4. Kapitel
Cloud, mein Liebling, Cloud. Kannst du mich sehen? Kannst du mich hören? Ich bin ganz in deiner Nähe, Cloud. Ganz dicht bei dir. Ich warte auf dich, mein Liebling. Ich warte auf dich. Ich warte, so lange, bis du kommst, zu mir, nach Jerajisa. Hier ist alles anders, schöner, viel schöner. Bitte laß mich nicht zu lange warten, Cloud. Bitte, ich liebe dich doch so sehr. Ich liebe dich, ich warte auf dich. Bis bald, Cloud. Bis bald, in Jerajisa.
„Meni, Meni, nein, nein, nein, Meni. Du darfst nicht tot sein, Meni, bitte nicht, – NEIN! NEIN!“
Dr. Brain betrat eilig das Zimmer. Von weitem hatte er Clouds Schreie vernommen. Unruhig wälzte Cloud sich im Bett hin und her. Sachte versuchte Dr. Brain seine Augenlider zu öffnen. Im selben Moment betrat auch Eduard das Krankenzimmer. Gefolgt von der Schwester, die ihn vergebens davon abzuhalten versuchte.
„Ist er wieder bei Bewußtsein?“ fragte Eduard aufgeregt. Dr. Brain wandte sich nach ihm um, nachdem er Clouds Augen untersucht hatte.
„Wer ist Meni?“ stellte er ihm eine Gegenfrage.
„Meni? – Seine Frau“, antwortete Eduard etwas verwundert.
„Sie haben noch nicht versucht, seine Frau zu erreichen?“ Vorwurfsvoll musterte er Eduard über seine Brille hinweg.
„Versucht schon“, erwiderte Eduard. „Es geht niemand ans Telefon.“
„In den letzten Tagen war das Telefonnetz in Mountain-City unterbrochen“, sprach Brain zu sich selbst. „Vielleicht hat es damit etwas zu tun.“
„Meni“, ertönte auf einmal Clouds Stimme. Eduard drückte sich an Dr. Brain vorbei an das Krankenbett. Die Schwester wollte ihn daran hindern, doch Brain wehrte sie durch eine kurze Handbewegung ab.
„Dumpkin, mein Freund“, flüsterte Eduard.
„Meni, Larsen hat ein Messer, Meni. Er will dich töten. Er will dein Leben, Meni. Dein Leben ist in Gefahr. In Gefahr. Unser Sohn, Meni, unser Sohn ist böse – böse –.“
„Dumpkin“, wiederholte sich Eduard ein wenig lauter. Er faßte seinen Freund an den Armen, um ihn ruhig zu halten. Brain ließ es ohne Widerrede geschehen. „Komm zu dir, Dumpkin. Ich bin es, Ellinoy.“ Wider Erwarten schien es zu wirken. Cloud wurde auf einmal ruhiger. Zwar ging sein Atem noch unregelmäßig, doch wälzte er sich nicht mehr hin und her.
„Du mußt wieder zu dir kommen, Dumpkin“, sprach Eduard weiter. „Wir wollen doch nach Hause. Verstehst du, nach Hause.“
Einige Sekunden vergingen, plötzlich öffneten sich Clouds Augen. Das Weiße darin war blutunterlaufen.
„Wir haben ihn erledigt“, zischte er Eduard entgegen. „Dieses elendige Mistschwein, verreckt ist es. Jämmerlich verreckt!“
„Es ist vorbei“, gab Eduard so gelassen er konnte zurück. „Endlich vorbei.“
Dr. Brain stellte sich auf die gegenüberliegende Seite des Bettes, als Cloud seine Augen geöffnet hatte. Der Schwester gab er zuvor die Anweisung, eine Beruhigungsspritze bereit zu halten. Cloud drehte seinen Kopf in Dr. Brains Richtung.
„Wo – bin ich?“ fragte er darauf den Arzt. „Wer sind Sie?“
„Ich bin Dr. Brain“, antwortete der Arzt. „Sie befinden sich im Hospital von Mountain-City.“
„Im Hospital?“ erschrocken starrte Cloud auf seinen Freund. „Was ist mit mir?“
„Du wurdest bewußtlos, Dumpkin.“
„Bewußtlos?“
„Deine Hose hatte Feuer gefangen“, versuchte Eduard ihn auf die Sprünge zu helfen. „Danach wurdest du bewußtlos.“
„Wie – lange ist das her?“
„Das war gestern, gestern abend. Hast du denn keine Schmerzen ?“
„Ich verspüre nur ein leichtes Ziehen in den Beinen.“ Mit einem Ruck schlug Cloud die Decke auf. Bis zu den Knien waren seine Beine einbandagiert.
„Die Verbrennungen sind nicht so bedrohlich, wie sie den Anschein hatten“, bemerkte Dr. Brain. „Schlimmer waren Ihre Fiebererscheinungen, aber diese scheinen sich ja gelegt zu haben.“
„Ich fühle mich schwach“, erwiderte Cloud langsam.
„In ein bis zwei Tagen können Sie das Krankenhaus verlassen“, entgegnete der Arzt bedächtig. „Besser, Sie schlafen wieder. Sie haben es noch nötig.“
Eduard blickte auf den Arzt. Er setzte gerade an, um eine Bitte auszusprechen, da kam ihm Dr. Brain zuvor.
„Eine Viertelstunde“, gewährte er lächelnd. Der Schwester gab er einen Wink, worauf sie das Zimmer verließen.
Nachdem die Tür geschlossen war, richtete Cloud sich ein wenig auf. „Ich hab von Meni geträumt“, hauchte er Eduard entgegen. Seine Finger umfaßten Eduards Handgelenk. „Ich glaube nicht mehr daran, daß sie am Leben ist.“ Clouds Augen füllten sich mit Tränen. „Sie hat gesagt, sie wartet auf mich, Ellinoy. In – Jerajisa.“
„Jerajisa?“ wiederholte Eduard, als hätte er das Wort nicht richtig verstanden.
„Sie sagt, sie ist ganz in meiner Nähe.“
Eduard musterte seinen Freund mit unverstandenen Blicken. „Der Sheriff“, erwiderte er darauf. „Er ist noch am Leben.“
Cloud gab darauf keine Antwort. Wie geistesabwesend blickte er auf seine bandagierten Beine.
„Der Sheriff“, wiederholte sich Eduard. „Er liegt im Zimmer nebenan.“
Durch Cloud ging ein leichtes Zucken. Mit erschrockenem Gesichtsausdruck starrte er auf Eduard. „Was hast du gesagt?“
„Sheriff Wilson“, flüsterte Eduard. „Als du bewußtlos geworden bist, hörte ich Hilferufe. Daraufhin fand ich den Sheriff unter einem Baum nicht weit weg von der Kirche liegen. Er hatte sich mit einem Feuerzeug die Schußwunde selbst ausgebrannt. Das hat ihm das Leben gerettet.“
„Er ist ihm – entkommen?“
„Als das Feuer ausgebrochen ist, sagte Wilson, hätte er die Kirche fluchtartig verlassen.“
„Dann hat das Feuer ihn vernichtet“, stieß Cloud zwischen den Zähnen hervor. „Hast du ihn dir noch einmal angesehen?“
Eduard nickte. „Ich habe keine Zweifel.“
„Gott sei Dank“, atmete Cloud auf. „Und der alte Mann?“ kam es wie aus der Pistole geschossen.
Eduard schüttelte mit dem Kopf. „Spurlos verschwunden. Als ich ihn Wilson beschrieben hatte, wußte er sofort, wen ich meinte. Jeremies Vater wurde mehrmals schon in eine Anstalt eingeliefert. Er litt an einer psychischen Störung, die als unheilbar gilt. Wilson hatte ihn immer für harmlos eingeschätzt.“
„Wilson“, murmelte Cloud vor sich hin. „Hast du viel mit ihm geredet?“
„Er hat es ja am eigenen Leib verspürt, was passiert ist“, entgegnete Eduard nur.
„Und jetzt?“ fragte Cloud. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Augen. „Hast du es versucht, bei mir zu Hause anzurufen?“
„Ich – habe es versucht“, erwiderte Eduard gepreßt. Weiter sagte er nichts dazu. Cloud nickte nur.
„Wie hast du mich hierher gebracht?“ fragte er nach einigen schweigsamen Sekunden.
„Das Fahrzeug des Sheriffs.“ Eduard richtete sich langsam auf. „Wir müssen unbedingt von hier verschwinden“, sagte er mit unterdrückter Stimme. „Ich traue den Leuten nicht so richtig. Zuviel ist in den letzten Tagen geschehen. Man versucht es auf uns abzuwälzen.“
Cloud atmete mehrmals tief durch. Vorsichtig versuchte er seine Beine zu bewegen. Unter geringen Schmerzen gelang es ihm, sich auf die Bettkante zu setzen.
„Wie?“ fragte er darauf. „Ohne Auto sitzen wir in diesem verdammten Nest fest.“
„Ich hab David angerufen“, erwiderte Eduard. „Er machte sich sofort auf den Weg.“
„Ist bei dir zu Hause alles in Ordnung?“
„Es hat nichts gegeben“, entgegnete Eduard. Nachdenklich warf er einen Blick zum Fenster hinaus. „Mit Einbruch der Dunkelheit dürfte er eintreffen. Sobald er da ist, holen wir dich ab.“
Cloud wiegte gedankenvoll seinen Kopf hin und her. „Ich würde lieber gleich mit dir von hier verschwinden“, murmelte er in sich hinein.
„Das wäre zu riskant“, wehrte Eduard ab. „Warte, bis es dunkel geworden ist.“
„Du hast schon recht“, willigte Cloud ein. „Schwer dürfte es ja nicht sein, unbemerkt dieses Nest zu verlassen.“
Eduard wandte sich um und streckte seinem Freund die offene Handfläche entgegen. Cloud schlug kräftig darin ein. „Hauptsache, wir haben es geschafft“, zischte Cloud, „und dieses Scheusal ist für immer vernichtet!“
„Wenn es dunkel ist, Dumpkin“, sagte Eduard darauf.
