1. Kapitel
Pünktlich landete das Flugzeug auf der Washington Airline Station. Die Rolltreppen wurden an die Schleusen herangefahren. Langsam öffnete sich der Ausstieg. Hilfsbereit stellte sich die Stewardeß auf die Plattform. Mehrere Passagiere verließen die Maschine. Unter ihnen auch ein hochgewachsener stämmiger Mann. Obwohl er die Dreißig noch nicht sehr lange überschritten hatte, wurde sein Gesicht schon von mehreren Falten gezeichnet. Er zog den Kragen seines Mantels etwas enger zusammen, als er das Freie betrat. Ein unangenehmer Ostwind fegte seit mehreren Tagen über das Land. Nachdem er die Rollbahn erreicht hatte, blieb er für einen Moment stehen, blickte um sich, als wolle er auf etwas Ausschau halten. Mit den übrigen Passagieren begab er sich dann in den bereitstehenden Bus, der sie in die Wartehalle beförderte.
In dieser angelangt, ließ er wieder seine Blicke umherwandern. Zig Menschen liefen von einer Richtung in die andere. Einige der Fluggäste, die mit ihm geflogen waren, wurden von Freunden oder Verwandten empfangen, manche begaben sich sofort zur Gepäckausgabe. Mehrere Minuten verstrichen, in denen er nur das rege Treiben beobachtete. Regelmäßig wurden durch Lautsprecher die landenden und abfliegenden Maschinen durchgesagt. Auf einmal horchte er auf.
„Mr. Wallis wird auf Apparat sieben verlangt. Bitte melden Sie sich am Informationsschalter.“ Die Durchsage wurde wiederholt, worauf er direkt auf den Schalter zuging, der nicht weit von ihm entfernt war.
„Wallis“, nannte er seinen Namen, als ihn die Dame an dem Schalter fragend anblickte.
„Auf Apparat sieben“, lächelte sie ihn an und zeigte auf die gegenüberliegende Seite. Mehrere Kabinen, nebeneinander bis zur Zahl neun durchnumeriert. Mr. Wallis nickte ihr dankend zu und begab sich in die genannte Telefonzelle.
„Wallis“, meldete er sich kurz.
„Hallo, mein Liebling“, sprach eine weibliche Stimme.
„Meni, du? – Wo bist du?“
„Ich liege im Krankenhaus. Die Wehen hatten heute morgen eingesetzt. Es ist ein Mädchen“, antwortete sie mit vibrierender Stimme.
„Ein – Mädchen?“ Seine Augen strahlten, als er das sagte. „In welchem Krankenhaus liegst du, ich komme so schnell wie möglich.“
„Im Nordhospital. Station vier, Zimmer sechs.“
„Und Larsen, Wo ist Larsen?“
„Larsen ist bei mir. Er hat schon große Sehnsucht nach dir, mein Liebling.“
„Ich komme so schnell es geht. Ich liebe dich, Meni. Ich liebe dich über alles. Bis bald.“
„Ich liebe dich auch“, hauchte es durch den Hörer. „Ich freue mich auf dich. Sehr.“ Er hörte noch, wie sie einen Kuß auf die Sprechmuschel setzte, dann legte sie auf. Augenblicklich begab er sich zur Gepäckausgabe. Von weitem schon sah er seinen Koffer neben dem Förderband stehen. Nachdem er die Nummer auf dem Koffer mit der auf seinem Gepäckschein verglichen hatte, eilte er auf den Ausgang zu. Mehrere Taxis standen fahrbereit vor der Halle.
„Nordhospital“, sagte Mr. Wallis zu dem Fahrer, der ihm sein Gepäck im Kofferraum verstaute.
Schweigsam blickte er während der Fahrt zum Fenster hinaus. Mehrmals versuchte der Taxifahrer ein Gespräch zu beginnen. Vergeblich. Sein Fahrgast schien nicht für eine Unterhaltung aufgelegt zu sein. Eine dreiviertel Stunde verging, bis sie endlich das Nordhospital am anderen Ende der Stadt erreichten. Mr. Wallis gab ihm den genannten Betrag, holte seinen Koffer selbst aus dem Gepäckraum und schritt zügig auf das Krankenhaus zu.
Station vier, Zimmer sechs. Das Klopfen an der Tür und das Eintreten war eins. Seinen Koffer ließ er draußen im Flur stehen.
„Daddy, Daddy“, rief ihm ein kleiner Junge entgegen. Mit ausgebreiteten Armen sprang der Kleine auf ihn zu. Mr. Wallis nahm ihn freudig in die Arme.
„Na mein Junge“, sagte er zu dem Kleinen. „Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen.“ Fest drückte er ihn an sich. Über die Schulter seines Sohnes hinweg blickte er auf das Krankenbett. Das einzige Bett in diesem Raum. Eine bildhübsche Frau, ungefähr seines Alters, lag darin. Strahlend lächelte sie ihm entgegen.
„Hallo Cloud, mein Liebling“, flüsterte sie ihm zu. Sie richtete sich ein wenig auf. Langes, gewelltes, blondes Haar, das ihr weit über die Schulter reichte. Cloud Wallis stellte seinen Sohn wieder auf den Boden. Langsam trat er auf das Bett zu, kniete sich daneben und gab ihr einen sanften Kuß auf die Lippen.
„Endlich bist du wieder da“, hauchte sie. „Lange hätte ich es ohne dich nicht mehr ausgehalten.“ Noch ehe er sich versah, schlang sie ihre Arme um seinen Hals. „Du darfst nicht mehr gehen, versprich mir das.“
Zärtlich nahm er ihre Hände und befreite sich aus der sanften Umarmung. „Wo – ist sie?“ fragte er nur.
Anstatt ihm zu antworten, drückte sie, zwei Mal hintereinander, auf einen Knopf, der direkt neben dem Bett an der Wand angebracht war. Larsen hatte sich zwischenzeitlich an seinen Daddy geschmiegt. Immer wieder zupfte er ihn am Hosenbein.
„Daddy, Daddy“, machte er auf sich aufmerksam. „Du mußt jetzt immer bleiben. Du darfst nie wieder gehen. Nie wieder. Versprichst du mir das, Daddy?“
Cloud setzte sich auf die Bettkante, nahm den kleinen Larsen auf seinen Schoß und strich ihm liebevoll über das Haar.
„Gefällt es dir in deinem neuen Zuhause?“ fragte er ihn. Larsen lachte ihn an.
„O ja sehr“, erwiderte er. „Aber mit dir wäre es viel schöner. Bleibst du jetzt für immer bei uns?“
Cloud atmete tief durch. Er konnte seinen Sohn einfach nicht enttäuschen. Ebenso seine Frau, die ihn eindringlich von der Seite musterte. Auch ihr wollte er eine Antwort auf diese Frage ersparen. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Erleichtert atmete er auf. Die Krankenschwester betrat das Zimmer. In den Armen hielt sie ein schlafendes Baby, auf einem Kissen gebettet. Abrupt stand Cloud auf. Seine Augen begannen zu leuchten, als er auf das Baby blickte. Die Schwester hielt es ihm entgegen.
„Sie sind bestimmt der glückliche Vater“, flüsterte sie ihm zu. Cloud nickte unmerklich. Vorsichtig nahm er das Kleine in seine Arme.
„Janina“, flüsterte er. Dabei warf er einen Blick auf seine Frau. Tränen füllten ihre Augen. Tränen der Rührung, derer sie sich nicht wehren konnte.
„Janina“, sprach sie ihm nach.
„Möchten Sie, daß ich sie bei Ihnen lasse?“ fragte die Krankenschwester leise.
Meni nickte nur. Lächelnd verließ die Schwester das Zimmer. Cloud setzte sich wieder auf die Bettkante. Larsen blinzelte neugierig auf das Gesicht seines Schwesterleins.
„Wie lieb sie schläft“, flüsterte Cloud. Lange blickte er seiner Frau in die Augen. „War – es eine schwere Geburt?“ fragte er darauf.
Meni legte ihre Hand auf seinen Schoß. „Nein, mein Liebling“, antwortete sie. „Du warst bei mir. Immer warst du bei mir. Meine Gedanken an dich haben die wenigen Schmerzen verdrängt.“
„Weißt du, wie lange du noch –?“
„Zwei Tage“, unterbrach sie ihn. „In zwei Tagen darf ich wieder nach Hause.“
Cloud legte die kleine Janina in die Arme seiner Frau, stand auf und zog sich seinen Mantel aus. Larsen ließ keinen Blick von seiner Schwester. Als würde er über sie wachen, um sie vor allem Schlechten beschützen zu wollen.
„Wie war es bei dir?“ fragte Meni unvermittelt. „Ist es dir sehr schwer gefallen?“
„Zu Hause, Liebes“, erwiderte er sanft. „Reden wir zu Hause darüber.“ Verstohlen warf er ein Blick auf seinen Sohn. Meni verstand sofort. Innig wandte sie sich ihrem Baby zu. Tief und fest schlief es immer noch. Larsen ließ sie keine Sekunde aus den Augen.
