3. Kapitel
Die Nacht war längst hereingebrochen. Mehrmals hatte Rouven die Nachricht von seinem Vater gelesen. So oft, bis er sich jedes Wort genauestens eingeprägt hatte. Danach zerriß er den Brief in lauter kleine Stücke und spülte sie die Toilette hinunter.
Seit Jeremies Tod hatte er kein Wort gesprochen. Nicht einmal Schwester Maria gelang es, ihm näherzukommen.
Regungslos lag Rouven in seinem Bett. Die Augen geöffnet. Die Kirchturmuhr schlug elfmal hintereinander. Es war unheimlich ruhig im Lehrerhaus. Deutlich vernahm Rouven die ungleichmäßigen Atemzüge der Schwester, die sich hin und wieder von der einen Seite auf die andere wälzte.
Noch eine Viertelstunde verstrich. Vorsichtig stand Rouven auf. Seine Kleidung hatte er anbehalten. Lautlos ergriff er seine Schuhe. Bemerkenswert leise schlich Rouven aus dem Zimmer. Langsam tastete er sich den dunklen Gang entlang bis hin zur Treppe. Sie knarrte ein wenig, als er hinabstieg. Die Glocke schlug halb zwölf Uhr, als er den Hof betrat. Bedächtig blickte er um sich. Auch über sich, den Fenstern des Lehrerhauses entlang. Nichts Auffälliges war zu bemerken. Eilig lief er über den Hof, direkt auf den Eingang der Kirche zu. Er öffnete den Zugang der Kathedrale nur so weit, daß er gerade noch hindurchschlüpfen konnte. Fast ohne ein Geräusch zu verursachen schloß er die schwere Tür wieder. Der Bereich des Altares wurde vom Kerzenlicht erleuchtet. Schritt für Schritt näherte Rouven sich dem Altar, bestieg das Podest und wandte sich dem Gemälde zu. Rouven betrachtete das Bild, als würde er eine Antwort auf all seine Fragen darin finden. Die Minuten verstrichen, ohne daß Rouven sich regte. Plötzlich, ein lautes Geräusch riß ihn aus seinen Gedanken. Es rührte vom Eingang der Kirche her. Darauf ein leises Zischen, wie wenn jemand in sich hineinfluchen würde. Rouven zögerte nicht lange. Geistesgegenwärtig schlich er sich in den Aufgang des Glockenturmes, die Tür einen Spalt offenlassend, so daß er den erleuchteten Teil gut beobachten konnte.
Zwei Gestalten traten aus dem Dunkeln in den Schein des Kerzenlichts. Ellinoy und Dumpkin. Geradewegs begaben sie sich auf den Altar zu. Ellinoy hielt eine Taschenlampe in der Hand. Mit dieser leuchtete er unter den steinernen Tisch.
„Da sind Stufen“, rief er leise aus. Dumpkin kniete sich neben ihn. Kurz darauf verschwanden beide hintereinander in der Öffnung. Rouven wartete darauf einige Augenblicke, bevor er sein Versteck verließ. Leicht bewegte sich noch das große Tuch, von dem der Altar beinah vollkommen bedeckt wurde. Dumpfe Geräusche hallten darunter herauf. Kurz entschlossen griff Rouven nach einer Kerze. Stufe für Stufe stieg er die Öffnung hinab. Die Luft wurde kalt. Als er den Boden erreicht hatte, blickte er erst einmal um sich.
Die Öffnung war das Ende eines langen Ganges, der sich in das Endlose zu erstrecken schien. Der Boden bestand teils aus Lehm, teils aus massivem Fels. Die Wände eng beieinander sind zu einem Gewölbe gemauert worden.
Von weit entfernt hallten Geräusche an sein Ohr. Rouven wußte, er mußte sich beeilen, um als erster das Buch zu erlangen. Sollte es in falsche Finger geraten, er hätte es sich niemals verzeihen können. Zu sehr hatten sich die Worte seines Vaters in ihn eingeprägt.
So schnell er konnte bewegte Rouven sich den Gang entlang. Zwanzig Schritte hatte er gezählt, da wurde das Gewölbe breiter. Rouven blieb stehen. Angestrengt horchte er in das Dunkel vor ihm. Immer noch waren diese Geräusche zu vernehmen. Er zählte nochmals zwanzig Schritte, da befand sich rechter Hand ein zweiter Gang, der rechtwinklig auf diesen traf. Wieder blieb Rouven stehen. Die Luft wurde immer kälter. Auf einmal verspürte er einen starken Hauch im Gesicht. Schützend hob er seine Hand vor die Kerze, die wild aufzuflackern begann. Vorsichtig betrat er diesen Gang. Die Geräusche vor ihm kamen ebenfalls aus diesem Gewölbe. Plötzlich sah er ein bewegliches Licht wenige Meter vor sich. Ellinoys Taschenlampe, der etwas abzusuchen schien. Rouven ging einige Schritte zurück, so daß er nicht gesehen werden konnte. Krampfhaft überlegte er, was er nun unternehmen solle.
„Verdammt kalt“, hörte er Dumpkin flüstern.
„Möchte nur wissen, wo der Wind auf einmal herkommt“, erwiderte Ellinoy.
„Meinst du, wir sind hier richtig?“ fragte Dumpkin nach einer Weile.
„Denke schon“, antwortete Ellinoy nachdenklich. „In dem Brief stand, unter der sechsundsechzigsten Stufe. Meiner Meinung nach befinden wir uns direkt unter dem Turm. Irgendwo hier muß es also sein.“
„Vielleicht eingemauert“, erwiderte Dumpkin. Mit der Faust klopfte er gegen die Wand. Sie klang hohl.
Ellinoy horchte auf. „Hast du das gehört?“ fragte er erregt. Dumpkin klopfte nochmals, nur etwas stärker. Eindeutig konnten sie es vernehmen. Ein dumpfer hohler Ton. Derselbe Ton erklang auch weiter rechts sowie auch etwas weiter links. Fiebrig versuchte er durch ständiges Klopfen die Größe des vermeintlich verborgenen Raumes festzustellen. Er hatte die Ausmaße einer niedrigen Tür, wie er bald herausfand. In Dumpkins Augen schimmerte ein triumphierendes Leuchten.
Rouven hatte jedes Wort deutlich verstehen können. Durch den Luftzug, der ständig in den Gängen herrschte, war seine Kerze bis auf ein weniges niedergebrannt. Lange würde es nicht mehr dauern, dann wäre er vollkommen ohne Licht.
„Paß auf“, vernahm er Ellinoys Stimme. „Ich stemme mich gegen die Wand, vielleicht gibt sie nach.“
Unweigerlich mußte Rouven daran denken, daß ihn sein Vater vor den Tücken des unterirdischen Ganges ausdrücklich gewarnt hatte. Obwohl auch sie den Brief gelesen hatten, bei ihnen hatte die Warnung fehlgeschlagen.
„Jetzt!“ zischte Ellinoy. Mit aller Kraft drückte er seinen rechten Fuß gegen die Mauer. Jedoch ohne Erfolg.
„Verflucht!“ zürnte er. Wütend wollte er gegen die Mauer schlagen. Ein eisiger Luftzug hielt ihn davon ab. Gleichzeitig vernahmen sie ein leises Geräusch. Ellinoy lief es eiskalt über den Rücken. Nur zu gut kannte er dieses Geräusch. Langsam kam es näher, Schritt für Schritt, ein Bein hinterherschleifend. Plötzlich verstummte es. Dumpkin und Ellinoy blickten sich gegenseitig an. Der Schein der Taschenlampe war auf den Boden gerichtet.
„Cloud Wallis, Eduard Lony“, hörten sie ihre Namen flüstern.
„Los, weg hier!“ stieß Dumpkin aus. Ellinoy richtete die Lampe in die Richtung der Stimme. Wie ein Messerstich fuhr ihm der Schreck in den Magen. Dumpkin konnte nicht mehr sehen, was sein Freund zu Gesicht bekam. Er rannte was er konnte in die entgegengesetzte Richtung. Direkt auf Rouven zu. Ellinoy mußte sich zwingen, ebenfalls die Flucht zu ergreifen. Ihm war, als wolle dieser Fremde nach ihm greifen.
„Eduard Lony“, vernahm er deutlich seinen Namen. Ellinoy fuhr herum. Dumpkin war nicht mehr zu sehen, nur noch seine Schritte hallten durch den Gang. Ellinoy ergriff die Flucht.
Rouven vernahm deutlich das Flüstern des Fremden. Ihm war, als hätte er diese Stimme schon einmal gehört. Auch das seltsame Schlürfen des einen Beines kam ihm bekannt vor. Vorsichtig blickte er in dessen Richtung. Erschrocken fuhr Rouven zurück. Dumpkin war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Geistesgegenwärtig löschte er die Flamme. Im letzten Augenblick gelang es ihm, auf die andere Seite zu springen. Dumpkin schoß an ihm vorbei. Erleichtert atmete Rouven auf. Kurz darauf sah er ein wild umherspringendes Licht auf sich zukommen. Ellinoy, der sich mit der Taschenlampe den Weg ableuchtete. Rouven machte mehrere Schritte zurück. Auch Ellinoy sprang an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken. Zum zweiten Mal atmete Rouven auf. Die fliehenden Schritte verhallten. Undurchdringbare Finsternis herrschte in dem geheimen Gewölbe. Nur noch der Fremde und Rouven befanden sich in dem unterirdischen Gang. Rouven horchte. Nicht das geringste Geräusch war zu vernehmen. Es fiel ihm schwer, sich in dieser Dunkelheit zurechtzufinden. Ein beklemmendes Gefühl überkam ihm. Ein Gefühl, als befände sich etwas in seiner Nähe, das er genau kannte, das sich ihm aber nicht preisgeben wollte. Langsam, sehr langsam näherte er sich dem Gang, in dem der Fremde sich befinden mußte. Wenige Schritte war er nur noch davon entfernt. Plötzlich wieder dieser kalte Wind. Rouven ging unvermindert weiter. Schritte entfernten sich. Schlurfende Schritte. Rouven drückte sich fest mit dem Bauch gegen die Mauer. Zentimeter für Zentimeter tastete er sich an dem kalten Gestein entlang, bis er das Ende erreicht hatte. Der Luftzug wurde bedeutend stärker. Von dem schlurfenden Geräusch war nichts mehr zu hören. Er hatte den Gang vor sich. Nicht weit weg von der Stelle, an der Dumpkin gegen die Mauer geschlagen hatte, loderte ein Feuer. Eine Fackel. In Mannshöhe steckte sie mittels einer Vorrichtung in der Wand. Der Schein des Feuers konnte nur einen kleinen Teil des Gemäuers erleuchten. Zaghaft näherte Rouven sich der Fackel. Der Luftzug wurde weniger, das wilde Züngeln der Flamme verminderte sich von Sekunde zu Sekunde. Ständig wanderten seine Blicke von der einen Seite zur anderen. Er hatte die Fackel noch nicht ganz erreicht, da fiel ihm etwas Weißes ins Auge. Genau in dem Bereich, den Dumpkin abgetastet hatte. Unmittelbar davor blieb Rouven stehen. Bestürzt fuhr er zurück. BLANDOW las Rouven seinen eigenen Namen in großen Buchstaben mit Kreide geschrieben.
„Vater“, entfuhr es Rouven. Unverzüglich versuchte er das Dunkel des Ganges zu durchdringen. Das Dunkel, in dem der Fremde verschwunden war.
„Vater“, wiederholte Rouven leise. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Langsam wandte er sich wieder um. Rouven traute seinen Augen nicht. Die Schrift, sie war verschwunden. Verstört blickte er um sich. Er war sich auf einmal nicht mehr sicher, seinen Namen wirklich gelesen zu haben.
„Vater“, flüsterte er ein drittes Mal. Zögernd griff Rouven nach der Fackel. Als er sie aus der Vorrichtung nahm, flammte das Feuer für einen Moment etwas stärker auf. Das Gewölbe wurde für Augenblicke mehr erhellt wie bisher. Rouven war es, als stände nicht weit weg von ihm eine Person. Nicht deutlich, dennoch erkennbar. Sein Atem stockte. Zitternd nahm er die Fackel zu sich. Stück für Stück begann er sich zu entfernen. Rückwärts, bis er den Gang vor sich hatte, der zu dem Aufstieg in die Kirche führte. Erst dort drehte Rouven sich um. So schnell er konnte, lief er den Gang entlang. Unterhalb des Aufstieges versuchte er, die Fackel zu löschen. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm, das Feuer durch schnelles Hin- und Herwedeln zum Ersticken zu bringen. Nachdem er die erloschene Fackel gegen das Gemäuer gelehnt hatte, stieg Rouven vorsichtig die Stufen hinauf. Unheimlich war es ihm, als er unter dem Altar hervorschlüpfte. Sein erster Blick galt dem Gemälde über dem Eingang des Glockenturmes.
