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Die Häuser am Christiansholms Parkvej in Klampenborg wurden im Volksmund als englische Reihenhäuser bezeichnet. Und tatsächlich erinnerten die weißgekalkten Häuschen, die eine Küche im Souterrain und einen Wintergarten nach hinten hinaus besaßen, tatsächlich an eine Straße in Kensington. Obwohl die Immobilienpreise ihren Zenit längst überschritten hatten, konnten vermutlich selbst die kleineren Häuser in dieser Gegend leicht einen Verkaufspreis von acht bis zehn Millionen Kronen erzielen. Dafür boten sie auf der ruhigen Straßenseite die Morgensonne und eine Aussicht auf den kleinen Park am Schloss Christiansholm und auf der anderen Seite den Jægersborg Tierpark und den Strand Bellevue in fußläufiger Nähe. In diesen Häusern wohnten die Wohlhabenden, die nicht zu den dezidierten Snobs am Strandvej gehören wollten. Und Linnea wunderte es nicht im Geringsten, dass sich Christian Schimmelmann hier niedergelassen hatte.
»Du hast Glück, dass du mich erwischst. Ich wollte gerade los.«
»Skagen ruft?«
Schimmelmann nickte überrascht und bat Linnea dann in sein Wohnzimmer. Es war fast fünfzehn Jahre her, dass sie den Mann mit dem rotgeäderten Gesicht und den fleischigen Lippen zuletzt gesehen hatte. Aber er hatte sich sofort an sie erinnert, als sie anrief. Er war der Vater einer ehemaligen Schulkameradin vom Øregaard Gymnasium. Keine enge Freundin, weshalb sich Linnea lediglich an eine Begegnung mit dem Vater erinnerte. Damals hatte dieser für seine Tochter eine völlig übertriebene Abiturfeier veranstaltet, an deren Ende er versucht hatte, zu Linnea ins Bad einzudringen, weil sie so eine »freche kleine Göre« sei. Sie hatte die Tür einen kleinen Spalt weit geöffnet und sie dann mit aller Kraft wieder zugeschlagen, woraufhin er vor Schmerz aufgeheult, seine malträtierte Hand zurückgezogen und sie auf der Toilette in Ruhe gelassen hatte.
Aber das war lange her, und jetzt brauchte sie ihn, um ihn auszuhorchen. Sein Name war im Computer vom Auktionshaus Ellemose als Käufer eingetragen gewesen. Es passte zu ihm, eine exklusive Sammlung von irgendetwas zu pflegen. Und da all seine alten Juristenkameraden sicher beeindruckende Kollektionen von Wein, Whisky oder Zigarren besaßen, hatte er sich natürlich etwas Originelleres einfallen lassen müssen.
»Was sagst du zu meiner Kollektion? Damit können sich nicht viele messen. Hier in Dänemark jedenfalls auf keinen Fall, und in Europa auch kaum.«
»Das ist ja ein richtiges Museum!«
Er nickte und führte sie selbstzufrieden im Wohnzimmer herum, während er erklärte, im Obergeschoss gäbe es noch mehr zu sehen, falls sie interessiert sei. Sie vermutete, dass dort auch das Schlafzimmer lag, und ging nicht weiter darauf ein. Die Ausstellungsstücke standen überall. Unter anderem auch kleine Tontafeln im gleichen Stil wie diejenige, die sie gefunden hatte, aber eindeutig von einer besseren Qualität. Sie waren größer, intakter und die Bilder darauf interessanter: von Göttern oder Herrschern aus dem alten Sumer, Mesopotamien und Babylon.
»Hier fängt die Welt an. Die ersten Zivilisationen, die erste Schriftsprache. Ist es so verwunderlich, davon fasziniert zu sein?«
Linnea hatte nicht das Gefühl, dass er wirklich eine Antwort von ihr erwartete. Wahrscheinlich brauchte er nicht einmal ein Publikum, um in seinem selbstzufriedenen Pathos zu schwelgen.
»Ist es schwer, an so etwas heranzukommen? Ich meine, hier in Dänemark?«
»Das kommt darauf an, wofür du dich genau interessierst.«
Er ging zu einem Schreibtisch am Fenster, öffnete ein Sony Netbook und gab die Adresse einer Homepage ein.
»Wenn es sich lediglich um Souvenirs handelt, ist es ganz einfach.«
Er zeigte ihr verschiedene Homepages, museumresource. com und ancientsurplus.com. Hier wurden unter anderem mesopotamische Tontafeln mit Keilschriften angeboten, die teilweise nur vierhundert Dollar kosteten, genau wie Ushabtien, magische Statuen aus altägyptischen Gräbern, oder Opfergaben aus Ton mit einer Abbildung der babylonischen Göttin Ishtar für fünfhundert Dollar. In London oder New York dagegen würden sie mehrere Tausend kosten. Den Angaben zufolge wurden hier »überschüssige Sammlungen« nicht näher benannter Museen verkauft, und der Handel sei ethisch korrekt. Alles wurde per Post verschickt, zusammen mit einem Zertifikat, das »lebenslange Echtheit« garantierte, was auch immer das heißen sollte.
Er zwinkerte ihr zu.