Die Zeit verrann wie im Flug. Der Abend brach bereits herein. Einige Male schon hatte sich die Schwester im Zimmer sehen lassen. Nicht einmal war Janina aufgewacht. Jedes Mal war die Schwester mit einem Lächeln wieder gegangen. Die Uhr zeigte die siebte Stunde des Abends an, als sie wieder das Zimmer betrat.
„So leid es mir tut, Mr. Wallis“, sagte sie leise. „Ich muß Sie bitten, nun zu gehen. Die Ordnung des Krankenhauses schreibt es vor.“
Cloud nickte ihr wortlos entgegen, worauf sie auf den Flur zurücktrat. Die Tür lehnte sie dabei nur an.
„Vielleicht lassen sie dich auch morgen schon gehen“, flüsterte er seiner Frau ins Ohr. „Ich werde mit dem Arzt ein Wort reden.“
„Ich freue mich auf dich“, erwiderte sie. „Endlich sind wir wieder zusammen. Endlich.“
Cloud griff nach der Jacke seines Sohnes. Widerstandslos ließ er sich von seinem Vater anziehen, behielt aber ständig seine Schwester im Auge. Nachdem Cloud sich seinen Mantel zugeknöpft hatte, setzte er sich noch einmal auf die Bettkante zu seiner Frau. Im selben Augenblick drang ein leises Husten aus der kleinen Janina hervor. Gleichzeitig öffneten sich ihre Augen. Ihr kleiner Mund verzog sich zu einem Lachen. Zart stupfte Cloud über ihre Nase. Es fiel ihm schwer, aufzustehen und einfach zu gehen. Meni griff nach seiner Hand.
„Ich liebe dich“, hauchte sie ihm entgegen. „Über alles.“ Nur langsam ließ sie ihn los. Mit traurigen Augen blickte sie Cloud hinterher. Larsen drehte sich vor der Tür noch einmal um. Er sagte nichts, doch auch seine Augen füllten sich mit Tränen.
Am Rande der Stadt, nicht einsam, dennoch abgelegen, befand sich das kleine Anwesen der Familie Wallis. Ungefähr eine viertel Autostunde vom Nordhospital entfernt. Eine kleine Villa, von einem beachtlichen Grundstück umschlossen. Erst vor wenigen Wochen hatten sie ihr neues Zuhause bezogen.
Der kalte Novemberwind hatte sich etwas gelegt, als Cloud Wallis mit seinem Sohn das Taxi verließ. Hand in Hand durchschritten sie das Tor, wodurch das Anwesen von der Straße abgetrennt wurde. Ein breiter Weg, rechts und links von niedrigen, gleichmäßig geschnittenen Büschen begleitet, führte sie direkt auf den Eingang zu.
„Kommt Mama bald nach?“ wollte Larsen nach einigen schweigsamen Minuten wissen. Cloud sperrte die Eingangstür auf.
„Ich denke, daß sie morgen schon entlassen wird“, antwortete er seinem Sohn, nachdem er die Tür hinter sich verschlossen hatte. „Du hast wohl schon Sehnsucht nach deinem Schwesterlein“, setzte er lächelnd hinzu. Larsen lachte zurück. Mühevoll versuchte er, den Reißverschluß seiner Jacke zu öffnen.
„Nicht mehr lange, dann haben wir eine nette Haushälterin“, sagte Cloud mehr zu sich selbst. Nachdem er sich seines Mantels entledigt hatte, half er Larsen beim Ausziehen.
Ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit überkam ihn, als er von der Garderobe in das Wohnzimmer trat. Liebevoll hatte seine Frau zwischenzeitlich die Glasvitrinen eingerichtet. Larsen folgte ihm auf den Schritt. Ständig blickte er zu seinem Vater empor. Die Freude darüber, daß sein Vater nun endlich von dieser zweiwöchigen Geschäftsreise zurückgekehrt ist, war in seinem Gesicht nicht zu übersehen. Die ganze Nacht hätte er mit ihm verbringen mögen, doch auf einmal wurde er von Müdigkeit übermannt. Cloud sah dies als Anlaß, seinen Sohn ins Bett zu bringen. Einen anstrengenden Tag hatte er hinter sich, den er gemütlich im Wohnzimmer abklingen lassen wollte.
Ohne weiteres ließ Larsen sich in sein Zimmer bringen. Es befand sich im oberen Stockwerk, in dem auch das Schlafzimmer der Eltern sowie das Badezimmer untergebracht war. Gähnend kuschelte Larsen sich unter die Bettdecke. Augenblicke später schlief er unter den Augen seines Vaters ein. Cloud knipste das Licht aus. Die Zimmertür lehnte er nur an. Leise begab er sich wieder in das Wohnzimmer. Erschöpft ließ er sich in das Sofa fallen und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Direkt hinter der Couch befand sich eine Fensterfront, die über die gesamte Wohnzimmerlänge reichte. Bei Tage bot sie genügend Sicht auf den hinteren Teil des Anwesens, das beträchtliche Ausmaße hatte. Eingeschlossen wurde das Besitztum von Bäumen, die in gleichmäßigen Abständen in die Höhe ragten. Sowie ein mannshoher Zaun aus Schmiedeeisen gefertigt.
Eine halbe Stunde nach der anderen verstrich. Immer wieder verfiel Cloud in einen unruhigen Schlaf, aus dem er abrupt wieder erwachte. Nicht mehr lange, dann hatte die Nacht ihren tiefsten Punkt erreicht. Plötzlich, es war, als Cloud wieder in solch einen unruhigen Schlaf verfiel, bewegte sich eine Gestalt auf die Fensterfront zu. Langsam, vorsichtig. Schritt für Schritt näherte sie sich dem Haus. Das Licht des Wohnzimmers war bis auf ein weniges gedämmt. Dicht vor der Fensterscheibe blieb die Gestalt stehen. Nur Umrisse, die zu erkennen waren. Regungslos schien sie Cloud anzustarren. Geraume Zeit. Plötzlich schreckte Cloud nach oben. Gleichzeitig verschwand die Gestalt. Flink bewegte sie sich in das Dunkel der Nacht.
„Mein Gott“, entfuhr es Cloud. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Unbewußt strich er mit dem Finger über seinen linken Handrücken. Der Narbe entlang, die sich quer darüber zog. Langsam drehte er seinen Kopf der Fensterfront zu. Für einen Moment war ihm, als hätte er davon geträumt, wie jemand Fremdes sich seinem Haus näherte. Oder war es gar kein Traum? Ist da wirklich eine Gestalt dicht an der Fensterscheibe gestanden? So sehr er sich auch anstrengte, es war zu finster, um etwas erkennen zu können. Gedankenversunken wandte Cloud sich ab, versuchte es einfach zu verdrängen. So, wie er alles zu verdrängen versuchte, wenn er an eine ganz bestimmte Zeit denken mußte.
Ein wenig betrübt über die Abwesenheit seiner Frau machte er sich auf den Weg ins Badezimmer. Vor Larsens Tür hielt er inne. Gleichmäßig gingen die Atemzüge seines Sohnes. Leise betrat Cloud das Bad und verschloß hinter sich die Tür. Ausgiebig begann er zu duschen, ließ das Wasser erquickend auf sich einwirken. Als er nach geraumer Zeit das Badezimmer verließ, fühlte er sich wie ein neuer Mensch. Wieder lauschte Cloud nach den Atemzügen seines Sohnes. Gleichmäßig atmete Larsen ein und wieder aus. Zufrieden darüber betrat er das Schlafzimmer. Minuten später verfiel er mehr oder weniger in einen tiefen Schlaf.
„Daddy, Daddy“, drang es plötzlich dumpf an sein Ohr. Verwirrt blickte Cloud neben sich auf den Digitalwecker. Drei Uhr nachts.
„Daddy, Daddy“, vernahm er wieder die Stimme seines Sohnes. Kein Traum! Mit einem Male war Cloud hellwach. Blitzschnell sprang er aus dem Bett. Gleichzeitig drückte er auf den Lichtschalter der Nachttischlampe.
„Daddy –“, rief Larsen immer wieder. „Daddy, Daddy.“
Mit wenigen Schritten stand Cloud im Zimmer seines Sohnes. Der Lichtstrahl vom Flur fiel auf das Kinderbett. Larsen hatte sich vollkommen unter der Bettdecke versteckt.
„Ich bin schon bei dir, mein Junge“, sagte Cloud erregt, doch mit sanfter Stimme. Vorsichtig zog er die Bettdecke zurück. Ängstlich blickte Larsen ihn an.
„Ich hab solche Angst Daddy“, weinte Larsen. „Bitte bleib bei mir. Bitte, bitte.“ Tränen rollten über sein Gesicht. Cloud nahm ihn sachte aus dem Bett. Sofort klammerte Larsen sich um seinen Hals.