„Ich wußte, daß du hier sein wirst“, sagte auf einmal eine Stimme hinter ihm. Eine Hand legte sich leicht auf seine Schulter. Rouven war nicht fähig, sich zu bewegen.
„Hab keine Angst, Rouven. Ich bin es, Pater Richmon.“ Der Pater trat vor Rouven. Ein sanftes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Gelassen kniete er sich vor ihm nieder.
„Du suchst eine Antwort“, sprach Richmon weiter. „Eine Antwort auf Jeremies Tod.“
Rouven senkte seine Augenlider. Beinahe unmerkliches Nicken bestätigte Richmons Vermutung.
„Es war ein Unfall, Rouven. Ein tragischer Unfall. Nun ist seine Seele befreit. Befreit von all den Qualen dieses Lebens.“
„Jeremie“, hauchte Rouven. „Jeremie war mein Freund.“
„Ich weiß, Rouven“, erwiderte der Pater. „Du hast ihn sehr gemocht. Wir alle haben ihn gemocht. Auch dich haben wir lieb, Rouven. Niemand macht dir einen Vorwurf. Niemand, außer du dir selbst.“
Rouven blickte auf. Er sah über Richmons Schulter hinweg auf das Bild. Der Pater folgte seinen Blicken.
„Nein, Rouven“, wehrte Richmon energisch ab. „Gib nicht dem Buch die Schuld an Jeremies Unfall. Nichts hat es damit zu tun. Nichts!“ Der Pater stand auf. Er zeigte auf das Bild, auf den Jungen, der zu dem Engel emporschaute.
„Der Junge bist du, Rouven“, flüsterte er. „Glaube mir, Rouven. Es ist dein Schicksal, auserwählt zu sein. Auserwählt von zig Millionen Menschen. Du nur allein besitzt nämlich die Fähigkeit, dieses Buch richtig zu deuten. Neben dir bin ich nichtig, Rouven. Meine Aufgabe in diesem Leben ist vielleicht nur, dich bei der Suche dieses Buches zu unterstützen, dich auf den richtigen Weg zu weisen.“
Rouven senkte wieder seinen Kopf. „Du hast gesagt, ein Knabe wird kommen, der Rache nehmen wird an jenen, die den Mönch in den Tod getrieben haben.“ Seine Stimme vibrierte ein wenig. Langsam blickte er wieder auf. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Nur die vielen Sommersprossen waren es, die diese Veränderung zu verbergen vermochten.
Pater Richmon nickte. „Vergeltung“, erwiderte er. „Vergeltung an dem Unheil dieser Erde.“
Rouven wandte sich ab. Er wandte sich ab, um seinen Blick zu dem mächtigen Kreuz emporzurichten, das sich hinter dem Altar erstreckte. Stumm betrachtete er das Kruzifix. Geraume Zeit verging, in der Pater Richmon Rouven nicht aus den Augen ließ. Auch als Rouven sich ihm wieder zudrehte, musterte er ihn mit forschenden Blicken.
„Du sagtest, dein Vater hat dir von diesem Turm erzählt“, unterbrach Richmon die Stille. „Möchtest du mir nicht mehr von deinem Vater erzählen?“
„Vater?“ wiederholte Rouven und dachte an die Person, die ihm in dem unterirdischen Gang begegnet ist. Sein Name an der Wand, der plötzlich verschwunden war. Rouven versuchte den Gedanken zu verdrängen. Es widerstrebte ihm, die fremde Person mit seinem Vater in Verbindung zu bringen.
„Der Brief, den du von deinem Vater erhalten hast, hast du ihn gelesen?“
Rouven nickte. So wie ihn der Pater mit forschenden Blicken beobachtet hatte, begann nun er den Pater genauer zu betrachten.
„Ich bin dein Freund, Rouven“, sagte darauf Richmon, als er die Blicke Rouvens bemerkte. „Du kannst mir vertrauen.“
„Das Buch“, erwiderte Rouven. „Mein Vater schrieb mir von dem Buch.“
Pater Richmon kniete sich nieder. Direkt vor Rouven. Ein ungewöhnlicher Glanz leuchtete in seinen Augen.
„Hast du den Brief bei dir?“ fragte er leise, kaum hörbar.
Rouven schüttelte den Kopf. Für einen Moment mußte er an Dumpkin und Ellinoy denken. Auch sie besaßen diesen Brief. Den zweiten Brief, der an Rouven adressiert war. Gegen sie war er machtlos. Dies allein bewegte Rouven dazu, nur dies allein, sich für Pater Richmons Freundschaft zu entschließen.
„Ich habe ihn zerrissen“, antwortete er dem Pater.
Richmon lächelte. „Du weißt, wo sich das Buch befindet“, versuchte er zu erraten.
Rouven zögerte, bevor er langsam mit dem Kopf nickte.
„Du bist hier, um es zu holen“, sprach der Pater weiter.
Rouven nickte nochmals.
„Möchtest du, daß ich dich dabei begleite?“ Richmon legte eine Hand auf Rouvens Schulter. Rouven zuckte zusammen. Wieder mußte er an die fremde Person denken. Wieder kam ihm der Gedanke, die Verbindung mit seinem Vater. Im stillen nahm sich Rouven vor, tagsüber eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Eine Gelegenheit, in der er allein in den dunklen Gang steigen würde, um das Buch zu finden. Der Pater hatte mit einer ganz anderen Antwort gerechnet. Nicht damit, daß Rouven seinen Kopf schütteln würde. Dennoch verzog sich sein Mund zu einem Lächeln.
„Ich verstehe schon, Rouven“, sagte er und erhob sich wieder. „Ich will dir deswegen nicht böse sein. Ich bin dein Freund, Rouven. Als Freund verstehe ich dich, als Freund.“
Der Pater machte mehrere Schritte zurück. Unterhalb des Bildes blieb er stehen.
„Sehen wir uns wieder – morgen?“
Rouven nickte. Darauf drehte sich der Pater um seine Achse und verschwand im Dunkeln des Glockenturmes.
*
„Gottverdammte Scheiße! Nein! – Nein! – Nein!“ fluchte Ellinoy. Er versuchte sich das Gesicht, das er gesehen hatte, von der Seele zu fluchen. „Dieses gottverdammte Gesicht“, sagte er immer wieder. „Verdammt, ich kann dieses gottverdammte Gesicht nicht vergessen.“ Wütend stampfte er auf den Boden, als sie sich, nachdem sie die Kirche verlassen hatten, hinter einem Gebüsch nahe des Schülerhauses in Sicherheit wähnten.
„Verdammt noch mal“, zischte er. „Ich hab ihn gesehen. Dieses Gesicht, dieses scheißverfluchte Gesicht!“
Dumpkin verstand nicht, was sein Freund mit diesem Gesicht meinte. Er wußte nur, was Showy gemeint hatte, als er von einer Stimme erzählte, die seinen Namen gerufen hatte.
„Was für ein Gesicht?“ fragte er ihn daher.
Ellinoy sah Dumpkin mit verzerrter Miene an. „Wäre ich nur auch gleich weggerannt“, machte er sich selbst einen Vorwurf. „Aber nein, ich mußte ja noch nachsehen, wer da unsere Namen gerufen hat. Verdammte Scheiße! Soll ich dir sagen, wer da unten unsere Namen gerufen hat? Soll ich es dir wirklich sagen?“
Dumpkin zuckte verständnislos mit der Achsel. In solch einer Verfassung hatte er seinen Freund noch nie erlebt.
„Es war schrecklich, sage ich dir. Schrecklicher als alles andere, das du dir vorstellen kannst.“ Ellinoy schnappte nach Luft. „Das Ding, es hatte keine Augen, trotzdem hat es mich angesehen. Es wollte nach mir greifen. Verdammt noch mal, es wollte nach mir greifen, aber es hatte auch keine Hand. Nicht so eine wie wir sie haben. Etwas ganz anderes. – Gottverdammte Scheiße, das Gesicht, ich kann es nicht vergessen.“ Ellinoy wandte sich von Dumpkin ab. Seinen Kopf in den Armen verborgen, stützte er sich gegen einen Baum.
Dumpkin wußte augenblicklich nicht, wie er sich seinem Freund gegenüber verhalten sollte. Der Schreck über das eben Erlebte ließ auch ihm seine Glieder erzittern.
„Ich will es haben“, sagte er leise. „Das Buch, ich will es besitzen!“ Schon allein der Gedanke an das Buch begann ihn zu beunruhigen. Dumpkin zog den Brief heraus, den er in seiner Hosentasche mit sich trug. Der Schein des Mondes war hell genug, um die Buchstaben noch erkennen zu lassen.
Eifrig las er den Brief. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Zeile für Zeile. Jedesmal stolperte er über den Satz: Das Buch befindet sich genau unter der sechsundsechzigsten Stufe des Turmes.
„Genau unter der sechsundsechzigsten Stufe“, flüsterte er zu sich. In Gedanken versuchte er den unterirdischen Weg zu verfolgen. Ellinoy war der Meinung gewesen, daß sie sich unterhalb des Turmes befunden haben. Dumpkin überlegte. Meter für Meter malte er sich das Gewölbe aus, bis er zu der Überzeugung gelangte, daß Ellinoy unrecht hatte.
„Wir waren falsch“, rief er mit unterdrückter Stimme aus. Ellinoy wandte sich um.
„Hier lies“, forderte er Ellinoy auf und zeigte auf den Satz, über den er beim Lesen ständig stolperte.
„Das Buch befindet sich genau unter der sechsundsechzigsten Stufe“, las er.
„Genau unter der sechsundsechzigsten Stufe“, wiederholte Dumpkin. „Verstehst du, es ist gar nicht in dem geheimen Gang, sondern oben auf dem Turm.“
Ellinoy nahm den Brief zu sich. Nun las auch er das Schreiben. Wort für Wort. Als er ihn zu Ende gelesen hatte, gab er Dumpkin den Brief zurück.
„Du könntest recht haben“, stimmte er zu.
Plötzlich vernahmen sie Schritte, entfernte Schritte. Ellinoy zuckte zusammen. Wieder sah er dieses Gesicht vor sich. Dumpkin schob vorsichtig ein paar Äste zur Seite.
„Pater Richmon“, zischte er. Ellinoy trat erleichtert neben ihn. Soeben verschwand der Pater auf der anderen Seite der Kirche.
„Mist!“ entfuhr es Dumpkin. „Was macht der noch hier?“
„Ich traue ihm nicht über den Weg. Keinen Zentimeter“, raunte Ellinoy seinem Freund ins Ohr.
„Ich auch nicht“, erwiderte Dumpkin und zog sein Messer aus der Tasche. Ein leichter Druck, und die Klinge schnellte aus dem Schaft. „Sicher ist sicher“, meinte er. Langsam ließ er die Äste wieder zurück. „Warten wir“, bestimmte er darauf. „Ich will es noch heute nacht!“
Ellinoy nickte. „Wir! – Nicht Rotschopf!“
„Ist dir auch schon aufgefallen“, entgegnete Dumpkin, „daß, seitdem Rotschopf hier ist, sich alles verändert hat?“ Nervös spielte Dumpkin mit seinem Messer, indem er die Klinge flach über seinen Handrücken strich.
„Mit ihm kam er.“ Ellinoy warf einen Blick in die Richtung der Kirche.
„Rotschopf hat diesen Jeremie auf dem Gewissen. Rotschopf war dabei, als er von dem Turm – verdammt!“ Dumpkin schluckte. Mehrmals. „Der Turm, Rotschopf war auf dem Turm“, stammelte er. „Was hatte er dort zu suchen?“ Seine Lippen bebten. Ellinoy sah Dumpkin mit entgeisterten Blicken an. Blut tropfte auf die Erde. Dumpkin bemerkte nicht, wie er sich selbst den Handrücken aufgeschlitzt hatte. Ellinoy blickte unentwegt auf seine Hand. Dumpkin folgte seinen Blicken. Erst jetzt verspürte er den Schmerz, der rasend zu pochen begann. Ihm stockte der Atem. Mit jedem Pochen wurde der Schmerz stärker. Das Blut quoll förmlich aus der Wunde. Dumpkin hob langsam seine Hand. Das Messer glitt ihm zu Boden. Ellinoy zog sein Taschentuch hervor. Nur einmal hatte er es benützt. Sachte legte er es auf die blutende Wunde.
„Das fehlte uns noch“, stöhnte Ellinoy. Dumpkin war nicht imstande, ein Wort über die Lippen zu bringen. Fassungslos stierte er auf das Blut, das die Erde befeuchtete.
„Dein Taschentuch“, raunte Ellinoy. „Hast du eines dabei?“
Dumpkin nickte. Mühevoll zog er es aus der Hosentasche. Mit diesem machte Ellinoy einen Verband. Langsam kam das Blut zum Stocken.
Schritte hallten wieder durch die Nacht. Dumpkin horchte auf. Für einen Moment vergaß er den stechenden Schmerz. Ellinoy schob die Äste auf die Seite. Pater Richmon hatte durch den Nebeneingang die Kirche verlassen. Gemächlich schlenderte er über den Hof in Richtung des Lehrerhauses.