„Ich bin bereit“, erwiderte Cloud. Eduard begab sich langsam auf die Zimmertür zu. Die Hand an der Türklinke drehte er sich noch einmal um. „Ich glaube nicht, daß deiner Familie etwas zugestoßen ist.“ Noch bevor Cloud etwas sagen konnte, war Eduard hinter der Tür verschwunden.
*
Zur selben Zeit, wie Eduard das Krankenhaus verließ, machte sich Dr. Melby auf den Weg in das Hospital. Dr. Brain erwartete ihn bereits.
„Sheriff Wilson ist vor einigen Stunden schon aus der Narkose erwacht“, unterichtete Dr. Brain den herannahenden Melby. „Der andere vor wenigen Minuten.“ Brains Gesicht verfinsterte sich, als er das sagte.
„Sie sind nicht sehr darüber erfreut“, bemerkte Melby gelassen.
„Wenn sie auch Sheriff Wilson das Leben gerettet haben“, erwiderte Brain grimmig. „Ihnen ist die Schuld zuzuschreiben, daß es überhaupt soweit gekommen ist.“
„Was meint Sheriff Wilson dazu?“ wollte Melby nur wissen.
„Er hat mir gegenüber noch keine Äußerungen gemacht“, entgegnete Brain. „Die ganze Sache hat ihn schwer mitgenommen. Ich glaube nicht, daß er jemals wieder der alte Sheriff Wilson sein wird, nachdem sein bester Mann, Keith Svensen, immer noch vermißt wird.“
„Eben komme ich vom Revier.“ Melby strich sich mit den Fingern durch das Haar. „Das Feuer konnte soweit gelöscht werden. Von Svensen immer noch keine Spur. In welchem Zimmer haben Sie Wilson untergebracht?“
„Zimmer vier“, brauchte Brain nur zu sagen. Bewußt ließ er Dr. Melby allein zu Sheriff Wilson. Langsam öffnete Melby die Tür. Wilson hatte einen leichten Schlaf. Schon durch das Geräusch der Klinke wachte er auf.
„Hallo, Doc“, empfing Wilson den Besucher mit gequälter Stimme. Melby drückte die Tür hinter sich wieder zu. Wilson versuchte sich ein wenig aufzurichten.
„Bleiben Sie ruhig liegen“, mahnte ihn Melby sofort. Trotz der höllischen Schmerzen in der Schulter ignorierte er die Bemerkung. Melby nahm sich den einzigen Stuhl und setzte sich dem Sheriff gegenüber. Geraume Zeit verging, in der niemand ein Wort sprach. Melby wollte dem Sheriff den Anfang hierzu überlassen.
„Svensen ist tot.“ Wie das gefallene Beil eines Schlächters standen die Worte im Raum. Erneut folgte eine längere Pause.
„Ich sage Ihnen, Dr. Melby“, kam es nur flüsternd über Wilsons Lippen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Die Hölle, die ist da drüben. Goodman hatte die Wahrheit gesagt.“ Wilsons Atem wurde unregelmäßiger. „Die gottverdammte Wahrheit. Mit meinen eigenen Augen habe ich ihn gesehen. Er hatte Svensen das – das Gesicht abgezogen. Einfach abgezogen und sich selbst wie eine Maske übergestülpt.“ Wilson versuchte sich zu fassen. Er wollte vor Melby kein jämmerliches Erscheinungsbild abgeben. „Das Feuer, hätte der eine nicht die Kerze geworfen, Melby, ich wäre jetzt bestimmt nicht hier. Es fürchtet das Feuer. Das hat mir das Leben gerettet. Gott sei Dank hat mich der andere dann gefunden. – Mein Gott, Melby, ich habe in seine Augen gesehen. In Augen, die irgendwie gar keine Augen waren. Zwei dunkle schwarze Löcher. Ich kann es nicht mehr vergessen. Verdammt, ich kann es einfach nicht mehr vergessen. Es ist, als würde es mich ständig verfolgen. Immer ist es da, Melby. In mir drin.“ Wilson starrte mit entsetzten Blicken auf Dr. Melby. Dieser sagte immer noch nichts. „Die Leiche, die auf Pastor Dauwn gelegen hatte, war vermutlich der Chinese“, sprach Wilson weiter. „Ich – ich habe sein Gesicht gesehen. Es – es war an die Wand genagelt.“
„Ich habe Gerüchte in der Stadt gehört“, sagte Melby leise. Wilson zeigte darauf keine Reaktion.
„Selbstjustiz. Sie wollen die beiden erhängen.“
Merklich zuckte Wilson zusammen. „Wer?“ fragte er nur.
„Freunde von Jancy McLean.“
„Verdammt!“ Ruckartig schlug Wilson die Bettdecke zurück. Noch ehe Melby es verhindern konnte, war Wilson auf der anderen Seite aufgestanden.
„Sind Sie wahnsinnig?“ herrschte er den Sheriff an und stand ebenfalls auf.
„In meiner Stadt gibt es keine Selbstjustiz“, zischte Wilson zurück. Die Schmerzen in seinem linken Schultergelenk schien er völlig vergessen zu haben. „Ich muß es verdammt noch mal verhindern!“
„Überlassen Sie das Ihren Leuten.“ Melby begab sich auf Wilson zu. „Die werden mit denen schon fertig.“
„Ich muß dabei sein“, ließ sich Wilson nicht davon abhalten. „Helfen Sie mir!“ Er streckte Melby seine Hose entgegen, die neben dem Bett fein säuberlich auf dem Boden gelegen hatte. Melby erkannte, daß jegliche Widerrede erfolglos sein würde. „Der Freund von diesem Lony befindet sich im Krankenhaus“, versuchte er es dennoch auf eine andere Weise. Wilson nickte nur.
„Geben Sie mir drei Stunden, und ich versuche diesen Lony ausfindig zu machen.“
Statt einer Antwort streckte Wilson seine Hose noch dichter vor Melbys Brust.
„Wie Sie wollen“, murmelte Melby. Mürrisch ergriff er die Hose. „Ich werde Sie begleiten!“
„Da habe ich nichts dagegen“, erwiderte Wilson. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schmerzverzerrten Grinsen.
Es dauerte eine Zeitlang, bis Melby dem Sheriff in die Kleidung geholfen hatte. Ausgerechnet in dem Augenblick, wie sie das Zimmer verlassen wollten, kam Dr. Brain den Gang entlanggeschritten. Beinahe entsetzt starrte er auf Wilson.
„Sind Sie wahnsinnig?“ gebrauchte er dieselben Worte.
Melby zuckte mit den Schultern. „Er war nicht davon abzubringen“, versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen.
„Versuchen Sie es auch nicht“, sagte darauf Wilson und drückte sich einfach an Brain vorbei.
„Wo will er denn hin?“ Verständnislos blickte der Chefarzt auf Dr. Melby.
„Ich hätte ihm nicht sagen sollen, daß sich in der Stadt einige auf den Weg gemacht haben, die zwei umzulegen.“
Brain machte erschrocken einen Schritt zurück, entgegnete aber nichts dazu.
„Ich bleibe bei ihm“, setzte Melby noch hinzu. Wilson war schon aus seinen Augen entschwunden. Er ließ Brain kurzerhand stehen und eilte dem Sheriff hinterher.
*
Nachdem Eduard die wenigen Stufen des Hospitals hinabgeschritten war, verließ der Pförtner ebenfalls das Gebäude. Er hatte sich einen Mantel über seinen weißen Kittel gezogen. Mit finsteren Blicken verfolgte er Eduard so lange, bis dieser seinen Augen entschwunden war. Danach begab er sich zu seinem Fahrzeug, das sich unweit auf dem Bedienstetenparkplatz befand. Gerade als er einsteigen wollte, vernahm er hinter sich ein Geräusch, das sich ihm schnell näherte. Erschrocken drehte Bill sich danach um.
„Sie?“ entfuhr es ihm. Vor ihm stand der alte Mann, Jeremies Vater.
„Ich hab es gesehen“, faselte er mehr oder weniger unverständlich. „Alles habe ich gesehen. Auch ihn, den Priester.“
„Von was redest du? Was willst du?“ duzte Bill den Alten und lehnte sich gelassen gegen sein Auto. Unsold kam noch dichter an ihn heran. Ein übler Geruch stieg Bill in die Nase. Der Alte durfte sich schon seit Tagen nicht mehr gewaschen haben.
„Eineinhalb Jahrzehnte lang habe ich ihn verfolgt“, zischte Unsold. „Gottverdammte fünfzehn Jahre. Nun ist er weg! Für immer verschwunden. Zurückgekehrt ist er.“
Bill versuchte ihn von sich zu drücken, doch der Alte wich nicht von der Stelle. „Nun ist es soweit“, redete Unsold weiter. „Nacht für Nacht habe ich es geträumt. Nacht für Nacht.“
Ein weiteres Mal versuchte Bill ihn von sich zu drücken. Wütend funkelte ihn der Alte an. „Unsere Erde ist verdammt! Von Gott verlassen wird sie untergehen. Das Böse ist an der Macht. Das Böse.“
Bill platzte der Kragen. Er faßte den Alten an den Schultern und gab ihm einen kräftigen Ruck. „So’n Quatsch hör ich mir nicht an“, entfuhr es ihm. Unsold stolperte einige Schritte rückwärts.
„Du wirst schon sehen“, erzürnte der Alte. „Niemand kann ihm entkommen. Ich weiß es. Mein Sohn hat es mir gesagt, im Traum. Niemand hat eine Chance. Auch du nicht!“
„Mal wieder reif für die Klapsmühle, was?“ Bill machte sich daran, in seinen Wagen zu steigen. Er kannte den Alten nur zu gut. Des öfteren schon hatte er ihn im Krankenhaus bedienen müssen, wenn er mal wieder an das Bett gefesselt worden war.