„Ich hab Schlimmes geträumt, Daddy“, schluchzte er. „Ich hab so Schlimmes geträumt. Bitte laß mich nicht mehr allein. Bitte, bitte.“
Zart strich Cloud durch sein Haar. „Ich laß dich nicht mehr allein, mein Junge“, versuchte er ihn zu beruhigen. „Du darfst bei mir schlafen. Willst du das?“
„O ja, Daddy“, atmete Larsen hörbar auf. „Du mußt mich vor ihm beschützen, Daddy. Er darf mir nichts tun, du bist doch mein Daddy. Du, du.“
„Aber natürlich, mein Junge“, erwiderte Cloud etwas verwirrt. „Versuchen wir beide wieder zu schlafen, ja?“
„Ja, Daddy“, flüsterte Larsen. Gefühlvoll trug Cloud den kleinen Larsen in das Schlafzimmer und legte ihn neben sich ins Bett.
„Licht ausschalten?“ fragte Cloud nach einer Weile. Larsen gab keine Antwort. Gleichmäßig gingen wieder seine Atemzüge.
Der Morgen war längst schon angebrochen, als Cloud erwachte. Larsen konnte seit einiger Zeit schon nicht mehr schlafen. Er hatte sich nicht zu bewegen getraut, um seinen Vater dadurch nicht aufzuwecken.
„Hallo, mein Junge“, begrüßte Cloud seinen Sohn. Er legte sich auf die Seite und stützte seinen Kopf mit dem Ellenbogen ab. Larsen kam seinem Beispiel nach. Freudig blickte er seinem Vater in die Augen.
„War er wieder da?“ fragte Cloud nach einer Weile. Larsen schüttelte seinen Kopf.
„Willst du mir darüber erzählen?“
Wieder schüttelte Larsen mit dem Kopf.
Cloud strich ihm mit der Hand durch sein Haar. „Deine Mama kommt heute wieder“, sagte er darauf. „Bestimmt lassen die Ärzte sie heute wieder gehen.“
Über Larsens Gesicht flog ein freudiger Schimmer. Der schlechte Traum war auf einmal wie weggeblasen.
Cloud jedoch mußte immer wieder an den gestrigen Abend denken. Er war sich einfach nicht sicher, ob es nun eine Täuschung gewesen ist oder nicht. Auf jeden Fall nahm er sich vor, im Garten nach Spuren zu suchen. Wenn er es auch nicht für ernst nehmen wollte und er sich einredete, daß ihm seine Gedanken ein trügerisches Spiel vorspielten. Aber es war nicht das erste Mal, daß dieses seltsame Spiel mit ihm gespielt wurde. Ständig wurde er dabei an diese Zeit zurückerinnert. Eine Zeit, die er am liebsten aus seinem Gedächtnis verbannen wollte. Ihn schauderte jedesmal, wenn er an sein Internatleben erinnert wurde. Als wäre es erst vor wenigen Wochen gewesen, seit er das Internat das letzte Mal gesehen hatte. Nacheinander sah er sie vor sich, seine damaligen Freunde.
Eduard Lony, dem sie den Namen Ellinoy gegeben hatten. Jean Hensen, bei ihm überkam Cloud ein leichtes Lächeln. Showy nannten sie ihn. Das Essen war ihm immer das Wichtigste gewesen. Und Arth Champ, der Chinese. Sie nannten ihn Champy. Der Name paßte auch richtig zu ihm. Ihn selbst nannten sie damals Dumpkin. Gemeinsam hatten sie sich die Unzertrennbaren genannt. Die Unzertrennbaren, bis auf Champy hatte sich ihre Bezeichnung auch bewahrheitet. Anfangs hatten sie sich regelmäßig getroffen. So, wie sie es sich gegenseitig versprochen hatten. Sogar zum Gesetz hatten sie es sich gemacht. Mit den Jahren jedoch verschwanden die grausamen Erinnerungen. Und ihre Treffen wurden weniger und weniger. Doch den Kontakt zueinander hatten sie nie verloren. Bis auf Champy. Von ihm hatten sie eines Tages nichts mehr gehört. Keiner von ihnen.
Nur noch selten dachte Cloud an diese Zeit zurück. So lange, bis es wiederkam – dieses Gesicht. Dieses schreckliche Gesicht, in das er, kurz bevor sein Vater ihn abholte, noch geblickt hatte. Die Worte, die es damals zu ihm gesprochen hatte, waren wie in sein Gehirn eingemeißelt. – Nun gehörst du mir, Cloud Wallis. Das Buch, mein Freund. Vergiß nicht dein Versprechen, vergiß es nicht.
Dieses verdammte Buch, mit ihm hatte alles angefangen. Nichts mehr hatte er seitdem davon gehört. Auch nicht von Rouven Blandow, der mit diesem Buch spurlos verschwunden war. Aber seine Rede, die er auf Tonband gesprochen hatte, an diese konnte er sich noch genauestens erinnern. Seltsam. Warum eigentlich?
„Daddy?“ riß Larsen ihn aus seinen Gedanken. „Ich hab solchen Hunger, Daddy.“
Cloud schüttelte kurz seinen Kopf. Als wollte er sich die Erinnerungen einfach abschütteln.
„Hunger“, wiederholte er leise. „Mir knurrt auch schon der Magen.“ Er stupste Larsen mit dem Finger leicht auf die Nasenspitze, worauf der Kleine herzhaft auflachte. Gleichzeitig stiegen sie aus dem Bett, wobei Larsen es sich nicht nehmen ließ, noch einmal auf die Matratze zu hüpfen und quer darüber zu springen. Mit offenen Armen fing Cloud seinen Sohn auf, als dieser einfach auf ihn zusprang. Fest drückte er ihn an sich. Larsen war ihm schon von Anfang an ans Herz gewachsen. Eine Zeit ohne ihn konnte er sich nicht mehr vorstellen, auch wenn er mehrmals im Jahr geschäftlich im Ausland zu tun hatte. Und das meistens für längere Zeit.
„Bleibst du nun für immer bei uns, Daddy?“ fragte Larsen auf einmal. Mit seinen großen runden Augen starrte er seinen Vater an. Cloud zwinkerte ihm zu.
„Weißt du, mein Junge“, erwiderte er langsam. „Wenn ich ab und zu nicht bei euch bin, dann denke ich immer an euch. Verstehst du? Mit meinen Gedanken bin ich immer bei dir und bei deiner Mama.“
„Aber ich seh dich nie“, entgegnete Larsen ein wenig traurig. „Du sollst doch da sein, nicht deine Gedanken, Daddy. Du bist doch unser Daddy.“
Cloud atmete tief durch. „Ich hab einen Bärenhunger“, versuchte er abzulenken. Schwungvoll hob er ihn über sich empor. „Du nicht auch?“ Larsen lachte ihn an. Seine Augen strahlten, so sehr freute er sich über seinen Vater. Das Ablenkungsmanöver schien zu funktionieren. Larsen strampelte wild vor Freude mit den Beinen hin und her.
Es war gerade zehn Uhr, als sie sich am Frühstückstisch in der geräumigen Eßküche gegenübersaßen. Diese befand sich direkt neben dem Wohnzimmer und bot ebenfalls Blick auf die hintere Grundstücksfläche. Cloud setzte sich so, daß er direkt zum Küchenfenster hinausblicken konnte.
„Kommt Mama heute wieder?“ fragte Larsen, nachdem er sein erstes Brot gegessen hatte.
„Freust du dich auf dein Schwesterlein?“ stellte Cloud ihm eine Gegenfrage.
Larsen nickte mehrmals mit dem Kopf. „Ich paß schon auf sie auf“, erwiderte er. „Gehen wir Mama holen?“
Cloud wollte etwas darauf erwidern. Das Klappern des Briefkastendeckels hielt ihn davon ab. Augenblicklich stand er auf. Larsen blickte ihm so lange hinterher, bis sein Vater mit mehreren Briefen und der Tageszeitung in der Hand zurückkam. Die Blicke auf die Briefe gerichtet, setzte er sich wieder auf seinen Platz. Nacheinander sah er sich die Absender durch. Beim letzten zuckte er etwas zusammen. Beinahe hastig riß er ihn auf. Nur wenige Worte standen von Hand geschrieben auf dem Papier.
Hallo Cloud,
habe vergeblich versucht, Dich telefonisch zu erreichen. Man sagte mir, Dein Anschluß sei für längere Zeit unterbrochen. Melde Dich bei mir, Cloud. Dringend! Ich brauche Deine Hilfe!
Dein Freund Ellinoy
Cloud nahm das Kuvert und las die Adresse, an die der Brief adressiert war. Es war seine alte Anschrift. Irgendwie mußte es der Post dann gelungen sein, seine neue Anschrift ausfindig zu machen. Gestempelt war der Brief vor genau fünf Tagen. Demnach war der Brief mit nur geringer Verzögerung bei ihm eingegangen. Telefonisch hätte er auch nicht erreicht werden können, wenn er zu Hause gewesen wäre, da das neue Telefon erst seit ein paar Tagen angeschlossen war.