»Wenn du aber an die echten Leckerbissen herankommen willst, solche Sachen, wie ich sie hier stehen habe, musst du natürlich an ganz anderen Orten suchen. Das kann ich dir gleich sagen. Es ist hervorragende Ware im Umlauf, und es geht dabei um viel Geld.«
*
»Sie sollten besser sofort herkommen.«
»Ist was passiert?«
»Das kann man wohl sagen. Er hat versucht, sich umzubringen.«
»Verdammt!«
Thor rannte mit dem Handy in der Hand los, nachdem ihn der leitende Wachmann der Gefängnisabteilung angerufen hatte. Das Gefängnis des Politigården zählte zu den strengsten Haftanstalten des Landes. Hier wurden die wirklich schwierigen Fälle untergebracht. Jene Gefangene, die zu gewalttätig und bedrohlich waren, um sie in den Banden- und Rockerabteilungen der normalen Gefängnisse unterzubringen. Nach einigen Monaten im Politigården waren sogar die abgestumpftesten unter ihnen geläutert genug, um wieder an ihre normale Verwahrungsstätte zurückgebracht werden zu können. In den fünfundzwanzig Zellen saßen auch besonders fluchtgefährdete Gefangene, weshalb Uffe Overbye hier gelandet war. Gleich nach seiner Ankunft hatte man ihn in eine Observationszelle gesteckt, einen kleinen Raum, der aus nicht viel mehr bestand als vier dicken Wänden und einer Tür mit bruchsicherem Glas. Der Gefangene konnte nichts tun, als auf einer Pritsche oder einem kleinen Schemel zu sitzen. Und die Gefängniswärter konnten ihn so rund um die Uhr beobachten. Hätte man Overbye dort behalten, hätte nicht viel passieren können. Aber leider war er dort nur vorübergehend untergebracht worden.
Thor fingerte nervös an seinem Handy, während er hinüberrannte. Das Gefängnis lag im anderen Gebäude des Politigården in der Otto Mønstedsgade, und er war gezwungen, den Polizeichef sofort von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen. Er beeilte sich, Lange beim Laufen zu erklären, was er selbst gerade erst erfahren hatte: Overbye hatte einen Selbstmordversuch unternommen, unmittelbar nachdem er in dem kleinen, eingezäunten Bereich auf dem Dach des Gebäudes Hofgang gehabt hatte. Irgendwie war es ihm gelungen, eine Gabel von einem Servierwagen auf dem Korridor zu stehlen und sie mit in die Zelle zu schmuggeln, wo er anschließend versucht hatte, sich damit die Pulsadern aufzubohren.
Beim Gedanken daran wurde Thor übel. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was einen Menschen dazu trieb, eine so schmerzhafte Form des Suizids zu wählen.
»Er muss sofort zu einem Arzt.«
»Der ist bereits unterwegs, aber die Verletzungen scheinen zum Glück ziemlich oberflächlich zu sein.«
»Das spielt keine Rolle. So lautet die Vorschrift. Und anschließend muss er in die Sicherungszelle, wenn der Arzt damit einverstanden und keine weitere Behandlung nötig ist.«
Thor nickte. Eigentlich hatte er mit einer Zurechtweisung von Polizeichef Lange gerechnet, aber bisher war dessen Tonfall in Anbetracht der Umstände sowohl zivil als auch konstruktiv geblieben. Sicherungszellen waren normalerweise für Häftlinge vorgesehen, die so gewalttätig waren, dass man keine andere Wahl hatte, als sie zu fixieren. In den Zellen stand eine Pritsche mit Lederschnüren, mit denen man den Häftling festbinden konnte. Auch diejenigen wurden hier untergebracht, die gefährdet waren, sich selbst etwas anzutun. Und vielleicht war das in diesem Fall auch keine schlechte Idee.
»Wie sieht Ihre weitere Strategie aus?«, fuhr Lange fort. »Wir könnten einen Ermittlungsdurchbruch gut gebrauchen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, Sie betrachten diesen Selbstmordversuch doch nicht etwa als Geständnis?«
Thor unterdrückte einen Seufzer.
»Eher im Gegenteil. Wie soll er denn einen Mord begehen, wenn er nicht mal imstande ist, auf sich selbst aufzupassen.«
Thor schluckte seine Wut herunter. Sie hatten einen Verdächtigen, der sich der Verhaftung widersetzt hatte und durchgedreht war, weil er ein psychisches Wrack war. Und weil er nun befürchtete, dass die Polizei und die Justizbehörde die alten Foltervorwürfe ein weiteres Mal aufrollen würden. Thor hatte eindringlich versucht, sowohl den Staatsanwalt als auch Lange davon zu überzeugen, dass ihnen die Sache zu entgleiten drohte, wenn sie sich ausschließlich auf Overbye versteiften. Und jetzt tat der Polizeichef gerade so, als sei er derjenige gewesen, der die ganze Zeit darauf hingewiesen hatte, was für ein labiler Mensch Overbye war, der in erster Linie eine Gefahr für sich selbst darstellte, nicht aber für andere.