„Jerajisa“, rief Unsold. „Es ist ganz in unserer Nähe. Ich weiß es.“
Kopfschüttelnd drehte Bill den Zündschlüssel herum. Unsold kam wieder auf ihn zugeschritten. „Ich weiß auch, was du willst“, flüsterte er, so daß Bill es gut versehen konnte. Eben wollte er die Wagentür zuschlagen. „Du willst zu McLeans Freunden. Du willst ihnen Zugang ins Krankenhaus verschaffen.“
Entsetzt ließ Bill von seinem Vorhaben ab. Mit aufgerissenen Augen starrte er den Alten an. „Woher –?“
„McLean hat selbst Schuld daran. Er hätte auf mich hören sollen und den Priester erledigen. Jetzt ist es zu spät. Jerajisa wartet, auf jeden von uns.“
Bill stellte nun den Motor wieder ab. „Du scheinst doch mehr zu wissen“, kam es gepreßt über seine Lippen. Unsold stützte sich gegen die Wagentür. Ein überlegenes Grinsen verzog seine Mundwinkel.
„Was er nicht wußte, der verdammte Priester“, zischte er. „Jeremie hat mit mir gesprochen. Alles hat er mir erzählt.“
„Wer ist Jeremie?“ wollte Bill wissen.
„Mein Sohn“, antwortete Unsold. „Jeremie war mein Sohn. Dieser verdammte Priester hat ihn auf dem Gewissen. Dafür wollte ich ihn erledigen. Nur dafür. Er hat Schuld daran, daß es soweit gekommen ist. Er und dieses Buch. Mein Sohn erzählte mir alles.“
„Wie war das mit McLean?“ forschte Bill weiter. Unsold schüttelte jedoch seinen Kopf. Statt einer Antwort zog er ein zerknittertes Papier aus seiner Tasche. Dieses streckte er Bill entgegen.
„Ich hab es von meinem Sohn“, sagte er dazu. Zögernd nahm Bill das Papier entgegen, um es auseinanderzufalten. Verständnislos betrachtete er die zwei ineinandergreifenden Dreiecke, dessen Spitzen durch einen Kreis miteinander verbunden waren.
„Was soll das bedeuten?“ fragte Bill ohne aufzublicken. Er bekam darauf keine Antwort. Verwundert erhob Bill seinen Kopf. Der Alte war verschwunden. Bestürzt darüber verließ Bill seinen Wagen. Nirgends konnte er Unsold erblicken. Wie vom Erdboden verschluckt. Erneut betrachtete er das mysteriöse Zeichen. Durch den Lichteinfall sah er, daß auf der anderen Seite etwas geschrieben stand.
Es ist über uns, und dort wo du es siehst, ist es ganz nah. Bill las es wieder und wieder, bis er das Papier verärgert zusammenknüllte und in seine Tasche steckte. Wütend darüber, den Alten nicht festgehalten zu haben, stieg er wieder in sein Auto. McLeans Freunde, sein ältester Sohn befand sich unter ihnen, müßten wie gewohnt in ihrer Stammkneipe anzutreffen sein. Mountincar wurde während Sams Abwesenheit immer von einer älteren Dame bewirtet, die des früheren ihren Lebensunterhalt in diversen Bars verdient hatte. Auf direktem Weg steuerte Bill seinen Wagen dorthin. Die Begegnung mit dem Alten ließ ihm keine Ruhe. Irgend etwas hatte das zu bedeuten, sagte er sich immer wieder. Der Alte wußte mehr, viel mehr. Bill versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß der Alte für verrückt gehalten wird. Aber selbst glaubte er nicht mehr so richtig daran. Von einem Priester hatte er gesprochen. Es konnte sich wohl nur um den Prediger handeln, der vor wenigen Tagen in der Stadt gewesen ist. Nur vom Hörensagen hatte er einiges von den Reden mitbekommen. Einer schilderte ihm sogar detailliert, wie der Prediger mit Jancy McLean fertiggeworden war. Am darauffolgenden Morgen wurde eine enthäutete Leiche vor der Kirche aufgefunden. Obwohl es nicht an die Öffentlichkeit hätte geraten dürfen, sprach es sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Bei dem Toten handle es sich um Jancy McLean. Irgendeine undichte Stelle im Revier. Bills Sohn, seine Freunde nennen ihn nur Fetz, war ein guter Freund von Jancy McLean gewesen. Wenn auch McLean sein Geld nicht immer auf legale Weise verdient hatte, seinem Sohn hatte er einmal aus einer mißlichen Lage geholfen, was ihm selbst Bill niemals vergessen konnte. Gleichwie, er fühlte sich dazu verpflichtet, die vermeintlichen Mörder McLeans ihnen auszuliefern.
Gedankenversunken parkte Bill direkt vor dem Eingang von Mountincar. Im selben Augenblick wurde die Eingangstür aufgerissen. Mehrere, in Lederjacken Gekleidete, strömten förmlich die Stufen hinauf. Nighters stand in goldener Schrift auf ihrem Rücken geschrieben. Unter ihnen auch sein Sohn, der den Wagen seines Vaters sofort erkannte. Bill kurbelte die Scheibe hinunter.
„Was machst du denn hier?“ fragte Fetz seinen Vater.
„Einer der beiden liegt bei uns im Krankenhaus“, antwortete Bill so laut, daß er auch von den anderen gehört werden konnte. Augenblicklich versammelte sich die Meute um Bills Wagen. Mindestens zwanzig an der Zahl. Darunter auch einige Frauen.
„Der andere hat vor wenigen Minuten das Hospital verlassen“, sprach Bill weiter. „Wenn ihr euch beeilt, erwischt ihr ihn noch.“
„Bist echt ’ne Kanone“, murmelte Fetz. Triumphierend blickte er durch die Runde. „Auf was warten wir noch“, stachelte er seine Freunde an. „Jancys Tod muß gerächt werden!“
Ein allgemeiner Aufschrei erscholl. Augenblicklich machten sich die ersten schon auf den Weg zu ihren Fahrzeugen. Zum Teil waren sie mit Motorrädern unterwegs, zum Teil mit ihren Autos.
„Den im Krankenhaus heben wir uns für heute abend auf“, sagte Fetz noch zu seinem Vater, bevor er sich auch den anderen anschloß. Binnen weniger Minuten stand Bill allein mit seinem Wagen vor dem Pub. Minuten verstrichen. Nachdenkliche Minuten. Erst jetzt wurde es ihm so richtig bewußt, was er damit angestellt hatte.
„Verdammt!“ versuchte er diese Gedanken von sich zu drängen. Energisch startete er seinen Wagen durch. Mit aufheulendem Motor drehte er um und steuerte wieder dem Krankenhaus zu. Nicht einen Menschen erblickte er in der Innenstadt. Für diese Tageszeit sehr ungewöhnlich. Von den Neighters war weit und breit nichts zu sehen.
„Merkwürdig“, flüsterte Bill zu sich selbst. Gerade als er in das Gelände des Krankenhauses einfuhr, kamen ihm Wilson und Dr. Melby in dessen Wagen entgegen. Melby verringerte sofort seine Geschwindigkeit. Auf gleicher Höhe kamen sie zum Stehen. Per Knopfdruck ließ Melby seine Fensterscheibe hinab. Wilson beugte sich so gut es ging auf die Fahrerseite. Bill traute seinen Augen nicht, Wilson auf den Beinen zu sehen.
„Hast du den Langhaarigen irgendwo gesehen?“ rief Wilson zu ihm hinüber. Bill schüttelte nur mit dem Kopf.
„Ist dir irgend etwas in der Stadt aufgefallen?“ stellte Wilson eine weitere Frage. Erneut schüttelte Bill nur verwundert seinen Kopf.
„Der Schwarzhaarige“, sagte Wilson darauf. „Auf gar keinen Fall darfst du ihn gehen lassen, Bill. Ich brauche ihn noch!“
„Geht in Ordnung“, nickte Bill. Wilson berührte mit zwei Fingern zum Gruß seine Stirn. Melby drückte aufs Gaspedal.
„Er kam mir ein wenig merkwürdig vor“, meinte Melby, als er die Fensterscheibe wieder hinaufgelassen hatte.
„Als allererstes muß ich ins Revier“, ignorierte der Sheriff diese Bemerkung.
Melby musterte mit finsteren Blicken die Straßenseiten. Auch ihm fiel auf, daß sie eigenartig leer waren. Jedoch unterließ er es, den Sheriff darauf hinzuweisen. Als sie das Revier erreicht hatten, stieg Wilson ohne ein Wort zu sagen einfach aus. Achselzuckend folgte Melby dem Sheriff in das Gebäude. Der Wachhabende sprang von seinem Stuhl auf, als er seinen Vorgesetzten eintreten sah. Mit erstaunten Blicken betrachtete er Wilson, dessen linker Arm in einer Schlaufe steckte. Außer ihm schien niemand mehr anwesend zu sein.
„Du bist allein?“ fragte Wilson um sich blickend.
„Todd und Mario sind auf Streife“, antwortete der Officer. „Die anderen befinden sich immer noch in dem Internat.“
„Das Feuer konnte ja gelöscht werden“, erwiderte Wilson beiläufig. Er wollte noch etwas hinzusagen, doch ein lautes Geräusch, das von draußen herrührte, hielt ihn davon ab. Melby stellte sich an das Fenster, das Blick auf die Hauptstraße gewährte. Sekunden darauf schossen förmlich mehrere Motorräder an dem Revier vorüber.
„McLeans Freunde“, berichtete Melby dem Sheriff. „Bestimmt suchen sie Lony.“
„Weißt du etwas davon?“ fragte Wilson seinen Untergebenen mit zusammengekniffenen Augen. Verneinend bewegte dieser langsam seinen Kopf hin und her.