„Richmon ist weg“, leitete Ellinoy seine Beobachtung weiter. Dumpkin war eben im Begriff, sein Springmesser aufzuheben.
„Ich bin wieder o.k.“, entgegnete Dumpkin. Der Schmerz machte ihm sehr zu schaffen, doch er versuchte so ruhig zu klingen, wie es nur ging. Das Verlangen nach dem Buch war es, das ihn hartnäckig weitertrieb.
„Gehen wir“, sagte er verbissen. „Ich muß mich davon überzeugen, ob sich das Buch unter der sechsundsechzigsten Stufe befindet.“ Dumpkin schwankte ein wenig, als er hinter dem Gebüsch vortrat. Nach ein paar Metern hatte er sich jedoch wieder gefangen. Ellinoy blieb nichts anderes übrig, als seinem Freund zu folgen. Andauernd blickte er um sich. Jeder kleine Schatten, der durch den hellen Schein des Mondes verursacht wurde, versetzte ihm einen Stich in die Magengegend. Hinter jedem Strauch oder Baum sah er die Gestalt, das Gesicht, vor sich treten.
Dumpkin hielt direkt auf den Holzverschlag zu, durch den sie die Kirche schon einmal betreten hatten. Vorsichtig, sehr vorsichtig öffnete er die Tür. Nur einen Spalt, so daß sie in den kleinen Raum eindringen konnten. Ellinoy drückte die Tür sorgfältig hinter sich wieder zu. Regungslos blieben sie stehen. Ellinoy war es, als höre er sein Herz pochen. Die Tür zum Altar war nur angelehnt. Dumpkin drückte sie langsam auf. Das flackernde Licht der Kerzen erhellte ihn.
„Niemand zu sehen“, flüsterte er. Ellinoy knipste seine Taschenlampe an. Jeden Winkel suchte er ab. Das Gesicht verfolgte ihn. Überall schien es zu sein, ihn zu rufen, nach ihm greifen.
„Hast du was gesagt?“ fragte Dumpkin, der die Tür wieder zuzog.
„Nein – nein“, erwiderte er verstört. Zögernd setzte er einen Fuß auf die erste Stufe.
„Wir müssen sie zählen“, sagte Dumpkin. „Unter der sechsundsechzigsten Stufe –“
„Die letzte ist die sechsundsechzigste“, unterbrach ihn Ellinoy. „Als wir das erste Mal hinauf sind, habe ich die Stufen gezählt. Es sind genau sechsundsechzig.“
Dumpkin sah ihn nur an, grinste und wandte sich der Treppe zu. Anfangs nahm er zwei Stufen auf einmal, doch bald schon war der Schmerz in seiner Hand nicht mehr auszuhalten. Der notdürftige Verband war fast vollkommen blutdurchtränkt. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht lauthals vor Schmerz loszuschreien.
Ellinoy leuchtete das Treppenhaus ab. Immer wieder hatte er das beklemmende Gefühl, verfolgt zu werden. Verfolgt von etwas, das ihn jeden Augenblick packen und in einen tiefen Abgrund werfen wollte. Grausame Gedanken spiegelten sich in seinem Inneren wider. Gedanken, die den Tod in all seinen erschreckenden Formen wiedergab. Das Gesicht gehörte in allererster Front dazu.
Die Abstände, in denen er sich umblickte, wurden von Stufe zu Stufe kürzer. Blickte er sich um, durchleuchtete seine Lampe nur gähnende Leere.
Endlich hatten sie die letzte Stufe erreicht. Erschöpft ließ sich Dumpkin darauf nieder.
„Nun das Buch“, keuchte er. Den Schmerz versuchte er zu ignorieren, doch das pulsierende Pochen ging ins Unermeßliche. Krampfhaft versuchte er sein Taschenmesser aus seiner Hosentasche herauszunehmen. Ellinoy musterte ihn mit besorgniserregenden Blicken.
„Deine Wunde“, sagte er bedenklich. „Sie ist zu tief.“
„Erst das Buch“, erwiderte Dumpkin. „Wir müssen nachsehen, ob sich die Stufe irgendwie öffnen läßt.“ Dumpkin kniete sich auf den vorletzten Tritt. Mit dem Ellenbogen der verletzten Hand stützte er sich ab. Ellinoy kauerte sich neben ihn. Mit der Taschenlampe beleuchtete er Zentimeter für Zentimeter das Holz. Dumpkin strich mit dem Finger darauf entlang. Plötzlich hielt er an der äußeren Kante des Trittes inne.
„Hier ist etwas“, rief er leise aus. Mit leichtem Druck fuhr er über die Stelle.
Ellinoy tat ihm nach. „Etwas uneben“, bemerkte er.
Dumpkin begann, mit dem Messer darauf zu kratzen. Zuerst geschah nichts. Doch auf einmal, als er etwas stärker scharrte, fing das Holz an, sich zu verändern. Eine Struktur schimmerte darunter hervor.
„Ich glaub’, wir sind richtig“, triumphierte Dumpkin. Die Struktur wurde deutlicher, je mehr er von der Oberfläche des Holzes abscharrte. Als Dumpkin der Meinung war, die Struktur vollkommen befreit zu haben, legte er sein Messer auf die Seite. Sachte fuhr er mit seinem Finger darauf entlang. Ein Balken senkrecht, auf dem genau mittig ein Balken waagerecht gesetzt war. Auf diesem waagerechten Balken befand sich ein Kreis, der wiederum genau die Mitte berührte.
„Vermutlich eingebrannt“, meinte Dumpkin.
„So alt, wie das aussieht, war das bestimmt der Mönch“, erwiderte Ellinoy.
„Bestimmt hat es etwas mit dem Buch zu tun.“ Dumpkin griff unter das Holz, das fingerbreit vorsprang. Zaghaft begann er daran zu ziehen. Ellinoy rutschte an Dumpkin vorbei, so daß er unter den Tritt blicken konnte.
„Zieh mal etwas stärker“, forderte er seinen Freund auf. Er nahm das Messer und fuhr mit der Spitze in den Spalt, der durch das Ziehen entstanden war. Vorsichtig trieb Ellinoy die Klinge tiefer in den Zwischenraum.
„Noch stärker!“
Dumpkin stand auf, um sein gesamtes Gewicht einzusetzen. Das laute Knarren des Holzes hielt ihn nicht davon ab. Spürbar merkte er, wie sich der Tritt von seinem Unterbau löste. Ellinoy kam ihm zu Hilfe, indem er von unten dagegendrückte. Der Spalt wurde größer. Mit einem Male barst das Holz auseinander. Durch die Wucht verlor Dumpkin das Gleichgewicht. Unsanft fiel er zu Boden. Schmerz zuckte durch seinen Arm. Gerade noch konnte er einen Schrei unterdrücken. Der provisorische Verband war verrutscht. Sofort floß wieder Blut aus der Wunde. Ellinoy sprang zu ihm.
„Scheiße!“ fluchte er nur. Sachte schob er die Bandage wieder über die Verletzung. Dumpkin zitterte.
„Sehen wir nach“, brachte er nur mühevoll hervor. Ellinoy blickte ihn an.
„Der Verband ist zu wenig“, sagte er. Langsam knöpfte er sein Hemd auf und zog es aus. Mit dem Messer trennte er beide Ärmel ab, faltete den einen in der Länge zusammen, um ihn als Wickel verwenden zu können.
„Deine Finger“, flüsterte Ellinoy, „kannst du sie bewegen?“
„Ich glaube nicht“ schüttelte Dumpkin seinen Kopf. Etappenweise versuchte er, eine Faust zu ballen. Der Schmerz drückte ihm Tränen in die Augen. Nur ein wenig hatte er seine Finger bewegt, da gab er schon auf. „Geht nicht“, stöhnte Dumpkin.
„Hoffentlich hast du dir nicht die Sehnen durchtrennt“, erschrak Ellinoy. Mit dem Hemdsärmel bandagierte er die verletzte Hand so, daß Dumpkin die Finger nicht mehr bewegen konnte.
„Ist es besser so?“ fragte er ihn darauf.
Dumpkin versuchte zu grinsen. „Wirst mal Arzt, – was?“ gab er scherzhaft zurück.
Ellinoy streifte sich das ärmellose Hemd wieder über. Dumpkin wandte sich der Stufe zu. Der Oberteil des Trittes lag in zwei Hälften vor ihm. Beinah genußvoll legte er sie auf die Seite. Dumpkin konnte es kaum erwarten, in das Innere der sechsundsechzigsten Stufe zu sehen. Seine Hand, in der er die Taschenlampe hielt, zitterte. Zögernd knipste er sie an. Zwischenzeitlich hatte Ellinoy sich das Hemd wieder zugeknöpft. Auf allen vieren bewegte er sich vorwärts. Gleichzeitig blickten sie in die Öffnung. Gleichzeitig zuckten sie zusammen. Vor ihnen lag es, das Buch. Ungefähr dreißig Zentimeter lang und fünfundzwanzig Zentimeter breit, in einer bräunlichen Farbe. Dasselbe Zeichen, wie sie es auf dem Tritt vorgefunden hatten, war auf dem Deckel des Buches eingebrannt. Drei Worte standen darunter, die jedoch in einer anderen Sprache geschrieben waren.
„EGO VENIO ITERIUM“, las Ellinoy leise.
„Ich getraue mir gar nicht, es anzufassen“, hauchte Dumpkin. „Nehmen wir es gemeinsam da heraus“, forderte er seinen Freund auf.
„O.k.“, stimmte Ellinoy zu. Vorsichtig näherte er seine Hand dem Buch. Kurz davor hielt er inne. „Sallivan!“ zischte er. „Von nun an sind deine Stunden gezählt!“ Zorn blitzte in Ellinoys Augen, als er das Buch berührte.
*
Rouven schreckte auf. Nachdem der Pater die Kirche verlassen hatte, war auch Rouven zurückgekehrt. Lautlos, wie er gegangen war, hatte er sich wieder in das Lehrerhaus geschlichen und sich in sein Bett gelegt. Halb drei Uhr war es, als er in einen unruhigen Schlaf verfiel. Eine Stunde später fuhr Rouven blitzartig nach oben.
„Jeremie“, hauchte er. Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen.
Sie haben es, sprach eine Stimme zu ihm. Aus dem Dunkeln näherte sich etwas auf ihn zu.
„Jeremie“, wiederholte Rouven. Eindeutig erkannte er die Stimme seines Freundes.
Plötzlich stand er vor ihm. Rouven sah ihn genau, den aufgeplatzten Schädel seines Freundes. Das blutverschmierte Gesicht. Das rechte Auge fehlte. Die Flüssigkeit hatte sich mit dem Blut vermischt. Aus den Armen ragten Knochensplitter. Sein Brustkorb war vollkommen eingedrückt.
Sie haben es, sagte die Stimme Jeremies nochmals.
„Du bist tot, Jeremie.“ Rouven starrte mit aufgerissenen Augen auf das vor ihm.
Sie haben das Buch. Dumpkin und Ellinoy. Das Buch, dein Buch. Du mußt es dir wiederholen.
„Du bist doch tot, Jeremie. Du bist vom Turm gestürzt.“
Ich bin hier, um dich zu warnen, kam es zurück. Du warst mein Freund. Du kannst nichts dafür, daß ich vom Turm gestürzt bin. Das Buch hat schuld daran. Es befand sich auf dem Turm. Das Buch war es, das mich vom Turm gestürzt hat.
Rouven bewegte unmerklich seinen Kopf von links nach rechts.
Es ist mir erlaubt, dir zu helfen. Nimm dich in acht vor ihnen. Sie werden versuchen, dich aus dem Weg zu räumen. Tu alles, um das Buch zu bekommen. Alles, mein Freund! Alles! Langsam bewegte sich Jeremies Gestalt zurück. Alles! hörte Rouven noch sagen, bevor sie gänzlich in der Dunkelheit verschwand.
Schwester Maria beugte sich über Rouven. Sanft strich sie über sein Haar.
„Jeremie!“ entfuhr es Rouven. Gleichzeitig öffnete er seine Augen. Verstört blickte er um sich.
„Jeremie“, wiederholte er und starrte in die Richtung, in die er seinen Freund verschwinden sah.
Schwester Maria versuchte zu lächeln. „Du hast lange geschlafen“, sagte sie. „Es ist schon zehn Uhr.“
Rouven erschrak. Schlagartig kehrte es zurück, das Erlebte der Nacht. Die Erscheinung Jeremies. War es nur ein Traum? Rouven konnte nur ahnen. Schnell drängte er den Gedanken beiseite.
„Ich möchte zu Pater Richmon“, erwiderte Rouven geradeheraus. Dabei sah er der Schwester direkt in die Augen.