„Sollen wir jetzt Mama holen?“ fragte Larsen noch mal. Cloud richtete seinen Blick auf und sah ihn an.
„Ich muß mal eben telefonieren“, entgegnete er und stand wieder auf.
„Telefonierst du mit Mama, Daddy?“ wollte Larsen gleich wissen. Cloud gab ihm darauf keine Antwort. Eilig begab er sich zum Telefon, das im Flur, zwischen Eingang und Wohnzimmer, seinen Platz hatte. Die Nummer seines Freundes wußte Cloud auswendig. Das Abheben des Hörers und Bedienen der Tastatur war eins. Ungeduldig lauschte er dem Freiton, der sich in gleichen Abständen wiederholte. Auf dreiundzwanzig zählte er, als er den Hörer enttäuscht wieder auflegte. Nachdenklich ging er wieder zu Larsen zurück, der sich zwischenzeitlich ein Blatt Papier und einen Stift aus seiner Spielzeugschublade geholt hatte. Cloud begann, den Tisch abzuräumen. Larsen ließ sich bei seinen malerischen Tätigkeiten nicht stören.
„Hast du Mama angerufen?“ fragte er ihn, ohne von seinem Blatt aufzublicken. Cloud stellte den Teller, den er gerade in der Hand hielt, in die Spülmaschine. Langsam richtete er sich auf. Larsen saß mit dem Rücken zu ihm.
„Du vermißt deine Mama sehr?“ fragte er ihn.
„Gehen wir sie nachher holen?“
Cloud trat hinter Larsen. Zärtlich strich er ihm über seine Haare.
„Natürlich gehen wir deine Mama holen, mein Junge. Ich vermisse sie doch auch.“ Lächelnd blickte er über Larsens Schulter auf das Blatt, auf dem Larsen eifrig herummalte. Bestürzt fuhr Cloud zurück.
„Was malst du denn da?“ fragte er entsetzt. Zitternd nahm er Larsen das Blatt aus der Hand. Dieser blickte seinen Vater verständnislos an.
Eine Gestalt, als Kopf die Form eines kahlen Schädels. Zwei große Löcher anstelle von Augen. Larsen hatte die Löcher mit dem Bleistift ausgemalt, so daß sie vollkommen schwarz waren. Aus dem Mund ragten Zähne, wie die eines reißenden Tieres. Der Körper bedeckt von einem Mantel. Die Finger malte er übergroß, lang, knochig, mit spitzen Fingernägel daran.
Cloud starrte von dem Blatt auf seinen Sohn, von seinem Sohn wieder auf das Blatt.
„Woher – hast du das?“ fragte er ihn leise. Larsen gab keine Antwort. Cloud wankte, stützte sich auf dem Eßtisch ab. Langsam setzte er sich seinem Sohn gegenüber.
„Wo-her hast du das?“ wiederholte er sich. „Du mußt es mir sagen, Larsen. Du mußt!“
Larsens Augen füllten sich mit Tränen. „Heute nacht, Daddy. Heute nacht. Er wollte, er hat mich, er hat –“. Larsen rutschte von seinem Stuhl und klammerte sich an das Bein von seinem Vater.
„Du hast davon geträumt“, hauchte Cloud. Seine Kräfte wollten schwinden. Es fiel ihm schwer, den kleinen Larsen auf seinen Schoß zu setzen. „Erzähl, mein Junge. Sag mir, was du heute nacht geträumt hast.“ Sanft strich er ihm die Tränen von den Wangen. Cloud hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Mehrmals lief es ihm eiskalt über den Rücken. Er brachte Larsens Traum mit dem seinigen in Verbindung. Oder war es doch kein Traum?
„Sag es mir, mein Junge“, forderte Cloud seinen Sohn von neuem auf. „Bestimmt geht es dir danach besser. Du mußt mit deinem Vater darüber reden, Larsen.“
Larsen blickte auf. Die sanfte Stimme seines Vaters schien ihn zu beruhigen. „Es, es wollte mich, es wollte mich aufessen, Daddy. Einfach aufessen.“
Clouds Gesicht wurde fahl. Mit einem Male war es da, dieses Antlitz. Es war wieder da. Genau sah er es vor sich. Direkt, als säße es ihm gegenüber. Es starrte ihn an, mit den dunklen Löchern. Starrte ihn nur an. Blutrot, von vielen kleinen Fasern durchzogen, glotzte es ihn einfach an. Als wollte es in sein Inneres blicken. In seine tiefste Verborgenheit, in der sie schlummerte, seit Jahren schlummerte. Die Angst! Die Furcht! Das Grauen in ihm.
„Mein Gott“, stammelte Cloud. „Es ist wieder da.“
Larsen getraute nicht, sich zu bewegen. In solch einer Verfassung hatte er seinen Vater noch nie gesehen. Cloud nahm seinen Sohn und stellte ihn auf den Boden. Es kostete ihn einige Anstrengung, sich zu erheben. Nur schwerlich tastete er sich vor, dem Telefon entgegen. Larsen war vollkommen verwirrt. Regungslos blickte er seinem Vater nach. Dieser nahm den Hörer von der Gabel. Zitternd drückte er auf die Wiederwahltaste. Das Freizeichen erklang. Viele Male hintereinander. Schon wollte Cloud wieder auflegen, da vernahm er ein Klicken in der Leitung.
„Lony“, meldete sich eine Stimme. Kurz leuchteten Clouds Augen auf.
„Hallo, Ellinoy“, sagte er kaum hörbar.
„Dumpkin, bist du es?“ rief es überrascht in den Sprechapparat. „Endlich meldest du dich.“
„Es ist wieder da“, stammelte Cloud. „Dieses Gesicht, es ist wieder da.“
„Wir müssen uns treffen“, erwiderte Eduard. „Wenn es geht heute noch.“
Allmählich kehrte wieder Ruhe in Cloud zurück. Die Stimme seines Freundes verdrängte die Furcht in ihm.
„Ich wohne jetzt in Washington“, sprach Cloud nun etwas gelassener. „Melanie hat gestern ein Baby bekommen.“
„Wo treffen wir uns?“ fragte Eduard darauf.
„Nordhospital, findest du das?“
„In zwei Stunden bin ich bei dir“, sagte Eduard mit Bestimmtheit. Ohne noch weiter zu fragen, legte er den Hörer einfach auf.
„Daddy, gehen wir jetzt Mama holen?“ hörte Cloud plötzlich die Stimme seines Sohnes. Langsam legte er den Hörer zurück und drehte sich um. Mit großen Augen blickte Larsen zu ihm auf.
„Ja, mein Junge“, antwortete Cloud, indem er sich seinem Sohn gegenüberhockte. Etwas Trauriges lag in seinen Augen. Larsen schien es zu bemerken. Er trat seinem Vater entgegen und legte die Arme um dessen Hals.
Eine Stunde später. Hand in Hand schritt Cloud mit seinem Sohn den Gang zu dem Krankenzimmer seiner Frau entlang. Wenige Meter vor der betreffenden Tür riß Larsen sich los. Er konnte es nicht mehr erwarten, seine Mutter wiederzusehen. Larsen war gerade groß genug, um die Türklinke zu erreichen. Schwungvoll drückte er sie auf.
„Mama, Mama“, rief er erfreut und verschwand in dem Zimmer. Cloud eilte hinterher. Larsen war seiner Mutter schon um den Hals gefallen. Lächelnd strahlte sie über Larsens Schulter hinweg Cloud entgegen, der hinter sich die Tür wieder schloß. Neben dem Krankenbett stand eine kleine Wiege. Janina lag darin. Durch Larsens laute Rufe schien sie aufgewacht zu sein. Cloud gab Meni einen zärtlichen Kuß. Danach widmete er sich seinem Töchterlein. Ihre Augen waren geöffnet. Sie lachte ein wenig, als er sie aus dem Bettchen nahm.
„Hast du mit dem Arzt schon geredet?“ fragte Meni leise.
„Nein, noch nicht“, antwortete Cloud. „Aber mach dir keine Sorgen, bestimmt lassen sie dich gehen. Wie fühlst du dich?“ Cloud setzte sich neben Meni auf die Bettkante. Larsen begann seine Schwester eingehendst zu mustern.
„Gut, mein Liebling“, erwiderte sie. „Ich freue mich, wieder bei euch zu sein.“
Cloud blickte seiner Frau länger in die Augen. „Wir bekommen Besuch“, sagte er nach einer Weile.