»Wie auch immer. Kümmern Sie sich darum, dass dieser Fall schnell zu einem Abschluss kommt.«
Und damit war das Telefonat beendet. Thor stand mit anderen Worten nicht nur wieder ganz am Anfang, sondern hatte obendrein auch noch wertvolle Zeit vergeudet. Dennoch war er sich sicher, dass seine ursprüngliche Theorie von einem Zusammenhang mit den Ereignissen im Irak noch immer stimmte. Aber es musste noch eine andere Verbindung geben.
Er musste alles noch einmal von vorn durchdenken, alle Involvierten und ihre Rolle in diesem Drama von Neuem betrachten.
*
»Der Kunstraub ist heutzutage ein riesiger Markt, und es sind keineswegs irgendwelche reichen Kunstsammler in der Schweiz oder Menschen wie ich, die diese Diebstähle in Auftrag geben.«
Christian Schimmelmann ergänzte seinen Satz mit einem dröhnenden Lachen, das möglicherweise selbstironisch sein sollte. Linnea nahm an, dass er übertrieb, um sich vor ihr interessant zu machen.
»Meistens sind es kriminelle Banden, die Kunstwerke stehlen und sie zum Zweck der Geldwäsche weiterverkaufen. Wenn man Ware an ein Auktionshaus liefert oder dort ersteigert, erfährt nämlich niemand, wer man ist. Damit ist das Geld, das man erhält, sozusagen legalisiert. Denn es lässt sich nicht mehr beweisen, dass es aus einem illegalen Geschäft stammt. Und es ist leichter, gestohlene Kunst am Zoll vorbeizuschmuggeln, als gestohlenes Geld in andere Länder zu überweisen.«
Linnea fand es widerlich, wie stolz dieser Mann darauf zu sein schien, Teil des Schwarzmarkts für Kunst und Kulturerbe zu sein. Aber sie wusste, dass er mit allem, was er sagte, recht hatte. Sie hatte selbst ein wenig im Netz gesurft und herausgefunden, dass allein bei Interpol über 13 000 Malereien, Skulpturen und Ikonen als gestohlen gemeldet waren, darunter Museumswerke von Goya, Bruegel, Tizian und Turner. Im Art Loss Register waren zehnmal so viele Diebstähle eingetragen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten organisierte kriminelle Banden dort große Mengen an Kunst gestohlen. Mittlerweile waren auch Banden aus Südeuropa, die Mafia und südamerikanische Drogenkartelle involviert. Hinzu kam neuerdings auch, dass viele Kulturschätze aus Afghanistan und dem Irak von Aufständischen geraubt und weiterverkauft wurden, um damit ihre Waffen und Terroraktionen zu finanzieren.
»Aber das muss doch entdeckt werden«, sagte sie. »Man kann doch wohl nicht so große Sammlungen mit illegaler Kunst besitzen, ohne dass es jemand herausfindet?«
Schimmelmann schüttelte den Kopf.
»Nur Leute, die prahlen, werden entdeckt. Warum, glaubst du, habe ich dich all das sehen lassen? Weil ich dich kenne. Du hast nicht vor, es weiterzuerzählen. Ein norwegischer Bekannter musste eine riesige Sammlung von magischen Schalen aus Mesopotamien abliefern, mit denen man damals glaubte, böse Geister einfangen zu können. Er besaß mehrere Hundert davon, die wahrscheinlich aus Plünderungen im Irak während des ersten Golfkriegs stammten. Und warum wurde seine Sammlung entdeckt? Weil er sie ans British Museum auslieh, als er zu eitel wurde und der ganzen Welt zeigen wollte, was er besaß.«
Er ließ seinen stolzen Blick erneut über seine wertvollen Antiquitäten schweifen.
»Außerdem ist es natürlich so, dass man diese Sachen unmöglich genau rückverfolgen kann. Sie kommen ja von überall her. Man denke nur mal an die enormen Plünderungen im Irak in der Zeit direkt nach dem Einmarsch der Amerikaner 2003. Das Nationalmuseum in Bagdad wurde fast vollständig geplündert, und die Ausgrabungen der versunkenen assyrischen Paläste in Babylon wurden ganz ungehindert geräumt – und das teilweise direkt neben der amerikanischen Basis. Natürlich wurden auch viele Soldaten mit Gegenständen erwischt, die sie nach ihrem Einsatz nach Hause schmuggeln wollten, aber das sind nur Kleinigkeiten. Ich wette, dass sich ringsherum überall große Lager befinden, die nur darauf warten, verkauft zu werden, sobald sich der erste Sturm gelegt hat.«
Schimmelmann schien angesichts dieses Gedankens schon ganz enthusiastisch. Linnea stand auf und bedankte sich für seinen Vortrag. Sie hatte genug von seinen widerlichen Geschichten, war sich aber nicht sicher, ob sie dadurch viel schlauer geworden war. Sosehr sie auch nachgebohrt hatte – er wollte nicht damit herausrücken, wo er selbst seine Ware bezog, abgesehen von den Auktionshäusern natürlich. Er deutete lediglich an, dass er auch persönliche Verbindungen hatte, ohne näher darauf eingehen zu wollen.
