2. Kapitel
Immer mehr Menschen versammelten sich um den Redner, der sich auf die oberste Stufe des Kircheneinganges gestellt hatte, um dadurch von allen gesehen werden zu können. Gekleidet war er nur mit einem alten, abgetragenen, doch gepflegten Gewand, das an der Hüfte mittels einer Kordel zusammengebunden war. Das Auffälligste an seiner Erscheinung war der gewaltige Körperbau, der unter dem braunen Gewand nur vermutet werden konnte. Sowie das grelle rote Haar und der lange rote Bart, der sich unterhalb des Halses zu einer Spitze zusammenkreuselte. Starr richteten sich seine Augen auf die Hörerschaft. Laut erscholl seine Stimme über deren Köpfe hinweg. Mit gekonnten Wortwendungen gelang es ihm, die Aufmerksamkeit vieler auf sich zu lenken.
„Propheten“, rief er ihnen entgegen. „Propheten, wie es damals Engel Gottes gewesen sind. Sie haben versucht, das zu verhindern, was einst das Licht in tiefe Finsternis gewandelt hatte. Verfolgt sind sie damals geworden. Verfolgt, gefangen, gemartert und auf menschenunwürdige Weise zu Tode gerichtet. SIE haben es gewußt. SIE wollten es verhindern. SIE, die einstigen Propheten. Ausgelöscht von Unverstandenen. Ausgelöscht von jenen, die sie nicht hören wollten, die Wahrheit. Die Wahrheit über uns selbst, unser Ich. Nun ist es zu spät, das Ende, die Offenbarung, längst ist sie schon prophezeit. Habt die Kraft, nehmt sie in euch auf. Kehrt in euch zurück und ihr werdet es sehen, das Ewige, das Immerwährende. Nur euer Antlitz ist das Wahre, das Reine. Hütet euch vor der Finsternis, denn sie ist der Feind des Lichtes. Der Feind Gottes, der es sich wieder holen will um zu herrschen wie ein Tyrann. Achtet auf die Zeichen, die das Ende dieser Zeit ankündigen werden. Babys werden schreien, einen Tag und eine Nacht. Kein Arzt wird ihnen zu Hilfe kommen. Am Ende dieses Tages werden sie sterben. Sterben, um Trauer zu verbreiten. Trauer, die eure Augen verschließen wird. Vögel werden nicht mehr singen, doch tot werden sie vom Himmel fallen. Am Ende des dritten Tages wird der Mond sich in der Nacht blutrot verfärben. Euer Blut wird es sein, und eure Körper werden verfallen, um zu Staub zu werden. Ihr habt –“
„Aufhören!“ schrie auf einmal jemand aus den hinteren Reihen. „Noch ein Wort, und ich stopf dir dein Maul!“
Der Redner hielt inne. Binnen weniger Sekunden hatte er den Störenfried ausgemacht. Obwohl eine beträchtliche Entfernung zwischen ihnen bestand, gelang es dem Prediger, den Blick des Mannes auf sich zu ziehen. Nicht die geringste Regung war in dem Gesicht des Rothaarigen zu erkennen. Kalt starrte er den Unruhestifter an, bohrte seinen Blick in dessen Augen. Ungewöhnliche Stille herrschte auf einmal, wo vorhin noch die tiefe Stimme des Predigers ertönte. Gespannt warteten die Zuhörer darauf, was nun geschehen wird.
„Das Böse hat viele Gesichter“, sprach der Prediger in gelassener Ruhe weiter. „Wie sieht es mit deinem Gesicht aus? Kannst du es jedem offenbaren, oder versuchst du immer gleich deinem Gegenüber das Maul zu stopfen?“ Ein kurzes Raunen ging durch die Menge. Einige lachten auf, verstummten aber sofort wieder. Sie wollten dem Prediger dadurch nur ihre Anerkennung zeigen. Der Mann brummte etwas vor sich hin, stampfte wütend auf den Boden und wandte sich abrupt von der Ansammlung ab. Mürrisch verschwand er hinter der Kirchenmauer, ohne sich noch einmal umgedreht zu haben. Augenblicklich nahm der Prediger wieder die vorige Haltung ein. Aufrecht, stolz, seine Blicke kühl und bedächtig.
„Meine lieben Mitmenschen“, ertönte seine Stimme weit über das Gemäuer hinaus. „Geht nach Hause. Laßt geschehen, was längst in die Bahnen geleitet wurde. Ihr habt nicht die Macht, es zu verhindern. Schließt eure Augen, wenn es soweit ist. Er wird euer Antlitz sehen wollen. Er wird kommen, um sich euch zu zeigen. Seht nicht hinein! Niemals dürft ihr sein Gesicht erblicken. Es wäre euer Verderben, euer Schicksal hätte von Sekunde an seinen Lauf. Den Lauf des Bösen, der Finsternis.“
Langsam kehrte der Prediger seinen Zuhörern den Rücken zu, legte seine Hand auf den Griff der Eingangstür und drückte diese auf. Erst als er das Innere der Kirche betrat, begann sich die Versammlung allmählich aufzulösen. Gesenkten Hauptes schritt er zwischen den Bankreihen hindurch auf den Opfertisch zu. Außer ihm befand sich niemand in der Kirche. Vor dem Altar kniete er nieder, faltete die Hände zum Gebet und verharrte geraume Zeit in dieser Stellung. Nicht einmal das knarrende Geräusch der Eingangstür störte ihn bei seiner Andacht. Pastor Dauwn, der Geistliche von diesem Dorf, näherte sich mit langsamen Schritten dem Prediger. Dicht neben ihm blieb er stehen, bekreuzigte sich und kniete sich danach ebenfalls nieder. Nach wenigen Minuten erhob sich der Prediger, erbrachte mit der rechten Hand das Zeichen des Kruzifix, und machte Anstalten, die Kirche wieder zu verlassen. Schnell kam ihm der Pastor nach, indem er sich nur flüchtig bekreuzigte.
„Warten Sie“, forderte er den Prediger auf. Dieser blieb unvermittelt stehen, drehte sich aber nicht um, sondern ließ den Pastor vor sich herantreten.
„Ich möchte mit Ihnen reden“, brachte Pastor Dauwn sein Anliegen vor. Der Prediger sah ihn nur an.
„Ich habe Ihnen da draußen zugehört“, sprach Dauwn weiter. Der Prediger rührte sich nicht.
„Noch niemals in meinem Leben habe ich jemanden so reden gehört, wie Sie“, versuchte er einzuleiten. Keine Reaktion. „Noch niemals habe ich bei jemandem gesehen, wie er die Menschen so zu fesseln versteht wie Sie“, setzte der Pastor hinzu, nachdem sein Gegenüber nichts darauf erwidert hatte. Aber immer noch sagte der Prediger nichts. Unbeweglich hafteten dessen Augen auf dem Gesicht des Pastors.
„Obwohl Sie doch selbst wissen, daß es nicht so sein wird, wie Sie sagten, lasen Ihnen die Menschen förmlich die Worte vom Mund.“
Der Prediger zog seine Augenbrauen etwas enger zusammen. „Wissen Sie denn, wie es sein wird?“ fragte er nur.
Dauwn richtete seinen Blick über den Prediger hinweg zur Decke empor. „Nur Er weiß es“, gab Dauwn als Antwort. „Aber nicht das ist es, worüber ich mit Ihnen reden wollte.“ Er sah den Prediger an, als würde er eine Frage darauf erwarten. Doch dieser sagte nichts.
Pastor Dauwn trat unruhig von einem Bein auf das andere. „Wie machen Sie das?“ brachte er endlich sein Begehren hervor. Der Bann schien gebrochen zu sein. „Wie schaffen Sie es, daß Sie einfach beginnen zu reden, obwohl niemand anwesend ist“, sprudelte es nur noch so aus ihm heraus. „Und mit jedem Wort, das Sie sagen, werden es mehr, die Ihnen zuhören. Und wenn Sie fertig sind, schicken Sie sie einfach nach Hause, und sie gehorchen Ihnen. Dazu noch bei einem Wetter, das jeden erfrieren läßt. Wie machen Sie das?“
Der Prediger legte dem Pastor seine Hand auf dessen Schulter. Unbewegt blickte er Dauwn in die Augen. Dem Pastor war es auf einmal, als wolle der Prediger sein Inneres erforschen. Ihm war, als seien seine Gedanken dem Fremden gegenüber wie ein offenes Buch. Nur für wenige Sekunden, die Dauwn wie eine Ewigkeit vorkamen. Schlagartig ließ der Prediger wieder ab von ihm. Unwillkürlich holte der Pastor mehrmals tief Luft. Entgeistert sah er den Prediger an.
„Wissen Sie nun, wie es geht?“ fragte ihn dieser, drehte sich um und verließ gelassenen Schrittes die Kirche. Dauwn starrte dem Prediger fassungslos hinterher. Eiskalt lief es ihm dabei über den Rücken.
Die Nacht brach heran. Kalt fegte der Novemberwind durch Mountain-City. Nur noch wenige Menschen befanden sich auf den Straßen, und auch diese beeilten sich, in das schützende Warm zu kommen.
Nicht weit entfernt der Kirche befand sich das Pub Mountincar. Eine kleine Kneipe, in der des Nachts meist ein reger Umtrieb herrschte. Soeben betrat ein alter Mann die Stufen, die hinab in das gruftartige Gewölbe führten. Durch einen derben Tritt stieß er die Tür vor sich auf, trat hindurch und knallte sie hinter sich wieder zu. Ein kurzer schmaler Gang, am Ende ein Vorhang. Hinter diesem verbarg sich die eigentliche Gaststätte. Wie gewohnt setzte er sich auf den äußeren Barhocker der Theke. Um diese Zeit war er noch der einzige Gast.
„Wie immer“, brummte er dem Wirt entgegen, der ihn nur anzublicken brauchte. Kurz darauf schob er ihm ein Glas Whisky zu. Nachdem der alte Mann, an die siebzig Jahre mochte er schon zählen, einen kräftigen Schluck genommen hatte, winkte er den Wirt durch eine kurze Handbewegung zurück.
„Ich habe gehört, irgend so ein verrückter Prediger hat irgendwelchen Quatsch vom Weltuntergang erzählt“, sprach er den Kneipenbesitzer an.
„Bin zufällig vorbeigekommen“, erwiderte der Wirt, sich mehr dabei entschuldigend.
„Wie sah der denn aus?“ fragte der Alte darauf interessiert.
Der Wirt zuckte mit der Schulter. „Ziemlich groß“, antwortete er verwundert über diese Frage.
„Wie, nur groß?“ Giftig blickte ihn der alte Mann dabei an.
Kopfschüttelnd wandte der Wirt sich von ihm ab. „Er hatte knallrotes Haar“, sagte er und schenkte sich selbst auch einen Whisky ein.
„Knallrotes Haar?“ wiederholte der Gast. Noch giftiger funkelten dabei seine Augen.
„Naja“, entgegnete der Wirt. Gelangweilt lehnte er sich wieder ihm gegenüber an die Theke. „Eher grelles rotes Haar. Und ebenso einen Bart bis hierhin.“ Er zeigte bei sich auf die Stelle, bis wohin er den Bart gesehen hatte. Nur ein wenig machte er ihn dabei länger.
„Und was hat er geschwafelt?“ bohrte der alte Mann weiter.
„Ach“, wehrte der Wirt ab. „So genau habe ich mir das nicht mit angehört. Er sagte irgendsowas von einem Propheten, oder mehrere, die früher mal verfolgt wurden.“ Der Wirt setzte sein Glas an den Mund und trank es in einem Zug leer.
„Das war doch nicht alles?“ bemerkte sein Gast etwas sarkastisch.
„Soll ich dir es vielleicht Wort für Wort wiedererzählen?“ entgegnete der Wirt genervt. Der alte Mann sah ihn zornig an.
„Ich bitte darum!“ gab er energisch zurück.
Der Wirt holte tief Luft. Er sah es seinem Gast an, daß es ihm todernst dabei war.
„Meinetwegen“, schluckte er. „Ich versuch mal, ob ich es noch zusammenbekomme. Aber nur weil du es bist, ja.“ Er schenkte sich noch ein Glas ein, bevor er zu reden begann.
„Viel ist es aber nicht“, bemerkte er beiläufig und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas. „Er sagte, daß das Ende nicht mehr weit weg ist“, begann er zu erzählen. „Vögel würden tot vom Himmel fallen, Babys nächtelang schreien. Der Mond so rot werden wie das Blut. Unser Blut soll es sein“, wieder setzte er sein Glas an den Mund, trank es leer und schenkte nach. Der alte Mann horchte ihm aufmerksam zu. „Dann sagte er noch was von einer Finsternis, die das Licht Gottes verdrängt. Dann soll er da sein. Wer, hat er nicht gesagt, aber wir sollen unsere Augen schließen und niemals hineinsehen. Ich glaube, er nannte das Wort Antlitz. Vielleicht sowas, wie ein Gesicht.“ Der Wirt versuchte einen Eindruck zu vermitteln, als erzähle er von jemandem, den er selbst für irrsinnig hält. Dabei war er einer von denjenigen gewesen, die den Prediger nicht aus den Augen gelassen hatten, während er zu ihnen sprach. Jedes Wort hatte er von dessen Lippen abgelesen – und für ernst genommen.
„Weiter“, drängte der alte Mann, als der Wirt nichts mehr sagte. Gleichzeitig streckte er ihm sein leeres Glas entgegen. Augenblicklich schenkte der Wirt nach. Mehrmals stieß er dabei mit der Flasche gegen das Glas.
„Kennst du Jancy“, fragte ihn der Wirt darauf. Der Alte schüttelte den Kopf.
„Jancy kommt auch öfters zu mir. Ein Rohbein. Wenn der zuschlägt, da wächst kein Gras mehr.“ Er nahm einen großen Schluck, tat so, als würde er seinen Mund ausspülen und ließ danach den Whisky seine Kehle hinunterlaufen. Fragend blickte ihn sein Gast dabei an. Mit Jancy konnte er nichts anfangen.