„Ich dulde kein Faustrecht in der Stadt!“ zischte Wilson. „Funk sie zurück!“ befahl er dem Wachhabenden darauf. „Ich gebe ihnen genau zwanzig Minuten, dann sind sie hier, aber alle!“ Abrupt wandte er sich um. „Wir müssen Lony finden“, sagte er zu Melby und schritt an ihm vorbei, um das Revier wieder zu verlassen.
„Beeilen Sie sich“, sagte Melby noch zu dem Officer, bervor er Wilson hinausfolgte. Sprachlos blickte dieser ihnen hinterher.
*
Eiskalt lief es Eduard über den Rücken, als er plötzlich das entfernte Schreien eines Babys vernahm. Er befand sich am Rande der Stadt, in der Nähe der Zufahrtsstraße, um dort auf seinen Bruder David zu warten. Auch wollte er sich nicht in der City sehen lassen. Manchmal war ihm, als verspüre er die versteckten, haßerfüllten Blicke. Ihn und seinen Freund machten sie für alles verantwortlich. Bis auf Sheriff Wilson wußte niemand von ihnen, was wirklich geschehen war. Sie würden ihm nicht glauben, das war eines, das gewiß ist.
Die Schreie des Babys schienen nicht nachzulassen. Eduard suchte sich eine geeignete Stelle, von der aus er die Straße beobachten konnte, ohne gleich gesehen zu werden. Mit David rechnete er erst nach Einbruch der Dunkelheit. Das wären noch ungefähr drei Stunden. Der Wind hatte wieder ein wenig zugenommen. Besorgt warf Eduard einen Blick gen Himmel.
„Schnee“, flüsterte er zu sich. „Hoffentlich hält es noch an.“ Ein dröhnendes Geräusch zerriß auf einmal die Stille. Ungefähr konnte Eduard die Richtung in der Stadt ausmachen. Eindeutig waren es Motorengeräusche. Eduard ahnte sehr wohl, was dies zu bedeuten hatte. Schon wollte er sich noch dichter in den angrenzenden Wald zurückziehen, als er jemanden die Straße entlangschreiten sah. Seine Stirn legte sich in Falten, als er den alten Mann erkannte. Unsold kam direkt auf ihn zugeschritten. Als wüßte dieser genau, ihn hier anzutreffen. Eduard ließ ihn herankommen. Er machte keinerlei Bemühungen, sich vor dem Alten versteckt zu halten.
„Das gilt dir“, duzte ihn Unsold, als er dicht vor ihm stand. „Sie wollen deinen Kopf.“
„Woher weißt du, daß ich hier bin?“ Eduard lehnte sich gegen einen Baum. Das Gesagte schien ihn wenig zu berühren.
„Ich weiß alles“, erwiderte Unsold. „Hörst du, wie sie schreien? Hörst du es?“ Unsold griff in seine Jackentasche. In der geschlossenen Hand zog er etwas daraus hervor. Eduard folgte jeder seiner Bewegungen in gelassener Haltung. Der Alte blickte ihm direkt in die Augen. Blitzschnell öffnete er seine Hand. Ein kleiner toter Vogel lag darin. Zum zweiten Mal versetzte es Eduard einen Stich in die Magengegend.
„Ist es dir noch nicht aufgefallen?“ fragte ihn der Alte. „Seit Tagen schon, seit Tagen!“
„Woher weißt du davon?“ Eduard richtete sich auf. „Wer hat dir davon erzählt?“ Unsold legte das tote Gefieder sanft zu Boden. Mit dem Finger begann er etwas in die weiche Erde zu ritzen. Eduard machte einen Schritt zurück. „Das Siegel Salomon“, entfuhr es ihm. Starr blickte er den Alten an. Unheimlich kam ihm Unsold auf einmal vor.
„Mein Sohn“, erwiderte Unsold nur.
„Dein – Sohn?“
„Jeremie.“
„Jeremie? Er ist seit siebzehn Jahren tot.“
Der Alte zeigte auf das Zeichen. „Es ist über uns, und dort wo du es siehst, ist es ganz nah“, flüsterte er zurück.
„Dumpkin ist in Gefahr“, überkam es Eduard. Beruhigt legte ihm der Alte seine Hand auf den Arm.
„Wir alle sind in Gefahr“, hauchte Unsold. Ein leichtes Lächeln lag auf seinem Gesicht. „Sie halten mich für verrückt“, sprach er weiter. „Aber sieh sie dir doch an! Was haben sie denn schon großes erreicht? Weiß einer von ihnen etwas über Jerajisa? Weiß einer etwas darüber?“
Eduard wich die Farbe aus dem Gesicht. „Jerajisa“, hauchte er. „Dumpkin hat etwas davon erwähnt.“ Erschrocken sah Eduard über die Schulter des Alten hinweg. Ein Fahrzeug näherte sich. Mit rasender Geschwindigkeit kam es aus dem Stadtinneren auf sie zu. Unsold schien es nicht wahrzunehmen. Kaum hatte der Wagen ihre Höhe erreicht, trat der Fahrer schlagartig auf das Bremspedal. Vermutlich waren sie gesichtet worden.
„Verdammt“, zischte Eduard. Etwas außerhalb ihrer Sichtweite kam das Auto zum Stehen. Unsold rührte sich nicht von der Stelle. Eine Wagentür wurde zugeschlagen. Kurz darauf eine zweite. Eduard musterte den Alten, der immer noch regungslos stehen blieb.
„Da haben wir ihn ja“, rief plötzlich eine männliche Stimme. Sekunden darauf kamen zwei Gestalten hinter dem Buschwerk hervor. Einer davon war der Sohn des Pförtners. Unsold begann sich zu regen. Langsam drehte er sich nach den beiden um. Im Abstand von ungefähr zwei Metern blieben sie vor ihnen stehen. Einer der beiden hielt ein Seil in der Hand.
„Du kannst dir deinen Baum noch raussuchen, an dem wir dich nun hängen werden“, rief ihm dieser zu. Grinsend schwang er das Seil hin und her.
Verzweifelt suchte Eduard nach einem Ausweg. Die einzige Möglichkeit, ihnen zu entkommen, war Flucht. Doch diese Aussicht sah er als sehr gering.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“ spottete Fetz. „Nun sag schon, welchen Ast hättest du gerne?“ Unmißverständlich ließ er seine Blicke an den Bäumen entlanggleiten.
Unsold rümpfte deutlich hörbar seine Nase. Verächtlich warf er dabei einen Blick auf die beiden Halbstarken.
„Was glotzt du mich so an?“ Fetz kam auf den Alten zugeschritten. Der andere blieb auf seinem Platz stehen, das Seil immer noch grinsend hin und her schwenkend.
„Ihr seid widerlich!“ zischte Unsold. Eduard wollte seinen Ohren nicht trauen, als er das hörte. Jäh packte Fetz den Alten mit beiden Händen am Kragen.
„Halt dein Maul, Alter“, fauchte er ihn an. „Sonst hängst du mit ihm!“
Unsold holte tief Luft. Plötzlich spuckte er seinem Gegenüber ins Gesicht. Gleichzeitig riß er sein Knie in die Höhe. Schmerzverzerrt fuhr Fetz zusammen. Unsold hatte ihm mit voller Wucht in die Weichteile geschlagen. Noch ehe der andere richtig wußte, was geschah, stand Eduard dicht neben ihm. Mehrmals hintereinander schlug er ihm gegen die Schläfe. Er hatte nicht einmal die Chance, sich zu wehren. Taumelnd machte er mehrere Schritte zurück. Blitzschnell streckte Eduard sein Bein aus. Mit dem Absatz traf er ihn am Hinterkopf. Ein geübter Tritt, der seinen Gegner sofort niederstreckte. Inzwischen hatte Unsold seinen Kontrahenten dermaßen bearbeitet, daß dieser blutüberströmt zu Boden fiel.
Eduard sah den Alten fassungslos an. „Das habe ich von dir nicht erwartet“, hauchte er ihm zu. Dieser wischte sich die verschmierten Hände an seiner speckigen Jacke ab. „Binden wir sie fest“, entgegnete er nur. Eduard nahm sich das Seil, an dem er normalerweise schon hängen sollte. Sie fesselten die beiden so an einen Baum, daß sie kaum die Möglichkeit hatten, sich zu rühren, wenn sie aus ihren Besinnungslosigkeit erwachten.
„Wir müssen ihr Auto verschwinden lassen“, sagte Eduard danach. „Ich nehme an, daß es von ihrer Sorte noch mehrere gibt.“
„Weiter oben befindet sich ein Waldweg“, erwiderte Unsold. Als hätte er so etwas schon des öfteren getan, begann er beinah fachmännisch die Taschen der Gefesselten zu durchsuchen.
„Ungefähr zweihundert Meter, rechter Hand“, murmelte er und streckte Eduard nach kurzem Suchen den Autoschlüssel entgegen.
*
Dr. Melby und Wilson waren es gelungen, zwei der Motorradfahrer, darunter eine junge Frau, unmittelbar nach Verlassen des Reviers zu stellen. Mit vorgehaltener Waffe zwang Wilson sie in das Fahrzeug zu steigen.
„Das ist Freiheitsberaubung“, protestierte sie zum wiederholten Male. „Ich zeig Sie deswegen an!“
„Das schert mich einen Dreck!“ fauchte Wilson zurück. „Ins Revier“, forderte er Melby auf. Melby sagte nichts dazu. Irgendwie kam ihm der Sheriff verändert vor. Er konnte sich nicht helfen, aber – ein ungutes Gefühl, das ihn plötzlich übermannte. Nach dem, was Wilson ihm immer wieder erzählte, mußte die vergangene Nacht furchtbar gewesen sein, und doch war er überraschend schnell wieder auf den Beinen. Verstohlen warf er ab und zu einen Blick in den Rückspiegel. Wilson hatte sich neben die beiden Festgenommenen gesetzt. Seinen Revolver schußbereit auf dem Schoß, gab er keinerlei Regungen von sich. Stillschweigend steuerte Melby den Wagen zum Revier. Zwischenzeitlich hatte der Wachhabende den Befehl ausgeführt und alle Einsatzwagen per Funk zurückbeordert.