Sie ging in den Flur, um ihre Jacke zu holen. Schimmelmann folgte ihr und erging sich sicher in Phantasien über ihr dünnes Sommerkleid. In einem Punkt war der mühsame Ausflug nach Klampenborg aber doch hilfreich gewesen: Sie glaubte nicht mehr daran, dass die Tafel aus dem unfreiwilligen Grab des Irakers lediglich ein Souvenir war. War er möglicherweise in den Handel mit diesen Kunstschätzen in Dänemark verstrickt gewesen? Und bedeutete das, dass auch Jonas Holm Neergaards Tod etwas damit zu tun hatte? Sie schob den Gedanken von sich. Einerseits war sie noch immer der Meinung, etwas unternehmen zu müssen. Andererseits bewegte sie sich mit ihrer investigativen Arbeit, von der sie in Wirklichkeit nicht viel verstand, ohnehin schon auf dünnem Eis.
Sie drehte sich zu Schimmelmann um, der keine Anstalten machte, ihr die Tür zu öffnen.
»Hatten wir nicht noch eine Sache offen von unserem letzten Treffen?«, fragte er dann. »Obendrein bist du mir doch jetzt wohl einen Gefallen schuldig.«
»Wollten Sie nicht gerade nach Skagen fahren?«
Linnea schob sich an ihm vorbei und öffnete die Tür.
»Sie sollten lieber zusehen, dass Sie loskommen, wenn Sie noch vor Anbruch der Dunkelheit da sein wollen. Sonst finden Sie den Weg zu Ruths Hotel nicht mehr und der Sternekoch hat schon Feierabend gemacht. Und Sie wollen doch wohl nicht Ihren geliebten Krabbencocktail verpassen?«
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Jetzt schuldest du mir eine richtig gute Erklärung!«, fluchte Linnea.
Sie konnte ihren lauten Ausbruch nicht zurückhalten, und eine vorbeifahrende Radlerin sah sich verwundert nach ihr um. Auf ihrem Rückweg von Klampenborg hatte sie im Rechtsmedizinischen Institut vorbeigeschaut und war gerade zu Fuß auf dem Weg über die Fredensbrücke gewesen, als der Blackberry piepte. Sie überflog die eingegangene Mail auf dem Weg zum Sølvtorv. Es handelte sich um das Ergebnis ihrer Anfrage beim Handelsregister, wo sie nach dem Eigentümer der Firma gefragt hatte, deren Steuernummer sie beim Auktionshaus Ellemose ausgespäht hatte. Sie musste sich zunächst durch eine Reihe von öffentlichen Rechnungen und Mitteilungen über das Registrierungsdatum der Firma und spätere Änderungen scrollen, bis sie endlich zu der Angabe über den Eigentümer gelangte. Das waren zwei Namen, die unter der gleichen Adresse registriert waren. Sie fluchte erneut, überquerte die Straße und ging in den Botanischen Garten, wo sie sich hinter dem Palmenhaus auf eine Bank setzte, um in Ruhe nachzudenken.
Linnea hatte Lex schon gestern den ganzen Tag zu erreichen versucht, so auch an diesem Vormittag, bevor sie zur Arbeit gegangen war. Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil sie nichts von ihr gehört hatte und nicht wusste, wie es ihr ging. Aber diesmal hatte sie einen ganz anderen Grund, warum sie die Freundin erreichen musste. Denn die Mail vom Handelsregister besagte, dass die Firma, die höchstwahrscheinlich mit illegal erworbenem Kulturerbe handelte, Lex und Jonas gehörte. Vielleicht hatte sie eine leise Vorahnung gehabt, ohne es wahrhaben zu wollen. Zum einen wegen des geheimnisvollen Kellers unter dem Haus, zum anderen wegen der Tontafel, die wahrscheinlich keineswegs nur ein Souvenir war. Linnea wurde das Gefühl nicht los, dass Lex sie nur ausgenutzt hatte, um an Informationen zu gelangen. Möglicherweise hatte Lex befürchtet, dass die Polizei bei den Ermittlungen zu Jonas’ Tod auch dem halbseidenen Geschäft auf die Spur kam, das die beiden betrieben hatten.
Sie war wütend und fühlte sich zugleich hintergangen. Erst überlegte sie, Christian Schimmelmann anzurufen und ihn zu dem Geständnis zu bewegen, dass er auf Lex und Jonas angespielt hatte, ließ es dann aber doch sein. Wer wusste schon, was Lex ihr noch alles nicht erzählt hatte. Plötzlich kam sie sich wie eine naive Idiotin vor. Vor lauter Freude darüber, wieder eine Freundin zu haben, hatte sie sich manipulieren lassen. Auf dem Handy erreichte sie Lex noch immer nicht, und als sie es auf dem Festnetz versuchte, war dort besetzt. Also war Lex immerhin zu Hause und konnte ihr Rede und Antwort stehen.
Sie ging direkt zum Nørreport und hielt ein Taxi an, um nach Virum zu fahren. Wie so oft kannte der Taxifahrer den Weg nicht. Sie verkniff sich den Kommentar, warum er sich nicht einfach ein Navi zulegte. Immerhin hatte er allein auf die Autobahn nach Helsingør gefunden, wusste dann aber nicht, welche Abfahrt er nehmen sollte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Fahrer begriffen hatte, wo er abbiegen musste, schaute sie auf ihr Handy. Noch immer keine Nachricht von Lex.