„Der hat zu dem Prediger gesagt, er soll sein Maul halten. Was dann geschah, sowas habe ich noch nie gesehen. Der Prediger starrte ihn an. Er sagte, das Böse hat viele Gesichter. Ob er sein Gesicht jedem offenbaren könnte, oder ob er jedem sofort das Maul stopfen will. Daraufhin hat er sich nur umgedreht und ist gegangen. Einfach gegangen. Unglaublich. Von Jancy hatte ich das nicht erwartet. Von dem nicht.“
„Das ist er“, zischte der alte Mann plötzlich zu sich. „Verdammt noch mal, wie alt war er, der Prediger?“ Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Wirt. Dieser wischte sich eben den Schweiß von der Stirn.
„Kann man schlecht sagen“, erwiderte er. „Der dichte Vollbart, auch stand ich nicht so dicht an ihm, daß ich seine Gesichtszüge hätte sehen können. Von weitem sah es aus, als wäre es voller Sommersprossen.“
Der Alte sprang hoch. „Das ist er“, entfuhr es ihm, diesesmal um vieles lauter. „Das ist der gottverdammte Hurensohn.“ Er zog eine Münze aus der Tasche und warf sie dem Wirt auf den Tisch.
„Dieser Jancy“, murmelte er. „Wie heißt der noch gleich mit dem Nachnamen?“
„McLean“, antwortete der Wirt. Abrupt wandte sich der Alte um und schritt eilig auf den Ausgang zu. Verdutzt blickte ihm der Kneipenbesitzer hinterher.
Auf direktem Weg begab sich der alte Mann in die nächstgelegene Telefonzelle. Es dauerte nicht lange, da hatte er den Namen im Verzeichnis ausfindig gemacht.
„McLean“, flüsterte er zu sich. „Jancy McLean.“ Hastig wählte er die Nummer.
„McLean“, meldete sich eine grobe Stimme.
„Der Prediger“, hauchte der Alte in die Sprechmuschel. „Ich bezahle Ihnen zehntausend Dollar.“
„Da sind Sie an der falschen Adresse“, kam es zurück. Gleichzeitig wurde der Hörer aufgehängt.
„Citystreet 21“, las der Alte die Adresse. Mit einem überlegenen Lächeln klappte er das Verzeichnis zu. So schnell er konnte verließ er die Zelle.
„Citystreet 21“, wiederholte er. Der Weg führte ihn direkt an der Kirchenmauer vorbei. Vor dem Einlaß blieb er für einen Moment stehen. Langsam wanderten seine Blicke dem Gemäuer empor.
„Bald habe ich dich“, fauchte er. Zorn spiegelte sich in seinen Augen. „Dann ist es vorbei mit dir, Hurensohn. Endgültig!“ Rasch setzte er seinen Weg fort. Wenig später stand er vor einem kleinen Haus. Citystreet 21.
„McLean“, stand auf dem Klingelschalter. Ohne Zögern drückte er drauf. Ein Poltern im Inneren des Hauses machte sich bemerkbar. Die Tür wurde geöffnet. Eine alte Frau stand ihm gegenüber.
„Was wollen Sie?“ fragte sie in einem barschen Tonfall.
„Jancy McLean“, nannte der Alte nur den Namen. Die Frau verschwand. Kurz später erschien ein großgewachsener breitschultiger Mann in der Haustür. Wütend musterte er den alten Mann.
„Jancy McLean?“ fragte der Alte. McLean nickte nur.
„Fünfzehntausend Dollar für den Prediger“, flüsterte ihm der Alte zu. McLean ballte seine Hand zu einer Faust. Noch wütender blickte er den Alten an.
„Ich gebe dir drei Sekunden, dann bist du verschwunden“, schnaubte er dem alten Mann ins Gesicht.
„Überlege es dir“, erwiderte der Alte. „Morgen um diese Zeit findest du mich vor der Kirche.“ Langsam wandte er sich um. McLean blickte ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war.
„Scheiß auf dein Geld“, zischte er in sich hinein. Kopfschüttelnd ging er ins Haus zurück. Nachdenklich zog er seine Stiefel an, schlüpfte in die Lederjacke und verließ das Haus. Vom oberen Fenster aus wurde er beobachtet, wie er in seinen schneeweißen Cadillac einstieg. Erst als er aus den Blicken der alten Frau entschwunden war, trat sie von dem Fenster zurück.
Auf dem Parkplatz vom Mountincar stellte McLean sein Fahrzeug ab. Eben wollte er die Stufen zu dem Pub hinabsteigen, da vernahm er ein Geräusch hinter sich.
„McLean“, flüsterte jemand seinen Namen. „Jancy McLean.“
Verwundert drehte er sich um. Niemand war zu sehen.
„Hier, McLean“, hörte er etwas weiter von sich entfernt. „Ich bin hier.“
„Wer ist da?“ rief McLean in die Dunkelheit.
„Du wirst es schon sehen, McLean“, kam es als Antwort.
„So nicht!“ erwiderte er, wandte sich dem Eingang zu und wollte eintreten. Im selben Moment drang ein klirrendes Geräusch an sein Ohr. Sein erster Gedanke galt seinem Cadillac. Blitzschnell sprang er die Stufen wieder hinauf. Entsetzt starrte er auf die Windschutzscheibe von seinem Auto.
„Du gottverdammte Mistsau“, schrie er aus vollem Hals. „Zeig dich, du Drecksack. Zeig dich, damit ich dir den Schuh in die Fresse treten kann!“
Wieder ein ohrenbetäubendes Klirren. Diesmal war es die Heckscheibe. Wie aus heiterem Himmel zersprang sie vor seinen Augen.
„Ich bin hier, McLean“, flüsterte es ihm entgegen. McLean zögerte nicht lange. Wutentbrannt stürzte er in die Richtung, aus der er die Stimme zu hören vermeinte.
Schon beim ersten Mal, als die Frontscheibe zerschlagen wurde, gingen einige Lichter in den naheliegenden Häusern an. Beim zweiten Bruch blickten einige zum Fenster hinaus, verschwanden aber sofort wieder, nachdem sie sich ein Bild von dem Geschehen gemacht hatten. Sie waren es gewohnt, daß vor dem Pub des öfteren eine Schlägerei zugange war. Viele Male schon wollten sie eine Schließung von der Kneipe bewirken, jedoch ohne Erfolg. McLean war demnach allein seinem Gegner ausgesetzt. Mit ausgreifenden Schritten rannte er auf die Kirchenmauer zu.
„Hier, McLean“, rief die fremde Stimme. „Hier drüben.“
McLean hetzte an der Kirchenmauer entlang bis hin zum Einlaß des heiligen Geländes. Keuchend blieb er davor stehen. Angestrengt horchte er in die Finsternis vor sich.
In diesem Moment begaben sich zwei Personen auf McLeans Cadillac zu. Als sie die eingeschlagenen Scheiben bemerkten, blieben sie erschrocken stehen.
„Jancy“, rief einer der beiden vorsichtig. McLean konnte es nicht hören.
„Jancy!“ wiederholte er sich, nun etwas lauter. McLean drehte sich um. „Bist du hier, Jancy?“ vernahm er deutlich das Rufen.
„Hone“, entfuhr es McLean. Er setzte an, um den Namen lauter zu rufen. Im gleichen Augenblick spürte er etwas Seltsames an sich. Erschrocken fuhr er herum. Nicht weit von ihm entfernt stand jemand. Undeutlich konnte er die Umrisse im Dunkeln erkennen. Plötzlich wurde er gepackt. McLean wußte nicht, wie ihm geschah. Die Gestalt vor ihm hatte sich keinen Millimeter gerührt, doch fühlte er es förmlich, daß die Gewalt von diesem Unbekannten herrührte. Ohne daß er berührt wurde, hob es ihn empor. In Sekundenschnelle schleuderte es ihn durch den Einlaß. McLean wurde schwarz vor Augen. Kurz darauf verlor er die Besinnung.
*
Rätselhafte Leiche
Washington – Am gestrigen Morgen machte der Geistliche von Mountain-City, einer Zweitausendseelenstadt, eine abscheuliche Entdeckung. Nicht unweit vom Einlaß des Kirchengeländes entfernt fand er eine auf die übelste Art zugerichtete Leiche. Laut dem ersten Obduktionsbericht ist einem erwachsenenen Menschen, wahrscheinlich bei lebendigem Leib, die Haut bis auf das Fleisch abgezogen, und seine Augen herausgerissen worden. Bisher konnte die Leiche nicht identifiziert werden. Auch wurde noch kein Bürger von Mountain-City für vermißt gemeldet.
Der Tat voraus mußte ein Streit vor dem Pub Mountincar gegangen sein, da dies von mehreren Bewohnern der umliegenden Häuser beobachtet wurde. Ein Cadillac, dem die Front- und Heckscheibe eingeschlagen wurde, war der Anlaß der Bewohner zur Neugierde. Jedoch konnten sie sich an keinen der Beteiligten erinnern. Auch behauptet der Besitzer dieses Cadillacs, ihm sei das Fahrzeug in jener Nacht entwendet worden. Er hat ein stichfestes Alibi, so daß er als Täter nicht in Frage kommt.
Sheriff Wilson, das rechtliche Oberhaupt von Mountain-City, hegt Vermutungen an okkultistische Hintergründe. Die Bürger von Mountain-City sind gebeten worden, so lange nachts in ihren Häusern zu bleiben, bis die Tat aufgeklärt worden ist.
„Verdammt!“ fluchte Jean Hensen. Wütend schleuderte er die Zeitung gegen die Wand. „Verdammt, verdammt, verdammt!“
Mit einem Ruck stand er vom Stuhl auf, so daß dieser polternd zu Boden fiel. Die Frau, die ihm gegenüber saß, starrte ihn verständnislos an. Jean war plötzlich aschfahl angelaufen. Mit jedem Wort, mit jeder Zeile zitterten seine Hände mehr. Nun hatte sie ihn doch noch erreicht, die Vergangenheit. Clouds Anruf hatte er noch verdrängen können, aber das –.
„Es führt kein Weg daran vorbei“, sprach er zu sich selbst. „Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen. Jetzt nicht mehr, jetzt nicht!“
„Von was redest du?“ wollte seine Freundin wissen. „Was ist denn in dich gefahren, Jean?“ Zögernd erhob sie sich von ihrem Platz. In solch einer Verfassung hatte sie ihn noch nie erlebt. In dem ganzen Jahr noch nicht, seit sie zusammen waren. Langsam kam sie Jean näher.
„Ich muß telefonieren“, sagte Jean auf einmal. „Ich muß sie unbedingt anrufen. Unbedingt! Wie konnte ich ihnen nur nicht glauben? Wie, verdammt noch mal! Wie?“
Petty, so hieß seine Freundin, wollte ihn vorsichtig berühren, doch noch bevor sie dazu kam, hatte Jean sich von ihr abgewandt und das Zimmer einfach verlassen. Erschrocken über diese unerwartete Abweisung stockte ihr der Atem. Innerlich bebend nahm sie die Zeitung zu sich. Auf Anhieb konnte sie nicht finden, was Jean so erschüttert haben konnte. Fiebrig begann sie jeden Artikel anzulesen. Auf einmal betrat Jean wieder das Zimmer.
„Sie sind schon weg“, hauchte er. „Ellinoy und Dumpkin. Verdammte Scheiße, wie konnte ich euch nur im Stich lassen. Ich hab unseren Schwur gebrochen. Ich, ich verdammter Idiot. Niemals kann ich das wiedergutmachen. Niemals!“ Niedergeschlagen setzte er sich auf die Eckbank, vergrub seinen Kopf in den Händen. Petty ließ sich neben ihm nieder, immer noch die Zeitung in der Hand.
„Schatz“, flüsterte sie ihm zu. „Sprich mit mir, bitte.“ Sachte legte sie einen Arm um seine Schulter. Jean registrierte es nicht.
„Was ist los mit dir“, versuchte sie es weiterhin. „So habe ich dich ja noch nie erlebt. Du machst mir angst.“
Jean hob seinen Kopf. Mit blutunterlaufenen Augen sah er auf Petty. „Ich muß gehen“, hauchte er. Kaum nur bewegten sich seine Lippen. „Petty, ich muß gehen – für immer, Petty. Für immer.“
Entgeistert sah sie ihn an. „Was redest du denn da“, kam es ängstlich aus ihr hervor.
„Zu lange liegt es zurück, Liebes“, erwiderte Jean. Krampfhaft ballte er seine Hände zu einer Faust. „Nun ist es soweit. Dieses gottverdammte Buch, es treibt ein böses Spiel. Ein Spiel, das wir verlieren werden. Verstehst du, Petty? Wir werden dieses Spiel verlieren. Es ist aus. Einfach aus!“ Jeans Körper zitterte. Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Schweiß hatte sein Hemd durchnäßt. Petty ergriff seine Hände.
„Ich versteh nicht, was du meinst, Jean. Bitte, sag es mir. Bitte, Jean. Du kannst mich doch nicht einfach im Stich lassen.“ Flehend blickte sie ihm in die Augen. Eine Träne löste sich und rollte über seine Wangen.
„Ich, ich habe es geträumt, Kleines“, stammelte er. „Ich habe diese gottverdammte Geschichte geträumt. Heute nacht, sie war da, nun wieder. Er ist es, Er – er will uns – mich.“
„Aber ich bin doch bei dir, Jean“, weinte sie. „Immer werde ich bei dir sein. Ich, ich liebe dich, Jean.“ Ihre Hände klammerten sich an ihn, als wolle sie niemals wieder von ihm lassen. Noch vor wenigen Minuten hatten sie miteinander gelacht. Spaß miteinander gehabt. Plötzlich, vollkommen unerwartet lag etwas in der Luft, das ihr den Atem raubte. Etwas Furchterregendes. Eine Ahnung, die sie pausenlos zu martern versuchte.