„Aussteigen!“ befahl Wilson, nachdem Melby seinen Wagen direkt vor dem Eingang zum Stehen brachte. Mißmutig betraten die beiden Neighters das Revier. Sofort kam der Einsatzleiter, Officer Corney, auf Wilson zugeschritten.
„Steck sie in eine Zelle!“ befahl Wilson dem Wachhabenden. Daraufhin wandte er sich Officer Corney zu. Auffordernd blickte er diesen nur an.
„Wir haben nicht mit dir gerechnet“, bemerkte Corney.
„Lassen wir das“, wehrte Wilson sofort ab. „Ich will, daß augenblicklich der Rest dieser Bande dingfest gemacht wird. Augenblicklich!“ Wilson ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern. Schweigende Gesichter, die ihm entgegenblickten. Keiner von ihnen schien so richtig zu verstehen, was er eigentlich meinte.
„Worauf wartet ihr noch?“ Beinah wütend funkelten seine Augen auf. „Da draußen wollen welche Selbstjustitz begehen. Ich will, daß dies verhindert wird!“
Langsam begannen sie sich zu rühren. Verständnislos machten sich die ersten daran, das Revier zu verlassen.
„Sämtliche Neighters möchte ich innerhalb einer Stunde
hinter Schloß und Riegel sehen – ist das klar?“ Wilson richtete
sich wieder dem Einsatzleiter zu. „Berichte, Corney, berichte!“,
forderte er seinen Gegenüber eindringlich auf. Corney mußte
erstmals tief durchatmen, bevor er dieser Aufforderung
nachkommen
konnte. Wilsons Verfassung hatte ihn ein wenig aus dem Konzept
gebracht.
„Die Kirche ist völlig abgebrannt“, begann er etwas unsicher. „Zur Hälfte ist sie eingestürzt. Vor dem Internat liegt ein ausgebrannter Wagen. Vermutlich war es einmal ein Rangerover gewesen. Nicht weit von dem Wrack entfernt –“
„Corney“, unterbrach ihn Wilson ärgerlich. „Ich will Fakten, nichts anderes als Fakten!“
Corney strich sich nervös mit der Hand durch das Haar. „Unweit von dem Autowrack entfernt entdeckten wir eine verkohlte Leiche“, setzte er seinen Bericht fort. „Unmittelbar neben der Leiche fanden wir dieses hier.“ Corney zeigte auf einen braunen Lederhut, der sich auf einem nahegelegenen Tisch befand. Die Schärpe war ein wenig angeschwärzt. „Fast mit Sicherheit kann man schon behaupten, daß der Hut zu der verkohlten Leiche gehört.“
Wilson griff nach dem Hut. Eingehendst musterte er ihn von allen Seiten. „Zu der Leiche“, murmelte er mehr oder weniger belanglos in sich hinein. „Und, weiter?“
„Jemand mußte sich in dem Gebäude rechts des Eingangstores befunden haben. In dem offenen Kamin fanden wir noch warme Asche.“ Corney warf hilfesuchend einen Blick auf Melby, der aufmerksam der Darstellung lauschte. „Weiter gibt es nichts zu berichten.“
Wider Erwarten nickte Wilson dem Einsatzleiter zu. „Morgen früh liegt auf meinem Tisch ein umfassendes Protokoll.“ Er drehte sich einfach von Corney ab auf Dr. Melby zu.
„Machen wir uns weiter auf die Suche nach Lony“, sagte er zu Melby. „Ich habe Fragen an ihn. Sehr viele Fragen.“ Melby zuckte nur mit der Schulter. Er ließ es einfach geschehen. Dem Sheriff voraus verließen sie wieder das Revier. Als sich Wilson auf den Beifahrersitz setzte, hielt er immer noch den braunen Lederhut in der Hand.
„Was würden Sie an seiner Stelle tun?“ fragte Wilson, ohne seinen Begleiter dabei anzusehen. Melby musterte mit verwunderten Blicken den Hut, den Wilson spielerisch in den Fingern drehte.
„Zusehen, daß ich verschwinden kann“, antwortete er kurz.
„Ohne seinen Freund?“
„Kann mir gut vorstellen, daß sie schon einen Plan ausgeheckt haben“, meinte Melby nachdenklich. „Auch wenn Sie noch keinen Haftbefehl erlassen haben, ich bin mir sicher, sie rechnen damit.“
„Haftbefehl“, erwiderte Wilson. „Sie haben nicht die geringste Schuld! Aber die Leute hier! Sie sind es, die Lony und den anderen verhaftet sehen wollen. Sie sind es, die sie am liebsten dem Henker ausgeliefert haben wollen.“
„Was wollen Sie nun unternehmen?“ fragte Melby darauf.
„Ich weiß es noch nicht“, entgegnete Wilson. „Der im Krankenhaus ist uns ja sicher, aber Lony – verdammt noch mal, wir müssen ihn finden, und zwar schnell!“
„Die einzige Möglichkeit, von hier zu verschwinden, das wäre Hilfe von außerhalb“, versuchte Melby sich in die Lage von Eduard und Cloud zu setzen. „Angenommen, Lony hat schon mit jemandem Verbindung aufgenommen. Ich an seiner Stelle würde am Ortseingang auf denjenigen warten.“
„Hmm“, brummte Wilson. „Sie sind gar nicht so schlecht“, stimmte er zu. „Es gibt nur eine Straße, die in Frage kommt.“
Melby startete seinen Wagen. Ohne weiter zu reden, fuhr er direkt dem Ortsausgang entgegen. Wilson ließ aufmerksam seine Blicke von links nach rechts wandern. Wenige Meter vor dem Ortsschild verlangsamte Melby das Tempo.
„Halten wir hier an“, forderte Wilson auf. Melby parkte dicht am Straßenrand.
„Möchte mir den Waldrand etwas näher ansehen“, sagte Wilson darauf. „Schlage vor, Sie bleiben im Wagen und halten die Augen etwas offen.“
Melby wollte dagegen protestieren, da war Wilson jedoch schon ausgestiegen. Mürrisch blickte er dem Sheriff hinterher.
Vom Waldesinneren aus wurde Wilson beobachtet, wie er langsam an den Bäumen entlanghuschte. Ein leises Stöhnen war es, das Wilsons Aufmerksamkeit um noch eine Nuance ansteigen ließ. Den Revolver im Anschlag schlich er sich Stück für Stück dem vermeintlichen Laut entgegen. Das Stöhnen wurde lauter. Wilson drang noch dichter in den Wald ein. Nur noch ein Buschwerk trennte ihn von dem Gestöhne. Vorsichtig, jeden Schritt genau berechnend, trat er hinter dem Gebüsch hervor. Ein grausamer Anblick, der sich ihm bot.
Entsetzt starrte Wilson auf die beiden Gefesselten. Den einen sah er nur von der Seite. Der andere hatte seinen Kopf direkt auf ihn gerichtet. Ab der Kehle war ihm die Gesichtshaut samt der Kopfhaare abgezogen.
„Mein Gott“, brachte Wilson gerade noch über die Lippen. Sein erster Gedanke galt Melby. Im selben Augenblick, wie er den Rückweg antreten wollte, um Melby zu holen, stöhnte einer der beiden überlaut auf. Wilson besann sich eines anderen. Mit wenigen Schritten befand er sich direkt vor ihnen. Dem anderen war dasselbe Schicksal erteilt. Diesem waren jedoch noch die Augen herausgerissen worden.
„Ihr armen gottverdammten Schweine“, flüsterte Wilson. Mittels ihrer Kleidung erkannte er, daß sie den Neighters angehörten.
„Sterben“, vernahm Wilson plötzlich die Stimme desjenigen, den er als erstes gesichtet hatte. Dem Anschein nach war auch dieser noch am Leben.
„Ich will sterben.“ Beinah unmerklich bewegte sich dessen Kopf ein wenig zurück.
Wilson atmete mehrmals tief durch. Mit erstaunlicher Ruhe setzte er ihm den Revolverlauf dicht an die Schläfe. „Du darfst sterben, mein Junge“, hauchte er ihm zu. Gleichzeitig drückte er ab. Das Haupt wurde auf die Seite gerissen, der Schuß hallte von allen Richtungen wider. Durch den Knall entgingen Wilson aber die schnellen Schritte, die sich unmittelbar aus seiner Nähe entfernten.
Nicht nur Melby zuckte durch den Schuß zusammen. Nachdem Eduard den Wagen in dem nahegelegenen Waldweg abgestellt hatte, machte er sich daran, die Straße noch ein Stück entlangzulaufen. Eine knappe halbe Stunde war vergangen, seit er Unsold das letzte Mal gesehen hatte. Das war, als dieser ihm den Autoschlüssel zuwarf, worauf er sich sofort daran machte, das Fahrzeug beiseite zu schaffen. Erschrocken blieb Eduard stehen. Langsam erstarb das Echo. Die Stille kehrte zurück, als wolle sie jegliche Geräusche in sich ersticken lassen. Unheimlich drückte sie von allen Seiten. Verbissen warf Eduard einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Nicht mehr lange, dann wird es dunkel“, murmelte er in sich hinein. Längst hatte ihm die Kälte schon die Fingerspitzen bis zur Erstarrtheit erfrieren lassen. Am liebsten wäre er mit dem Wagen die Straße entlanggefahren, um an einer geschickten Stelle auf seinen Bruder zu warten. Jedoch war ihm das zu gefährlich. Also suchte er sich einen geschützten Platz, von dem aus er einiges der Straße überblicken konnte. Immer wieder mußte Eduard an den Sheriff denken. Ihm kam es wie ein Wunder vor, daß Wilson diese Nacht überlebt hatte. Hätte er sich nicht nochmals davon überzeugt, daß es sich bei der verkohlten Leiche tatsächlich um dieses Ekel handelte, Eduard wäre gewillt zu denken, Wilson sei in Wirklichkeit nicht mehr am Leben. Gedanken, die er zu verdrängen versuchte. Gedanken, die er auch endlich in der Vergangenheit wissen wollte.