Schwester Maria nickte. „Darüber wird er sich sehr freuen.“ Sie entfernte sich, um Rouven beim Aufstehen nicht zu hindern. Im selben Moment klopfte es an der Tür. Bevor Schwester Maria etwas sagen konnte, wurde sie von außen geöffnet. Sallivan betrat das Zimmer.
„Können Sie nähen?“ fragte er sie in barschem Tonfall. Schwester Maria blickte verärgert auf Sallivan. Schon setzte sie an, um ihn auf sein schroffes Verhalten hinzuweisen. Sallivan ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Dieser Cloud Wallis“, sprach er geringschätzig Dumpkins Name aus. „Er hat sich heute morgen schwer verletzt. Die Wunde muß schnellstens genäht werden.“
Sichtlich bestürzt über diese Nachricht blieb sie erschrocken stehen. Mehrmals bekreuzigte sich die Schwester mit der linken Hand, wobei ein leises Gebet ihre Lippen bewegte.
„Ich komme“, sagte sie, nachdem sie es beendet hatte. Sie griff nach einer schwarzen Tasche, die nicht weit von ihr stand. Sallivan rührte sich nicht von der Stelle. Ständig schweiften seine Blicke umher, als ob er etwas suchen würde. Für einen Moment verschwand Schwester Maria in dem kleinen Nebenraum, wo sich Rouven gerade zurechtmachte. Kurz darauf kam sie wieder. Wortlos verließ sie mit Sallivan das Zimmer.
Dumpkin lag, nicht weit weg von der Eingangstür, auf einer Bahre im unteren Stockwerk. Ellinoy stand neben ihm. Man sah es ihm an, daß er sich in seiner Haut nicht besonders wohl fühlte. Unruhig blickte er von einer Richtung in die andere. Zwischenzeitlich hatte er sich ein anderes Hemd angezogen. Auch die abgetrennten Ärmel um Dumpkins verletzte Hand hatten sie entfernt.
Schwester Maria eilte auf die Bare zu. Sallivan hielt sich dicht neben ihr. Sofort kniete sich die Schwester zu Dumpkin nieder. Dumpkins Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. Jedoch sah es eher aus wie ein schmerzverzerrtes Ächzen, als sie vorsichtig die notdürftige Bandage entfernen wollte. Das untere Taschentuch war schon leicht in die Wunde eingetrocknet. Dumpkin stöhnte auf.
„Nicht so zimperlich“, zischte Sallivan. Noch ehe Schwester Maria es verhindern konnte, packte Sallivan das Taschentuch. Mit einem Ruck riß er es von der Wunde. Augenblicklich begann es wieder zu bluten. Dumpkin schrie. Der Schmerz fuhr ihm bis zum Schulterblatt hinauf.
„Sind Sie wahnsinnig?“ herrschte die Schwester Sallivan an. Ellinoy schreckte zusammen, als er Sallivans triumphierende Blicke bemerkte. Achtlos hatte er das verblutete Taschentuch zur Seite geworfen.
Die Schwester untersuchte die Verletzung. „Wie ist das geschehen?“ fragte sie, von Dumpkin auf Ellinoy blickend.
Ellinoy wollte antworten. Das Öffnen der Eingangstür hinderte ihn daran. Mr. Goodman betrat den Flur. Seine Augenbrauen zogen sich etwas enger zusammen, als er Dumpkins Verletzung sah.
Schwester Maria ignorierte das Eintreten des Internatsleiters. Aus ihrer Tasche nahm sie ein Desinfektionsmittel, das sie vorsichtig in die klaffende Wunde tropfen ließ.
„Kannst du deine Finger bewegen?“ Besorgt blickte sie auf Dumpkin. Das Mittel begann zu brennen.
„Ein bißchen“, stöhnte Dumpkin. Leicht bewegten sich seine Finger. Schwester Maria atmete auf.
„Gott sei Dank“, sagte sie erleichtert. „Deine Sehnen sind nicht verletzt.“
Mr. Goodman trat näher an Schwester Maria heran. „Was ist passiert?“ wollte er wissen.
Sallivan räusperte sich. „Er behauptet, in einen spitzen Stein gefallen zu sein“, nahm er ihr das Wort aus dem Mund. „Ein bißchen undenkbar, wenn man berücksichtigt, daß er sich den Handrücken, und nicht die Handfläche verletzt hat.“
Wütend starrte Ellinoy auf Sallivan. Am liebsten hätte er ihn auf der Stelle angesprungen, um so lange seine Kehle zuzudrücken, bis er tot umfallen würde.
Mr. Goodman blickte auf Ellinoy. „Du warst dabei?“ fragte er gelassen.
Ellinoy nickte nur.
„Erzähle“, forderte Mr. Goodman ihn auf.
Ellinoy schluckte. „Dumpkin ist ausgerutscht“, sagte er. „An der Mauer wollte er sich abstützen, dabei hat er sich verletzt.“
Mr. Goodman senkte seinen Kopf. „Ich möchte die Stelle sehen, wo das passiert ist“, erwiderte er darauf. „Nicht jetzt, später. Wenn dein Freund dabei sein kann.“ Er warf Sallivan einen flüchtigen Blick zu. Gemächlich begab er sich zur Treppe, wandte sich aber nochmals um, bevor er sie hinaufstieg. Wenig später folgte Sallivan.
„Hältst du das aus, wenn ich die Wunde nähe?“ fragte Schwester Maria besorgt. Ellinoy kniete sich ebenfalls zu seinem Freund nieder.
„Muß das denn sein?“ zögerte Dumpkin.
Schwester Maria nickte. „Bis Dr. Kintel hier ist, vergeht zu viel Zeit. Bestimmt hast du schon einiges Blut verloren. Wie lange ist es denn her, seit das geschehen ist?“
Dumpkin blickte für einen Moment auf Ellinoy. Gleichzeitig zwinkerten sie sich unmerklich mit dem linken Auge zu. Das Zeichen, die Wahrheit zu verschweigen.
In diesem Moment kam Rouven die Treppe heruntergeschlichen. Lautlos, auf Zehenspitzen. Nur Schwester Maria bemerkte, daß Rouven das Lehrerhaus verließ. Ein kurzes Lächeln flog über ihren Mund.
Rouven tat, als würde er belanglos über den Internatshof schlendern. Die Blicke Showys waren ihm nicht entgangen, der unweit vom Lehrerhaus unter einem Baum hin und her schritt. Langsam näherte Rouven sich der Kathedrale. Showy folgte jedem seiner Schritte. In aller Ruhe spazierte er am Eingang der Kirche vorbei und bog um die Mauer herum Richtung Speisesaal. Ein paar Jungs aus einer anderen Klasse kamen ihm lachend entgegen. Als sie ihn bemerkten, verstummten sie schlagartig. Flüchtige, beinah verächtliche Blicke warfen sie ihm zu. Kaum waren sie an ihm vorüber, vernahm Rouven deutlich das Flüstern seines Namens.
Showy konnte ihn nun nicht mehr beobachten. Eilig schritt Rouven auf den Hintereingang der Kirche zu. Rouven überzeugte sich davon, daß ihn niemand sehen konnte. Die Tür war nicht verschlossen. Gerade als er sie betreten wollte, wurde der Eingang vom Schülerhaus geöffnet. Melanie trat ins Freie. Sein rotes Haar verriet ihr, daß er es war, der in der Kathedrale verschwand. Jedoch machte sie sich keine weiteren Gedanken darüber. Zwei Freundinnen waren ihr gefolgt, mit denen sie in ein Gespräch vertieft über den Hof bummelte.
Leise schlich Rouven sich zum Aufstieg des Turmes. Ständig mußte er an Jeremie denken. Vor einem Tag war sein Freund noch an seiner Seite gewesen. Spaß hatten sie zusammen gehabt. Nun war Jeremie tot. Sein einziger Freund, den er jemals gehabt hatte, tot. Rouven gab sich die Schuld, daß sein Freund von dem Turm stürzte.
„Jeremie“, hauchte er. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er mußte sich dazu überwinden, die Stufen zu betreten. Weinend stieg er mit gesenktem Kopf den Turm hinauf. Erst als Tageslicht ihm wieder ins Gesicht schien, blickte er auf. Erschrocken blieb Rouven stehen. Pater Richmon kniete auf dem Boden. Der Tritt der sechsundsechzigsten Stufe lag in zwei Teilen vor ihm. Schnell wischte sich Rouven die Tränen aus dem Gesicht.
„Hallo Rouven“, begrüßte ihn der Pater. Freundlich lächelte er Rouven entgegen und erhob sich aus seiner knienden Stellung. „Ich habe dich schon von weitem kommen sehen.“ Er streckte Rouven seine Hand entgegen, um ihm dadurch anzudeuten, daß er vollends heraufkommen sollte. Rouven folgte der stummen Aufforderung. Ein beklemmendes Gefühl überkam ihn, als er einen großen Schritt über die letzte Stufe machte. Der Pater zog ihn etwas zur Seite. Prüfend ließ er seine Blicke über Rouven schweifen. Plötzlich verschwand das Lächeln. Nahezu entsetzt starrte er Rouven an.
„Du hast es doch?“ fragte er erregt. Rouven sah ihn mit großen Augen an. Langsam schüttelte er seinen Kopf. Bestürzt machte Richmon einen Schritt zurück.
„Du – hast – es – nicht?“ stammelte Richmon entsetzt. Mehrmals atmete der Pater tief durch. Mit dem Finger zeigte er auf den Boden.
„Hier sind Blutspuren“, sagte er gefaßt. „Derjenige muß sich demnach verletzt haben.“
„Dumpkin, Ellinoy“, nannte Rouven automatisch die Namen seiner Widersacher. Kalt lief es ihm über den Rücken. War Jeremie doch kein Traum?
Richmons Gesicht verfinsterte sich. Zorn durchblitzte seine Augen. Schnaubend wandte er sich ab. Mit beiden Armen stützte er sich gegen die Brüstung, über die Jeremie gefallen war. Stück für Stück suchten seine Blicke den Schulhof ab. Keinen der Unzertrennbaren konnte er erblicken. Auch Showy nicht, da der Baum, unter dem er sich befand, die Sicht versperrte. Soeben verließ Sallivan das Lehrerhaus. Mit energischen Schritten steuerte er direkt auf Showy zu.
„Wir müssen es wieder bekommen“, stieß der Pater zwischen den Zähnen hervor. Abrupt wandte er sich wieder Rouven zu. „Wie haben sie davon erfahren?“ wollte er dann wissen. „Woher wußten sie den genauen Platz des Buches?“ Mit durchdringenden Blicken musterte er Rouven.
„Mein Vater“, antwortete Rouven etwas eingeschüchtert. „Er hat mir zwei Briefe geschrieben. Zweimal denselben.“
„Einen hast du von Mr. Goodman bekommen“, erwiderte Richmon. „Einen gab ich Schwester Maria“, sagte er mehr zu sich selbst. Der Pater hob einen Teil des Trittes, der vor ihnen lag. Es war der Teil mit dem seltsamen Zeichen.
„Weißt du, was das ist?“ fragte er Rouven und deutete mit dem Finger darauf. Rouven betrachtete das eingebrannte Symbol. Unwissend bewegte er seinen Kopf hin und her.
„Das ist ein Ankh“, klärte ihn der Pater auf. „In der Magie bedeutet es Unsterblichkeit. Es ist das Zeichen der Wiedergeburt.“ Wütend warf er den Tritt zu Boden. Ängstlich wich Rouven einen Schritt zurück. Richmon packte Rouven an den Schultern.
„Hab keine Angst, Rouven“, sagte der Pater in sanfterem Ton. „Ich mache dir keinen Vorwurf. Nun ist es einmal so. Das Buch bekommen wir schon wieder. Aber bis dahin –“, der Pater richtete seine Blicke gen Himmel. „Gnade Gott denen, die nicht verstehen, was das Buch für Mächte besitzt.“ Die letzten Worte hauchte er förmlich über die Lippen.
„Was weißt du von dem Buch?“ fragte Rouven leise. Pater Richmon sah ihn wieder an. Der Zorn in seinen Augen war erloschen.
„Ich weiß, daß nur wenige, vielleicht auch nur einer dieses Buch verstehen kann“, antwortete Richmon langsam. „Ich weiß, daß du einer, oder auch nur der einzige bist, der über diese Begabung verfügt.“ Richmon ließ Rouven wieder los. „Ohne Zweifel, Rouven. Du besitzt sie, diese Begabung.“
Rouven senkte seinen Kopf. Geraume Zeit verstrich, in der nur das Geschrei der Kinder vom Hof die Stille unterbrach.
„Unter dem Turm befindet sich ein unterirdischer Gang“, zitierte Rouven auf einmal den Brief seines Vaters. „Jedoch weiß ich nicht, wo sich der Einlaß für diesen Gang befindet. Vielleicht auch außerhalb des Internates. Die Mönche hatten ihre Klöster früher mit geheimen Gängen unterbaut. Einige werden im Laufe der Zeit schon eingestürzt sein. Sei daher vorsichtig, wenn du das Gewölbe betrittst. Das Buch befindet sich genau unter der sechundsechzigsten Stufe des Turmes. Es dürfte demnach nicht allzu schwer sein, es zu finden.“
Verwirrt blickte der Pater Rouven an. Rouven hielt seine Augen immer noch auf den Boden gerichtet.