Langsam, sehr langsam bewegte sich Jeans Kopf hin und her. „Es ist besser, du gehst.“
Petty zuckte zusammen. Wieder und wieder verkrampfte sich ihr Magen. „Du – schickst – mich – weg?“ brachte sie nur mühevoll hervor. Ihre Finger lösten sich. „Warum?“ schluchzte sie. Mit dem Ärmel fuhr sie sich über das Gesicht.
„Laß uns ein anderes Mal darüber reden“, entgegnete Jean. „Wenn ich wieder zurück bin.“
„Ein – anderes – Mal?“ Petty bekam wieder Hoffnung. War doch nicht alles verloren?
Jean nickte. Schwer atmend stand er auf. Schwankend zwängte er sich dem Tisch entlang zur Tür. Öffnete sie.
„Leb wohl, Kleines“, flüsterte er ihr zu. „Leb wohl.“
Petty wußte nicht, was sie davon zu halten hatte. Erstarrt blickte sie auf die Tür, die sich hinter Jean wieder schloß. Minuten verstrichen. Minuten der Verzweiflung, in denen sich Tausende von Gedanken in ihr widerspiegelten. Erinnerungen. Erinnerungen mit Jean, ihrem Geliebten. Erst jetzt, in diesen Minuten wurden ihr bewußt, wie sehr sie an ihm hängt, ihn braucht. Soll das nun alles vorüber sein? Auf einmal, plötzlich, ohne Vorwarnung, ohne daß irgend etwas zwischen ihnen geschehen ist? Bestimmt kommt er gleich wieder zurück, legt seine Arme um sie und sagt – Hallo Kleines. Wie er es immer zu tun pflegt, wenn sie einmal eine Meinungsverschiedenheit gehabt hatten.
Ein Schuß zerriß die drückende Stille. Petty schreckte hoch. Entsetzt stürzte sie aus dem Zimmer. Der Schuß kam aus dem Nebenraum. Jeans Arbeitszimmer. Nur vorsichtig getraute sie die Tür von sich zu drücken. Stück für Stück. Ihre Hände zitterten. Alles an ihr begann zu zittern. Petty schrie, starrte auf den Schreibtisch und schrie. Vornübergebeugt saß Jean auf dem Stuhl. Blut floß aus einer kleinen Wunde an der Schläfe. In der einen Hand hielt er einen Revolver, die andere Hand berührte einen Stift. Einem Zusammenbruch nahe wankte Petty auf den Schreibtisch zu. Zwei Dreiecke, zwei ineinandergreifende Dreiecke, das Siegel Salomon, war auf den Tisch gemalt. Petty brach ohnmächtig zusammen.
*
„Mountain-City, hier ist es“, sagte Cloud zu seinem Freund, als sie an dem Ortsschild vorbeifuhren. Mehrere Stunden schon waren sie unterwegs. Mehrere Stunden, in denen sie fast kein Wort miteinander gesprochen hatten. Auch sie hatten am Morgen den Bericht in der Tageszeitung gelesen, worauf sie sich sofort auf den Weg nach Mountain-City machten. Nur wenige Kilometer von dem Internat entfernt, das ihr nächstes Ziel sein sollte.
„Mountincar“, erwiderte Eduard. „So schwer dürfte es ja nicht zu finden sein.“
„Sehr groß ist es ja nicht“, meinte Cloud darauf. Nervös rieb er auf seiner Narbe entlang. „Am besten, wir fangen bei der Kirche an. Vielleicht ist noch irgend etwas zu sehen.“
Eduard nickte. Von weitem schon sahen sie die Kirchturmspitze über die Dächer von Mountain-City hinausragen. Eduard steuerte seinen Rangerover direkt darauf zu. Mit mißtrauischen Blicken beobachteten die Bewohner den fremden Wagen, der in der Nähe der Kirche zum Stehen gebracht wurde. Gleichzeitig verließen Cloud und Eduard das Fahrzeug.
„Da ist das Pub Mountincar“, fiel Eduard sofort ins Auge.
„Das Kirchengelände ist abgeriegelt“, erwiderte Cloud. Enttäuscht musterte er die weitgehende Absperrung, die um den Einlaß des Kirchengeländes angebracht wurde. Vom Inneren des Geländes drangen laute Stimmen zu ihnen hinüber. Polizeiarbeiten waren gerade im höchsten Gange.
„Dann gehen wir in das Pub“, entschied Eduard. „Vielleicht kann uns der Wirt einiges erzählen.“
Hintereinander stiegen sie die wenigen Stufen zu dem Pub hinunter. Dicke, verrauchte Luft, die ihnen für einen Moment den Atem raubte. Stimmen drangen ihnen entgegen. Eduard schob den Vorhang beiseite. Augenblicklich verstummte das Gerede. Dicht gefolgt von Cloud betrat er den Raum. Ein Tisch war von mehreren Personen besetzt. Sämtliche Augen richteten sich auf die Neuankömmlinge. Argwöhnisch wurden sie von oben bis unten gemustert. Schon ihre feine Kleidung gab genügend Anlaß dazu. Nebeneinander setzten sich Eduard und Cloud an die Theke. Langsam kam der Wirt auf sie zugeschritten. Die abgebrochene Unterhaltung der Gäste wurde fortgesetzt.
„Was darf es sein?“ fragte der Wirt, indem er einen nach dem anderen anblickte.
„Eine Tasse Kaffee“, antwortete Eduard. Cloud nickte nur, worauf der Wirt ihnen das Gewünschte zubereitete.
„Fremd hier“, bemerkte der Kneiper beiläufig, als er ihnen den Kaffee auf die Theke stellte.
„Was ist denn da draußen passiert?“ nahm Cloud sofort den Anlaß zum Fragen.
Der Wirt warf einen Blick über Clouds Schulter hinweg auf den besetzten Tisch. Niemand schien sich mehr für die Neuankömmlinge zu interessieren.
„Haben Sie es nicht in der Zeitung gelesen?“ fragte er darauf. Cloud schüttelte seinen Kopf.
„Vor der Kirche ist jemand ermordet worden“, flüsterte er ihnen darauf zu. Sichtlich froh darüber, jemandem diese schreckliche Neuigkeit unterbreiten zu können.
„Ermordet?“ tat Eduard erschrocken. Sofort hatte er erkannt, daß der Wirt einer von den Typen war, die sich gern bei anderen wichtig machen wollen.
„Irgend so ein Wahnsinniger“, redete der Wirt in gedämpftem Tonfall weiter. „Die Haut hat er ihm abgezogen. Wenn ich daran denke, läuft es mir eiskalt über den Rücken.“
„Die – Haut abgezogen?“ Eduard sah den Wirt mit aufgerissenen Augen an. Cloud tat, als würde es ihn bei dem Gedanken frösteln.
Wieder blickte der Wirt auf den Tisch. Eine angeregte Diskussion schien sie vollkommen in Anspruch zu nehmen. Beruhigt wandte er sich wieder seinen Gesprächspartnern zu.
„Sie sagen, bei lebendigem Leib“, flüsterte der Wirt weiter. „Möchte bloß wissen, was für ein Mensch das ist, der so etwas macht.“
„Ist vielleicht besser, Sie erfahren es nie“, erwiderte Cloud. Vorsichtig nippte er an seinem heißen Kaffee.
„Wissen Sie“, schwatzte der Wirt, indem er sich den beiden ein Stück über die Theke näherte, „ich glaube, daß der Prediger etwas damit zu tun hat.“
Cloud horchte auf. Eduard stellte seine Tasse wieder zurück. „Was für ein Prediger?“ fragte Eduard leise. Dabei versuchte er so gelassen wie nur möglich zu erscheinen.
„Seit ein paar Tagen ist der schon hier“, sagte der Wirt. „Ich habe ihm zugehört, wie er zu den Leuten gesprochen hat. Der hat irgend etwas an sich, das – das“, er suchte nach dem passenden Begriff. In diesem Moment wurde der Vorhang zur Seite geschoben. Jancy McLean betrat den Raum.
„Hallo, Jancy“, rief ihm einer der Anwesenden entgegen. Kurz winkte ihm McLean zu, begab sich aber direkt in die Richtung der Theke. Mit wenigen Blicken nur musterte er zuerst Cloud, dann Eduard. Einen Hocker zwischen ihnen freilassend setzte er sich an den Tresen.
„Tag, Jancy“, grüßte ihn der Keeper. „Bier?“
McLean nickte. Der Wirt reichte ihm eine Flasche und ein Glas. McLean nahm es entgegen und schenkte sich ein.
„Hey, Jancy“, rief ihn derselbe wieder an. „Warum setzt du dich nicht zu uns?“
McLean wandte sich um, betrachtete einen nach dem anderen und stand auf. Vom Nebentisch nahm er sich einen Stuhl, den er einfach zwischen zwei anderen schob.
„Dein Cadillac wieder o.k.?“ wurde er gefragt.
McLean zog sich eine Zigarre aus der Lederjacke. „Alles wieder beim alten“, murmelte er. Einer neben ihm streckte ihm ein brennendes Streichholz vor die Zigarre. Genüßlich sog er den Rauch in sich hinein.
Der Wirt wandte sich wieder Eduard und Cloud zu. „Der hat auch irgend etwas damit zu tun“, raunte er ihnen entgegen. Cloud hatte schon verstanden. Eduard sah den Zeitungsartikel in Gedanken vor sich. Cadillac, das war der springende Punkt. Wo das Wort gefallen war, sahen sich die beiden wie erschrocken an.
„Der Prediger“, hakte Eduard wieder ein. „Wie sah der denn aus?“
„Wie der aussah?“ Der Wirt zog seine Augenbrauen zusammen. Er mußte an den alten Mann denken, der ihn auch dasselbe gefragt hatte.
„Wissen Sie“, sagte Eduard sofort darauf, „ich bin Schriftsteller. Momentan schreibe ich an einem Buch, das sich zum größten Teil um einen Prediger handelt. Reine Neugierde, nichts anderes.“
Das Gesicht des Wirts hellte sich wieder auf. Einen Schriftsteller hatte er noch nie in seinem Pub gehabt.
„Wollen Sie noch etwas trinken?“ fragte er lächelnd. Gleichzeitig stellte er zwei leere Gläser vor ihnen hin.
„Lieber noch mal einen Kaffee“, sagte Cloud darauf. Diesmal war es Eduard, der einfach nur nickte. Der Wirt schenkte ihnen nach.
„Wie der aussah“, sprach er nebenher weiter. „Ziemlich groß und kräftig. Trägt immer einen Umhang. So ’ne Art Mönchskutte. Einen Bart hat er bis hier hin“, wieder zeigte er bei sich auf die Stelle. „Feuerrotes Haar hat er. Und ich glaube, sein Gesicht ist voller Sommersprossen.“ Er stellte die Kanne zurück. Dabei entgingen ihm die Blicke, die Cloud und Eduard einander zuwarfen.
„Hey, Sam“, rief auf einmal McLean. „Bring mir doch noch ’n Bier.“
Eduard blickte verstohlen zu McLean hinunter, der sich soeben wieder umdrehte. Sam, der Wirt, brachte McLean eine neue Flasche. Er wollte sie nur hinstellen und dann sofort wieder gehen, doch hielt McLean ihn am Handgelenk fest.
„Ich habe eben etwas von einem Prediger gehört“, sagte er zu ihm in einem scharfen Ton. Doch nur so, daß es nicht weit gehört werden konnte. Eindringlich sah er den Wirt dabei an. „Ist mir vielleicht lieber, wenn du da nicht soviel rumerzählst. Vor allem Fremden nicht. Klar?“
„In Ordnung, Jancy“, erwiderte Sam kleinlaut. McLean ließ ihn darauf wieder los. Eduard war diese kleine Unterredung nicht entgangen. Verstehen jedoch hatte er nichts können. Sam begab sich wieder hinter seinen Ausschank, ohne sich des weiteren um Eduard und Cloud zu kümmern.
„Wir sollten uns nach einem Nachtquartier umsehen“, bemerkte Eduard nach einer Weile. Ungefähr konnte er sich den kurzen Wortwechsel nun zusammenreimen.
„Wird wohl besser sein, wir verdrücken uns“, erwiderte Cloud leise. Er zog seinen Geldbeutel heraus und legte mehrere Münzen auf die Theke. Auf das gewohnte Geräusch hin wandte der Wirt sich ihnen zu.
„Macht genau fünf Dollar“, sagte er nur. Er konnte es nicht unterlassen, zu McLean hinüberzusehen. Dieser war ebenfalls im Begriff, sich zu erheben. Keine Minute später verließ auch er das Pub. Mit starrem Blick beobachtete McLean, wie Cloud und Eduard in den Rangerover einstiegen.
„Das ist er!“ zischte Cloud, nachdem Eduard den Wagen gestartet hatte. „Verdammt noch mal, das ist Rouven.“
„Möchte wissen, was dieser Jancy mit ihm zu tun hat“, erwiderte Eduard. „Ist dir auch aufgefallen, daß er uns gefolgt ist?“
„Mir ist es nicht entgangen“, entgegnete Cloud grimmig. „Irgend etwas hat er zu dem Keeper gesagt. Wir sollten ihn ein wenig im Auge behalten.“
Langsam steuerte Eduard sein Fahrzeug durch die Straßen von Mountain-City. Nirgends war ein Hotel zu sehen, oder auch nur etwas, das den Anschein danach machte. Straße für Straße suchten sie sämtliche Häuser ab. Geraume Zeit war bereits vergangen, als sie am Ende der Stadt das Wort Motel mit großer Leuchtschrift an einem etwas größeren Gebäude angebracht lasen. Der Abend war bereits am Hereinbrechen, als sie aufatmend das Motel betraten. Eine kleine Empfangshalle, die jedoch nur mit sehr viel Phantasie als dieses erkannt werden konnte. Rechter Hand dieser Empfangshalle befand sich ein kleiner Raum. Anmeldung stand auf einer Tafel mit Kreide über der Tür geschrieben. Eduard betrat als erster den Raum. Eine alte Frau saß an einem von Papieren überhäuften Tisch. Sie erhob erst ihren Kopf, als auch Cloud den Raum betrat. Dieselbe Frau, wie sie der alte Mann in der Citystreet 21 angetroffen hatte. Jancy McLeans Mutter.