Stunde um Stunde verging. Schlagartig brach die Nacht über ihn herein. Eduard mußte sich zwingen, nicht vor Erschöpfung einzuschlafen. Das wäre mit wahrscheinlicher Sicherheit sein Tod. Tod durch Erfrieren! Durch andauerndes Aufstehen, ein paar Meter gehen, dann wieder hinsetzen, konnte er es verhindern, vom Schlaf übermannt zu werden. Plötzlich war ihm, als vernehme er ein sich näherndes Motorengeräusch. Für Augenblicke entschwand es seinem Gehör, um anschließend mit zunehmender Lautstärke wieder aufzutauchen. Wenige Minuten darauf sah er, wie sich zwei Scheinwerfer in Richtung Stadt durch den Wald schlängelten. Eduard stellte sich so, daß er sofort gesehen werden konnte. Kaum wurde er von dem Lichtkegel ergriffen, verlangsamte der Wagen sein Tempo. Eduard erkannte das Auto seines Bruders.
*
Ungeduldig starrte Cloud zum Fenster hinaus. Seit Eduard ihn am Mittag verlassen hatte, war Dr. Brain nur einmal in seinem Zimmer erschienen. Die Stunden wollten einfach nicht verstreichen. Langsam ging der Tag dem Ende zu. Von Eduard immer noch nicht das geringste Zeichen. Plötzlich vernahm er Schritte, die sich auf sein Zimmer zubewegten. Ohne anzuklopfen wurde die Tür geöffnet. Sheriff Wilson, gefolgt von Dr. Melby und dem Chefarzt, betrat das Zimmer. Wilsons Gesicht war von Falten überzogen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er auf Cloud, der sich nur langsam nach ihnen umdrehte.
„Ich will es wissen!“ zischte der Sheriff Cloud entgegen. „Alles will ich wissen!“
Cloud sah Wilson verwundert an. „Was?“ fragte er nur.
„Sie und Ihr Freund“, erwiderte Wilson. „Ihr habt es mir zu verdanken, daß ihr noch am Leben seid!“
„Wo – ist mein Freund?“ Cloud stützte sich an der Bettkante ab. Von Wilson blickte er auf Melby, dann auf Brain. Unbewegte Gesichter, die ihn nur anstarrten. Wilson gab ihm darauf keine Antwort.
„Verdammt noch mal“, entfuhr es Cloud. „Wo ist er?“
Wilson schüttelte seinen Kopf. „Folgen Sie mir!“ forderte er Cloud auf. Abrupt wandte er sich um. Cloud mußte sich beherrschen, um nicht die Verfassung zu verlieren. Zögernd ging er an Brain und Melby vorbei, um der Aufforderung des Sheriffs nachzukommen. Dieser führte ihn den Gang entlang auf die andere Seite des Krankenhauses. Vor einer gläsernen Tür blieb er stehen. Bedächtig öffnete Wilson die Tür.
„Treten Sie ein!“ Wilson trat einen Schritt zur Seite. Zaghaft schob Cloud sich am Sheriff vorbei in den Raum. Der Operationssaal, wie er auf den ersten Blick erkannte. Melby und Brain betraten ebenfalls den OP. Wilson schloß hinter sich die Tür. Cloud musterte die zwei zugedeckten Körper, die jeweils auf einer Bahre nebeneinander dicht am OP-Tisch lagen. Auf diese trat Wilson zu. Cloud stellte sich dem Sheriff gegenüber, so daß sich die Bahren zwischen ihnen befanden. Schweigend nahm Wilson das Ende des Leintuchs zwischen seine Finger. Ruckartig riß er es nach unten. Entsetzt machte Cloud erst einen, dann noch einen Schritt zurück. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf Wilson. Die beiden Toten, die der Sheriff vor weniger als drei Stunden aufgefunden hatte.
„Wann?“ Cloud fiel es schwer, sich auf den Beinen zu halten. Gerade noch konnte er sich am OP-Tisch abstützen.
„Vor drei Stunden“, erwiderte Wilson.
„Nein“, bewegten sich Clouds Lippen. Melby eilte an Clouds Seite. Taumelnd fiel Cloud in dessen Arme.
„Ich hab es gesehen“, sprach Wilson weiter. „Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie es sich Svensens Gesichtshaut vom Kopf riß.“ Wilson ließ seinen Blick von einem zum anderen gleiten. „Jeder kann es sein“, sagte er darauf. „Jeder!“
„Es – es muß tot sein“, stammelte Cloud. „Vor – vor meinen Augen ist – ist es ver – verbrannt.“
Langsam bewegte sich Wilsons Kopf hin und her. „Es existiert“, entgegnete er leise. „Und Sie wissen, was es ist. Sie und Ihr Freund!“
Clouds Atem ging auf einmal schwer. Plötzlich wurde er von einem Zittern befallen, das ihm jegliche Kontrolle über seinen Körper zu versagen drohte. Melby versuchte, ihn auf den OP-Tisch zu legen. Panik breitete sich in ihm aus. Jäh riß Cloud sich los. Er gab Melby einen solchen Stoß, daß es diesen rückwärts gegen die Bahren warf. Wilson hatte Mühe, sie mit einem Arm abzufangen. Augenblicklich hetzte Cloud auf den Ausgang zu. Vergeblich versuchte Brain ihm den Fluchtweg zu versperren. Der Wucht, mit der sich Cloud gegen den Chefarzt warf, war nicht im geringsten zu widerstehen. Unsanft stolperte Brain gegen ein Regal. Mehrere Gegenstände fielen zu Boden.
Hals über Kopf stürmte Cloud den Flur entlang auf den Ausgang zu. Bill befand sich gerade auf seinem stündlichen Rundgang, als er durch die fallenden Gegenstände aufmerksam gemacht wurde. Eben war er dabei, nach der Ursache zu sehen, als Cloud aus dem OP gestürmt kam.
„Verdammt“, schreckte er zusammen. Sofort machte er sich daran, die Verfolgung aufzunehmen. Cloud hatte schon die Eingangspforte vor sich. Ruckartig riß er die Glastür auf. Die wenigen Stufen übersprang er mit nur einem Satz. Bill hatte nicht die geringste Chance, Cloud einzuholen. Binnen Sekunden entschwand er seinen Augen in der Dunkelheit.
„Du gottverdammter Mistkerl!“ fluchte Bill vor sich hin, der auf den Eingangsstufen inne hielt. Schritte näherten sich ihm von der Seite. Noch jemand befand sich auf dem Eingangsportal. Aus dem Dunkeln trat eine Person direkt auf ihn zu. Erschrocken wandte Bill sich danach um.
„Du?“ verwirrt blickte er in das Gesicht seines Sohnes. Aus dem Inneren des Gebäudes drangen laute Rufe zu ihnen. Noch ehe Bill sich versah, drehte sich sein Sohn einfach um und verschwand wieder in der Dunkelheit. Fassungslos starrte Bill hinterher. Er hatte mitbekommen, daß Wilson die Neighters hat festnehmen lassen. Wütend darüber wollte er sich bei Wilson beschweren, konnte sich seinen Zorn aber gerade noch verkneifen.
„Wo ist er hin?“ riß ihn Wilson aus seiner Erstarrtheit. Bill zuckte merklich zusammen. Wilson stand dicht hinter ihm. Melby und Brain waren eben dabei, das Portal zu betreten.
Bill bewegte seinen Kopf hin und her. Eine Antwort gab er dem Sheriff nicht.
„Scheiße!“ zischte Wilson. Abrupt wandte er sich Melby zu. „Wir müssen die Straße absperren. Er darf uns auf gar keinen Fall entkommen!“ In der Annahme, Melby würde ihm folgen, schritt Wilson die Stufen hinab. Melby blieb jedoch unbekümmert stehen.
„Das hat in der Nacht keinen Sinn“, rief ihm Melby hinterher. Schlagartig hielt Wilson inne. Bestürzt wandte er sich um.
„Keinen Sinn?“ Entgeistert musterte er den Doktor. „Keinen – Sinn?“ wiederholte er sich. Langsam, sehr langsam trat er die Stufen wieder hinauf. „Sind Sie wahnsinnig?“ Wilsons Stimme zitterte. Auf der vorletzten Stufe blieb er stehen. Weder Melby noch Brain sprachen ein Wort. Bill blickte von einer Richtung in die andere, in der Hoffnung, seinen Sohn doch noch zu entdecken. Stille, unheimliche Stille herrschte zwischen ihnen. Plötzlich drang das Schreien eines Babys an ihre Ohren. Weit entfernt, doch deutlich zu vernehmen. Noch unheimlicher wirkte die Stille. Unbewußt, ohne es eigentlich zu wollen, richtete Melby seinen Blick empor. Ungewöhnlich klar zeichneten sich die Sterne am Himmel ab.
„Irgend etwas stimmt nicht“, murmelte er in sich hinein. Auf einmal durchbrach das Aufheulen eines Motores die Stille. Kurz darauf wurde eine Wagentür zugeschlagen. Mit zunehmender Geschwindigkeit begann sich das Motorengeräusch zu entfernen, bis es in der Ferne erstarb.
*
„Haben wir es nun hinter uns?“ Eduard blickte Cloud tief in die Augen. Schweigend steuerte David seinen Wagen durch den Wald.
„Das kann kein Zufall gewesen sein, daß wir uns zum richtigen Zeitpunkt getroffen haben“, erwiderte Cloud. Entsetzen zeichnete seine Gesichtszüge.