Enttäuscht richtete sie sich wieder in ihrem Sitz auf. Sie blickte aus dem Fenster und ließ sich vom Nachmittagsverkehr ablenken. Sie war wahnsinnig wütend auf Lex, weil diese sie so hintergangen hatte. Gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass sie sich große Sorgen um die Freundin machte. Immerhin waren Lex und Jonas in illegale Geschäfte verwickelt, und vielleicht hatten sie sich einfach nur in etwas hineingeritten, was sie nicht mehr überschauen konnten.
»Wir sind jetzt auf dem Kongevej. Sagen Sie Bescheid, wann wir abbiegen müssen?«
»An der nächsten großen Kreuzung links, dann sind wir auf dem Skovridervej.«
Als sie ankamen, sprang Linnea aus dem Auto und versicherte dem Taxifahrer, in fünf Minuten wieder zurück zu sein. Noch bevor er protestieren oder Geld verlangen konnte, war sie zum Haus gerannt. Sie konnte sehen, dass Lex’ Auto in der Garage stand, und sie wunderte sich, dass die Tür nicht geöffnet wurde, obwohl sie wieder und wieder klingelte. Sie winkte dem Fahrer zur Beruhigung zu und ging dann hinter das Haus. Vielleicht saß Lex bei dem schönen Wetter auch nur im Garten.
Doch da war niemand. Die Terrassentür war verschlossen. Linnea versuchte ein weiteres Mal, Lex telefonisch zu erreichen, aber diesmal sprang sofort die Mailbox an. Sie klopfte energisch an die Terrassenfenster. Mittlerweile hatte sie immer mehr das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie holte tief Luft. Sie hob die massive Sonnenliege vorn hoch und rollte sie auf die Terrasse.
Dann rammte sie die Liege mit aller Kraft gegen die Terrassentür. Ihr Gesicht schirmte sie mit einer Hand ab. Das Glas zersprang in tausend kleine Stückchen, die ihr um die Ohren flogen.
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Natürlich muss ich mit ihm sprechen. Er steht immerhin unter Mordverdacht!«
Der Arzt starrte Thor entgeistert an und schüttelte dann den Kopf.
»Erstens entscheide ich darüber, und nicht Sie, und zweitens können Sie nicht mit ihm sprechen, weil er gar nicht dazu in der Lage ist. Momentan wissen wir nicht einmal, ob er jemals wieder das Bewusstsein erlangt.«
»Das verstehe ich nicht. So viel Blut kann er doch gar nicht verloren haben.«
»Momentan sind wir dabei, seine geschädigte Leber zu retten. Er ist gründlich gewesen. Bevor er versucht hat, sich die Pulsadern aufzubohren, hat er eine Überdosis Paracetamol geschluckt. War er denn gestern oder heute bei einem Arzt?«
Thor nickte düster.
»Bevor er zu uns in die Haft kam. Weil er einen Schock erlitten hatte.«
»Dann hat er dort anscheinend ein paar Gläser Tabletten mitgehen lassen. Er wollte sichergehen, dass ihm der Selbstmord gelingt, und Ihre Fragen sind wohl das Letzte, was ihn dort, wo er jetzt ist, interessiert.«
Anschließend verschwand der Arzt den Flur entlang und ließ Thor mit dem Gefühl zurück, ein abgestumpfter Idiot von Polizist zu sein.
Lange hatte es sich doch anders überlegt und Thor zum Rigshospital geschickt, damit er Uffe Overbye befragte, sobald es möglich war. Der Selbstmordversuch konnte durchaus als Schuldeingeständnis aufgefasst werden. Wenn Overbye nie wieder aufwachte, würden die Ermittlungen möglicherweise eingestellt. Nachdem er verhaftet worden war, hatte man sein Haus durchsucht und dort eine Waffe vom gleichen Kaliber gefunden wie die, mit der Neergaard erschossen worden war. Aber das kriminaltechnische Center musste erst noch untersuchen, ob Overbyes Pistole tatsächlich die Tatwaffe war. Thors Meinung nach gab es, abgesehen von ihrer gemeinsamen Vergangenheit, nicht viel, was die beiden Männer miteinander verband. Zwischen ihnen hatten keine finanziellen Transaktionen stattgefunden, was die Erpressungstheorie ein wenig unwahrscheinlicher machte. Neergaards Fall war anders gelagert. Zwischen ihm und dem ermordeten Khalid gab es definitiv eine Verbindung. Zum einen verrieten die Telefondaten, dass sie bereits wenige Monate nach Khalids Ankunft in Dänemark im Juli 2007 und bis zu seinem Tod etwas mehr als ein Jahr danach in Kontakt gestanden hatten. Zum anderen waren bedeutende Summen von Neergaards Konto auf ein ausländisches Konto eingegangen, das Khalid gehörte.
Thor stellte sich neben die Aufzüge und rief Daniel Kraus an. Dieser war gerade dabei, die Akten noch einmal von vorne durchzugehen.