„Sie wünschen?“ fragte sie nicht gerade freundlich die Eintretenden.
„Zwei Einzelzimmer“, antwortete Eduard ebenso kurz.
„Tut mir leid“, schüttelte die Frau ihren Kopf. „Es ist nur noch ein Doppelzimmer frei. Nehmen Sie es?“
Für einen Moment sahen sich die beiden an, worauf sie gleichzeitig nickten.
„Bezahlt wird im voraus“, sagte darauf die Frau. „Für die Nacht berechne ich fünfzehn Dollar. Mit Frühstück zwanzig Dollar. Wie lange wollen Sie bleiben?“
„Unbestimmte Zeit“, erwiderte Eduard. „Vorerst mal nur für drei Tage. Mit Frühstück.“
„Das macht einhundertzwanzig Dollar.“ Sie zog einen Block unter irgendwelchen Papieren hervor. Auffordernd blickte sie ihnen nacheinander ins Gesicht. Ohne lange zu zögern zog Eduard mehrere Scheine aus der Innentasche seines Mantels. Abgezählt legte er die Dollars auf den Tisch. Beinah gierig griff die alte Frau danach.
„Einhundertzwanzig“, bestätigte sie, nachdem sie es überprüft hatte. „Welcher Name?“
Eduard setzte gerade an, um ihr zu antworten, da kam ihm Cloud zuvor.
„Marlek“, sagte er schnell. Die Frau schrieb den Namen auf den Block und reichte ihn Cloud zur Unterschrift. „Bitte unterschreiben Sie“, forderte sie ihn auf. Gewandt setzte Cloud den falschen Namen darunter.
„Wo ist das Zimmer?“ wollte er darauf wissen. Die Frau nahm einen Schlüssel aus der einzigen Schublade hervor.
„Treppe hoch, den rechten Gang entlang, linke Tür“, erklärte sie kurzerhand den Weg. „Wenn Sie irgend etwas noch benötigen, dann sagen Sie es gleich. Ansonsten bin ich erst morgen früh wieder zu sprechen.“
„Bettzeug, Waschgelegenheit, alles vorhanden?“ fragte Eduard im selben Tonfall.
„Sie finden alles auf dem Zimmer. Frühstück gibt es ab acht Uhr in unserem kleinen Aufenthaltsraum gegenüber der Empfangshalle.“
Cloud steckte den Schlüssel in seine Manteltasche.
„Dann wissen wir ja jetzt alles“, sagte er knirschend zu sich selbst und wandte sich um. Eduard folgte ihm auf den Schritt. Die Frau ließen sie einfach stehen. Wortlos blickte sie ihnen mit zusammengekniffenen Augen hinterher.
„Marlek“, flüsterte Eduard, als sie die Stufen hinaufstiegen. „Ich hatte den selben Gedanken.“
„Mir wäre beinah der Kragen geplatzt“, zischte Cloud. „Was bildet dieses Weib sich eigentlich ein?“
„Wenigstens haben wir ein Zimmer“, versuchte Eduard ihn zu beruhigen. „Wir sollten uns ein wenig ausruhen. Möchte mir heute nacht mal die Kirche etwas näher ansehen.“
Cloud zählte fünf Türen. Ihre war die sechste. „Es würde mich eigentlich gar nicht wundern, Rouven darin anzutreffen“, erwiderte er. Geräuschlos ließ sich die Zimmertür öffnen. Eduard knipste den Lichtschalter an, der sich gleich neben dem Türrahmen befand.
Zwei Betten, eines links an der Wand, das andere rechts. In der Mitte davon stand ein Nachttisch mit zwei Schubladen. Wahrscheinlich war für jedes Bett eine zugedacht. Gegenüber den Betten, direkt neben der Tür, befand sich ein Schrank. Links von der Tür, in einer kleinen Nische, war ein noch kleineres Waschbecken angebracht. Der Rest eines Spiegels hing noch darüber. In der gegenüberliegenden Wand befand sich hinter einem dünnen Vorhang das Fenster. Auf dieses schritt Eduard zu. Vorsichtig schob er den Vorhang etwas beiseite. Erschrocken fuhr er wieder zurück.
„Was hast du?“ fragte Cloud, der ihn beobachtet hatte. Leise schloß er hinter sich die Tür.
„Da unten steht dieser Jancy“, flüsterte er zurück.
Cloud knipste das Licht wieder aus. Er stellte sich dicht neben Eduard, der den Vorhang wieder etwas beiseite schob. Das Zimmer lag auf der Rückseite des Hauses, auf der sich ein kleiner Garten befand. Zwei Laternen, jeweils an einem Eckpunkt des Gartens, erleuchteten die Terrasse sowie das wenige Stück Rasenfläche. Hinter dieser Rasenfläche begann der angrenzende Wald, von dem Mountain-City beinah eingeschlossen wurde.
Jancy McLean lehnte an einer dieser Laternen. Seine Arme hielt er verschränkt, seinen Blick auf den Boden gerichtet. Unbewußt griff Cloud in seine rechte Hosentasche. Fest umklammerten seine Finger das Springmesser, das jahrelang nur in einer Schublade gelegen hatte. Mehrere Minuten verstrichen, ohne daß etwas geschah. Wie erstarrt stand McLean an der Laterne und regte sich um keinen Millimeter.
Auf einmal bewegte sich ein Schatten von der Seite des Hauses auf ihn zu. McLean blickte auf. Die alte Frau trat in den Schein der Laterne. Vor McLean blieb sie stehen. Sie wechselten einige Worte miteinander. Plötzlich drehte die Frau sich um und zeigte mit dem Finger in die Richtung von dem Fenster, hinter dem Cloud und Eduard sich befanden. McLean richtete sich auf, warf einen kurzen Blick nach oben, nickte und entschwand ihren Blicken. Die alte Frau bewegte sich langsam wieder auf das Haus zu.
„Was hat das zu bedeuten?“ fragte Cloud. Seine Stimme vibrierte ein wenig, als er das fragte. Eduard knipste das Licht wieder an.
„Ich hab kein gutes Gefühl“, erwiderte er. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er auf seinen Freund. „Laß uns von hier verschwinden, Dumpkin“, setzte er hinzu. „Der Rangerover besitzt eine Standheizung und bietet für uns zwei genügend Platz zum Schlafen.“
„Je schneller, desto besser“, entgegnete Cloud.
Eduard löschte wieder das Licht. Leise öffnete er die Tür. Der Lichtstrahl von der Flurbeleuchtung fiel durch den Türspalt. Angestrengt horchte er den Gang entlang. Kein Laut war zu vernehmen.
„Merkwürdig“, flüsterte Cloud. „Für ein vollbesetztes Hotel kommt mir das ein wenig zu ruhig vor.“
Eduard trat auf den Flur. Lautlos bewegte er sich auf die nebenliegende Tür zu. Cloud folgte ihm. Eduard versuchte in das Innere des Zimmers zu lauschen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, kein Ton drang daraus hervor. Skeptisch drückte er die Klinke hinunter. Wider Erwarten ließ die Tür sich öffnen. Stück für Stück drückte er sie auf. Der Lichtstrahl vom Flur genügte, um erkennen zu lassen, daß es sich um ein Einzelzimmer handelte.
„Unbenützt“, stellte Eduard sofort fest. Lautlos schloß er wieder die Tür. Dasselbe machten sie mit dem Zimmer daneben. Auch ein Einzelzimmer. Ebenso unbenützt. Genauso das Zimmer danach. Das wiederum war ein Doppelzimmer. – Unbenützt!
„Was ist das für ein Spiel?“ zischte Cloud. Er griff in die Hosentasche und zog sein Taschenmesser hervor. Ein kurzes Klicken, und die Klinge sprang aus dem Schaft.
„Du hast es immer noch“, bemerkte Eduard. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte er sich einem Grinsen nicht erwehren können. „Tun wir so, als wollten wir nur unser Gepäck holen, wenn uns jemand begegnet.“
Cloud verstand diesen Hinweis. Er ließ die Klinge wieder im Griff verschwinden, behielt ihn jedoch in der Hand. Jederzeit bereit, das Messer im Notfall auch zu gebrauchen.
Die Treppe war nicht mehr weit von ihnen entfernt. So gelassen wie möglich stiegen sie die Stufen hinunter. Auch in der Empfangshalle war das Licht eingeschaltet. Ungewöhnliche Stille herrschte um sie herum. Nicht der geringste Anschein von irgendwelchem Personal oder Gästen.
Eduard legte seine Hand an die Eingangstür, wollte sie öffnen. Vergebens.
„Zu“, entfuhr es ihm erschrocken.
„Dieses verdammte Miststück!“ zischte Cloud. Gleichzeitig ließ er die Klinge wieder aus dem Schaft schnellen. Im selben Moment wurde es dunkel. Jemand hatte das Licht ausgeschaltet.
Eduard rüttelte an der Tür.
„Was jetzt?“ flüsterte Cloud. „Wir sitzen in der Falle.“
„Hallo, Cloud“, vernahmen sie plötzlich hinter sich eine leise Stimme. „Cloud Wallis. Eduard Lony. Willkommen zu Hause. Willkommen daheim.“
Cloud packte Eduard am Handgelenk. Entsetzt starrte er auf seinen Freund, dessen Umrisse er nur undeutlich erkennen konnte.
„Könnt ihr euch noch an mich erinnern?“ sprach die Stimme weiter. „Wißt ihr noch, wer ich bin?“
„Gott verdamme ihn“, zischte Eduard. Mit aller Kraft versuchte er es von sich zu weisen, das Gesicht. Es wollte in ihn dringen, sich ihm zeigen, seinen Willen brechen.
„Das Versprechen“, hauchte es, „ihr müßt es noch einlösen. Ihr wißt doch, was ich meine?“ Es war, als würde er überall sein. Von jeder Seite drang die Stimme an ihre Ohren. Unmöglich, den genauen Standpunkt auszumachen.
„Richmon?“ entfuhr es Cloud. Abrupt ließ er Eduard wieder los. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel.
„Ihr wißt es also doch“, entgegnete die Stimme. „Immer noch seid ihr es mir schuldig. Siebzehn Jahre schon. Eine verdammt lange Zeit.“
Auf einmal war ihnen, als würde sich unweit der Treppe etwas bewegen, sich ihnen nähern. Cloud zuckte zusammen. Eduard machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Mit dem Rücken stieß er gegen die Tür.
„Auf euer Leben habt ihr geschworen“, flüsterte die Stimme mit zynischem Unterton. „Nun ist es soweit. Ihr habt die Wahl. Das Buch, oder euer Leben.“ Das Geräusch hielt inne. Nur noch wenige Schritte schien es von ihnen entfernt zu sein. „Er befindet sich hier“, setzte es fort. „Will sie alle bekehren, der Narr. Dabei weiß er, daß es längst schon zu spät ist. – Bringt mir das Buch! Ich will, daß ihr es dorthin zurücklegt, von wo ihr es genommen habt. Und vergeßt nicht, euer Leben ist auch das Leben eurer Kinder.“
Eduard klammerte sich mit ausgebreiteten Armen am Türrahmen fest. Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Mit einem Male war es wieder still. Kein Laut, nichts. Plötzlich wurde das Licht angeschaltet. Eduard konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken.
„Es – ist – wieder – da“, stammelte er. „Ich sehe es deutlich vor mir. Dumpkin, hilf mir, verdammt noch mal, hilf mir doch.“
Cloud wandte sich seinem Freund zu. Sein Gesicht war kalkweiß angelaufen. Zitternd legte er Eduard eine Hand auf dessen Schulter.
„Er ist fort“, sagte er kaum hörbar. Die sanfte Berührung schien Eduard zu helfen. Allmählich verschwand das Gesicht, das ihn mit den großen dunklen Löchern immerzu anstarrte. Als würde sich ein grauer Schleier davorlegen, der von Mal zu Mal dichter wurde.
„Aber er kommt wieder, Ellinoy.“
„Das war nicht Richmon“, entgegnete Eduard. „Richmon ist tot. Das war ER.“
Cloud nickte. „Tun wir, was ER von uns will!“ erwiderte Cloud bestimmend. „Das ist unsere einzige Chance.“
„Dieses verdammte Buch“, hauchte Eduard. Er sah es vor sich liegen, wie er es damals aus der sechsundsechzigsten Stufe geholt hatte. Mit dem Schwur auf den Lippen, Sallivan ein für allemal zu erledigen. Eiskalt lief es Eduard über den Rücken, wenn er an das Ende von Sallivan dachte. Als sei es erst gestern gewesen, erst vor wenigen Stunden, so genau hatte es sich in ihn eingeprägt.
Ohne es eigentlich beabsichtigen zu wollen, drückte Eduard die Klinke der Eingangstür hinunter. Sie war nicht mehr verschlossen. Ein kalter Luftzug drang ihnen durch die Öffnung entgegen. Verwundert blickten sie sich für einen Moment gegenseitig an.
„Gehen wir in die Kirche“, schlug Cloud vor. Immer noch stand ihm der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Im selben Moment, wie sie das Hotel verließen, wurde nicht weit von dem Gebäude entfernt ein Wagen gestartet. Kurz darauf schoß ein schneeweißer Cadillac an ihnen vorüber.
„Jancy“, stieß Cloud zwischen den Zähnen hervor und blieb stehen. Eduard zog seinen Mantel etwas enger zusammen. Wie erstarrt blickten sie dem Cadillac hinterher, bis er ihren Augen in der Dunkelheit entschwand.