„Sei aber wachsam! Vergiß nie, daß das Buch nur für deine Sinne bestimmt ist. Sollte je ein anderer Besitz davon erlangen, so wird sehr, sehr Schlimmes geschehen. Dieses Buch verbirgt Macht, finstere Macht. Die Schattenseite dieser Welt steht darin niedergeschrieben. Folge meinen Worten! Nur du kannst verhindern, daß diese Schatten das Licht Gottes verdrängen. Das Licht, das die Erde am Leben erhält.“ Rouven blickte wieder auf. Zwischenzeitlich hatte der Pater begriffen, daß es sich um den Brief seines Vaters handelte.
„Du hast ihn auswendig gelernt“, sagte Richmon voller Bewunderung.
„Das Buch hat schuld an Jeremies Tod“, erwiderte Rouven. „Das Buch hat Jeremie getötet. Das Buch!“ Rouvens Augen füllten sich wieder mit Tränen. „Ich habe nicht gewußt, daß es sich hier oben befindet. Ich hatte den Brief meines Vaters falsch verstanden. Er wollte nicht, daß ich den geheimen Gang betrete. Nicht ich, sondern sie, die Schlange.“ Mit dem Ärmel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Pater Richmon kniete sich vor ihm nieder.
„Nein, Rouven“, versuchte er abzuwehren. „Es war ein Unfall, ein tragischer Unfall.“
Energisch schüttelte Rouven seinen Kopf. „Ich hasse dieses Buch. Ich hasse es! Ich hasse es!“
*
Sallivan lief unruhig im Rektoratszimmer auf und ab. Mr. Goodman stand am Fenster. Schon eine ganze Zeit lang beobachtete er, wie Showy nervös von einem Bein auf das andere trat.
„Haben Sie schon etwas herausbekommen?“ stellte Mr. Goodman Sallivan eine Frage. Sallivan blieb stehen.
„Nein, noch nicht“, antwortete er grimmig. „Von diesen Bengeln wird man doch nur angelogen. Verprügeln sollte man sie. Für jede Lüge sollten sie eine Tracht Prügel erhalten.“
„Sehen Sie einmal zu diesem Fenster hinaus“, forderte Mr. Goodman Sallivan auf. Sallivan stellte sich neben ihn.
„Dort unter dem Baum“, Mr. Goodman zeigte in die Richtung von Showy „Sehen Sie ihn?“ Langsam wandte er sich Sallivan zu. Mr. Goodmann war kleiner wie Sallivan. Von unten herauf blickte er ihn an.
„Ich will endlich Fakten, Mr. Sallivan. Verstehen Sie mich? Fakten!“
Sallivan wußte nur zu gut, was der Internatsleiter damit meinte. Ein hämisches Grinsen überflog sein Gesicht.
„Nun kann auch ein Pater nicht mehr helfen“, zischte er. Jäh wandte er sich um und verließ das Zimmer.
Schwester Maria war gerade dabei, Dumpkins Wunde zu nähen. Ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen, schoß Sallivan an ihnen vorbei. Krachend schlug er die Eingangstür hinter sich zu. Showy zuckte zusammen, als er Sallivan direkt auf sich zukommen sah.
„Scheiße!“ fluchte er. Schon stand der Pfeifer bei ihm. Schweiß, kalter Schweiß drückte es ihm aus sämtlichen Poren.
„Nun, mein Freund“, sprach ihn Sallivan an. „Schade, daß heute kein Unterricht ist. Das habt ihr Jeremie zu verdanken. Tja, leider ist Jeremie gestern gestorben.“
Showy schluckte. Sallivan sagte dies in einem Tonfall, als würde es ihm überhaupt nichts ausmachen, daß einer seiner Schüler auf grausame Weise ums Leben gekommen war.
„Ich habe eine wichtige Aufgabe für dich, mein Freund“, sprach Sallivan weiter und trat noch näher an Showy ran. „Könntest du so nett sein und mir folgen?“
„Wo – hin?“ brachte Showy nur mühevoll hervor. Er konnte Sallivans Atem riechen, so dicht stand der Lehrer vor ihm.
„Das wirst du dann schon sehen“, grinste Sallivan. Er wandte sich einfach um. Showy blieb gar nichts anderes übrig, als zu folgen, wenn er nicht den Zorn des Pfeifers auf sich ziehen wollte.
Sallivan führte ihn zum Internatsgelände hinaus. Mit jedem Schritt wurde ihm mulmiger zumute. Erst ging es ein paar Meter auf der Zufahrtsstraße entlang. Dann bog Sallivan links in einen breiten Weg. Der Weg wurde durch zwei gewaltige Eisenflügel versperrt. Die Eisenflügel waren so dicht mit Efeu bewachsen, daß ein Hindurchsehen unmöglich gemacht wurde.
Quietschend ließ sich einer der Flügel aufdrücken. Eine lange Gerade lag vor ihnen.
Auch dieser Bereich des Internates galt als verbotene Zone. Showy wunderte sich, ihn betreten zu dürfen. Er erinnerte sich daran, daß Dumpkin einmal etwas von einem Ahnenfriedhof erwähnt hatte, zu dem dieser Weg angeblich führen sollte.
Links und rechts standen Bäume, wie sie Showy noch nie gesehen hatte. Soweit sein Auge reichte, standen sie in gleichmäßigen Abständen jeweils in einer Reihe. Sämtliche Stämme sind auf ungefähr zwei Meter abgesägt und die Stammenden gegen neues Austreiben mit brauner Farbe angestrichen worden. Mächtige Stämme, aus denen sich dicke Äste wirr über den Weg schlängelten. Als wollten sie jene, die diesen Pfad entlangschreiten, am Leibe packen, um sie am Weitergehen zu hindern.
Feiner heller Kies vermachte dieser Allee das Aussehen, als würde sich ein endloser bronzefarbener Teppich entlangstrecken. Sallivan drehte sich um, nachdem Showy durch das Tor getreten war.
„Das Tor“, sagte er mit finsteren Blicken. „Mach es zu!“
Showy gehorchte. Sallivan schritt ohne zu warten weiter. Der Kies gab eigenartige Geräusche von sich. Jeder Tritt war wie ein kurzes, jäh abgerissenes Knirschen.
Nur zögernd folgte Showy. Mißtrauisch beobachtete er die eigenartigen Bäumen, die in ihm den Eindruck erweckten, jeden unerwarteten Moment würden sie ihre dicken Äste um seinen Hals schlingen, um ihn qualvoll zu erwürgen. Dann noch die Angst vom Vortag, die tief in seinen Knochen steckte. Kein Auge hatte er in der Nacht zugetan. Als Dumpkin, der sein Bett gegenüber dem seinen hatte, das Zimmer verließ, machte er das Licht an und versteckte sich unter der Bettdecke. So hatte ihn Dumpkin Stunden später wieder angetroffen. Sehnsüchtig warteten sie dann zu zweit auf den folgenden Morgen. Nun war Dumpkin im Lehrerhaus, um sich verarzten zu lassen. Und er? – Showy kam es wie ein Alptraum vor. Ein Alptraum, in dem der Pfeifer eine erschreckende Rolle zu spielen schien.
In einem Augenblick, als Showy sich gerade umwandte, um hinter sich zu sehen, wäre er beinah auf Sallivan aufgelaufen. So sehr war er damit beschäftigt, seine Angst zu verdrängen. Nur das allzu gewohnte Räuspern, das Pfeifer ständig von sich gab, machte ihn darauf aufmerksam, daß dieser plötzlich stehen geblieben war. Fragend und ängstlich zugleich blickte er den Lehrer an. Der Weg war ja noch lange nicht zu Ende. Ungefähr erst die Hälfte hatten sie hinter sich gebracht.
„Weißt du, warum wir hier sind?“ fragte ihn Sallivan unvermittelt. Showy bemerkte es genau. Dieses verächtliche Leuchten in seinen Augen. Ein Wort brachte er nicht über die Lippen, daher schüttelte er seinen Kopf.
„Weil wir hier allein sind, mein Freund“, beantwortete er selbst seine Frage. „Wir sind hier so allein, daß uns niemand sehen und uns niemand hören kann.“
Showy begriff sofort, was Sallivan damit meinte. Entsetzt machte er einen Schritt zurück.
„Auch ein Pater kann dir nun nicht mehr helfen“, zischte Sallivan. „Nur wir zwei allein! Ist das nicht schön?“
Fassungslos starrte Showy auf den Pfeifer.
„Das – das – können Sie – Sie doch nicht – nicht –“, Showy blieb das Wort im Hals stecken. Sallivan schlug seine Ärmel hoch. Genüßlich sah er Showy dabei an.
„Und ob ich kann“, grinste er und machte einen Schritt auf Showy zu.
„Ich – ich sag’s dem Internatsleiter“, versuchte Showy seine Haut zu retten.
Ein schriller Pfiff gellte ihm entgegen. Showy zuckte zusammen.
„So, verpetzen willst du mich“, spöttelte Sallivan. Blitzschnell packte er Showy am rechten Ohr. Es bestand keine Chance, auszuweichen. Der Pfeifer drehte das Ohr so lange, bis Showy zu jammern begann.
„Wenn du im Petzen so gut bist“, keifte Sallivan, „dann verpetz mir mal einiges über deine Freunde.“ Mit einem schmerzlichen Ruck stieß er ihn von sich. Heulend griff Showy nach seinem schmerzenden Ohr.
„Na, wird’s bald?“ drängte Sallivan. „Ich will wissen, wie die Sache mit dem Schlitzauge passiert ist!“
Showy sah ihn mit verheulten Augen an. Sein Ohr begann vor Schmerz zu pochen. Er hatte das Gefühl, als wäre es ihm abgerissen worden.
„Du sollst mir antworten, Fettsack!“ schrie ihm der Pfeifer ins Gesicht.
Verzweifelt blickte Showy um sich. Es gab nur eine Möglichkeit. Fliehen! Ruckartig wandte er sich um. Doch bevor Showy einen Schritt zu seiner Flucht ansetzen konnte, hatten ihn Sallivan wieder gepackt. Das erste Mal in seinem kurzen Leben bereute er es, immer soviel in sich hineinzustopfen.
Mit der Rechten holte der Pfeifer aus. Nicht die flache Hand schlug er Showy ins Gesicht. Mit der Faust traf er ihn am Hinterkopf. Showy taumelte zu Boden. Schützend legte er seine Arme um den Kopf.
„Steh auf!“ herrschte ihn der Pfeifer an. Showy rührte sich nicht.
„Du sollst aufstehen!“ wiederholte sich Sallivan, dabei gab er ihm einen leichten Tritt gegen den Oberschenkel. Showy stöhnte. Langsam schleppte er sich wieder auf. Sein ganzer Kopf schmerzte. Heulend blickte er Sallivan an.
„Nun?“ forderte ihn der Pfeifer auf. Showy dachte an den Schwur, den sie gemeinsam abgelegt hatten. Niemals durfte er etwas von den Unzertrennbaren erzählen. Auf sein Leben hatte er es geschworen.
„Ich warte!“ drängte Sallivan. Drohend ballte er seine Hand zu einer Faust.
Showy schüttelte mit dem Kopf. „Ich – weiß – nichts“, stammelte er. Sallivan schnaubte vor Wut. Ruckartig machte er einen Schritt vor. Mit der linken Hand faßte er Showy am Kragen. Die Rechte erhob sich zum Schlag.
„Ich will es wissen!“ hauchte der Pfeifer.
Verzweifelt versuchte Showy sich mit den Händen zu schützen, sich gegen die Schläge des Pfeifers zu wehren. Erbarmungslos fuhr die Faust auf ihn nieder. Sallivan wollte ihn diesmal nicht richtig treffen. Er wollte ihn nur leicht mit der Faust streifen. Doch Showy drehte sich so zur Seite, daß der Schlag ihn mit voller Wucht erwischte. Sallivan hatte seine Schläfe getroffen. Augenblicklich sackte Showy in sich zusammen. Der Pfeifer machte einen Schritt zurück. Zusammengekrümmt lag Showy regungslos vor ihm.
„Ich warne dich“, zischte Sallivan. „Mach mir ja nichts vor.“ Unsanft rüttelte er ihn mit dem Fuß. Nicht den geringsten Muckser gab Showy von sich.
„Zum Teufel!“ fluchte er und kniete sich neben ihn nieder. Ohne etwas zu unternehmen, musterte er Showy.
„Wie du meinst“, flüsterte Sallivan. „Du willst es nicht anders.“ Er stand auf, krempelte seine Ärmel wieder vor, und begann langsam den Weg zurückzuschreiten. Achtlos ließ er das schwere Eisentor offenstehen.