„Machen wir uns darüber keine Gedanken“, winkte Eduard ab. „Wir haben es hinter uns! Ich kann es immer noch nicht fassen.“
„Hinter uns“, flüsterte Cloud. Ständig sah er die beiden Leichen vor Augen, die ihm Wilson vor wenigen Minuten gezeigt hatte. Eduard wußte noch nichts davon. Cloud war sich nicht schlüssig darüber, ob er es ihm überhaupt sagen solle. Was würde es auch ändern?
„Was ist mit dir?“ fragte Eduard, als Cloud nichts dazu sagte. Schwer ließ er seine Hand auf Clouds Schulter sinken. „Es ist vorbei“, versuchte Eduard ihm zuzureden. „Es ist tot. Dieses gottverdammte Biest ist tot.“
Cloud strich sich nervös durch das Haar. Auf einmal verlangsamte David die Geschwindigkeit. Verwundert drehte Eduard sich nach vorn.
„Warum fährst du langsamer?“ David gab ihm keine Antwort darauf. Statt dessen brachte er den Wagen vollends zum Stehen. Sie befanden sich auf einer Anhöhe, die gleichzeitig das Ende des Waldes bildete. Cloud hatte es schon bemerkt. Immer wieder sah er ihn durch den lichter werdenden Wald schimmern. Augenblicklich öffnete er die Wagentür und stieg aus. Eduard tat dasselbe. Ebenso David. Mit aufgerissenen Augen starrten sie in den Himmel.
Purpurrot stand der Mond in seiner vollen Größe am Horizont. Purpurrot, wie die Farbe des Blutes.
„Gottes Gericht“, hauchte Eduard. „Rouven hat es gewußt. Von Anfang an hat er es gewußt.“
Hallo Cloud, mein Liebling, vernahm Cloud auf einmal die Stimme seiner geliebten Frau. Das Tor nach Jerajisa, es steht offen. Für euch ist es gedacht. Ich warte auf dich, Cloud. Ich warte, bis du wieder mein bist. In Jerajisa.
Cloud drehte sich erschrocken um. Aus dem Nichts sah er plötzlich eine Gestalt auf ihn zukommen. Als würde sie über dem Erdboden schweben. Fassungslos starrte er auf Meni, die ihm die rechte Hand entgegenstreckte. Auf ihrer Stirn sah er dieses Symbol. Es leuchtete in einem seltsamen Licht. Dasselbe Licht, in dem Rouven ihren Augen entschwunden war. Schwester Maria hatte dieses Symbol als Siegel Salomon bezeichnet. Damals hatte sie die Klasse vor diesem Zeichen gewarnt. Wußte sie wirklich, was es zu bedeuten hatte? Wußte sie es wirklich?
„Meni“, flüsterte Cloud. Eduard stand dicht neben ihm. Er mußte sich zwingen, seinen Blick von dem Ereignis abzuwenden und auf Cloud zu richten. Außer seinen Freund konnte er niemanden sehen.
„Meni“, wiederholte sich Cloud. Langsam streckte er seine Hand von sich, als wolle er sie jemanden reichen. „Was ist mit unseren Kindern, Meni? Wo sind sie?“
Eduard wußte nicht, was er davon zu halten hatte. Sehr vorsichtig faßte er seinen Freund am Arm. Cloud gab keine Reaktion von sich.
„Unsere Kinder, Meni“, sprach er weiter. „Geht es ihnen gut?“
„Dumpkin“, flüsterte Eduard leise. Cloud registrierte es nicht. Plötzlich erscholl ein markdurchdringender Schrei. Von allen Seiten hallte er wider. David zuckte zusammen. Mehrmals. Ruckartig drehte er sich Eduard zu.
„Mein Gott, was war das?“ stammelte er. Kaum war das Echo verklungen, erfolgte ein weiterer, noch lauterer Schrei. Um vieles näher als der vorige. Es ähnelte sehr dem Brüllen eines wilden Tieres.
„Meni!“ rief Cloud entsetzt aus. „Geh nicht weg, Meni. Geh nicht –“ Clouds Worte erstickten in dem Gebrüll. Eduard blickte um sich. Die genaue Richtung war nicht auszumachen. Von allen Seiten dröhnte es auf sie zu. Von allen Seiten, und schien unaufhaltsam näherzukommen.
„Wir müssen weg!“ David blickte seinen Bruder auffordernd an. Eduard legte seine Hand um Clouds Schulter. Als sie sich wieder dem Auto zuwandten, fiel ihr Blick in die Richtung des Mondes. Als würde er brennen. In einer blutroten Farbe brennen und dicht über der Erde schweben.
„Wir dürfen uns nicht ablenken lassen“, flüsterte Eduard. Cloud ließ sich widerstandslos in den Wagen setzen. Immer wieder hauchte er den Kosenamen seiner Frau über die Lippen. David setzte sich hinter das Steuer. In halsbrecherischer Geschwindigkeit lenkte er den Wagen die serpentinenartige Straße hinab. Mehrmals nahe daran, mit den Rädern den Grünstreifen zu erwischen. Keine halbe Minute war vergangen, kam etwas aus dem Gebüsch gesprungen. Etwas, das vor mehreren hundert Jahren unter dem Namen Bifezius gelebt hatte. Etwas, das durch den Wahnsinn getrieben zu einer Bestie geworden ist. Das mit aller Gewalt und List die Herrschaft über diese Erde übernehmen will.
„Ihr könnt mir nicht entkommen“, sprach eine Stimme kaum hörbar aus dem unmenschlichen Geschöpf hervor. Starr richtete es den Blick dem Mond entgegen. Die Tausende von Fasern, die den Körper und das Gesicht bildeten, schimmerten in derselben blutroten Farbe des Mondes.
„So wahr ich Bifezius bin, so wahr wird der Tag kommen, an dem das Licht der Finsternis weichen wird.“
*
Tiefschwarze Wolken zogen auf, die den Mond langsam hinter sich verbargen. Beinah zwei Stunden waren vergangen, in denen kein Wort gesprochen wurde. Schweigend hegten sie ihren Gedanken hinterher. Schweigend starrten sie vor sich hin, bis Eduard die Stille unterbrach.
„Rouven war ein Prophet“, sprach er mit vibrierender Stimme. „Er war ein Prophet.“
„Eine halbe Stunde noch, dann sind wir in Washington“, sagte David.
„Washington“, wiederholte Cloud leise.
„Ich habe so etwas noch nie gesehen“, murmelte David. „Der Mond, Eduard, blutrot. Ich kann mir das nicht erklären.“
„Es gibt keine Erklärung dafür“, erwiderte Eduard. „Es – gibt sie einfach nicht.“
Eduard starrte wieder zum Seitenfenster hinaus. Cloud versuchte seine Augen zu schließen, um ein wenig zu schlafen. Er hatte Angst. Wahnsinnige Angst davor, die Wahrheit zu erfahren. Eine weitere Viertelstunde verging. Eduard zeigte seinem Bruder den Weg. Den Weg zu Clouds kleinem Besitztum. Den Weg zu Clouds Familie. Den Weg zur Gewißheit. Gewißheit über den Zustand der Wirklichkeit.
Im Scheinwerferlicht tauchte die kleine Villa auf. Langsam steuerte David darauf zu. Cloud hatte das Gefühl, als würde ihm innerlich ein loderndes Feuer die Eingeweide zerfressen. Eduard mußte ihm beim Aussteigen behilflich sein. Kein Licht im Haus brannte, das ein Lebenszeichen von sich geben würde. Nicht den geringsten Anschein, daß hier überhaupt jemand eingezogen war.
„Du mußt jetzt stark sein“, versuchte Eduard ihm zuzureden. Fest legte er seinen Arm um die Schulter seines Freundes. David öffnete das Tor. Geräuschlos ließ es sich aufdrücken. Schritt um Schritt näherten sie sich dem Eingang. Dumpf hallten ihre Schritte durch die Nacht. Cloud warf einen Blick auf seine Kleidung. Immer noch trug er die verbrannte Hose. Trotz des eiskalten Windes frohr es ihn nicht im geringsten. Zitternd suchte er nach seinen Schlüsseln. Zitternd steckte er den Schlüssel in den Zylinder. Warme Luft drang ihnen entgegen, als er die Tür öffnete. Cloud bekam wieder Hoffnung. Vorsichtig tastete er nach dem Lichtschalter. David drückte hinter sich die Eingangstür wieder zu. Totenstille herrschte ihm Haus. Das Licht durchflutete den Vorraum.
„Meni“, rief Cloud mit unterdrückter Stimme. Er löste sich von Eduard und eilte auf das Wohnzimmer zu. Keines der Fensterscheiben war zertrümmert, so wie er es im Traum erlebt hatte.
„Meni“, rief er nun um einiges lauter. Eduard war mit David in das Wohnzimmer gefolgt. David war es, der das Licht einschaltete. Nichts schien sich wesentlich verändert zu haben.
„Ich seh oben nach“, fieberte Cloud. Zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte er die Treppe hinauf. Alle Türen waren verschlossen. Auch Larsens Zimmertür, die normalerweise immer einen Spalt offen stand. Leise drückte Cloud die Klinke des Schlafzimmers hinunter. Ein Hauch von Parfüm drang ihm in die Nase.
„Meni“, flüsterte er. Langsam und leise trat er ein. Die Flurbeleuchtung warf einen Spalt in das Schlafgemach. Cloud genügte es, um zu erkennen, daß es leer war. Augenblicklich knipste er das Schlafzimmerlicht an. Die Betten waren unberührt. Hastig wandte Cloud sich um, stürmte auf das Zimmer seines Sohnes zu. Leer! Ebenso Janinas Zimmer. Mitten im Raum befand sich die kleine Wiege – leer!
Clouds Schritte wankten, als er die Stufen hinabschritt. Taumelnd begab er sich wieder in das Wohnzimmer. Eduard und David waren verschwunden. Die Terassentür stand offen. Eisige Luft wehte ihm um die bandagierten Beine.