„Besuch?“ erstaunte sich Meni. Cloud fiel es
nicht leicht, seine innere Unruhe zu verbergen. Seine Frau wußte,
was es zu bedeuten hatte, wenn einer seiner Freunde zu Besuch kam,
oder er sie besuchen ging. Jahre liegt es nun zurück, seit sie
etwas von ihnen gehört hatte. Beinah waren sie schon in
Vergessenheit geraten. Nachdem sie damals überstürzt das Internat
verlassen mußten, hatte Melanie noch einen Brief in Dumpkins Zimmer
gelegt. Dieser Brief war es, der sie geraume Zeit später wieder
Kontakt zueinander finden ließ. Cloud hatte zwischenzeitlich sein
Studium zum Wirtschafts-
ingenieur abgeschlossen und eine Stelle bei einer großen
Computerfirma als Manager angetreten. Melanie studierte zu dieser
Zeit noch an der High School. Sie wollte Lehrerin werden. Doch
nachdem sie ihre Liebe Cloud gegenüber bekannt hatte und sie
schwanger geworden war, brach sie das Studium ab und widmete sich
nur noch ihrem Familienglück. Eines Abends hatte Cloud ihr seine
Geschichte erzählt. Obwohl er sich geschworen hatte, niemals
darüber mit seiner Frau zu reden, er hatte es getan. Es wurde aber
auch seither kein Wort mehr darüber verloren. Dies war nach der
Hochzeit gewesen. Fast sechs Jahre war es nun her. Seit sechs
Jahren hatte sie nichts mehr von seinen Freunden gehört. Seit sechs
Jahren sprach Cloud nichts mehr über dieses schreckliche Erlebnis.
Nun fühlte sie es. Sie fühlte es einfach, obwohl Cloud noch nicht
gesagt hatte, wer dieser Besucher sein wird. Sie ahnte es.
„Ellinoy?“ fragte sie nur. Ihre Augen zuckten, als sie den Namen aussprach.
Cloud senkte langsam seinen Kopf. „Er kommt hierher“, sagte er leise.
„Hat es etwas mit –?“
„Frage besser nicht, Meni“, unterbrach Cloud seine Frau. „Laß uns später darüber reden, nicht jetzt.“
„Ich verstehe schon“, erwiderte Meni sanftmütig. Sachte legte sie ihre Hand auf seine Schulter. Cloud blickte ihr dankbar in die Augen.
„Ich rede noch mit dem Arzt, bevor er kommt.“ Er gab Janina einen leichten Kuß auf die Stirn und reichte sie Meni entgegen. „Paß auf sie auf, solange ich nicht hier bin“, sagte er zu Larsen, der ihn fragend anschaute. Noch bevor Larsen etwas sagen konnte, war sein Vater aus dem Zimmer verschwunden. Meni strich sich eine Träne aus dem Gesicht, ehe Larsen sie bemerkte. Auf gar keinen Fall wollte sie ihre momentanen Gefühle vor den Kindern offenbaren.
Keine Viertelstunde war vergangen, betrat Cloud wieder das Krankenzimmer. Gefolgt von einem kleineren Herrn in einem weißen Kittel. Der Arzt, der Meni bei der Geburt beigestanden hatte.
„Selbstverständlich können Sie das Krankenhaus heute schon verlassen“, sagte er ohne Umschweife. „Sie müssen mir aber versprechen, sich zu Hause gleich wieder hinzulegen. Sie haben die Ruhe nötig, Mrs.Wallis.“
Meni lächelte dem Arzt entgegen. „Sie brauchen sich da keine Sorgen zu machen, Dr. Kancy“, erwiderte sie.
„Dann wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie alles Gute“, sagte Dr. Kancy. Er reichte Meni zum Abschied seine Hand. „Ein bißchen jedoch müssen Sie noch warten, bis Ihre Papiere fertig gemacht sind.“ Kurz warf er noch einen Blick auf Janina, die eifrig ihre kleinen Augen von einer Seite auf die andere wandern ließ. Danach streckte er Cloud seine Rechte entgegen.
„Sie haben eine beneidenswert tapfere Frau“, sagte er zu ihm. Cloud mußte grinsen. Solche Komplimente schmeichelten ihm. Dr. Kancy wandte sich dem kleinen Larsen zu, der die einzelnen Szenen schweigsam verfolgt hatte.
„Und du, mein kleiner Mann“, schmunzelte der Arzt. „Paß mir ja auf dein Schwesterlein auf. Und daß mir keine Klagen kommen.“ Wie sein Vater es bei ihm immer tat, strich der Arzt mit der Hand durch sein Haar. Larsen lachte Dr. Kancy hinterher, der kurz darauf leise die Tür hinter sich schloß.
„Kommst du jetzt nach Hause, Mama?“ fragte Larsen, nachdem der Arzt gegangen war. Meni nickte ihrem Sohn freudig entgegen. Cloud nahm Janina zu sich, damit seine Frau aufstehen konnte.
„Jetzt muß ich mich aber schnell anziehen, bevor deine Freunde eintreffen“, sagte sie etwas deprimiert.
„Bisher kommt nur Ellinoy“, erwiderte Cloud. „Ein Brief ist heute von ihm angekommen.“
„Es wird schon alles wieder gut werden“, entgegnete Meni leise. Sie stellte sich vor das Waschbecken und begann sich, so schnell sie konnte zu richten. Cloud setzte sich zwischenzeitlich auf das Bett. Larsen folgte seinem Beispiel. Er konnte es noch gar nicht so richtig fassen, daß er nun ein Schwesterlein hatte. Immer wieder blickte Janina zu ihm herüber und lachte ihn an, worauf Larsen sie vorsichtig zu berühren versuchte.
Meni war gerade fertig, da klopfte es an der Tür. Cloud zuckte etwas zusammen. Schweigend warfen sie sich bedeutungsvolle Blicke zu.
„Ja, bitte“, rief Cloud, so daß es gerade noch gehört werden konnte. Seine Stimme klang aufgeregt. Verstohlen blickte er auf seine Uhr. Ein wenig mehr als zwei Stunden waren vergangen, seit er mit seinem Freund telefoniert hatte.
Langsam wurde die Tür aufgedrückt. Ellinoy betrat das Zimmer. Als er Cloud erblickte, blieb er stehen. Unter anderen Umständen hätte er sich das Lachen nicht verkneifen können, wie er seinen Freund, beinah hilflos ein Baby auf dem Arm und ein Kind neben sich, einfach dasitzen sah.
„Hallo, Dumpkin“, grüßte Eduard. In all den Jahren hatte Ellinoy sich kaum verändert. Immer noch waren seine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Statur war noch kräftiger geworden, wobei er etwas über ein Meter achtzig maß. Eduard hatte sich der Schriftstellerei verschrieben. Mit siebenundzwanzig brachte er sein erstes Werk heraus, das prompt unter den ersten zehn Bestsellern einen Platz einnahm. Von da an ging es Schlag auf Schlag bei ihm. Inzwischen war er wohl einer der bekanntesten Schriftsteller des Horrors und der mystischen Literatur geworden. Auch wurden schon einige Bücher von ihm verfilmt. Allerdings schrieb Eduard unter Pseudonym. Nur wenige wissen, wer er wirklich ist.
„Hallo, Ellinoy“, erwiderte Cloud den Gruß. Eduard schloß, ohne seine Blicke von Cloud lassend, hinter sich die Tür. Er versuchte gelassen zu erscheinen, doch Cloud erkannte, daß Eduard innerlich bebte. Erst als er seinem Freund entgegenkam, bemerkte er Meni, die vor dem Waschbecken stehengeblieben war. Sofort wandte Eduard sich ihr zu.
„Hallo Melanie“, sprach er sie an. Zum Gruß reichte er ihr die Hand. „Meinen Glückwunsch zu eurem Baby“, setzte er hinzu. Meni sagte nichts. Eduards Erscheinung war ihr unheimlich. Der Raum war plötzlich erfüllt von unausgesprochenen Worten, die sich die beiden Freunde sagen wollten. Meni kam sich auf einmal störend vor. Nicht, daß sie etwas gegen Eduard hatte, aber die Umstände waren es, die ihn hierher führten. Umstände aus der Vergangenheit, die sich tief in das Innere der Freunde gefressen hatten. Auch in das Innere ihres geliebten Mannes. Nun kam sie zurück, diese Vergangenheit. Sie kam zurück, einfach zurück. Meni mußte an jene Minuten denken, in der Kirche, in denen sie den Worten Rouvens gelauscht hatten. Damals wußte sie nichts von den Gegebenheiten, von diesen Umständen, die zu all dem führten. Erst seit Cloud ihr es erzählt hatte, konnte sie sich einiges zusammenreimen. Wenn es ihr auch schwerfiel, Glauben dafür zu schenken. Aber da waren die Worte Rouvens längst schon in Vergessenheit geraten. Nie hatte sie auch danach gefragt. Meni wollte es mit der Vergangenheit belassen, und nicht alte Wunden aufreißen.
Cloud legte vorsichtig Janina in das Krankenbett. Als Eduard sich ihm zudrehte, streckte er ihm seine offene Handfläche entgegen. Wie zu jener Zeit, als sie sich gegenseitig Freundschaft geschworen hatten, schlug zuerst Eduard, dann Cloud in die dargebotene Handfläche ein.