Die Straßen von Mountain-City waren menschenleer. Eduard stellte seinen Rangerover etwas abseits der Kirche in einer Nebenstraße ab. Immer noch war das Kirchengelände weiträumig abgeriegelt. Langsam schlenderten sie der Mauer entlang. Diese maß ungefähr eineinhalb Meter. An einer Stelle, die nicht von Straßenlaternen beleuchtet wurde, überwanden sie mit einer Leichtigkeit das Hindernis. Für kurze Zeit weilten sie in gebückter Haltung. Vor ihnen lag die hintere Seite der Kirche. Rechts neben ihnen begann sich ein kleiner Friedhof zu erstrecken.
„Die Kirche besitzt keinen Hintereingang“, bemerkte Eduard leise.
„Schleichen wir uns vor“, erwiderte Cloud, richtete sich ein wenig auf und eilte auf die Kirche zu. Eduard folgte ihm dicht auf den Fersen. Vorsichtig tasteten sie sich in die Richtung des Einganges. Meter für Meter schlichen sie an der Mauer entlang. Plötzlich war Cloud, als sehe er etwas sich auf die Kirche zubewegen. Abrupt blieb er stehen. Mit einem Wink machte er Eduard darauf aufmerksam. Eine Gestalt, die direkt auf den Eingang der Kirche zuschritt. Zu dunkel, um Genaues erkennen zu können. Cloud machte noch einen Schritt vor, bis hin zum Ende des Gemäuers. Die Gestalt befand sich nun direkt vor dem Eingang. Cloud konnte nur so etwas wie einen Umhang erkennen. Und eine Kapuze, die den Kopf bedeckte, doch ahnte er bereits, wen er vor sich hatte. Fast keine Geräusche verursachend betrat die Person das Gotteshaus. Cloud wandte sich Eduard zu.
„Bin mir nicht ganz sicher“, raunte er ihm ins Ohr. „Der Beschreibung nach könnte es Rouven gewesen sein.“
Eduard wollte etwas erwidern. Wie zufällig fiel sein Blick auf die Mauer, von der das kirchliche Gelände umfaßt wurde. Ungefähr zehn Meter befand sie sich vom Eingangsbereich der Kirche entfernt. Im Schein einer Straßenlampe sah er, wie sich noch eine Gestalt von dieser Mauer löste und langsam auf den Eingang zuschritt.
„Da kommt noch jemand“, hauchte er nur. Cloud lenkte seinen Blick in dieselbe Richtung.
Eine kleinere Gestalt, die sich mit ausgreifenden Schritten über den Rasen hinweg bewegte. Erst kurz vor dem Eingang hielt sie inne. Cloud konnte nicht genau sehen, was sie tat, aber er hatte den Eindruck, als hielte die fremde Person einen Revolver in der Hand. Ebenso geräuschlos betrat sie die heilige Stätte.
„Ich glaub, der hat einen Revolver“, flüsterte Cloud.
„Verdammt!“ fluchte Eduard. „Das fehlte uns noch.“
„Gehen wir hinterher“, meinte Cloud darauf. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er auf den Eingang zu. Eduard blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. Erstaunlich leicht ließ sich die Tür öffnen. Lautlos schlichen sie hinein. Ein kleiner Vorraum, in dem sie sich nun befanden. Vor ihnen eine weitere Tür. Diese stand offen. Ein leichter Schimmer fiel durch die Öffnung. Von einem Menschen nicht die geringste Spur.
Langsam, sehr langsam bewegten sie sich auf die Öffnung zu. Sie hatten sie noch nicht ganz erreicht, da erscholl eine Stimme vom Inneren des Messesaales, die sich an den Wänden widerbrach, um dann in einem Echo zu ersticken. Erschrocken wichen sie zurück.
„Warum willst du mich töten?“ wurde laut und deutlich gesprochen. Keine Antwort. Schweigen.
„Ich weiß, daß du mir gefolgt bist“, sprach der Redner weiter. „Du brauchst dich nicht zu verstecken.“
„Du bist schuld!“ kam es auf einmal zurück. „Du hast sie auf dem Gewissen, nur du allein!“
Cloud kniete sich auf den Boden. Eduard folgte seinem Beispiel. Vorsichtig krochen sie vorwärts, bis sie etwas zu sehen bekamen.
Mehrere Kerzen erleuchteten den Altar, den sie jedoch nicht vollkommen erkennen konnten. Eine große, breitschultrige Gestalt stand davor. In ein Mönchsgewand gekleidet, die Kapuze über den Kopf gestülpt, den Rücken ihnen zugewandt. Die zweite Person war nirgends ausfindig zu machen.
„Du selbst bist an allem schuld“, entgegnete der in dem Mönchsgewand, ohne sich dabei umzudrehen. „Dein Leben ist dein Schicksal.“
„Aber nicht das Leben meiner Frau und meiner Kinder. Sie hatten nichts damit zu tun!“
„Sie stammen von deinem Fleisch und deinem Blut. Du hast gewußt, daß es so kommen wird. Schon immer lag es in deiner Macht, dies zu verhindern.“
„Zu verhindern!“ Cloud konnte es sehr deutlich vernehmen, das typische Klicken, wie wenn ein Revolverhahn gespannt wird.
„Du kannst mich töten“, sprach darauf der Mönch. „Aber beantworte mir zuvor eine Frage“, abrupt drehte er sich um. Vom Gesicht war nichts zu erkennen, nur ein langer dichter Bart, der sich spitzförmig zusammenkreuselte, war undeutlich auszumachen.
„Ich höre“, forderte der andere ihn auf, nachdem der Mönch nichts sagte.
„Warst nicht du es selbst, der deinen Kindern das Leben genommen hat?“
Ein deutliches Schnaufen drang an Clouds und Eduards Ohren. Auf einmal trat die kleinere Gestalt in ihr Blickfeld. Rechter Hand die Schußwaffe, den Lauf auf den Boden gerichtet.
„Ich – meine – Kinder?“ stammelte er.
„Du selbst warst es, du hast dein Haus angezündet. Deine Kinder hatten nicht die geringste Chance, zu entkommen.“
Wankend trat der Kleinere dem Mönch entgegen. „Dann – weißt du auch, daß meine Kinder zuvor ihre Mutter, meine Frau getötet –?“
„Auch du hast damals in sein Angesicht geblickt“, unterbrach ihn der Mönch. „Durch dich konnte er deine Kinder erreichen. Nur durch dich allein.“
Jäh blieb der Kleine stehen. Cloud und Eduard blickten einander an. Sie hatten beide denselben Gedanken, dieselbe Ahnung. Champy!
„Aber was hätte ich denn tun sollen?“ flüsterte er nur noch. „Sag mir, was, was?“ Gebrochen ließ er sich auf die Knie fallen, den Revolver immer noch fest umschlossen.
„Mit deinem Tod wäre auch ein Stück von ihm gestorben“, antwortete der Mönch. „Aber du hast es gezeugt, mit deinem Samen weitergegeben. Es war in dir, der Kern des Bösen. In dir, und du hast es durch deine Kinder weiterverbreitet.“
„Du meinst, ich hätte mich selbst –?“
„Ihr habt es damals nicht anders gewollt“, kam es beinah anklagend zurück. „Nun ist es fast schon zu spät.“
„Und – meine – Freunde?“
„Sie ereilt dasselbe Schicksal. Es gibt kein Zurück.“
Wie Messerstiche trafen Cloud diese Worte. Eduard wäre am liebsten aufgesprungen, um lauthals loszubrüllen.
Ihre Ahnung hatte sich nun bestätigt. Es war Champy, der vor ihnen mit einem Revolver in der Hand auf dem Boden kniete. Der andere war Rouven. Rouven Blandow, den sie damals mehr als gehaßt hatten.
„Nein!“ zischte Arth Champ plötzlich. „Dich werde ich töten, nicht mich. Du und dieses gottverdammte Buch. Dort liegt die wahre Schuld! Dort und nirgendwo anders!“ Langsam richtete er die Waffe gegen den Prediger. „Zuvor will ich aber, daß du mir eine Frage beantwortest!“ Mit der linken Hand unterstützte er seinen Arm, um genauer zielen zu können.
„Mein Gott“, flüsterte Cloud. „Er darf ihn nicht umbringen. Rouven ist unsere letzte Chance.“
„Dieses Gesicht“, sprach Arth weiter. „Dieses gottverdammte Gesicht, warum kann ich es nicht vergessen, warum?“
Rouven legte seine Hände an die Kapuze. Gelassen entblößte er sein Haupt. Das rote gelockte Haar kam zum Vorschein. Starr richteten sich seine Blicke auf den Chinesen. Eine Antwort gab er ihm nicht.
„Du – sollst – mir – antworten.“ Arth versuchte diesen Blicken zu weichen, ihnen zu entkommen. Vergeblich. Mehr und mehr schienen ihm die Kräfte zu schwinden. „Ant-worte – mir“, brachte er nur noch mühevoll hervor. Seine Arme wurden schwerer und schwerer. Arth wollte dagegen ankämpfen, sich innerlich gegen den Willen Rouvens verschließen. Er war zu schwach. Zu schwach, den Revolver noch länger auf ihn anzulegen. Erschöpft ließ er die Waffe auf den Boden fallen. Entsetzen zeichnete den Chinesen. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf Rouven.
„Ich könnte dich töten“, sagte Rouven leise. „Durch meinen Willen könnte ich dich töten. Und das wäre Mord. Derselbe Mord, den du begonnen hast. Mord ist eine Tat, die durch nichts wieder gut zu machen ist. Nicht ich besitze das Recht, zu strafen. Meine Aufgabe war, das Böse zu vertreiben. Ihr habt schuld am Untergang dieser Schöpfung. In euch liegt es verborgen, das Böse. Es liegt nicht mehr in meiner Gewalt, es zu verhindern. Ich kann es nur noch verkünden. Verkünden und hoffen, daß meinen Worten Beachtung geschenkt wird. Die gerechte Strafe ist die Strafe Gottes. Er ist das Licht, das in euren Augen langsam zuneige geht.“
„Und – das – Buch?“ stammelte Arth. „Es – es hat damals auch gemordet.“
„Nicht das Buch“, erwiderte Rouven. „Euer Wille ist es gewesen, dessen Macht der Ausführung euch das Buch verliehen hat. Hätte es sich noch länger in euren falschen Händen befunden, längst würde Bifezius es euch abgenommen haben. Längst würde Böses über dieser Erde regieren. Das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wäre längst schon zerstört.“
„Bifezius?“
„Das Gesicht“, offenbarte Rouven. „Das Antlitz, in das ihr geblickt habt.“ Unerwartet wandte Rouven sich ab, richtete seinen Blick wieder dem Altar entgegen. „Nun geh“, forderte er den Chinesen auf. „Ich habe dir gesagt, was zu sagen ist.“
Arth griff nach der Waffe und steckte sie in seine Jacke zurück. Schwerfällig erhob er sich wieder. Gesenkten Hauptes schritt er dem Ausgang entgegen.
Auf allen vieren kroch Eduard zurück. Cloud drückte sich dicht gegen die Wand. Sie wollten nicht von Arth gesehen werden. Nicht jetzt, in der Kirche, in der Nähe von Rouven. Arth bemerkte nichts von ihrer Anwesenheit. Er sah weder nach links, noch nach rechts, als er den Vorraum durchschritt. Dumpf fiel hinter ihm die Tür wieder ins Schloß. Mit gemischten Gefühlen hatten sie diese Begegnung beobachtet. Niemals hätten sie auch nur geahnt, welche Macht in Rouven steckte. Für was sein wirkliches Dasein bestimmt war. Nun wußten sie es. Leider um siebzehn Jahre zu spät. Zu spät, um es wiedergutmachen zu können.
Vorsichtig spähte Cloud durch die Öffnung. Regungslos stand Rouven vor dem Altar, seinen Blick in die Höhe gerichtet.
„Gehen wir“, flüsterte er seinem Freund zu. Eduard nickte. Überaus langsam öffnete er den Eingang. Cloud betrat als erster das Freie. Beinah geräuschlos drückte Eduard die Tür wieder ins Schloß.
„Der Herr möge euch den Mut dazu geben, das Böse in euch selbst zu vernichten“, sprach Rouven zu sich, nachdem Eduard die Tür geschlossen hatte.
Entfernte Schritte hallten durch die Nacht. „Das ist bestimmt Champy“, flüsterte Cloud. Gleichzeitig begann er in dieselbe Richtung zu laufen. Eduard hielt sich dicht neben ihm. Mit einem Sprung überwanden sie die Mauer, blieben stehen, um zu horchen. Keine Schritte, nichts war mehr zu vernehmen.
„Mist!“ fluchte Eduard leise vor sich hin. Cloud stützte sich gegen die Mauer. Ärgerlich schlug er mehrmals mit der Faust gegen das Gestein.
„Das Buch“, zischte er. „Verdammt noch mal, ich will nicht enden wie Sallivan. Wir müssen es Rouven abnehmen.“
„Und Champy?“ fragte Eduard nur.
„Champy“, erwiderte Cloud, indem er sich seinem Freund zuwandte. „Zwecklos, ihn bei dieser Dunkelheit zu suchen. Wir haben ihn verpaßt.“
„Gehen wir zurück!“ entschied Eduard darauf. „Wir müssen mit Rouven reden.“
„Reden?“ Cloud blickte Eduard mit zusammengekniffenen Augen an. Langsam schüttelte er seinen Kopf. „Rouven läßt nicht mit sich reden. Niemals wird er das Buch freiwillig herausrücken.“
„Wir müssen es –“, ein markdurchdringender Schrei ließ ihnen das Blut in den Adern stocken. Mit entsetzten Blicken sahen sie sich gegenseitig an. Der Schrei war nur kurz, doch bestimmt in ganz Mountain-City zu hören. Ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch machte sich hinter ihnen bemerkbar. Gleichzeitig wandten sich die beiden danach um. Jemand huschte neben der Kirche in das Dunkel.
