikationsanlagen waren in die Wände eingelassen, Sitze mit Sicherheitsgurten standen an den Seiten aufgereiht. In der Mitte blieb viel freier Platz, und gegenüber dem Eingang gab es ein weiteres Panzerschott mit einem Bullauge darin.
Der Zauberer erklärte stolz die magischen und die mundanen Einrichtungen. Swankar trat an das gegenüberliegende Schott und spähte durch die Scheibe. Dahinter befand sich eine Art Schleuse.
Swankar legte die Hand auf das Metall. »Eine Panzerung«, sagte sie. »Gibt es thaumatechnische Anlagen auf dem Schiff?«
»Bitte?« Der Zauberer blickte auf. »Die Lichtbringer besitzt ein kleines Inversmodul als zusätzlichen Auftriebskörper und als Antrieb. Aber der Nodus funktioniert mit Thaumagel, darum ist er in dieser Kapsel untergebracht.«
»Sie ist nicht versiegelt«, wandte Swankar ein und wies auf das gesicherte Schott. »Man kann sie öffnen. Ist das Thaumagel frei zugänglich?«
»Da müssen Sie Doktor Descidar fragen«, sagte der Zauberer. Er klang nervös. »Ich bediene den Nodus nur. Das Schott dient nur Wartungszwecken - laut Protokoll hat die Mannschaft keinen Zugriff.«
Swankar rümpfte die Nase. Sie legte die Hand auf den Öffnungshebel, schaute dann auf das Sicherheitsschloss. Es war ein Auraschloss, eine halbmagische Technologie. Die Aura eines Lebewesens galt als unverwechselbar, aber Swankar traute dieser Technik nicht. Magie konnte durch Magie getäuscht werden; vermutlich konnte selbst dieser armselige Schiffsmagier sich Zutritt verschaffen, wenn er wollte.
Swankar schätzte es gar nicht, wenn sich Bereiche auf ihrem Schiff ihrer Kontrolle entzogen. »Und was kann dieser Nodus, was ein normaler Portalstein nicht zuwege bringt?« »Nun«, sagte der Schiffszauberer. »Sie können die Lichtbringer von hier aus genauso führen wie auf der Brücke. Was nicht unmittelbar zugänglich ist, kann vom Nodus überbrückt werden. Der Nodus hat selbst dann noch Zugriff auf alle Waffen und Systeme, wenn die tatsächlichen Verbindungen in einem Gefecht zerstört wurden.«