Gerade verließ Dumpkin mit Ellinoy das Lehrerhaus, als Sallivan das Internatsgelände betrat. Schwester Maria blickte ihnen vom Eingang aus hinterher. Dumpkin hatte ihr versprechen müssen, sich in sein Zimmer zu begeben, um sich dann ins Bett zu legen. Mit keinem Gedanken hatte er jedoch daran gedacht, dies zu tun.
Für einen Moment blieb Sallivan stehen. Er wollte noch beiseite treten, doch Ellinoy hatte ihn schon bemerkt.
„Am Eingang steht der Pfeifer“, raunte Ellinoy seinem Freund ins Ohr. Dumpkin wandte seinen Kopf etwas in dessen Richtung.
„Wo kommt der denn her?“ fragte er sich, blickte aber sofort wieder auf den Boden.
Sie begaben sich direkt auf den Baum zu, den sie mit Showy als Treffpunkt ausgemacht hatten. Von Showy war jedoch weit und breit nichts zusehen.
„Wo steckt er bloß?“ sagte Dumpkin etwas ärgerlich. „Wir hatten ausgemacht, daß er hier auf uns wartet.“
„Wir dürfen uns hier nicht aufhalten“, erwiderte Ellinoy. „Hab keine Lust darauf, dem Pfeifer zu begegnen.“
„Du hast recht“, stimmte ihm Dumpkin zu. „Vielleicht ist er auch im Zimmer.“
Als sie das Schülerhaus betreten wollten, hörte Dumpkin plötzlich seinen Namen rufen. Verwundert drehte er sich danach um. Sein Atem stockte. Ellinoy konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Melanie stand nicht weit von ihnen entfernt. Allein.
„Was ist denn mit dir passiert?“ fragte Melanie, während sie näherkam.
Dumpkin betrachtete seine verbundene Hand, die in einer Schlinge steckte. „Ach, nur – nur ein bißchen verletzt“, antwortete er verwirrt. Melanie stand nun vor ihm.
„Du wunderst dich, warum ich dich anspreche?“ sagte sie mit einem charmanten Lächeln. Dumpkin zuckte darauf nur mit der Achsel. Ellinoy vertrieb sich zwischenzeitlich die Zeit damit, indem er von einer Seite auf die andere blickte und so seine Verlegenheit überspielte.
„Ich hab’ gesehen, wie euer Freund, der Dicke, mit Mr. Sallivan das Internat verlassen hatte. Ich dachte, ich muß das dir sagen, weil er bestimmt auf euch gewartet hat.“
„Showy mit dem Pfeifer?“ horchte Ellinoy auf. „Wann ist das gewesen?“
„Vielleicht vor etwa einer dreiviertel Stunde“, antwortete Melanie. „Jetzt muß ich aber wieder gehen. Meine Freundinnen warten schon auf mich.“ Sie wollte an Dumpkin vorbei in das Schülerhaus. Dumpkin biß sich nervös auf die Unterlippe.
„Melanie“, brachte er ihren Namen gerade noch über die Lippen. Melanie wandte sich um. Vor Aufregung entging Dumpkin der Freudenstrahl in ihren Augen. Er mußte sich anstrengen, das Vibrieren seiner Stimme zu verbergen.
„Ja?“ Erwartungsvoll schaute sie ihn an. Nun war es soweit. Um sich nicht zu blamieren, mußte er ihr irgend etwas sagen. Aber was?
„Sehen – wir uns wieder?“ fragte er geradeheraus. Ellinoy sah Dumpkin mit erstaunten Blicken an. Das hatte er von seinem Freund nicht erwartet. Er mit einem Mädchen!
„Bestimmt“, sagte Melanie nur, drehte sich um und verschwand hinter der Tür des Schülerhauses. Dumpkin pochte das Herz bis zum Hals. Er konnte es gar nicht fassen. Verwirrt, erstaunt und überrascht zugleich starrte er auf die Tür des Schülerhauses.
„Nicht schlecht“, riß ihn Ellinoy aus seiner Euphorie. Dumpkin blickte auf Ellinoy.
„Showy“, lenkte er sofort ab. „Verdammt, ich hab kein gutes Gefühl.“
„Sallivan war allein, als wir ihn vorhin gesehen haben“, meinte Ellinoy nachdenklich. „Meinst du das stimmt auch, was sie gesagt hat?“
Dumpkin wischte sich die Haarsträhne aus dem Gesicht. „Warum soll sie uns anlügen?“ verteidigte er sie sofort. „Besser, wir machen uns auf die Suche nach ihm.“
„Nehmen wir das Buch gleich mit“, schlug Ellinoy vor. „In unserem Lager ist es sicherer aufgehoben.“
„Ich weiß nicht“, entgegnete Dumpkin zögernd. „Wenn uns jemand mit dem Buch sieht –.“
„Hallo Jungs“, wurde Dumpkin unterbrochen. Wie vom Blitz getroffen zuckten sie zusammen. Pater Richmons Stimme war nicht zu verwechseln. Langsam wandten sie sich um. Sie konnten keine Erklärung dafür finden, von welcher Richtung der Pater aufgetaucht war. Freundlich lächelte er sie an. Als er Dumpkins verletzte Hand bemerkte, verschwand für einen Augenblick das Lächeln.
„Was hast du angestellt?“ sprach er ihn sofort darauf an.
„Ich bin hingefallen“, antwortete Dumpkin gefaßt. „Dabei hab ich mir den Handrücken etwas aufgerissen.“
„Ich will euch nicht lang aufhalten“, sagte darauf der Pater. Er sah von Dumpkin auf Ellinoy. „Nur um einen kleinen Gefallen möchte ich euch bitten.“
„Einen Gefallen?“ tat Ellinoy erstaunt.
Richmon nickte. Sein Blick verfinsterte sich ein wenig.
„Heute nacht ist in der Kirche eingebrochen worden“, redete er so leise, daß nur sie es hören konnten. „Ihr würdet mir sehr behilflich sein, wenn ihr euch mal ein bißchen umhört. Vielleicht könnt ihr etwas in Erfahrung bringen. Ich möchte nicht zu Mr. Goodman gehen und den Einbruch melden. Es ist schon zuviel geschehen in letzter Zeit.“
„Wurde denn etwas gestohlen?“ heuchelte Dumpkin erschrocken.
„Kann ich noch nicht sagen“, erwiderte Richmon. „Mir ist der Einbruch aufgefallen, weil ein Schaden dabei angerichtet wurde. Nun will ich euch aber wirklich nicht mehr länger aufhalten. Ich kann doch mit euch rechnen – oder?“
Dumpkin und Ellinoy sahen sich gegenseitig an.
„Na klar“, sagten sie fast einstimmig.
Über Richmons Gesicht flog ein Lächeln. Er kehrte ihnen den Rücken zu, um sich zu entfernen, drehte sich aber kurz darauf nochmals um.
„Morgen ist Jeremies Beerdigung“, bemerkte er noch. „Seine Angehörigen waren nirgends zu erreichen, daher wird er hier auf diesem Friedhof beerdigt.“ Abrupt wandte er sich wieder um und begab sich in die Richtung der Kirche. Ellinoy wartete, bis er verschwunden war.
„So ’ne Scheiße!“ fluchte er. „Ich hab echt den Eindruck, daß er was weiß.“
„Vielleicht war Richmon es, der unsere Namen gerufen hatte“, versuchte Dumpkin eine Erklärung zu finden.
Ellinoy schüttelte energisch mit dem Kopf. „Niemals!“ wehrte er ab. Augenblicklich kehrte es wieder, das Gesicht, in das er geblickt hatte. „Verdammt!“ stieß er entsetzt aus. „Jetzt ist es wieder da. Verdammt noch mal, es ist wieder da. Ich kann es genau vor mir sehen.“ Ellinoy würgte es. Dumpkin erschrak über den plötzlichen Zustand seines Freundes. Die Farbe aus seinem Gesicht war schlagartig entwichen. Am gesamten Körper begann er zu zittern.
„Was hast du?“ fragte er bestürzt. Besorgt legte er seine Hand auf die Schulter seines Freundes.“
„Ist schon gut“, hauchte Ellinoy. Die Berührung durch Dumpkin schien ihn zu beruhigen. Nervös blickte er um sich.
„Hat das jemand gesehen?“ fragte er noch ganz befangen. Dumpkin ließ ebenfalls seine Blicke umherschweifen.
„Denke nicht.“
„Laß uns verschwinden“, drängte Ellinoy. „So langsam mache ich mir ernste Sorgen um Showy.“
Dumpkin machte sich die Schlinge zurecht, in der seine verletzte Hand steckte. Immer noch pochte der Schmerz in gleichmäßigen Abständen. Haß und Wut kam in ihm auf, wenn er daran dachte, wie ihm Sallivan das Taschentuch von der Wunde gerissen hatte.
„Dafür wirst du büßen“, zischte er in sich hinein.
„Was hast du gesagt?“ fragte Ellinoy.
„Sallivan“, erwiderte Dumpkin. Deutlich waren seine Gefühle nur in diesem einen Wort herauszuhören. „Ich kann es schon nicht mehr erwarten, in dem Buch zu lesen.“
„Suchen wir zuerst Showy, dann gehen wir zu Champy. Das Buch bringen wir am besten gleich nach dem Mittagessen ins Lager. Ich denke, das ist die beste Zeit. Da sind nicht soviel auf dem Hof.“
Dumpkin nickte ihm zustimmend entgegen. Nebeneinander begaben sie sich, so unauffällig es ging, auf die Eingangspforte des Internates zu. Verstohlen spähten sie immer wieder auf die Fenster des Lehrerhauses, in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden.
Schwester Maria wußte nicht, ob sie sich nun über Dumpkin ärgern, oder darüber lachen soll, daß er ihre Vorschrift nicht eingehalten hatte. Vom Zimmer des Aufenthaltsraumes beobachtete sie, wie die beiden das Internatsgelände verließen. Ebenfalls nicht entging es Pater Richmon, der den Hof vom Glockenturm aus kontrollierte. Rouven befand sich noch in seiner Nähe.
„Wo sollen wir suchen?“ fragte Dumpkin, als sie das Tor hinter sich hatten. Aufmerksam blickte er um sich.
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Showy mit dem Pfeifer fortgegangen ist“ erwiderte Ellinoy immer noch mißtrauisch. „Sallivan war doch allein, als wir ihn vorhin sahen.“
„Dem trau ich alles zu“, gab Dumpkin grimmig zurück. „Hast du gesehen, wie er mir das Taschentuch von der Hand gerissen hat. Ich dachte, mir fehlt der Arm, so hat das weh getan.“
Ellinoy blieb stehen. „Du meinst, er hat Showy –?“
Ein gellender, jäh abgerissener Schrei zerriß die Stille außerhalb des Internates. Wie erstarrt blickten sie sich gegenseitig an.
„Showy“, hauchte Dumpkin. Panisch blickte er um sich. Die Richtung, woher der Schrei kam, war wegen des Echos nicht auszumachen.
„Nein, bitte nein, nein, nei –.“
„Das kommt von dort drüben“, rief Ellinoy. Im selben Atemzug rannte er auf das Eisentor zu, das er erst nach wenigen Schritten zu sehen bekam.
„Hier, das Tor, es steht offen.“
Dumpkin eilte hinterher. Beinah wäre er auf Ellinoy aufgelaufen. Regungslos stand sein Freund da. Unentwegt stierte er auf ein und denselben Punkt. Von Showy, der nicht weit weg vor ihnen auf der Erde lag, schien Ellinoy keine Notiz zu nehmen.
„O du Scheiße“, entfuhr es Dumpkin entsetzt, als er Showy erblickte.
„Siehst – du – sie?“ stammelte Ellinoy. Dumpkin sah ihn verwundert an. Er wollte zu Showy rennen, doch als er in Ellinoys kalkweißes Gesicht blickte, schreckte er sichtlich zusammen.
„Siehst – du – sie?“ wiederholte sich Ellinoy. Seine Stimme klang irgendwie fremd. Dumpkin sah von Ellinoy auf Showy, dann wieder auf Ellinoy.
„Wen?“ fragte er hilflos. Er wollte zu Showy, gleichzeitig konnte er aber Ellinoy nicht im Stich lassen.
„Die Gestalt“, hauchte Ellinoy. „Die mit dem Gesicht. Siehst du sie?“
Dumpkin blickte von einer Richtung in die andere.
„Da ist nichts“, sagte er darauf. „Du hast dich geirrt, da ist nichts.“
„Ich hab sie gesehen, eindeutig gesehen“, beteuerte Ellinoy. Langsam kehrte wieder Farbe in seine Wangen zurück.