„Los, hinterher“, raunte Cloud seinem Freund zu. „Das war Rouven.“ Noch während er das sagte, sprang er über die Mauer. Hintereinander rannten sie auf die Kirche zu. Davor angelangt, blieben sie für einen Moment stehen und versuchten, das Dunkel zu durchdringen. Nicht das Geringste war zu erkennen. Genausowenig konnten sie irgendein Geräusch wahrnehmen, das ihnen die weitere Richtung verraten hätte. Cloud deutete durch einen stummen Wink an, einfach weiterzugehen. Vorsichtig tasteten sie sich an dem Gemäuer entlang. Wenige Meter vor dem Friedhof hielten sie nochmals inne.
„Verdammt“, zischte Cloud. „Er ist uns entwischt.“
Plötzlich ertönte Sirenengeheul von der anderen Seite der Stadt. Von einer Sekunde auf die andere verdrängte das Warnsignal die Stille von Mountain-City. Mit rasender Geschwindigkeit schien es sich der Kirche zu nähern.
„Nichts wie weg!“ entfuhr es Eduard. Es dauerte keine Minute, da befanden sie sich wieder außerhalb des Friedhofgeländes. Nur wenige Schritte von ihrem Fahrzeug entfernt. Hastig stiegen sie in den Rangerover. Es reichte ihnen gerade noch, hinter der nächsten Kreuzung zu verschwinden, da tauchte von der anderen Seite der Wagen des Sheriffs auf. Gleichzeitig auch Rouven. Wenige Schritte nur von ihnen entfernt hatte er sich in der Finsternis des Friedhofes verborgen gehalten.
*
Unruhig saß Meni im Wohnzimmer. Vor wenigen Minuten hatte sie Larsen zu Bett gebracht. Janina schlief seit Stunden tief und fest. Nervös stand Meni auf, holte sich ein Buch aus dem Wandschrank, setzte sich wieder und begann in dem Buch zu blättern. Nur verschwommen sah sie die Buchstaben, als würden sie auf den Seiten tanzen. Wie sehr hatte sie sich am Morgen beherrschen müssen, nachdem Cloud mit Eduard das Haus überstürzt verlassen hatte. Sie hatte sich ihrem Sohn gegenüber nichts anmerken lassen wollen. Dennoch hatte der Kleine ihre Gefühle erraten. Mehrmals fragte er sie, ob sie sehr traurig darüber ist, daß Daddy sie wieder verlassen hat. Dann noch dieser seltsame Anruf. Noch nie hatte Larsen den Hörer einfach abgenommen. Doch an diesem Morgen tat er es. Obwohl sein Vater noch vor dem Haus gewesen ist, sagte er dem Anrufer, er sei längst schon wieder abgereist. Meni hatte nicht mehr die Möglichkeit etwas zu sagen, zu schnell hatte Larsen die Hörmuschel wieder aufgelegt. Sie ließ sich nicht anmerken, daß sie ihren Sohn dabei beobachtet hatte. Auch wollte sie ihn nicht zur Rede stellen. Nicht an solch einem Tag.
Das Ticken der Küchenuhr war bis in das Wohnzimmer zu hören. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Pausenlos dachte sie an Cloud, an ihren Mann. Wie sehr sie ihn vermißte. Immer wieder trieb es ihr Tränen in die Augen. Sie glaubte den Erzählungen von Cloud. Sie glaubte daran, und doch wollte sie es nicht wahrnehmen, es verdrängen. Immer wieder versuchte sie sich einzureden, daß das alles nicht wahr sein konnte, nicht durfte. Schwer atmend legte Meni das Buch auf den Tisch, stand auf und begab sich in die Küche. Nachdem sie sich etwas zu trinken eingeschenkt hatte, ging sie wieder zurück ins Wohnzimmer. Erschöpft legte sie sich auf das Sofa. Minuten später fielen ihr die Augen zu.
Eine Stunde verging. Plötzlich drang das Schreien eines Babys an ihre Ohren. Eine Viertelstunde verstrich, ehe sie die Schreie wahrnahm. Erschrocken fuhr sie auf. Hastig eilte Meni die Treppe hinauf. Die Schreie wurden immer lauter. Mit jeder Stufe, die sie hinter sich brachte. Janina schrie. Aus vollem Hals schrie sie, so daß ihr kleines Köpfchen hochrot angelaufen war. Sachte nahm Meni sie aus der Wiege.
„Was hast du denn, mein Kleines“, versuchte sie Janina zu beruhigen. „Ich bin ja schon bei dir.“ Behutsam drückte sie ihr Töchterlein gegen ihre Brust, wiegte sie gleichmäßig hin und her. Unaufhörlich schrie Janina weiter. Meni legte Janina auf den Wickeltisch, um nachzusehen ob sie vielleicht in die Windeln gemacht hatte. Die Windeln waren trocken. Langsam schnürte sie die Bändchen wieder zusammen. Dabei versuchte sie durch ständiges Reden, durch ihre sanfte Stimme Janina zu besänftigen. Jedoch ohne Erfolg. Wild strampelte sie ihre Beine, wobei sie mit verzerrtem Gesicht ihrer Muter entgegenschrie.
„Wird mein Schwesterlein jetzt sterben?“ vernahm sie plötzlich Larsens Stimme hinter sich. Bestürzt wandte Meni sich nach ihm um. Mit großen Augen starrte er auf seine Mutter. „Wird sie jetzt sterben, Mama?“ fragte er nochmals.
„Was sagst du denn da, Larsen?“ Fassungslos blickte sie ihn an. Verstört nahm sie Janina wieder in die Arme.
„Eine Nacht und einen Tag werden sie ununterbrochen schreien“, erwiderte Larsen. „Kein Arzt wird ihnen zu Hilfe kommen. Am Ende dieses Tages werden sie sterben.“
„Von was redest du?“ Entsetzen stand in Menis Gesicht geschrieben. Irgendwo hatte sie diese Worte schon einmal vernommen. Vor langer, langer Zeit. Janina krallte sich an ihren Armen fest. Meni war, als würde sie noch lauter schreien. Verzweifelt blickte sie hin und her.
„Das hat Onkel Eduard gesagt“, sprach Larsen weiter. „Er hat es zu Daddy gesagt.“
Meni machte einen Schritt zurück. Wie ein Blitz fiel es ihr wieder ein. Die Worte auf dem Tonband, damals in der Kirche. Cloud hatte ihr nicht alles gesagt. Das Schlimmste, das hatte er ihr verschwiegen.
„Bitte geh in dein Zimmer“, forderte sie Larsen auf. Ihre Stimme vibrierte, wurde jedoch von Janinas Schreien übertönt. Larsens Augen füllten sich mit Tränen. Noch nie hatte seine Mutter ihn fortgeschickt. Langsam senkte er seinen Kopf. Er drehte sich um und verschwand durch die Tür. Augenblicklich tat es Meni leid, daß sie ihn weggeschickt hatte. Sie wollte hinterher, doch Janinas Schreie hielten sie davon ab. Niedergeschlagen setzte sie sich auf den Stuhl neben dem Wickeltisch.
„Mein Gott“, stammelte sie. Mit jedem Gedanken kamen ihr die Erinnerungen wieder. Als wäre es erst gestern gewesen.
„Mein Kind, nicht mein Kind.“ Ihre Augen wurden feucht. Tränen rollten über ihre Wangen. Janinas Schreie begannen ihr in den Ohren zu dröhnen.
Ein Krachen erschütterte das Haus. Ängstlich zuckte Meni zusammen. Kurz darauf vernahm sie das Klirren von Glas. Wie wenn jemand Fensterscheiben einschlagen würde. Ihr erster Gedanke galt Clouds Geschichte. Jeden weiteren Gedanken versuchte sie zu verdrängen. Zitternd legte sie Janina in die Wiege zurück. Nur langsam verließ sie das Zimmer. Kaum hatte sie den Flur betreten, erscholl ein erneuter Schlag vom Erdgeschoß herauf. Meni schauderte. Zaghaft wandte sie sich um. Aus Larsens Zimmer leuchtete Licht.
„Gott sei Dank“, hauchte sie, in der Annahme, Larsen sei in seinem Zimmer. Leise schlich sie sich an seine Tür, drückte sie vorsichtig auf. Larsen war nirgends zu sehen. Auch nicht in seinem Bett unter der Decke. Nirgends! Meni fuhr herum.
„Larsen“, hauchte sie. Ihre Angst schien auf einmal wie weggeblasen. Von Janinas Schreien begleitet stürzte sie die Treppe hinunter. Überall brannte Licht. Wieder das Klirren von Glas. Eindeutig kam es aus dem Wohnzimmer. Meni hetzte den Gang entlang. Verfolgt von dem Geschrei ihrer Tochter. Entsetzt blieb sie im Eingangsbereich des Wohnzimmers stehen. Eiskalte Luft blies ihr ins Gesicht. Sämtliche Scheiben waren zertrümmert. Ein Teil des Wandschrankes lag ausgeräumt und auf dem Boden zerstreut. Von Larsen keine Spur.
Fassungslos starrte Meni auf die zertrümmerten Scheiben. Janinas Schreie vernahm sie nur noch entfernt, als würde sie sich weit weg befinden. Plötzlich hörte sie ein leises Geräusch hinter sich. Erschreckt drehte Meni sich danach um. Larsen stand ihr gegenüber. Er hielt ein Rasiermesser seines Vaters in der Hand. Blut tropfte daran herunter. Von Janina war nichts mehr zu hören. Meni rang nach Luft. Wie ein Tier sprang Larsen sie blitzartig an.
*
„Meni –!“ Schweißgebadet erwachte Cloud aus einem unruhigen Schlaf. Wirr blickte er um sich. Stockfinster war es um sie herum. Das leise Summen der Standheizung brachte ihn in die Gegenwart zurück. Neben ihm schlief Eduard. Eingewickelt in einen Schlafsack wälzte er sich hin und her.
Nachdem sie das Kirchengelände Hals über Kopf verlassen hatten, entschlossen sie sich, Mountain-City für die Nacht über nicht mehr zu betreten. Abseits auf einem einsamen Waldparkplatz versuchten sie dann ein wenig Ruhe zu finden. Schichtweise wollten sie nur schlafen. Alle zwei Stunden im Wechsel, um möglichen Überraschungen aus dem Weg zu gehen. Cloud war während seiner Wache eingenickt. Nervös warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Es dauerte einige Zeit, bis er die Leuchtzahlen entziffern konnte.
„Viertel nach sechs“, flüsterte er zu sich. „Ich muß die gesamte Zeit über geschlafen haben.“ Vorsichtig erhob er sich ein wenig, um aus dem Seitenfenster zu blicken. Nicht einen Gegenstand konnte er bei dieser Finsternis erkennen.
„Psst“, zischte es plötzlich. Cloud zuckte zusammen. Er konnte es nicht genau ausmachen, woher dieses Zischen kam. Nur langsam drehte er seinen Kopf Eduard entgegen. Eduard schlief, immer noch.
„Psst“ wiederholte sich das Geräusch nun wieder. Eiskalt lief es Cloud über den Rücken. Es kam deutlich vom vorderen Teil des Wagens, der sich direkt hinter seinem Rücken befand. Auf einmal hatte er das beklemmende Gefühl, als würde sich ihm etwas nähern.
„Psst“, zischte es zum dritten Mal. Mehrmals atmete Cloud tief durch. Blitzschnell griff er dann nach seinem Taschenmesser, das er neben sich liegen hatte. Ein leichter Druck, und die Klinge sprang hervor. Gleichzeitig wandte er sich um. Die Sitze waren leer. Nicht der mindeste Anschein, daß sich noch jemand im Wagen befinden würde.
„Was hast du?“ vernahm er die Stimme Eduards. Durch den schnellen Ruck von Cloud war er aufgewacht.
Cloud drehte sich zu ihm. „Ich weiß nicht“, erwiderte er. „Mir war, als hätte ich etwas gehört.“
Eduard richtete sich auf. „Bist du dir sicher?“
„Nein, nicht sicher“, entgegnete Cloud kopfschüttelnd, obwohl er einen Irrtum ausschloß.
„Wie spät ist es denn?“ fragte Eduard darauf. Mit dem Ärmel wischte er sich über die Stirn.
„Kurz vor halb sieben Uhr“, gab Cloud ihm die Zeit. Er ließ die Klinge wieder im Schaft verschwinden.
„Ich hab vorhin von Champy geträumt“, sagte Eduard leise. Ein leichtes Zittern war in seiner Stimme herauszuhören. „Ich hab geträumt, Champy –“ Eduard zögerte. Cloud blickte ihn erwartungsvoll an. „Champy sei von ihm – ermordet worden.“
„Du meinst, wie – Sallivan?“
„Und Pater Richmon“, setzte Eduard hinzu. Unweigerlich mußte Cloud daran zurückdenken, wie sie damals alle vier denselben Traum erlebt hatten. Beide Male, bei Sallivan wie bei Pater Richmon ist er der Meinung gewesen, daß der Traum nur eine Bedeutung in sich hatte. Sein Irrtum wurde jedoch wenige Tage später bestätigt.
Mr. Goodman mußte sich mit dem Mord an Schwester Maria vor Gericht verantworten. Hierbei lasteten ihm die Geschworenen auch den Mord an Pater Richmon und Sallivan an.
Sallivans zerstückelte Leiche ist wenige Tage nach Goodmans Festnahme aufgefunden worden. Der Grund dafür war der tragische Umstand von Jeremies tödlichem Unglück. Sein Vater hatte damals gar keine Nachricht darüber erhalten. Er war wie am Boden zerstört, als er nach der Schließung des Internates erfahren hatte, daß sich sein Sohn bei einem Sturz vom Turm tödliche Verletzungen zugezogen hatte. Niemand konnte ihm darüber eine genaue Angabe geben, wie sich dieses Unglück zugetragen hatte. Auf sein Verlangen hin wurde Jeremie wieder ausgegraben, um ihm eine ansehnliche Beerdigung zu erweisen. Bei genauen Untersuchungen des Internates stieß man dann auf den unterirdischen Gang. Dort fand man die zweite Leiche, Pater Richmon. Sein Gesicht war ihm enthäutet worden – genauso wie bei Sallivan. Dem Pater jedoch sind zudem noch die Augen herausgerissen worden.