»Was tun wir jetzt?«
»Ich bin noch immer davon überzeugt, dass der Irak die wichtigste Verbindung darstellt«, sagte Thor. »Ob Khalid bewusst nach Dänemark kam, weil er etwas gegen Neergaard und die anderen in der Hand hatte, weiß ich nicht. Vielleicht war es reiner Zufall, dass sie sich wiedertrafen. Aber Khalid war damals der Hauptzeuge, und es war entscheidend für den Fall, dass er sein Wissen zurückhielt. Vermutlich hat er Neergaard später erpresst, und zwar nicht gerade um kleine Summen. Und irgendwann wurde es dem dann zu viel.«
»Einverstanden. Aber wie erklärst du dir den Mord an Neergaard?«
Thor seufzte. Genau das war das Problem.
*
Im Haus sah alles genau aus wie beim letzten Mal, als Linnea Lex besucht hatte. Abgesehen davon, dass Lex nicht da war und sich die Zeichen mehrten, dass Linnea die Terrassentür völlig umsonst zerschmettert hatte. Jedenfalls war nirgends eine schwerverletzte Lex zu finden, die darauf wartete, in letzter Sekunde gerettet zu werden. Dennoch war sich Linnea immer noch sicher, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte, aber sie konnte nicht genau sagen, was. Draußen hupte das Taxi.
»Ich komme gleich«, murmelte sie.
Anschließend ging sie in den Flur. Ihr war der Raum im Keller wieder eingefallen, in den sie sich beim letzten Mal verirrt hatte. Diesmal stand die Tür angelehnt, als habe jemand den Keller in großer Hast verlassen. Sie tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn aber nicht. Sie holte ihr Handy heraus und schaltete die integrierte Taschenlampe ein, aber die Beleuchtung war eher dürftig. Sie schlich die Treppe hinunter und betrat den großen Raum.
Sie spürte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Ihre Schritte hallten stärker wider. Sie schlich zu der einen Wand, tastete erneut mit der Hand darauf entlang und fand einen Lichtschalter. Nach einem kurzen Zögern drückte sie darauf und war überrascht. Der Raum war vollkommen leer. Beim letzten Mal hatten noch einzelne Gegenstände herumgestanden und Umzugskartons, die offenbar gerade befüllt oder ausgepackt wurden. Ihr erster Gedanke war richtig gewesen. Es handelte sich tatsächlich um einen Ausstellungsraum. Und die Sitzecke mit der kleinen Bar diente anscheinend dazu, beim Verkaufsgespräch entspannt zu sitzen und einen Drink nehmen zu können.
Linnea ging hinüber und ließ sich in einem Sessel nieder. Langsam dämmerte ihr, dass es vermutlich ziemlich viel gab, was sie nicht über Lex wusste. Und das, obwohl sie zu den wenigen Menschen gehörte, denen die Freundin erlaubt hatte, ein wenig hinter die Fassade zu blicken, die Lex und ihre Familie so eifrig aufrechterhielten. Offenbar war es geradezu eine Familientradition, über seine eigenen Verhältnisse zu leben und sich in erster Linie darum zu kümmern, was man vor den anderen darstellte.
Dass man den eigenen hohen Ansprüchen nicht immer gerecht werden konnte, war vermutlich auch der Grund dafür, dass Lex früher so selten Linnea oder andere Klassenkameraden zu sich nach Hause eingeladen hatte. Im Laufe ihrer Freundschaft hatte Linnea sich langsam ein realistischeres Bild von Lex’ Familienverhältnissen machen können, teils durch kleine Bemerkungen und teils durch Anfälle plötzlicher Vertraulichkeit, die immer dann kamen, wenn sie in den frühen Morgenstunden gemeinsam nach Hause gewankt waren.
Soweit Linnea verstanden hatte, verabscheute Lex ihren Vater. Sie beschrieb ihn als charmanten Schwindler, dessen primäre Antriebskraft ein konstantes Streben nach oben darstellte. Er stammte aus einer einfachen Arbeiterfamilie, hatte jedoch schon früh bemerkt, dass sich der Erfolg früher oder später einstellte, wenn er ihn schon vorher ausstrahlte. Er war immer tadellos und teuer gekleidet und trat sehr überzeugend als gewiefter Geschäftsmann mit großem Potential auf. Das hatte auch die Ehe mit Lex’ Mutter ermöglicht. Sie kam aus einer weitaus höheren sozialen Schicht als er. Das half ihm zu einem guten Namen und Kapital für seine vielen unterschiedlichen Projekte, die der Familie über einen kürzeren Zeitraum hinweg auch tatsächlich Wohlstand einbrachten.
»Appearance is everything«, hatte Lex ihren Vater mit übertrieben dänischem Akzent nachgeäfft, als sie Linnea vom Motto ihres Vaters erzählt hatte, das er auch an seine Töchter weitergegeben hatte. Lex und ihre Schwester gingen in die vornehmsten Schulen und gehörten immer zu den Bestgekleideten. Schon von kleinauf wurden sie darauf gedrillt, vor ihrer Umwelt zu verbergen, wie es in Wirklichkeit um die Familie stand. In Wahrheit war Lex’ Vater kein guter Geschäftsmann, und die Familie stand oft am Rande des Ruins. Die Mutter hörte dennoch nie auf, heillos in den Vater verliebt zu sein, und unterstützte ihn treu bei all seinen Geschäften, obwohl es sie allmählich den Kontakt zu ihrer eigenen Familie kostete. Denn die hatte schon bald keine Lust mehr, das ausschweifende Leben ihres Ehemannes mitzufinanzieren.