„Da war nichts“ bekräftigte Dumpkin seine Behauptung. „Verstehst du! Nichts!“
„Es ist fortgerannt, als es mich gesehen hatte“, versuchte Ellinoy zu erklären. „Es hat sich über Showy gebückt. Als es mich sah, ist es fortgerannt.“
„Verdammt!“ fluchte Dumpkin. Er blickte auf Showy. Da war es ihm, als hätte dieser sich bewegt. „Wir müssen nach Showy sehen.“ So schnell es mit seiner Verletzung ging, eilte er zu Showy. Ellinoy folgte ihm. Showy lag noch, wie ihn Sallivan verlassen hatte. Dumpkin kniete sich zu ihm nieder. Vorsichtig versuchte er, Showy auf den Rücken zu drehen.
„Hilf mir mal“, forderte er Ellinoy auf, der immer noch in dieselbe Richtung stierte. Ellinoy atmete mehrmals tief durch, bevor er Showy an der Schulter faßte. In diesem Moment öffnete er seine Augen. Das Weiße darin war blutunterlaufen.
Showy schreckte zusammen, als er Dumpkin wahrnahm. „Nein, bitte nicht. Nein, nein.“ Tränen drückte es ihm aus den Augen.
„Wir sind es, Showy, deine Freunde“, versuchte Dumpkin ihn zu beruhigen. Ellinoy stützte Showy ab, so daß er aufrecht sitzen konnte. Wortlos blickte er von einem zum anderem.
„Was ist passiert?“ fragte Dumpkin vorsichtig. Showy schluchzte. Unregelmäßig ging sein Atem. Immer noch schmerzte ihm sein Ohr und der Kopf von den Schlägen Sallivans. Aber nicht das war es, was ihn in solche Angst versetzte.
„Er – er war, er hat, er wollte –“ erschrocken blickte Showy auf seine Finger. Erst die eine Hand, dann die andere. Erleichtert atmete er auf. Ellinoy wußte sofort, was diese Blicke zu bedeuten hatten.
„Er war bei dir“, sagte Ellinoy nur. Showy sah ihn an. Er sah ihn nur an und nickte.
„Und Sallivan?“ wollte Dumpkin wissen. Mit dem Handrücken wischte sich Showy die Tränen aus den Augen.
„Sallivan“, flüsterte er. Heulend begann Showy zu erzählen, wie Sallivan ihn brutal zu Boden geschlagen hatte. Jedoch nicht ohne Stolz erwähnte er, dem Schwur, den sie leisteten, treu geblieben zu sein.
„Hast du es gesehen?“ fragte ihn Ellinoy darauf. „Hast du – sein Gesicht gesehen?“
Eine geraume Zeit lang sagte Showy nichts. Ängstlich blickte er um sich. Diese Allee, die eher aussah wie der direkte Weg in die Hölle. Die Stille um sie herum. Showy kam es vor, wie die Ruhe vor dem Sturm, der jeder Zeit losbrechen könnte. Es war da, dieses Etwas. Es befand sich ganz in ihrer Nähe. Vielleicht schon direkt hinter ihnen. Showy bekam einen Schweißausbruch nach dem anderen. Das Gesicht, noch genau hatte er es in Erinnerung. Er hatte in seine Augen gesehen. In Augen, die keine Augen waren. Showy wußte nicht, was es gewesen war. Es hatte ihn an den Armen gepackt, um ihn fortzuschleifen. Irgendwohin, an einen Ort, aus dem er vielleicht nie wieder zurückgekommen wäre.
Wieder nickte er Ellinoy zu. Jede einzelne Faser des abscheulichen Gesichts sah er deutlich vor sich. Ein Gesicht, das aus vielen kleinen Fibrillen bestand. Ein Gesicht, das er sein Leben lang nicht mehr vergessen wird. Ihm schauderte bei dem Gedanken, daß er von dieser Mißgestalt angefaßt wurde. Dabei waren es keine Arme, die sich um seinen Körper geschlungen hatten. Irgend etwas anderes, aber keine Arme.
Ellinoy sah auf Dumpkin. „Es war da“, sagte er tief durchatmend. „Es ist immer noch da. Ich weiß es, ich spüre es. Irgendwo hält es sich versteckt und beobachtet uns.“ Ellinoys Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Seine Backenknochen zeichneten sich ab, als wären sie gemeißelt.
„Was sollen wir tun?“ fragte Dumpkin trocken.
„Weg!“ sagte Showy kaum hörbar. „Weg von hier!“ Sein Kopf pochte vor Schmerz, als er sich anstrengte aufzustehen.
„Und – Sallivan?“ Dumpkin blickte von Ellinoy auf Showy. „Ich hätte da eine gute Idee.“
Ellinoy half Showy beim Aufstehen. Fragend sahen sie Dumpkin an.
„Er darf dich auf gar keinen Fall sehen“, begann Dumpkin ihnen seine Idee zu unterbreiten. „Ich kann mir nicht helfen, aber bestimmt denkt er, dich –“, für einen Moment zögerte er, „dich umgebracht zu haben“, stieß er dann hervor.
Trotz der üblen Lage, in der sie sich eben befanden, konnte sich Ellinoy ein Grinsen nicht verwehren.
„Ist nur ein Problem“, setzte Dumpkin hinzu, „wo sollen wir dich verstecken?“
Showy sah entsetzt auf Dumpkin. „Das heißt, ihr wollt mich allein lassen?“
„Im Lager wärst du sicher“, versuchte ihn Ellinoy zu beruhigen. Die Idee schien ihm gut zu gefallen.
„Nur für ein paar Stunden“, meinte Dumpkin. „Wir kommen, sobald es uns möglich ist, das Buch aus dem Internat zu schaffen.“
Showy schüttelte energisch seinen Kopf. Niemals wollte er allein sein. Nicht für eine Sekunde!
„Und wenn ich mich in unser Zimmer schleiche?“ suchte er verzweifelt eine bessere Lösung.
„Die Gefahr ist zu groß“, hielt Dumpkin dagegen.
„Da mach ich nicht mit“, wehrte er sich entschlossen. „Einer von euch muß bei mir bleiben, ansonsten mache ich da nicht mit!“ Ängstlich blickte er um sich. Dumpkin erkannte, daß Showy nicht nachgeben würde. Ärgerlich wandte er sich von ihm ab.
„Wäre nur Champy hier“, murmelte er vor sich hin. „Würdest du allein durch den Wald ins Lager gehen?“ fragte er darauf Ellinoy.
Ellinoy dachte einige Augenblicke darüber nach. Auch er war dafür, Showy unbedingt versteckt zu halten. Sallivan sollte endlich für seine Mißhandlungen bezahlen. Zuviel hatte er sich schon geleistet. Nun sah er sich am Zug. Ein für alle Male, Sallivan mußte erledigt werden. Koste es, was es wolle!
Langsam nickte er Dumpkin zu. Showy atmete auf.
Mit einem unguten Gefühl trennten sie sich vor dem Eisentor. Dumpkin verschwand mit Showy im gegenüberliegenden Wald. Ellinoy betrat gelassenen Schrittes das Internat. Von nun an galten seine Gedanken nur noch dem Buch. Als sie es aus dem Versteck herausgenommen hatten, brannten sie förmlich darauf, es zu öffnen. Auf der Stelle hätten sie es lesen wollen. Aber sie taten es nicht. So schwer es ihnen auch gefallen war, sie hielten das Buch fest verschlossen. Zusammen wollten sie es aufschlagen. Zusammen mit Champy und Showy. Das Buch, für das sich der Pater so sehr interessierte. Es mußte doch etwas daran sein, was in dem Brief an Rouven darüber erwähnt wurde. Niemals hätte er daran gedacht, das Buch überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Nun waren sie die Besitzer von diesem Buch, das einst einmal ein Mönch niedergeschrieben hatte. Verbarg es wirklich Finstere Macht? Vielleicht hat diese Gestalt etwas mit dieser Finsteren Macht zu tun. Vielleicht war die Gestalt diese Finstere Macht! Ellinoy sah verstohlen um sich. Ständig fühlte er sich beobachtet. Verfolgt von jemanden, der ihm furchtbare Angst eingeflößt hatte. Beinahe wäre es auch noch um Showy geschehen gewesen. Beinahe –! Ellinoy versuchte den Gedanken zu verdrängen. Showy war ja am Leben. Sallivan war es, der ihn fast auf dem Gewissen hatte. Sallivan, nicht dieses Fremde!
Gedankenversunken betrat Ellinoy das Schülerhaus. Es war kurz vor der Mittagszeit. Eigentlich müßten sie sich nun in den Speisesaal begeben. Ellinoy hoffte, daß sie von niemandem vermißt würden. Die beste Zeit, das Internat unbemerkt wieder zu verlassen. Die meisten Schüler befanden sich schon an ihren Plätzen. Bis auf wenige, die sich gerade dorthin begaben. Eben war er im Begriff, sein Zimmer zu betreten, als er plötzlich Sallivans Stimmme vernahm. Für einen Moment zuckte er zusammen, faßte sich aber sofort wieder. Regungslos blieb Ellinoy stehen. Undeutlich hörte er ihn sprechen. Aus Champys Zimmer, das sich nicht weit weg von dem seinigen befand. Angestrengt versuchte er die Worte zu verstehen. Vergebens! Mehrere Minuten verharrte er vor seiner Tür. Eine Hand auf der Klinke, um unverzüglich eintreten zu können. Sallivans Stimme verstummte. Im selben Moment wurde Champys Tür geöffnet. Ellinoy gelang es gerade noch, in sein Zimmer zu verschwinden. Durch einen schmalen Spalt sah er, wie Sallivan an seinem Zimmer vorbei zur Treppe eilte. Wenig später wurde die Eingangstür zugeknallt. Ellinoy zögerte nicht lange. Ohne noch lange zu klopfen trat er in Champys Zimmer ein. Erschrocken fuhr Champy hoch, als die Tür plötzlich zum zweiten Male aufgerissen wurde. Immer noch lag er in seinem Bett.
„Du?“ fragte er erstaunt, nachdem Ellinoy eingetreten war.
„Das Buch“, sagte Ellinoy. „Wir haben es.“
Über Champys Gesicht flog ein Freudenstrahl. „Und der Brief?“
„Da stand genau drin, wo das Buch zu finden war.“ Leise schloß er hinter sich die Tür.
„Wo sind Dumpkin und Showy?“
„Im Lager.“ Ellinoy blickte auf Champys verbundene Hand. „Meinst du, daß du aufstehen kannst?“
„Der Pfeifer war eben hier“, erwiderte Champy. Dabei machte er einen widerwärtigen Gesichtsausdruck. „Er wollte von mir wissen, wie das mit meinem Finger geschehen ist.“
„Und? – Hast du es ihm erzählt?“
„Ich sagte ihm, ich wüßte es nicht mehr. Nur noch, daß ihr mich gefunden habt. Da fing er an zu toben. Wie ein Wilder hat er mich angeschnauzt.“
„Er – er hat Showy heute morgen zusammengeschlagen.“ Ellinoy war vor Champys Bett stehen geblieben. Champy erschrak bei diesen Worten.
„Zu – sammen – geschlagen?“ wiederholte er fassungslos. Ellinoy nickte nur.
„Und jetzt?“ Champy setzte sich aufrecht ins Bett.
„Er denkt, Showy umgebracht zu haben.“ Ellinoy flüsterte nur noch.
Champy schluckte. „Dieser Drecksack“, entfuhr es ihm. „Jetzt ist mir einiges klar. Irgendwie war Sallivan total eigenartig. Immer wieder hat er zum Fenster hinausgesehen.“
„Nun wollen wir ihn in seinem Glauben lassen. Deshalb ist Showy mit Dumpkin im Lager.“
Auch Champy konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich komme mit!“ sagte er bestimmt. „Mir egal, was Schwester Maria sagt.“
„Alles klar“, freute sich Ellinoy. „Wir müssen nur aufpassen, daß uns niemand sieht. Am besten, wir gehen jetzt gleich, solange alle im Speisesaal sind.“
Champy schlug die Bettdecke auf die Seite. Er war vollständig angezogen. „Zum Glück hat der Pfeifer nichts davon bemerkt“, schmunzelte er. „Wollte so oder so aufstehen.“
„Dann geht es dir ja wieder gut“, bemerkte Ellinoy. Er half Champy in die Schuhe. Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, niemandem zu begegnen, eilten sie in Ellinoys Zimmer. Er hatte eines für sich allein. Das Buch hatte er sorgfältig unter der Matratze am Fußende versteckt. Champy konnte es schon gar nicht mehr erwarten, es zu Gesicht zu bekommen. Als Ellinoy das Leintuch berührte, fuhr er erschrocken zurück.
„Was ist?“ fragte Champy. Bestürzt sah er auf seinen Freund, der wie erstarrt stehen blieb.
„Das Leintuch“, hauchte er. „Es ist eiskalt.“
Champy blickte ihn ungläubig an. Langsam näherte er sich ebenfalls dem Leintuch. Vorsichtig berührte er es an der äußersten Stelle. Jäh fuhr seine Hand zurück. Ihm war, als hätte er einen leichten Stromschlag erlitten.