Janosh Goodman wurde als hochgradig gefährlich eingestuft. Wenn er auch diese zwei Morde bis zuletzt abgestritten hatte, wurde er dafür verurteilt. Zum Tode durch den elektrischen Stuhl. Zwei Wochen nach dem Richterspruch wurde das Urteil vollstreckt.
Großes Aufsehen hatte damals diese Geschichte in den Staaten erregt. In sämtlichen, zum größten Teil erfundenen Darstellungen wurde es in den Medien veröffentlicht. Niemand konnte jedoch eine Frage beantworten; der Verbleib von Rouven Blandow. Er hatte damals eine große Lücke in dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft hinterlassen. Obwohl auch bei ihm vor Gericht von Ermordung gesprochen wurde, wußte dieses die Verteidigung zwecks Mangel an Beweisen zu verhindern.
„Ich hab von Meni geträumt“, hauchte Cloud. Er verspürte es förmlich, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. „Ich hab davon geträumt, wie Larsen sie –“ Cloud getraute sich nicht, weiter zu sprechen. Ihm war plötzlich eiskalt.
Eduard legte seine Hand auf Clouds Schulter. „Ich hätte es auch träumen müssen, Dumpkin“, versuchte er ihn zu beruhigen. „Wir hatten damals alle denselben Traum“, sprach er weiter. „Beide Male. Bei Sallivan und bei Pater Richmon.“
Cloud griff nach der Hand von seinem Freund. „Ich muß zu Hause anrufen“, erwiderte er. „Ich brauch Gewißheit! Ich halte es nicht aus!“
„Fahren wir zurück nach Mountain-City“, entgegnete Eduard nur.
Cloud senkte langsam seinen Kopf. „Mir geht der Schrei von heute nacht nicht mehr aus dem Kopf“, sagte er. „Irgendwie bringe ich ihn immer wieder mit Champy in Verbindung.“
Eduard schlüpfte aus seinem Schlafsack, zwängte sich an Cloud vorbei auf den Fahrersitz. „Mountain-City ist nicht sehr groß. Am besten wir fangen in diesem – Hotel – an, nachzuforschen.“ Er drehte den Zündschlüssel um. Der Motor heulte kurz auf und kam dann auf seine normale Drehzahl. Cloud kletterte über den Sitz auf die Beifahrerseite. Ein merkwürdiges Knistern, als würde er sich auf ein Stück Papier setzen, ließ ihn zusammenfahren. Erschreckt griff er unter sich.
Eduard war das Geknister nicht entgangen. Sofort schaltete er die Wageninnenbeleuchtung an. Cloud hielt einen kleinen, länglichen Zettel in den Fingern. Seine Hand zitterte so stark, daß ihm das Papier beinah zu Boden glitt.
„Er war hier“, brachte Cloud nur mühevoll über die Lippen. Auf dem Zettel war das Hexagramm, auch Das Siegel Salomon genannt, aufgezeichnet. Die Spitzen waren durch einen Kreis miteinander verbunden. „Was – hat das zu bedeuten?“
Eduard wollte antworten. Plötzlich vernahmen sie ein Geräusch, das direkt hinter ihnen verursacht wurde. Wie, wenn jemand mit einem Gegenstand an den Scheiben entlangkratzen würde. Entsetzt fuhren sie herum. Nichts war zu sehen. Auf einmal befand sich das Geräusch neben ihnen, dann über ihnen. Immer wenn sie sich danach umdrehten, verlagerte sich das Kratzen in die entgegengesetzte Richtung. Geistesgegenwärtig legte Eduard den ersten Gang ein, schaltete die Wageninnenbeleuchtung aus und gleichzeitig die Scheinwerfer an. Er hatte den Rangerover so geparkt, daß sie, ohne erst wenden zu müssen, den Parkplatz augenblicklich verlassen konnten. Kurz drehten die Räder auf dem Waldboden durch, bevor sie auf der feuchten Erde packten. Cloud drückte es in den Sitz zurück, als sie zwischen den Bäumen hindurch auf die Straße schossen. Eduard riß das Lenkrad herum. Die Hinterräder drifteten, bis der Wagen längsseits der Straße zu fahren kam. Eine kurvenreiche Strecke führte sie durch dichten Wald Mountain-City entgegen. Erst als sie nach wenigen Minuten die Lichter der Stadt zu Gesicht bekamen, verringerte Eduard das Tempo. Aber nicht die Straßenlichter waren es, die ihn dazu veranlaßten. Von weitem schon erblickten sie signalisierendes Blaulicht mehrerer Einsatzfahrzeuge. Eduard verringerte das Tempo so weit, bis der Wagen zum Stehen kam.
„Es ist weg“, atmete Cloud auf, ohne das Blaulicht aus den Augen zu lassen.
„Er wird wiederkommen“, entgegnete Ellinoy. „Er wird so lange wiederkommen, bis wir ihm das Buch gegeben haben. Erst dann werden wir Ruhe vor ihm finden. Erst dann!“
„Das hat was mit ihm zu tun“, sagte Cloud. Mit dem Arm deutete er auf die Blaulichter. „Ich bekomme einfach das Gefühl nicht los, daß Champy – wir müssen nachsehen! Komm, fahren wir weiter. Ich muß wissen, was das zu bedeuten hat.“
Langsam rollte der Rangerover die Straße hinunter. Nicht weit von dem besagten Hotel entfernt, brachte er den Wagen wieder zum Halten. Das Blaulicht durfte von diesem Standpunkt aus nur noch wenige Straßen entfernt sein. Nachdem Eduard die Scheinwerfer ausgeschaltet und den Motor abgestellt hatte, stiegen sie vorsichtig aus. Der Zettel war Cloud zu Boden gefallen, als Eduard das Lenkrad herumgerissen hatte. Ein Windstoß wirbelte ihn nun unbeachtet zur Beifahrertür hinaus.
Allmählich begann der Morgen zu grauen, als sie sich den Einsatzfahrzeugen näherten. Citystreet, las Cloud auf dem Straßenschild. Obwohl es noch sehr früh am Morgen war, hatten sich schon mehrere Schaulustige angesammelt. Eduard musterte für einen Augenblick den alten Mann, der etwas abseits an einer Straßenlaterne lehnte. In gelassenener Haltung beobachtete er das Schauspiel. In dessen Nähe stellten sich nun auch die beiden Freunde.
Zwei Fahrzeuge des Sheriffs, ein Sanitätswagen und ein Leichenwagen, waren vor Ort. Nur ein Beamter war zu sehen. Die restlichen mußten sich in dem kleinen Haus befinden, das hell erleuchtet war. Hausnummer 21.
Cloud ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern. Eduard tat dasselbe. Gleichzeitig zuckten sie zusammen. Gleichzeitig hatten sie eine kleine Gestalt mit schwarzen Haaren entdeckt.
„Champy“, entfuhr es Cloud. „Verdammt noch mal, da vorn steht Champy.“ Für einen Augenblick erhellte sich sein Gesicht. Eduard packte ihn am Arm.
„Wir müssen zu ihm“, raunte er ihm zu. „Jetzt gleich!“ Auch er konnte seine Freude über das Wiedersehen mit Champy nicht verbergen. Augenblicklich machten sie sich auf den Weg. Kaum hatten sie sich einige Schritte vorwärts bewegt, wandte Arth seinen Kopf ihnen zu. Ein breites Grinsen flog über sein Gesicht. Um kein großes Aufsehen zu erregen, kam er ihnen nur langsam entgegen.
Momentan wußte keiner von ihnen so recht etwas zu sagen, als sie sich gegenüberstanden.
„Bist du es wirklich, Champy?“ fragte nach einigen schweigsamen Sekunden Eduard. Arth streckte ihnen seine rechte Hand entgegen. Der Ringfinger fehlte.
„Ich – ich kann es gar nicht fassen“, sagte Cloud darauf. Wie sie es früher immer getan hatten, schlugen sie nacheinander in die dargebotene Hand ein.
„Jetzt würde nur noch Showy fehlen“, bemerkte Eduard darauf.
„Showy ist tot“, erwiderte Arth trocken. Cloud war, als hätte ihm jemand einen Hieb versetzt. Eduard starrte nur auf den Chinesen.
„Showy tot?“ stammelte er.
„Showy hat es nicht gepackt“, entgegnete Arth. „Showy hat sich das Leben genommen.“
Cloud schüttelte wild seinen Kopf. „Du mußt dich irren“, versuchte er die Hiobsbotschaft von sich zu weisen. „Vor wenigen Tagen noch habe ich mit Showy telefoniert.“
Arth blickte verstohlen um sich. „Wir sollten von hier verschwinden“, flüsterte er. „Zu viele Ohren lauschen.“ Damit meinte er den alten Mann, der sie heimlich von der Laterne aus beobachtete.
„Wo – her weißt du das mit Showy?“, wollte Eduard wissen.
„Ich wollte zu ihm“, antwortete Arth überaus leise. „Da habe ich es dann erfahren. Danach habe ich mich sofort auf den Weg hierher gemacht. Ich wollte diesen Bastard umbringen, aber –“ Arth unterbrach sich. Scheinbar mußte er an sein mißlungenes Vorhaben denken. Auch verließen in diesem Augenblick mehrere Personen das hellerleuchtete Haus. Zwei von ihnen trugen einen Sarg in ihrer Mitte. „Hauen wir ab“, zischte Arth. „Möchte nicht unbedingt, daß wir gesehen werden. Fremde in der Stadt sind nicht sehr willkommen.“
„Wir haben es gemerkt“, entgegnete Cloud. Unauffällig begannen sie sich zu entfernen. Als sie außer Sichtweite waren, huschte der alte Mann ihnen hinterher.
„Was geschah in dem Haus?“ fragte Eduard, der links von dem Chinesen ging.
„Keine Ahnung“, erwiderte Arth. „Bin auch eben erst hinzugekommen.“
Cloud blickte wie verstört um sich. „In diesem gottverlassenen Nest muß es doch irgendwo eine Telefonzelle geben.“ Mehrmals sog er die kalte Luft in sich hinein. Ständig mußte er an seine Familie denken, an den Traum, der ihn immer mehr zu quälen begann.
Es dauerte nicht lange, bis sie am Rangerover wieder angelangt waren. Arth setzte sich in den hinteren Teil des Wagens. Fröstelnd rieb er seine Hände aneinander. Die Kälte hatte ihm in der Nacht zu schaffen gemacht.
„Wie lange seid ihr schon hier?“ fragte er, nachdem Eduard den Wagen gestartet hatte.
„Gestern angekommen“, erwiderte Cloud. „Wir haben dich gestern schon gesehen. In der Kirche.“
„In der Kirche?“ tat Arth etwas erschrocken. „Ihr seid auch in der Kirche gewesen?“
„Wir wollten zu ihm, zu Rouven.“
„Dann habt ihr es mitbekommen?“
„Alles.“
„Dann wißt ihr, was geschehen ist. – Vor zwei Jahren.“ Arth zog einen Revolver aus der Manteltasche hervor. „Ich wollte ihn umbringen“, stieß er hervor. „Ihn ein für allemal erledigen! Ihm gebe ich die Schuld daran! Nur ihm!“
Eduard steuerte sein Fahrzeug wieder dem Wald entgegen. Mit grimmigen Blicken verfolgte sie der alte Mann, der langsam auf die Stelle zuschritt, wo der Wagen gestanden hatte. Ein kleiner Zettel, der sich am Straßenrand in einem verdorrten Busch verfangen hatte, war es, der seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Neugierig hob er ihn auf und betrachtete ihn. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er die zwei ineinandergreifenden Dreiecke erblickte.
Nur zwei Minuten von der Stadt entfernt brachte Eduard seinen Wagen in einer Einbuchtung wieder zum Stehen.
„Was hast du solange gemacht?“ fragte er darauf Arth. „Es liegt doch schon über sechs Jahre zurück, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten.“
Arth bewegte abweisend seinen Kopf hin und her. „Ich – möchte nicht darüber reden“, erwiderte er. Deprimiert sah er von Eduard auf Cloud. „Jetzt noch nicht. Es würde uns zulange aufhalten.“
„Ist schon in Ordnung“, nickte Cloud. „Suchen wir Rouven. Er ist der einzige, der uns wahrscheinlich helfen kann.“
„Helfen?“ Arth schüttelte wieder seinen Kopf. „Könnt ihr euch noch an die Tonbandaufnahme erinnern?“ Fragend blickte er zwischen ihnen hin und her. „Er hat es prophezeit. Damals schon wußte er, was geschehen wird. Damals schon!“
„Du meinst – deine Familie?“
Arth nickte. „Gut, ich sage euch, was geschehen ist“, erwiderte er tief durchatmend. „Es hat angefangen, daß ich dieses verdammte Gesicht wieder vor Augen hatte“, begann er ohne Umschweife zu erzählen. „Ich war verheiratet. In meinem Heimatland. Meine Kinder waren bereits sechs und sieben Jahre alt. Ich konnte zusehen, wie sie von Tag zu Tag immer böser wurden. Meine Frau dachte, es wäre nur so eine Phase von ihnen, die bestimmt bald wieder vorübergeht. Ich hatte ihr niemals erzählt, was damals geschehen ist. Niemals habe ich ein Wort darüber verloren. Eines Tages fand ich einen Zettel im Zimmer meiner Kinder. Auf diesem Zettel war dieses Zeichen, das Siegel Salomon, aufgemalt. Dasselbe, wie in diesem gottverdammten Buch. Ich wußte Bescheid, er war wieder hier. Hier in meinem Leben. Dann geschah es, vor zwei Jahren. Ich kam zurück von der Arbeit, da fand ich sie, meine Frau. Tot“. Arths Augen füllten sich mit Tränen. „Sie hatten sie umgebracht. Einfach umgebracht. Mit dem Rasiermesser – es war sehr schrecklich. Die schrecklichste Minute in meinem Leben. Meine Kinder befanden sich in ihrem Zimmer. Von oben bis unten blutverschmiert. Sie schienen sich dabei noch zu amüsieren.“ Mit dem Ärmel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Cloud wurde von Sekunde zu Sekunde blasser. Seine Hände begannen zu zittern. „Ich schloß sie ein, schüttete Benzin in sämtliche Räume und zündete mein Haus an. Meine Kinder sind in den Flammen umgekommen. Am selben Tag noch habe ich mein Heimatland verlassen. Durch einen Zufall kam ich dann auf die Spur von Rouven. Er nennt sich jetzt Pontakus. Eremod Pontakus. Predigt von Stadt zu Stadt. Ich schwor mir, ihn umzulegen. Aber ihr wißt ja, was geschehen ist. Er hat eine Macht in sich, verdammt noch mal, er hatte mich vollkommen unter Kontrolle. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll.“
Eduard starrte auf Cloud. Auch er mußte an seine Familie denken. Daran, was bisher geschehen war. „Wir sind ihm begegnet“, hauchte Eduard. „Gestern sind wir ihm begegnet. Er will das Buch von uns. Er will, daß wir es Rouven abnehmen und es dahin zurücklegen, wo wir es gefunden haben.“
„Er wird es uns nicht freiwillig geben“, zischte Cloud. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Zornig schlug er damit auf den Autositz.