Auch wenn sich Lex von ihrem Vater und seinen Methoden distanzierte, hatte Linnea schon damals gedacht, dass Lex seine Art, die Wirklichkeit ein wenig auszuschmücken, übernommen hatte. Und vermutlich auch seinen verzweifelten Glauben, dass sich eine Sache bewahrheitete, wenn man nur fest genug daran glaubte und sowohl sich selbst als auch andere davon überzeugen konnte.
Das Taxi hupte schon wieder, und Linnea riss sich los. Sie sah sich ein letztes Mal in dem Raum um. Er war so leer, dass man fast meinen könnte, Lex sei geflüchtet. Aber das konnte nicht stimmen, denn im übrigen Haus deutete nichts auf einen solchen Aufbruch hin. Eher schien es so, als sei nur der Kellerraum geräumt worden, um die Dinge an einen anderen Ort zu bringen oder die Spuren zu beseitigen. Mittlerweile zweifelte sie nicht mehr daran, dass Lex und ihr Mann in den illegalen Handel mit Antiquitäten und Kulturerbe verstrickt gewesen waren.
Nach allem, was Linnea im Laufe der letzten Tage herausgefunden hatte, überraschte sie das eigentlich nicht. Offenbar wurde in Dänemark praktisch nichts dafür getan, die UNESCO-Konvention gegen den Handel mit illegalem Kulturerbe zu erfüllen. Und damit war Dänemark ein Paradies für Menschen, die ein Vermögen damit verdienten, gestohlene Kunstschätze und illegal ausgegrabene antike Funde an Sammler und Museen weiterzuverkaufen. Darüber hinaus hatte das Land erst vor kurzem, mit fünfzehnjähriger Verspätung, das sogenannte UNIDROIT-Gesetz unterschrieben, das festlegte, dass gestohlene Kulturgüter noch fünfzig Jahre nach dem Diebstahl zurückgefordert werden konnten. Mit dieser Verzögerung hatte Dänemark jahrelang dafür gesorgt, den illegalen Handel zu einem der lukrativsten Märkte der organisierten Kriminalität zu machen.
Vielleicht war der ermordete Iraker ein Gehilfe von Lex und Jonas gewesen. Oder er hatte die Kontakte gehabt und die Ware besorgt, mit der sie handelten. Das luxuriöse Heim verdeutlichte jedenfalls, dass es ein einträgliches Geschäft gewesen sein musste.
Sie nahm ihren Blackberry und rief Thor an.
»Ich habe jetzt keine Zeit, mit dir zu sprechen.«
»Du musst! Lies mal deine Mails und ruf mich dann zurück.«
Linnea ging zu dem ungeduldig wartenden Taxifahrer zurück. Kaum dass sie sich hineingesetzt hatte, rief Thor bereits zurück. Er hatte hektisch geklungen, als sie ihn angerufen hatte, aber der Polizist und die Neugier in ihm hatten gesiegt und er hatte sich das angesehen, was sie ihm geschickt hatte. Teils waren es Bilder von der Tontafel, teils Notizen von ihren Besuchen im Auktionshaus Ellemose und Christian Schimmelmann. Und zu guter Letzt hatte sie auch die Mail vom Handelsregister weitergeleitet, obwohl sie davon ausging, dass die Polizei diese Sache längst selbst herausgefunden hatte. Sie erklärte Thor, was sie in Virum gefunden hatte. Thor klang müde, als er noch einmal von der vermuteten Verschwörung im Irak erzählte, die seiner Meinung nach hinter dem Mord an Khalid und schließlich auch dem Mord an Jonas steckte.
Linnea protestierte.
»Aber damals kam es doch gar nicht zum Prozess. Das hat Lex mir selbst erzählt. Natürlich erzählt sie viel, wenn der Tag lang ist, aber diese Sache kann man doch wohl untersuchen. Und wenn Jonas damals freigesprochen worden ist, kann es doch auch keine Konspiration geben.«
»Allerdings hat sie selbst mich genau darauf aufmerksam gemacht.«
Linnea zögerte.
»Was? Das kann nicht sein.«
»Vielleicht kennst du deine Freundin weniger gut, als du glaubst.«
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Normalerweise kehrte Peggy-Lee Wu nie zu einem Tatort zurück. Aber in diesem Fall hatte es vielleicht sogar einen geradezu therapeutischen Effekt. Außerdem musste sie zwangsläufig ihrem Zielobjekt folgen. Als sie sah, wie das Auto in einigem Abstand vor ihr hielt, wendete Peggy-Lee ihren gemieteten Golf und parkte ein gutes Stück weiter entfernt. Sie zog es vor, das letzte Stück zum Lagergebäude zu Fuß zu gehen, damit sie unbemerkt blieb und den Kampfablauf selbst bestimmen konnte.
In fünf Stunden würde sie in einem Flugzeug sitzen – diesmal mit dem Ziel Lissabon. Und sie musste sich eingestehen, dass sie sich freute, diese verzwickte Angelegenheit endlich hinter sich zu bringen. Nur selten hatte sie so ungeduldig darauf gewartet, einen Auftrag abzuschließen, und selten war sie persönlich so sehr involviert gewesen. Aber bald war es geschafft. Peggy-Lee lächelte vor sich hin, als sie die Autotür schloss. Bevor sie aus der Garage der Mietwagenfirma gefahren war, hatte sie noch schnell ein paar Mails von ihrem iPod verschickt, die für alles Weitere sorgen würden.