„Ellinoy“, rief Cloud seinen Freund. Vor der Terrassentür blieb er stehen. Kein Laut war von draußen zu vernehmen. Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit.
„Ellinoy“, rief er ein weiteres Mal. Cloud setzte einen Fuß auf die Terrasse. Im selben Moment hörte er Schritte, die sich vom Garten aus auf ihn zubewegten.
„Ellinoy, bist du es?“
„Cloud“, rief ihm eine weibliche Stimme entgegen. Sekunden darauf tauchte eine Frauengestalt aus der Dunkelheit auf. Gekleidet in einen Mantel, um den Hals hatte sie sich zum Schutz vor der Kälte einen Schal geschlungen.
„Meni“, entfuhr es Cloud. Mit geöffneten Armen trat er seiner geliebten Frau entgegen. „Mein Gott Meni“, hauchte er ihr ins Ohr. Fest drückte er sie an sich.
„Ich habe Licht gesehen“, flüsterte sie. Tränen füllten dabei ihre Augen.
„Wo ist Larsen und – unser Baby?“ Cloud blickte seiner Frau in die Augen.
„Ich hatte solche Angst, Cloud“, erwiderte sie. „Unsere Nachbarn haben mir angeboten, bei ihnen zu übernachten, solange du nicht da bist.“
„Unsere Nachbarn?“ erstaunte Cloud. Meni ließ ihren Blick an ihm hinabgleiten. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, als sie seine bandagierten Beine sah.
„Was ist mit dir geschehen?“ fragte sie entsetzt.
Cloud wandte seinen Kopf von einer Seite auf die andere. „Ellinoy und sein Bruder müssen irgendwo hier sein“, sagte er etwas beunruhigt. Meni blickte über Clouds Schulter hinweg in das Wohnzimmer. Eduard kam gerade in den Raum geschritten. Gleichzeitig vernahmen sie neben sich ein leises Rascheln. David trat in den Schein des Wohnzimmerlichtes.
*
Der darauffolgende Tag schien ein ganz gewöhnlicher Tag zu werden. Eduard hatte mit seinem Bruder die restliche Nacht im Gästezimmer verbracht. Meni konnte Cloud dazu überreden, die Kinder diese Nacht noch bei den Nachbarn zu lassen. Die gesamte Nacht über durchlöcherte sie Cloud mit Fragen, die er immer wieder geschickt abzuwenden wußte. In den frühen Morgenstunden erst schliefen sie Arm in Arm auf dem Sofa ein. Durch ein Klappern in der Küche erwachte Cloud Stunden später aus einem tiefen traumlosen Schlaf. Meni lag nicht mehr neben ihm. Lautlos war sie aufgestanden, um das Frühstück zuzubereiten. Mühevoll richtete Cloud sich vom Sofa auf. Beinah erschrocken nahm er wahr, daß zwischenzeitlich mehr als zwanzig Zentimeter Schnee gefallen waren.
„Guten Morgen mein Liebling“, vernahm er auf einmal die Stimme seiner Frau. Sie stand am Wohnzimmereingang. Immer noch trug sie den Schal um den Hals geschlungen. Cloud zwang sich zu einem Lächeln.
„Ellinoy und David, sind sie schon wach?“ Mit beiden Händen fuhr Cloud sich über das unrasierte Gesicht.
„Sie sitzen schon am Frühstückstisch“, erwiderte Meni mit sanfter Stimme.
„Wolltest du Larsen und Janina nicht holen?“ Cloud kam langsam auf Meni zugeschritten.
„Erst wenn sie weg sind.“ Mit großen, treuherzigen Augen sah sie Cloud von unten herauf an.
„Ich kann es schon gar nicht mehr erwarten, sie wiederzusehen“, versuchte Cloud seine Ungeduld zu rechtfertigen. Zärtlich gab er Meni einen Kuß auf die Lippen. „Ist dir kalt?“ fragte er sie darauf und nahm das Ende des Schales zwischen zwei Fingern.
„Ein wenig“, entgegnete sie leise. „Ich bin so glücklich darüber, daß du wieder da bist“. Abrupt wandte sie sich um.
„Hallo Dumpkin“, empfing ihn Eduard, als er die geräumige Eßküche betrat. Gegenüber seinem Freund nahm er Platz. David lächelte ihm kurz zu, worauf er sich sofort wieder seiner Tasse Kaffee widmete.
„Irgendwie habe ich heute ein verdammt gutes Gefühl“, sagte Eduard nach einer Weile. Ungewöhnlich leuchteten seine Augen dabei auf.
Cloud sah ihn verwundert an. Eduard zeigte mit dem Finger zum Fenster hinaus. Cloud folgte ihm interessiert mit den Blicken. Jetzt, wo er sie sah, hörte er sie auch. Mehrere Amseln scharten sich um das kleine Vogelhäuschen, das unweit des Küchenfensters an einem Baum angebracht war. Deutlich konnte er ihr friedliches Gezwitscher vernehmen. In Clouds Augen war auf einmal dasselbe zufriedene Leuchten zu sehen, wie in denen seines Freundes.
„Ich glaube, wir haben es doch geschafft“, murmelte er in sich hinein.
„Wir haben es geschafft, Dumpkin“, bestärkte Eduard seine Worte. „Wir haben es!“
Cloud wandte sich wieder Eduard zu. Über den Tisch hinweg streckte er seinem Freund die rechte Hand entgegen. Kräftig schlug Eduard darin ein.
„Die Zukunft gehört uns“, sagte Eduard darauf.
„Reden wir nie wieder über die Vergangenheit“, erwiderte Cloud gepreßt. „Niemals wieder!“ Gelassen erhob sich Cloud von seinem Platz. „Vielleicht sollte ich mir erst einmal etwas anderes anziehen“, sagte er grinsend und blickte demonstrativ auf seine bandagierten Beine.
„Der neue Moderenner“, erwiderte Eduard scherzhaft. „Angebrannt und bandagiert.“
Cloud gab Meni einen dicken Kuß auf die Wangen, bevor er sich mit eiligen Schritten entfernte.
„Eigentlich wäre das ja ein Grund zum Feiern“, bemerkte Eduard beiläufig.
„Deine Frau und deine Kinder“, entgegnete Meni darauf. „Bestimmt warten sie schon auf dich.“
Eduard nickte Meni zu. „Nach dem Frühstück sollten wir uns auf den Weg machen. Bei diesem Wetter –“
„Wie, du willst uns schon verlassen?“ vernahmen sie plötzlich Clouds Stimme. Als er beim Hinausgehen das Wort Feiern vernommen hatte, war er abrupt stehengeblieben. Verblüfft drehte Eduard sich nach seinem Freund um. „Wie wäre es, wenn du und deine Familie Weihnachten zu uns kommt?“
Cloud warf einen flüchtigen Blick auf seine Frau. Ein fast unmerkliches Nicken und das leichte Verziehen ihrer Mundwinkel reichte ihm schon, daß Meni einverstanden damit war.
„Ich freue mich schon darauf.“ Cloud wollte nicht, daß seine feuchten Augen gesehen werden konnten, daher drehte er sich einfach um und setzte sein Vorhaben fort.
David hatte die gesamte Zeit über nicht sehr viel gesprochen. Von den vergangenen Tagen wurde kein Wort mehr erwähnt. Auch nicht, als sich Eduard und David zwei Stunden später verabschiedeten. Lange stand Cloud noch an der Haustür und blickte ihnen hinterher, obwohl sie längst schon seinen Augen entschwunden waren. Liebevoll legte Meni ihre Arme um ihn, nachdem er die Haustür geschlossen hatte.
„Holst du die Kinder?“ fragte er sie leise. Meni gab ihm keine Antwort darauf. Langsam machte sie einen Schritt zurück, ohne jedoch Cloud loszulassen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Spielerisch zog sie ihn vor den Garderobenspiegel. Gedankenlos ließ Cloud es geschehen. Meni stand nun mit dem Rücken dem Spiegel gegenüber. Über ihre Schulter hinweg warf Cloud einen flüchtigen Blick in das reflektierende Glas. Wie ein brennendes Eisen, das ihm in den Leib gestoßen wurde, fuhr es ihm in den Magen. Von Meni war in dem Spiegel nichts zu sehen. Entsetzt stieß er sie von sich. Dabei riß er ihr den Schal vom Hals. Quer über ihren Kehlkopf konnte Cloud deutlich eine tiefe eingeschnittene Narbe erkennen. Plötzlich begann sich auf Menis Stirn dieses Zeichen zu bilden, das er vergangene Nacht schon einmal bei ihr gesehen hatte.
„Nein“, entfuhr es Cloud. Meni streckte ihm ihre Hand entgegen.
„Jerajisa“, flüsterte sie. „Komm mit mir, mein Liebling. Deine Kinder warten dort auf dich.“
„NEIN!“ brüllte Cloud aus vollem Hals. Blitzschnell wandte er sich ab und rannte in die Küche. Meni folgte ihm. Das Zeichen auf ihrer Stirn begann zu leuchten. Cloud machte sich an einer Schublade zu schaffen, als sie die Küche betrat.
„Jerajisa, Cloud“, vernahm er hinter sich ihre Stimme. „Du kannst das Paradies nur über Jerajisa erreichen.“
Schlagartig drehte Cloud sich um. In seiner Hand hielt er das Springmesser, das ihm schon so viele Dienste erwiesen hatte. Meni kam direkt auf ihn zugeschritten.
„MENI“, schrie er sie an. „DU BIST TOT MENI! ICH –.“ Mit beiden Händen packte er das Messer, holte aus – und stach zu. Blut spritzte aus seiner Kehle. Wankend stolperte er auf sie zu. Cloud hatte sich selbst die Klinge in den Hals gerammt. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf seine Frau, die ihm immer noch ihre Hand entgegenstreckte.