Ellinoy atmete tief durch, als er die Matratze packte. Stück für Stück lüpfte er sie nach oben. Da lag es, das Buch. Ehrfürchtig betrachteten sie es eine geraume Zeitlang, bevor Ellinoy es sich anzufassen getraute.
Behutsam nahm er es darunter hervor. Das Buch hatte ein beträchtliches Gewicht. Immerhin maß es in der Dicke volle sechs Zentimeter. Von der eisigen Kälte war auf einmal nichts mehr zu verspüren. Champy hatte sich von dem Schrecken wieder erholt. Das Buch beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit.
Wie ein rohes Ei, das jeden Moment zu zerbrechen drohte, legte Ellinoy das Buch auf die Bettdecke.
„Wahnsinn“, brachte Champy seine Bewunderung zum Ausdruck. „Das ist der helle Wahnsinn.“
„In dem Brief steht, daß das Buch Finstere Mächte besitzt“, flüsterte Ellinoy.
„EGO VENIO ITERIUM“, las Champy die Worte vor sich hin. „Was bedeutet das?“ fragte er darauf.
Ellinoy zuckte mit der Achsel.
„Und das Zeichen?“
„Keine Ahnung“, sagte er. Nicht eine Sekunde lang konnte er das Buch aus den Augen lassen. Ellinoy mußte sich beherrschen, es nicht doch noch aufzuschlagen.
„Mach es mal auf“, forderte Champy ihn auf. Er getraute sich nicht, das Buch zu berühren.
„Erst im Lager“, wehrte Ellinoy ab. „Erst, wenn wir alle zusammen sind.“
„Du hast noch nicht hineingesehen?“
Ellinoy schüttelte seinen Kopf. Er nahm ein Handtuch aus dem Schrank und wickelte das Buch darin ein.
„Gehen wir“, sagte er danach. „Sehen wir zu, daß wir das Internat so schnell wie möglich verlassen.“
„Hoffentlich geht das gut“, zweifelte Champy kaum hörbar.
Das Schülerhaus zu verlassen, ohne gesehen zu werden, war weniger ein Problem. Auch die Nähe des Speisesaals konnten sie meiden, indem sie die linke Seite der Kirche wählten, die Seite des Haupteinganges. Ellinoy schritt Champy einige Meter voraus. Das Buch hatte er sich so unter das Hemd gesteckt, daß es kaum noch bemerkt werden konnte. Mit einem Arm hielt er es fest an seinen Körper gepreßt. Am vorderen Teil der Kathedrale, unterhalb des Glockenturmes, hielt Ellinoy für einige Augenblicke inne. Genau die Stelle, auf der Jeremie aufgeprallt war. Ein wenig noch war die riesige Blutlache zu erkennen. Vereinzelt befanden sich noch Spritzer an der Kirchenwand. Aufmerksam spähte Ellinoy über den Schulhof. Menschenleere. Dumpfe Geräusche drangen aus dem Speisesaal über den Hof.
„Die Luft scheint rein zu sein“, flüsterte er Champy zu, als dieser ihn erreicht hatte. „Gehen wir, so schnell wir können.“
Mühelos hielt Champy neben Ellinoy Schritt. Über freies Pflaster mußten sie gehen, bis sie den Ausgang vor sich hatten. Ständig die Angst, es könnte jemand das Lehrerhaus verlassen. Es würde aber auch schon genügen, wenn ein Lehrer sie beobachten würde. Für Champy könnte das großen Ärger bedeuten.
„Dem Himmel sei Dank“, atmete Ellinoy erleichtert auf. „Es scheint uns niemand gesehen zu haben.“ Mit wenigen Schritten verschwanden sie hinter dem schützenden Gebüsch. Gerade noch rechtzeitig. Sallivan betrat im selben Augenblick die Zufahrtsstraße durch das dichtbewachsene Eisentor. Er machte einen sehr nervösen Eindruck. Wirr blickte er von einer Richtung in die andere. Aber nicht nur Sallivan war dies entgangen. Rouven trat durch die Eingangspforte. Als er Sallivan erblickte, drehte er sich augenblicklich um und verschwand wieder im Internatsgelände.
„Geschafft“, freute sich Champy über das geglückte Unternehmen. Stumm folgte er Ellinoy, der ihm mit der freien Hand die Äste behilflich zur Seite hielt. Geschickt überwand er den tiefen Graben. Ein triumphierendes Gefühl überkam ihn, als sie in die verbotene Zone eindrangen. Kurz darauf befanden sie sich auch schon vor dem dichten Dornengestrüpp, dem Zugang zu ihrem Lager.
„Showy, Dumpkin“, machte sich Ellinoy mit halblauter Stimme bemerkbar. Das Gestrüpp begann zu rascheln. Langsam öffnete sich vor ihnen der Einlaß. Champy betrat als erster das Lager. Dicht gefolgt von Ellinoy.
„Champy“, riefen Dumpkin und Showy erfreut. Dumpkin streckte ihm seine unverletzte Hand entgegen. Champy schlug herzhaft darin ein. Showy verschloß wieder sorgfältig das Lager. Er wollte sich seine Freude über Champys unerwartetes Auftauchen nicht anmerken lassen, doch sein strahlendes Gesicht war nicht zu übersehen.
„Was ist mit deiner Hand?“ wollte Champy gleich wissen.
Dumpkin grinste. „Willkommen im Club der Verletzten“, antwortete er scherzhaft. „Ich würde vorschlagen, wir ziehen uns erst einmal kräftig ne’ Zigarre rein, oder?“ Fragend blickte er durch die Runde. Ellinoy holte das Buch unter seinem Hemd hervor. Behutsam wickelte er es aus dem Handtuch, breitete dieses auf dem Baumstumpf aus und legte vorsichtig das Buch darauf.
Showy hatte es als einziger noch nicht gesehen. Staunend betrachtete er den dicken Band. Dumpkin hatte zwar schon ausführlich das Buch beschrieben, aber nun, als er es so nah vor sich liegen sah, sträubten sich seine Nackenhaare.
„EGO VENIO ITERIUM“, las er leise. „Was das wohl bedeutet?“
Ellinoy nahm das Päckchen mit den Zigarren unter dem Baumstumpf heraus. Nachdem jeder sich eine davon angesteckt hatte, begann Dumpkin zu erzählen. Er fing an, als sie in den geheimen Gang unter dem Altar stiegen. Champy hörte aufmerksam zu.
Immer wieder warfen sie ehrfürchtige Blicke auf das Buch. Ellinoy lief es eiskalt über den Rücken, als Dumpkin die Begegnung mit der unheimlichen Person erwähnte. Sofort hatte er wieder das Gesicht vor Augen. Showy würgte es. Er hatte das Gesicht noch näher gesehen. Diese Gestalt, sie wollte ihn sogar fortschleifen, als er bewußtlos auf der Erde gelegen hatte.
„Sallivan!“ zischte Dumpkin am Ende seiner Erzählung. „Jetzt ist er dran!“ Zornig ballten sich seine Finger zu einer Faust. Er hatte auch erzählt, was Showy passiert war. Wie Sallivan ihn gewalttätig niederschlug. Wie sie Showy fanden. Auch, daß Ellinoy diese Gestalt davonlaufen sah, obwohl er selbst sie nicht gesehen hatte.
„Dieses Gesicht“, sagte Showy auf einmal mit ängstlicher Stimme. Alle blickten sie auf ihn. Gespannt darauf, was er zu sagen hatte. „Es – es hatte keine Augen.“ Showy zitterte am gesamten Leib. „Trotzdem sah es mich an. Es hat mich angesehen, aber es hatte keine Augen.“ Showy rollten Tränen über die Wangen. Keiner von seinen Freunden machte den Versuch, ihn zu beruhigen. Wie entgeistert starrten sie ihn an. Bisher hatte Showy nichts davon erwähnt. „Es wollte mich fortschleifen, aber es – es hatte keine Arme. Nicht solche, wie wir haben.“ Mit dem Ärmel wischte er sich die Augen trocken. „Ich kann es einfach nicht vergessen“, plärrte er. „Beinah hätte es mich fortgeschleift. Nur wegen dem scheiß Sallivan. Diese Drecksau! Diese elendige Drecksau! Fast hätte er mir ein Ohr rausgerissen. Dann – dann schlug er mir auf den Hinterkopf.“ Showy blickte von Dumpkin auf Ellinoy, dann auf Champy. „Als ich auf dem Boden lag“, weinte er weiter, „hat er mich getreten. Er verlangte von mir, daß ich alles erzähle. Aber, aber unser Schwur, ich, ich dachte nur an unseren Schwur. Dann wollte ich fliehen. Einfach davonrennen. Dann – dann hat er mich gepackt und – und mich bewußtlos geschlagen.“ Champy stockte der Atem. Das hatte er Sallivan nicht zugetraut.
„Und dann dieses Gesicht“, fuhr Showy fort. „Ich, ich muß ständig an dieses Gesicht denken. Es geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich, ich denke immer daran, was Schwester Maria vorgelesen hatte. Das, das mit dem Anblick des Todes.“ Showy war dem Zusammenbruch nahe. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Champy mußte unwillkürlich auf seine verbundene Hand blicken. Ellinoy verschnürte es die Kehle. Sein Atem drohte ihm zu versagen. Dasselbe Gefühl, wie er es vor einigen Stunden gehabt hatte, überkam ihn. Zitternd stützte er sich an dem Baumstumpf ab. Dabei berührte sein Zeigefinger das Buch. Nur leicht, dennoch verspürte er deutlich das Gribbeln in seinem Finger. Erschrocken zuckte Ellinoy zurück. Irgendwie blieb er an dem Handtuch hängen. Ruckartig wurde das Buch von dem Baumstumpf geschleudert, fiel auf den Rücken und blieb geöffnet liegen. Entsetzt starrten sie einander an, dann auf das Buch. Langsam kniete sich Ellinoy nieder. Zaghaft näherten sich seine Finger dem Buch. Er war auf alles gefaßt. Nichts geschah, als er es berührte. Wie ein Tablett, auf dem viele Gläser stehen, faßte er das Buch vorsichtig an und legte es wieder auf den Baumstumpf. Sein Herz pochte vor Aufregung. Innerlich schimpfte er über seine Ungeschicktheit.
Showy hatte vor Schreck aufgehört zu weinen. Plötzlich war alles wie vergessen. Nur noch dem Buch galt seine Aufmerksamkeit. Nur noch das Buch, das sie alle in den Bann zog.
Die Minuten verstrichen wie im Flug. Keiner von ihnen getraute sich ein Wort zu sagen. Sprachlos starrten sie auf die aufgeschlagene Seite. Da war es wieder, das Siegel Salomons, vor dem sie Schwester Maria gewarnt hatte. Über das gesamte linke Blatt war es dick mit Tinte aufgezeichnet. Nur befand sich der sechszackige Stern innerhalb eines Kreises, der die Spitzen miteinander verband.
Dumpkin war der erste, der das Schweigen unterbrach. Leise pfiff er durch die Zähne.
„Das Siegel Salomons“, flüsterte er. „Die höchste Macht der Magie.“
Auf der gegenüberliegenden Seite standen mehrere Worte geschrieben. Groß und deutlich. Jedoch in einer anderen Sprache. Vermutlich dieselbe, wie auf dem Deckel des Buches.
„Es – es ist eine fremde Sprache“, sagte Showy enttäuscht. „Wir werden mit dem Buch nichts anfangen können.“
Skeptisch griff Ellinoy nach dem Blatt und blätterte es um. Auch dieses war in dieser fremden Sprache beschrieben. Schöne, kunstvolle Buchstaben. Die Sätze in der Form eines Verses zusammengestellt. Jedoch für sie unleserlich.
Die Enttäuschung war groß. Ellinoy blätterte weiter und weiter. Seine Hoffnung wurde nicht belohnt. Jedes einzelne Blatt wies dieselbe Sprache auf. Langsam schloß er das Buch wieder zu.
„Mir gleich!“ zischte Dumpkin. „Ich glaube an die Macht des Buches. Auch wenn ich es nicht lesen kann.“ Vorsichtig legte er seine Hand auf den Deckel des dicken Bandes. Mit den Blicken forderte er seine Freunde auf, dasselbe zu tun. Darauf senkte er seine Augenlider. Ellinoy kam als erster der Aufforderung nach. Showy legte zuletzt seine Hand auf das Buch.
„Sprecht mir nach“, sagte Dumpkin in feierlichem Ton. Seine Lider öffneten sich. Ohne mit der Wimper zu zucken, blickte er durch die Runde. Jedem direkt in die Augen.
„Ich glaube an die Macht dieses Buches“, begann er laut zu reden. „Das Buch, das genannt wird das Buch der Schatten.“ In gleicher Lautstärke sprachen seine Freunde ihm nach.
„Von nun an sollen wir eins sein mit diesem Buch. Unsere Wünsche sollen respektiert und befolgt werden. Unsere Feinde vernichtet werden. Vernichtet bis in aller Ewigkeit. Amen!“
„Amen!“