„Was ist mit Showy?“ war Clouds erste Frage.
„Ihn habe ich ebensowenig erreichen können wie dich“, erwiderte Eduard. Er blickte über Cloud hinweg auf Janina, die eben von Larsen sanft gestreichelt wurde.
„Hätte ich dir damals nicht zugetraut“, bemerkte Eduard darauf. In seiner Stimme lag etwas Gebrochenes, als würde er sich an Schlimmes zurückerinnern.
„Mein Sohn Larsen“, stellte Cloud vor. „Und meine Tochter Janina. Wie geht es deiner Frau und deinen Kindern?“
„Reden wir später darüber“, wich Eduard aus. „Ich habe dir vieles zu sagen.“
Meni trat an das Bett und nahm ihr Baby zu sich.
„Ich gehe schon einmal vor in die Empfangshalle“, sagte sie zu Cloud.
„Wir kommen gleich mit“, entgegnete er und griff nach dem Koffer, der schon zusammengepackt neben dem Kleiderschrank stand. Als Larsen an Eduard vorbei wollte, um die Tür zu öffnen, hielt dieser ihn mit leichtem Griff fest. Larsen blickte Eduard mit großen Augen an.
„Du bist ein lieber Junge, Larsen“, sprach Eduard zu ihm. Mehr sagte er nicht. Er ließ Larsen wieder los, worauf der Kleine sein Vorhaben, die Tür zu öffnen, fortsetzte.
Nach einigen Formalitäten in der Rezeption verließen sie gemeinsam das Krankenhaus. Cloud staunte nicht wenig, als Eduard in einen metallicschwarzen Rangerover einstieg. Für einige Augenblicke musterte er den Wagen, wobei der tiefe Kratzer, der sich quer über die Motorhaube zog, nicht zu übersehen war. Er selbst fuhr nur einen etwas besseren Mittelklassewagen, wobei ihm seine Firma schon nahegelegt hatte, sich ein größeres Auto, wegen der Repräsentation den Kunden gegenüber, zuzulegen.
Cloud schlängelte sich geschickt durch den dichten Stadtverkehr. Nun war es Eduard, der sich ein anerkennendes Pfeifen nicht verwehren konnte, als sie vor der kleinen Villa ausstiegen.
Meni eilte sofort dem Eingang entgegen. Larsen folgte seiner Mutter. Der kalte Novemberwind trieb ihn ins Haus. Cloud blieb mit Eduard vor seinem Anwesen stehen.
„Du hast mir gar nichts davon geschrieben“, machte Eduard ihm einen kleinen Vorwurf.
„Ich – hatte noch nicht die Gelegenheit dazu gehabt“, versuchte Cloud sich zu rechtfertigen. „Möchtest du, daß ich dich durch den Garten führe?“
„Der Wind macht mir nichts aus“, entgegnete Eduard.
„So können wir uns am ungestörtesten unterhalten“, meinte darauf Cloud, der diese Gelegenheit nutzen wollte, um nach etwaigen Spuren zu suchen. Langsam begaben sie sich an der Hauswand vorbei auf die Rasenfläche zu.
„Was ist geschehen?“ eröffnete Eduard als erster das Gespräch. Cloud griff in seine Manteltasche und zog das Blatt Papier heraus, auf dem Larsen gemalt hatte. Seine Hand zitterte ein wenig, als er es seinem Freund wortlos entgegenreichte. Eduards Stirn legte sich in Falten.
„Dein Sohn?“ fragte er nur.
„Heute morgen“, erwiderte Cloud.
Eduard blieb stehen. Nachdem er das Bild betrachtet hatte, blickte er Cloud direkt in die Augen. „Es ist sehr lange her, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben“, sagte er. „Du hattest gerade angefangen zu studieren.“
„Ich habe gehofft, es wäre endlich vorüber“, entgegnete Cloud. „Es war ungefähr diese Zeit, in der wir das letzte Mal davon – geträumt hatten.“
„Es war dieselbe Zeit, in der wir das letzte Mal von Champy gehört hatten.“ Eduard faltete das Blatt zusammen und gab es Cloud zurück. „Nur wir drei schreiben uns noch regelmäßig“, sprach er weiter. „Letzten Monat erst habe ich von Showy einen Brief bekommen. Er schrieb mir, die Frau seines Lebens gefunden zu haben.“
Cloud mußte ein wenig grinsen, wenn er sich Showy mit einer Frau vorstellte. „Die letzte Zeit war ich schwer zu erreichen“, sagte er darauf und steckte das Blatt in seine Tasche zurück. „Habe viel ihm Ausland zu tun. Meni mußte gestern ins Krankenhaus, die Wehen hatten eingesetzt. Diese Nacht war ich mit Larsen allein im Haus. Nachdem ich ihn ins Bett gebracht hatte, schlief ich auf dem Sofa ein, wachte aber immer wieder auf. Plötzlich, ich weiß nicht mehr warum, schreckte ich auf. Mir war, als hätte ich eine Gestalt gesehen, draußen, direkt am Fenster. Sie beobachtete mich. Bin mir aber nicht sicher, ob es nun ein Traum war oder nicht. Danach ging ich ins Bett. Es war drei Uhr, als Larsen mich durch Schreie aufweckte. Vor irgend etwas hatte er furchtbare Angst. Ich nahm ihn dann zu mir ins Bett. Ich fragte ihn, was er geträumt hatte, aber er wollte es mir nicht sagen. Heute morgen hat er dann das gemalt.“
Eduard senkte seinen Kopf. Längere Zeit blickte er zu Boden.
„Du hast mich nach meiner Frau und meinen Kindern gefragt“, sagte er nach einer Weile, ohne jedoch aufzublicken. „Kannst du dich noch an das Tonbandgespräch von diesem Rouven Blandow erinnern?“
„An jedes Wort“, erwiderte Cloud. Nicht eine Sekunde ließ er seinen Blick von seinem Freund.
Abrupt erhob Eduard seinen Kopf. Feuchtes schimmerte in seinen Augen. „Auch eure Kinder laufen Gefahr, von dem Bösen ergriffen zu werden“, zitierte er die Worte Rouvens. „Sie werden die ersten sein, die das Böse an sich reißen wird von jenen, die sein Antlitz erblickt haben.“
Cloud war der Schreck in seinem Gesicht abzulesen. Entsetzt wich er einen Schritt zurück.
„Deine – Kinder?“ stammelte er.
Eduard nickte. „Sie sind da, die ersten Anzeichen. Bei Tommy hat es zuerst angefangen. Jetzt auch Marc. Für Caroline sind es einfach nur Launen der Kinder.“
„Wie – lange schon?“ Cloud versuchte ruhig zu bleiben, was ihm aber nur schwer gelang.
„Seit einigen Wochen“, kam es nur gebrochen aus Eduard hervor. „Sie, sie sind nicht mehr die, die sie einmal gewesen sind. Sie sind böse, Dumpkin. Mit jedem Tag mehr. Manchmal denke ich sogar, Angst vor meinen eigenen Kindern haben zu müssen. Verstehst du? Angst vor den eigenen Kindern.“
„Was – machen sie?“ Cloud schien es die Kehle zuzuschnüren, wenn er daran dachte, daß ihm dasselbe bevorstehen könnte.
„Hast du den Kratzer auf meinem Wagen bemerkt?“ fragte Eduard. Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich das Feuchte aus den Augen. Cloud nickte nur.
„Sie sind es gewesen“, hauchte Eduard. „Nur ein Beispiel, Dumpkin. Nur ein Beispiel. Ich warte nur darauf, bis sie mir eines Tages die Bremsleitungen durchschneiden.“ Eduard atmete mehrmals tief durch. „Aber so weit werde ich es nicht kommen lassen, Dumpkin. So weit nicht!“
„Was willst du unternehmen“, erschauderte es Cloud. „Was?“
Eduards Augenbrauen zogen sich zusammen. Sein Blick war plötzlich wie erstarrt. Haß funkelte in seinen Augen. „Wir müssen das tun, was wir vor Jahren versäumt haben.“
„Du meinst, wir müssen zurück und es vernichten?“
Eduard nickte, langsam.
„Und – das Buch?“ Cloud fuhr sich mit der Handfläche über die Stirn. Sie war naß.
„Ich habe alles versucht, diesen Rouven Blandow ausfindig zu machen“, erwiderte Eduard. „Heute morgen, kurz nachdem du angerufen hattest, bekam ich einen Hinweis von meinem Verleger. Vor einem halben Jahr ungefähr hat er einem Prediger auf der Straße zugehört, der ständig davon geredet hatte, daß der Weltuntergang naht. Er sagte noch mehr solche Dinge, die mich sehr an die Tonbandaufnahme von ihm erinnerte. Ich bin mir fast sicher, daß er es ist.“
„Du hast deinem Verleger davon er –?“
„Natürlich nicht“, unterbrach ihn Eduard. „Vielleicht mußte es einfach so sein, denn mein letztes Buch war ein Teil von unserem Erlebnis. Darin kommt auch die Rede von diesem Rouven vor. Mein Verleger wollte mich nur darauf aufmerksam machen. Weiter nichts.“
„Seltsamer Zufall“, murmelte Cloud vor sich hin.