„Vielleicht schaffen wir es zu dritt“, versuchte Arth ihn zu bestärken.
Eduard wandte sich dem Lenkrad zu. Verbissen startete er den Wagen. Es war bereits hell, als sie wieder nach Mountain-City einfuhren.
„Der Zettel“, entfuhr es Cloud wie aus der Pistole geschossen. Fiebrig durchsuchte er seine Taschen, dann den Beifahrerraum. Nirgends konnte er den Zettel mit dem Hexagramm darauf finden. „Er ist weg!“
Arth blickte ihn fragend an. Mit wenigen Worten erzählte Cloud, was ihnen auf dem Waldparkplatz widerfahren war.
„Das erinnert mich an unser Lager“, sagte Arth darauf. „Dieses seltsame Geräusch, das sich um uns gedreht hatte. Wißt ihr es noch?“
Eduard steuerte auf das Pub Mountincar zu. „Hoffentlich haben wir Glück und es ist schon offen.“
Sie hatten Glück. Wider Erwarten ließ sich die Kneipentür öffnen. Kalte verrauchte Luft drang ihnen entgegen. Eduard trat als erster zwischen dem Vorhang hindurch. Erschrocken fuhr er zurück. Der Raum war hell erleuchtet. Inmitten der Kneipe stand mit dem Gesicht ihnen zugewandt – Rouven. Vor ihm auf einem Tische lag so etwas wie eine Maske. Aus Gummi oder etwas ähnlichem. Erst bei genauem Hinsehen erkannte Eduard, daß es sich um ein Gesicht handelte. Jancy McLeans Gesicht. Cloud und Arth stellten sich neben ihn. Mit Entsetzen starrten sie erst auf das Gesicht, dann auf Rouven.
„Ich wußte, daß ihr hierher kommen werdet“, sagte er leise, dennoch deutlich. Er packte das Gesicht an den Haaren und hob es empor. Cloud würgte es bei diesem Anblick. Rouven brauchte nichts zu sagen. Die Handlung sprach für sich selbst.
„Das Buch“, brachte Cloud mühevoll über die Lippen. „Wo ist es?“
Rouven legte die Haut wieder auf den Tisch. „Niemals werdet ihr es bekommen“, erwiderte er.
„Meine Familie“ zischte Cloud. „Willst du sie auf dem Gewissen haben?“ Er machte einen Schritt vor, stützte sich auf den Tisch und versuchte, seinem Gegenüber in die Augen zu blicken. Rouven wandte sich einfach um.
„Ihr wißt, was zu tun ist“, sagte er nur.
Eduard trat auf Rouven zu. „Du verlangst Unmögliches“, sprach er ihn so ruhig wie nur möglich an.
Abrupt drehte Rouven sich um. Starr blickte er auf Eduard. „Du bist Schriftsteller geworden“, erwiderte er ihm. „Du hast Erfolg mit deinen Büchern. Großen Erfolg. Dein Ziel hast du erreicht. Doch bevor du diesen Erfolg errungen hast, erschien es dir für unmöglich, diesen Erfolg zu erlangen. Es war für dich unmöglich. Und nun?“
Wütend schob Cloud den Tisch beiseite. Mit einem Satz stand er neben Rouven. „Meine Frau“, schrie er ihn an. „Meine Kinder. Du kannst nicht von mir verlangen, daß ich sie –“ Er packte Rouven am Kragen und versuchte ihn gegen die Theke zu drücken. Cloud war keineswegs schwächlich. Schon immer hätte er es mit jedem aufnehmen können, doch Rouven war nicht von der Stelle zu bewegen. Dieser blickte Cloud nur in die Augen. Nun wußte Cloud, was Arth mit dieser Macht gemeint hatte. Deutlich verspürte er, wie sein Wille gebrochen wurde. Langsam ließ er von Rouven ab. Wie erstarrt blieb er stehen, rührte sich nicht. Eduard wollte seinem Freund zu Hilfe kommen, doch Rouven wehrte ihn mit der flachen Hand ab.
„Es geht um vieles mehr, als nur um euer Leben“, sagte Rouven. Nacheinander blickte er sie an. „Es geht um die Existenz dieses Daseins.“
„Wenn du soviel Macht besitzt, warum vernichtest du es nicht selbst?“ Auffordernd blickte Eduard ihn an.
„Ihr habt in sein Gesicht gesehen“, antwortete Rouven gelassen. „Ihr habt seine Seele erblickt. Ihr seid ein Teil von ihm – seit siebzehn Jahren.“
„Wer – ist – er?“ Eduard stützte sich gegen einen Stuhl.
„Die Personifizierung des Bösen“, erwiderte Rouven, jedes Wort dabei betonend.
„Und – du?“
„Das ist doch mir egal, wer er ist“, zischte Arth. Plötzlich hielt er seinen Revolver in der Hand. Mit einem geübten Griff entsicherte er die Waffe. „Diesmal funktioniert es nicht“, stieß er keuchend hervor. Blitzschnell richtete er den Revolver auf Rouven. „Und jetzt das Buch, aber sofort!“ Schritt um Schritt näherte er sich Rouven. Eduard starrte auf Cloud, der sich allmählich zu regen begann.
„Das Buch!“ wiederholte sich Arth. „Ich zähle auf drei. Eins – Zwei – Dre-.“ Ein Geräusch, das vom Eingang herrührte, lenkte Arth für einen Augenblick ab. Diesen Moment nutzte Rouven, ihm mit einem gezielten Schlag die Schußwaffe aus der Hand zu schlagen. Gleichzeitig sprang er auf den Ausgang zu und verschwand hinter dem Vorhang. Sekunden später betrat der Wirt seine Gaststätte. Erschrocken musterte er den Chinesen, der soeben seine Waffe vom Boden aufhob.
„Was hat das zu bedeuten?“ fragte der Keeper energisch. Eduard wollte ihm antworten, doch Arth kam ihm zuvor. Er sprang auf den Keeper zu und versetzte ihm mit dem Revolver einen solchen Hieb gegen die Schläfe, daß dieser bewußtlos zusammenbrach.
„Das mußte sein“, sagte Arth zu seinen Freunden. „Er hätte uns nur die Bullen auf den Hals gehetzt.“
Entsetzt blickten Cloud und Eduard einander an. Arth war schon im Begriff, das Pub zu verlassen. „Nun kommt schon“, drängte er. „Wir müssen den Bastard verfolgen.“
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie Arth nicht verlieren wollten. Vor der Kneipe holten sie ihn ein. Von Rouven keine Spur.
„Warum hast du das getan?“ machte Eduard ihm einen Vorwurf.
„Mir sind die Nerven durchgegangen“, versuchte er sich zu entschuldigen. Den Revolver hatte er wieder eingesteckt. „Wenn ihr wüßtet, was ich durchgemacht habe, ihr würdet mich verstehen.“
Cloud packte seinen Freund an der Schulter. „Ich habe verdammte Angst um meine Familie“, hauchte er. „Ich hab geträumt davon, wie Meni von – von meinem eigenen Sohn –“
„Sprich nicht weiter“, unterbrach ihn Arth.
„Ich brauch Gewißheit“, erwiderte Cloud. „Verdammt noch mal, ich brauch endlich Gewißheit.“
Arth legte seine Hand auf Clouds Arm. Beinah traurig blickte er ihn an. „Ich hab es auch geträumt, Dumpkin“, flüsterte er nur.
Cloud erstarrte. Sein Atem stockte, seine Glieder wurden schwerer und schwerer. Er wankte. Gerade noch konnte Eduard ihn auffangen.
Von weitem wurden sie beobachtet. Der alte Mann stand nicht weit von dem Pub entfernt an einen Baum gelehnt. Als er sah, wie Cloud beinah zusammenbrach, kam er langsam auf sie zugeschritten. Arth musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.
„Ich habe gesehen, wie er in diese Richtung gelaufen ist“, sprach er den Chinesen an, als er bei ihnen stand. Dabei zeigte er auf das Kirchengelände.
„Wer sind Sie, was wollen Sie?“ fragte Arth mißtrauisch.
„Ich will dasselbe wie Sie“, bekam er als Antwort. Der alte Mann blickte auf Cloud, der sich langsam wieder zu erholen schien. „Ich will seinen Tod!“
„Wer sind Sie?“ fragte nun auch Eduard. Kalt blickte er dem Fremden in die Augen.
„Mein Name tut nichts zur Sache“, erwiderte der Alte, wandte sich um und schritt einfach wieder davon.
„So geht das nicht“, zischte Arth. Er setzte an, um den Alten zu verfolgen. Cloud faßte ihn am Arm.
„Laß ihn“, forderte er Arth auf. Seine Stimme bebte. „Wir dürfen kein unnötiges Aufsehen erregen. Es ist schon genug geschehen.“
*
14. November
Habe Mountain-City verlassen und werde zurückkehren nach Jerajisa, meiner damaligen Zufluchtsstätte.
Ein weiterer Mord war geschehen. Noch ist der Leichnam nicht entdeckt worden, doch ahnt mir, was vorgefallen ist. Am Morgen habe ich die leiblichen Überreste von Jancy McLean aufgefunden. Nicht mehr lange, dann wird es ihm gelingen, meine Kraft zu brechen. Er wird stark, zu stark. Damals wußte er schon, mich zu täuschen. Damals schon hätte das Böse beinah die Überhand bekommen. Nur durch meinen Eigentod konnte ich verhindern, was nun nicht mehr zu verhindern ist. Bifezius hat mich überlistet. Ich bin zu spät gekommen. Zu spät, um den Untergang der Menschheit aufzuhalten.
Rouven legte den Federhalter zur Seite. Nachdenklich musterte er das bräunliche Buch, das aufgeschlagen neben seinem Tagebuch lag. Das Buch der Schatten, wie sein Vater und Pater Richmon es benannt hatten.
„Der Kreis vollzieht seine Linie, verfehlt sich nicht und sprengt auseinander“, las er die Worte leise vor sich hin. „Der Kreis, das Unendliche, das Immerwiederkehrende.“ Rouven stand auf und begab sich zum Fenster, das ihm Blick auf den Hof gewährte.
Ausgestorben lag das einstige Internat vor ihm. Vor siebzehn Jahren ist es geschlossen worden. Ein Gerücht hatte sich damals wie ein Lauffeuer verbreitet. Ein Fluch liege über den Gemäuern des Internates. Schon wenn man diesem ehemaligen Kloster zu nahe kommt, würde jenen dieser Fluch ergreifen, ihn nie wieder loslassen, ihn innerlich zermartern, bis der Wahnsinn ihm den Tod bringen würde.
Siebzehn Jahre ist es nun her, seitdem Rouven es verlassen hatte. Überall in der Welt ist er umhergepilgert. Hat gepredigt, versucht, den Menschen das Unglaubliche glaubhaft zu machen. Sie für die letzten Tage vorzubereiten. Nun ist geschehen, was sein Vater damals prophezeit hat, wenn das Buch in falsche Hände gerät. Das Ende, es ist durch nichts mehr aufzuhalten.
„Das Buch ist dieser Kreis“, sprach Rouven zu sich. „Es war vollkommen bis zu jener Minute, in der es in falsche Sinne geriet. Es trachtet danach, das Buch zu besitzen, das Wissen des Buches an sich zu bringen.“ Abrupt wandte er sich um, starr die Blicke auf das Buch gerichtet. „Tod ist die Vollendung eines jeden Lebens“, hauchte er. „Tod ist die Befreiung der Seele in eine andere Welt. Tod ist ein Erlösen vieler Qualen. Von nun an wird Tod Qualen bereiten, wird die Seele gefangen gehalten, gemartert werden. Untertan wird sie sein!“
Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und nahm den Federhalter zur Hand.
Von nun an werde ich warten. Warten, bis sie eintreffen werden, um sich das zu nehmen, was Macht über Existenz verleiht. Doch niemals werde ich das Buch aus eigenem Willen von mir geben. Ich werde es vernichten! Vernichten und damit meine Seele zerstören. Soll es sein wie es kommen muß, ich habe es nicht in der Hand. Böses ist nur mit Bösem zu besiegen. Ich müßte sie töten, doch wer tötet ihre Kinder? Dem Schicksal überlassen, überlasse ich mich der Ewigkeit. Ein anderer wird kommen, um das Werk fortzusetzen. Bifezius wird sich an die Spitze ihrer stellen, und fortan wird es nur noch Finsternis geben. Das Licht, mein Licht, wird für immer auf dieser Erde erloschen sein.