„Habe ich mir auch gedacht“, entgegnete Eduard. Er legte ihm seine Hand auf die Schulter. „Wir müssen etwas unternehmen, Dumpkin“, sagte er in einem eindringlichen Ton. „Deine Kinder, auch sie sind in Gefahr.“
„Was schlägst du vor?“ Cloud konnte das Zittern seiner Stimme nicht verbergen. Unruhig flackerten seine Augen hin und her.
„Wir müssen Rouven Blandow finden“, erwiderte Eduard bestimmend. „Mit seiner Hilfe gelingt es uns vielleicht, dieses – Gesicht zu vernichten.“
„Hast du wieder davon geträumt?“ fragte Cloud sofort darauf.
Eduard sagte nichts. Er nickte nur.
„Und du meinst, mit ihm haben wir eine Chance?“
Eduard nickte wiederum.
„Wir hatten ihn damals beschimpft und betrogen“, setzte Cloud dagegen. „Denkst du, er hat das vergessen?“
„Ich weiß es nicht“, zuckte Eduard mit der Schulter. „Er ist unsere einzige Hoffnung.“
„Und ohne ihn?“ versuchte Cloud auf seinem Standpunkt zu beharren.
„Wir brauchen das Buch, Dumpkin. Immer noch!“ Er nahm seine Hand von Clouds Schulter und wandte sich für einen Augenblick auf die Seite. Dem Haus entgegen. „Wir hatten es damals nicht ernst genug genommen“, sagte er leise. Sein Blick fiel auf eines der Fenster des oberen Stockwerkes. Ihm war, als sehe er in diesem Moment den kleinen Larsen hinter dem Vorhang verschwinden. „Selbst Rouven wußte damals wahrscheinlich nicht, worum es eigentlich ging.“
„Wo sollen wir ihn finden?“ fragte Cloud darauf. „Verdammt noch mal, wo?“ Wut stieg in ihm auf. Wut über sich selbst, daß er damals so blind gewesen ist. Einfach blind und es nicht verstanden hatte, daß es um vieles mehr ging, als nur um irgendein Buch. „Wir hätten es damals schon tun sollen“, zischte er in sich hinein.
Eduard drehte sich wieder seinem Freund zu. Bis auf das Äußerste spannten sich seine Gesichtsmuskeln. „Ich lasse ihn suchen“, hauchte er Cloud entgegen. „Geld darf in solch einem Fall keine Rolle spielen.“
Cloud sog die Luft tief durch seine Nase. „Gehen wir ins Haus“, sagte er unvermittelt. „Mir ist auf einmal eiskalt.“
„Wir müssen versuchen, Showy zu erreichen“, meinte Eduard nachdenklich, als sie das Haus betraten.
„So wie er immer geschrieben hat, ist er ja weit herumgekommen“, entgegnete Cloud. „Vielleicht hat er mal etwas über Blandow erfahren.“
Meni hatte zwischenzeitlich etwas zum Essen vorbereitet. Janina schlief, tief und fest. Neben dem elterlichen Schlafzimmer befand sich außer Larsens Zimmer noch ein kleinerer Raum, den Meni liebevoll für den neuen Zuwachs hergerichtet hatte. Larsen schlich sich in regelmäßigen Abständen in das Zimmer, um nach seinem Schwesterlein zu sehen.
Cloud machte sich sofort daran, mit Jean Hensen zu telefonieren. Eduard stellte sich im Wohnzimmer vor die breite Fensterfront. Er mußte an Clouds Erlebnis denken, das er ihm vorhin geschildert hatte. Wer konnte diese Gestalt gewesen sein? Wer? So sehr er es auch zu verdrängen versuchte, immer wieder sah er es vor sich. Dieses Gesicht, wie es ihn durch die Fensterscheibe hindurch anblickte.
„Onkel Eduard“, vernahm er plötzlich Larsens Stimme hinter sich. Kurz zuckte er zusammen. Langsam wandte Eduard sich um. Larsen hielt ihm ein Blatt Papier entgegen, auf dem etwas gemalt zu sein schien. „Das habe ich für dich gemalt, Onkel Eduard“, sagte er. Augenblicklich, wie Eduard es zu sich nahm, drehte Larsen sich um und rannte einfach davon.
Beinah entsetzt fuhr Eduard zusammen. Zwei ineinandergreifende Dreiecke, eines davon auf der Spitze stehend, waren auf dem Papier aufgemalt. Die einzelnen Zacken wurden durch einen Kreis miteinander verbunden.
„Ich konnte Showy nicht erreichen“, sagte Cloud, als er das Wohnzimmer betrat. Eduard faltete das Blatt zusammen und steckte es in seine Hosentasche, bevor Cloud es bemerkte. „Ich versuche es nach dem Essen noch einmal“, versuchte Cloud sich selbst zu trösten. „Kommst du?“ Erwartungsvoll blickte er auf seinen Freund. Eduard mußte sich zusammenreißen, um nicht seine Fassungslosigkeit preiszugeben. Stumm nickte er Cloud nur zu.
Am Tisch saß Eduard dem kleinen Larsen gegenüber. Dieser löffelte eifrig die Suppe in sich hinein. Nicht einmal blickte er dabei auf. Mit verstohlenen Blicken musterte Eduard jede seiner Bewegungen.
Meni konnte nur ahnen, was miteinander gesprochen wurde. Sie fühlte es bereits, daß Cloud sie wieder für ein paar Tage verlassen würde. Immer wieder warf sie Cloud fragende Blicke zu, doch geschickt wußte dieser sie zu umgehen. Während des Essens wurde kein Wort miteinander gesprochen. Nicht einmal Larsen, der beim Essen sonst immer viel zu erzählen wußte. Plötzlich wurde die gedrückte Stimmung von Schreien noch unterstrichen. Babygeschrei. Meni stand auf und eilte in das Zimmer von Janina.
„Daddy, bleibt Onkel Eduard bei uns?“ fragte Larsen auf einmal.
Etwas verwirrt blickte Cloud auf seinen Freund. „Kannst du Caroline mit deinen Kindern alleine lassen?“
„Ich sagte ihr bereits, daß ich für mehrere Tage unterwegs sein werde“, erwiderte Eduard mit ernster Miene.
„Und deine Kinder?“
„Mein Bruder ist bei ihr. Bei ihm sind sie bestens aufgehoben.“
Janinas Schreie klangen in Clouds Ohren wie betäubende Rufe der Verzweiflung. „Der Jüngste Tag“, flüsterte er in sich hinein, „er wird sich ankündigen durch schreiende Babys.“ Cloud fröstelte, als er Eduard dabei anblickte.
„Eine Nacht und einen Tag werden sie ununterbrochen schreien“, setzte Eduard Rouvens Rede fort. „Kein Arzt wird ihnen zu Hilfe kommen. Am Ende dieses Tages werden sie sterben.“
Cloud bewegte langsam seinen Kopf hin und her. „Nicht mein Kind“, hauchte er entsetzt. „Nicht mein Kind.“
Die Schreie schienen noch lauter zu werden. Clouds Ohren begannen zu schmerzen, sein Inneres wollte es ihm zerreißen. Wie erstarrt saß er nur da. Regte sich nicht. Hilflos! Er kam sich hilflos vor in dieser unbarmherzigen Welt. Plötzlich von einem Moment auf den anderen erstarben die Schreie. Stille erfüllte das Haus. Unheimliche Stille. Larsens Blicke wanderten von seinem Vater zu Eduard, von Eduard wieder zu seinem Vater. Wenig später betrat Meni die Eßküche.
Larsen sprang von seinem Stuhl und klammerte sich um das Bein seiner Mutter.
„Mama, wird das Baby sterben?“ Mit aufgerissenen Augen blickte Larsen zu ihr empor. Erschrocken sah Meni auf ihren Sohn.
„Larsen, was sagst du denn da.“ Verständnislos wanderten ihre Blicke von Larsen zu Cloud. Diesem hatte es einen Schock versetzt. Hilfesuchend starrte er auf Eduard.
„Du brauchst keine Angst zu haben, Larsen“, sagte Eduard mit sanfter Stimme. „Du wirst noch viel Freude an deinem Schwesterlein haben.“
Larsen drehte sich Eduard zu. Wild schüttelte er seinen Kopf, löste sich von seiner Mutter und rannte, noch ehe Meni ihn halten konnte, zur Tür hinaus.
„Was hat das zu bedeuten?“ wollte Meni sofort wissen. „Von was habt ihr vorhin gesprochen?“
Cloud erhob sich von seinem Stuhl. Langsam trat er auf Meni zu.
„Was?“ wiederholte sich Meni. „Ich will es wissen, jetzt gleich!“ Das erste Mal seit ihrem gemeinsamen Leben wich Meni vor ihrem Mann zurück. Cloud erkannte sofort den Ernst der Lage. Traurig schimmerten seine Augen, als er vor Meni stehen blieb.
„Es ist soweit“, flüsterte er nur. „Es hat uns wieder, Meni. Es ist wieder da. Wir haben keine Chance, wenn wir nicht sofort etwas dagegen tun, Meni. Verstehst du?“
Entsetzen war in Menis Gesicht zu lesen. Nun war es ausgesprochen. Nichts konnte es mehr zurücknehmen. Wie eine dicke Wolke schwebte es in dem Raum. Eine Wolke voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.
„Du – mußt – gehen?“ brachte sie nur mühevoll über die Lippen. Cloud nickte nur.
„Kommst – du – wieder?“ Tränen füllten ihre Augen. Nur mit allergrößter Mühe konnte sie einen Weinkrampf verhindern.
„Ich komme wieder, Liebes“, flüsterte Cloud. Meni ließ es geschehen. Sie wich nicht mehr zurück, als Cloud sie in die Arme nahm.
„Wann?“ schluchzte Meni.
„In den nächsten Tagen, Liebes.“ Fest klammerte er seine Frau an sich. „Es muß sein“, hauchte er. „Es muß.“
*
Meni war früh zu Bett gegangen. Sie hatte diese Ruhe dringend nötig. Nachdem Larsen sich von Eduard für den Tag verabschiedet hatte, brachte Cloud ihn in sein Zimmer.
„Wir müssen leise sein“, flüsterte Cloud ihm ins Ohr. „Du weißt ja, deine Mutter braucht dringend Schlaf.“
„Ich weiß Daddy“, flüsterte Larsen zurück. „Hast du mich noch lieb, Daddy?“ fragte er ihn darauf.
Cloud versuchte zu lächeln. „Aber ja, mein Junge. Natürlich habe ich dich lieb. Warum fragst du denn so etwas?“
„Nur so, Daddy“, erwiderte Larsen belanglos. „Gute Nacht Daddy.“ Larsen zog sich die Bettdecke bis an den Hals und schloß seine Augen.
„Gute Nacht, mein Junge“, sagte Cloud verwundert über das Verhalten seines Sohnes. Leise verließ er das Zimmer. Die Tür lehnte er wie immer nur an. Vorsichtig schlich Cloud sich in das Schlafzimmer. Menis Atem ging ruhig und gleichmäßig. Längere Zeit beobachtete er seine Frau. Sie schien einen sanften Schlaf zu haben. Beruhigt schloß er die Tür. Lautlos begab er sich noch in das Zimmer von Janina. Ab und zu kam ein Husten aus ihr hervor. Nichts Beunruhigendes. Auch diese Tür ließ er nur angelehnt.
Eduard wartete zwischenzeitlich im Wohnzimmer auf ihn. Er hatte sich so gesetzt, daß er den Eingang, wie auch die breite Fensterfront, im Auge behalten konnte.
„Hast du es noch einmal bei Showy versucht?“ fragte Eduard, als Cloud den Raum betrat.
„Seit einer Stunde nicht mehr“, erwiderte Cloud. „Werde es aber gleich noch einmal versuchen.“
„Hilf Gott, daß er da ist“, sagte Eduard zu sich. Unbewußt griff er in seine Hosentasche. Das Blatt Papier, das Larsen ihm gegeben hatte, bekam er zu fassen. Langsam zog er es hervor, begann es von neuem zu betrachten. Es waren keine gerade Linien, auch kreuzten sich die Endpunkte und bildeten dadurch nicht eine exakte Spitze. Dennoch war es eindeutig. Larsen hatte ihm das Siegel Salomons aufgezeichnet. Eduard war es unbegreiflich, wo Larsen, kaum fünf Jahre alt, dieses Symbol schon gesehen haben könnte.
Clouds Stimme ließ ihn aufhorchen. Über Eduards Gesicht flog ein freudiger Schimmer. Cloud schien Showy erreicht zu haben. Mehrere Minuten vergingen, in denen Cloud ein angeregtes Telefongespräch führte. Leise legte Cloud danach den Hörer wieder auf.
„Und?“ fragte Eduard sofort, als sein Freund das Wohnzimmer betrat.
Mit gesenktem Kopf setzte Cloud sich Eduard gegenüber. Geraume Zeit verging, in der er nichts sagte. Er saß nur da, hing irgendwelchen Gedanken nach und sagte nichts. Eduard hielt immer noch das Blatt in der Hand. Erwartungsvoll musterte er sein Gegenüber, seinen Freund, der langsam seine Blicke zu ihm richtete.
„Showy kneift“, sagte er, kaum hörbar mit zitternder Stimme.
Eduard atmete tief durch. Mehrmals hintereinander.
„Showy – kneift?“ wiederholte er. Fassungslos starrte er auf Cloud, bewegte abwehrend seinen Kopf hin und her.
„Er will nichts mehr damit zu tun haben.“ Clouds Blick fiel auf das Blatt, das Eduard, mit der bemalten Seite ihm zugerichtet, in den Händen hielt. Bestürzt zeigte er mit dem Finger darauf, wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton über die Lippen.
Eduard legte es auf den Tisch. Langsam, sehr langsam. „Dein Sohn, Dumpkin“, flüsterte er ihm zu. „Heute mittag hat er es mir gegeben.“
„Mein Gott“, stammelte Cloud. „Meinst du, er hat –?“
„Ich weiß es nicht, Dumpkin“, schnitt Eduard ihm das Wort ab. „Wir müssen handeln. Auf Showy brauchen wir ja jetzt nicht mehr zu warten.“
„Handeln“, hauchte Cloud. „Verdammt noch mal, was sollen wir gegen etwas unternehmen, das es normalerweise gar nicht geben dürfte? Wie sollen wir etwas vernichten, das – das mächtiger ist, als – als wir es uns vielleicht vorstellen können?“ Krampfhaft klammerten sich Clouds Finger um die Lehne seines Sessels, bis die Knöchel weiß angelaufen waren. „Vielleicht hat es Champy schon erwischt? Vielleicht ist Champy längst schon – tot?“
„Wir müssen zurück ins Internat“, erwiderte Eduard. „Bestimmt werden wir dort eine Antwort finden. Denk an das Gemälde, das sich plötzlich aufgelöst hatte. Ich weiß nicht, was es auf sich hatte, aber es war so etwas wie ein Hinweis.“
„Rouven“, zischte Cloud. „Wir müssen ihn finden! Ohne das Buch geht nichts!“
„Hast du noch den Brief von ihm?“
„Du meinst, den von seinem Vater?“ Cloud stand auf. Seine Glieder fühlten sich schwer an, als würden Bleikugeln an seinen Beinen hängen. Mühsam schleppte er sich zum Wohnzimmer hinaus. Eduard folgte ihm mit den Blicken, bis er nach wenigen Minuten mit dem Brief in der Hand wiederkam.
„Siebzehn Jahre ist es nun her“, sagte Cloud und setzte sich in den Sessel zurück. „Siebzehn Jahre, und nichts hat sich geändert. Nichts!“ Er faltete den Brief auseinander. Im Laufe der Zeit hatte sich das Papier vergilbt, doch die Schrift war noch einigermaßen gut zu lesen.
„Lies ihn vor“, forderte Eduard auf. „Vielleicht steht etwas darin, das wir damals noch nicht begreifen konnten.“
Der Brief erinnerte Cloud für Augenblicke an diese Minuten zurück, wie er ihn in ihrem Lager feierlich auseinandergefaltet und ihn Showy und Ellinoy vorgelesen hatte. Allerdings überschattet von Champys Verlust seines Fingers, dem sie es eigentlich zu verdanken hatten, in den Besitz dieses Briefes gekommen zu sein. Gefühle, die er damals empfand, kehrten in ihn zurück. Mit jedem Wort, das er las, spiegelte sich die Vergangenheit in ihm wider.
Aufmerksam lauschte Eduard den Worten. Auch er sah sich momentan zu jener Zeit in das geheime Lager zurückversetzt.
„Nur Du kannst verhindern, daß diese Schatten das Licht Gottes verdrängen. Das Licht, das die Erde am Leben erhält“, endete Cloud den Brief. Lange sahen sie sich an, keiner Worte mächtig, ließen sie die Stille auf sich wirken.
Nach geraumer Zeit erst war Eduard es, der sie in die Gegenwart zurückholte. „Wir brauchen ihn“, sprach er sehr leise, doch deutlich. Mit dem Finger zeigte er auf das Blatt, auf das Zeichen, das Larsen gemalt hatte. „Rouven ist das Siegel. Rouven Blandow, Dumpkin. Wir haben ihn damals unterschätzt.“
Cloud nickte Eduard zu. Er sagte nichts, doch in seinen Augen war es zu lesen, die Wahrheit, die er zu gerne verdrängen würde.