Sie bewegte sich langsam auf die Gebäude vor ihr zu. Eigentlich war dies ein idealer Ort, um ihren Job zu erledigen. Kein Mensch war zu sehen, lediglich ein einsames Taxi auf dem Weg in die Stadt war an ihr vorbeigefahren. Außerdem kannte sie das Gebäude inzwischen nur allzu gut.
Peggy-Lee blieb ein paar hundert Meter vor dem Lagergebäude stehen und kontrollierte ein letztes Mal ihre Waffen. Sie dachte kurz an Kevin Love. Er hatte sie davon überzeugt, dass er nicht versucht hatte, sie umzubringen, aber trotzdem hatte er eine Lektion verdient. Es hatte fast so geklungen, als hätte er komplett vergessen, dass er auf sie angewiesen war und nicht umgekehrt.
Dann holte sie ihr iPhone heraus und erledigte die letzten Details. Sie hatte einen Großteil des Gesprächs im D’Angleterre mit ihrem Telefon aufgezeichnet. Den ersten Abschnitt hatte sie von einer anonymen Adresse aus an die Polizei geschickt, zusammen mit einer Nachricht: Wenn sie interessiert wären, mehr zu hören, könnten sie den Mann, der auf der Aufnahme einen Auftragsmord bestellt hatte, heute Abend am Flughafen festnehmen. Den Rest der Datei hatte sie auf eine Seite geladen, zu der Kevin Love wie besprochen für einen bestimmten Zeitraum Zugang hatte, um sich zu vergewissern, dass sie den Auftrag erfüllt hatte. Wenn sie in ein paar Stunden fertig wäre, würde sie die Bilder von der Toten auf der gleichen Seite ablegen. Mit etwas Glück würde er genau in dem Moment, in dem die Polizei kam, um ihn abzuholen, mit dem gesamten Beweismaterial in den Händen dasitzen.
Ihr tat es fast leid, dass sie zu dieser Zeit schon längst selbst über alle Berge sein würde und nicht beobachten konnte, wie das Grinsen aus seiner Visage verschwand.
*
Der Taxifahrer hatte immer misstrauischer in den Rückspiegel geblickt, je weiter sie den Refshalevej hinausfuhren. Aber Linnea hatte ihn mit gutem Gewissen ignoriert, weil er unterwegs bereits ganz frech eine Bezahlung für die Fahrt nach Virum verlangt hatte.
Sie konzentrierte sich darauf, herauszufinden, wo sie eigentlich genau hinmussten. Die Adresse lautete Refshalevej 315, aber die Gegend war ziemlich einsam und unregelmäßig bebaut, so dass die Orientierung schwerfiel. Es war die Firmenadresse, die Linnea aus dem Handelsregister hatte, und sie nahm an, dass es sich um den Lagerraum handelte, in dem Lex und Jonas einen Großteil ihrer Hehlerware aufbewahrten. Das war natürlich nur eine gewagte Vermutung, aber der Keller in Virum hatte ausgesehen, als sei er gerade leergeräumt worden, so dass Linnea fast damit rechnete, Lex hier draußen anzutreffen.
Als sie endlich ankamen, zweifelte sie nicht mehr daran. Die zwei länglichen Gebäude sahen bei oberflächlicher Betrachtung aus wie verlassene Industriegebäude. Die improvisierten Schilder an den verschiedenen Eingängen verrieten jedoch, dass sich in den Bereichen, die noch nicht dem Verfall überlassen waren, Übungs- und Lagerräume befanden. Vor der Nummer 315 stand lediglich ein Schild mit der Hausnummer, aber davor parkte ein Lieferwagen.
»Warten Sie hier bitte ein paar Minuten.«
»Dann müssen Sie erst für die Fahrt bezahlen.«
Linnea sah den Taxifahrer müde an und reichte ihm wortlos ihre Mastercard. Mit einem Mal begriff sie, dass Jonas hier in der Nähe ermordet worden sein musste. Sie war zwar nicht selbst am Tatort gewesen, aber sie hatte die Polizeiberichte gelesen, bevor sie die erweiterte anthropologische Untersuchung von Jonas’ Leiche hatte durchführen müssen. Vielleicht waren es die Gebäude auf der anderen Straßenseite. Hatte er seinen Mörder etwa hier im Lager getroffen? Und war dann dorthin geflüchtet, wo ihn der Mörder schließlich eingeholt hatte? So könnte es sich abgespielt haben.
»Bitte rufen Sie die Polizei an, wenn ich nicht in fünf Minuten wieder hier bin.«
»Das können Sie doch selbst tun.«
»Und bitten Sie darum, mit Vizepolizeikommissar Thor M. Dinesen sprechen zu dürfen.«
Der Taxifahrer nickte gleichgültig und reichte ihr die Karte zurück. Sie ging zu dem Lieferwagen und warf einen Blick durch das Seitenfenster. Auf dem Beifahrersitz lag die graue Marni-Ledertasche, mit der sie Lex noch am Sonntag gesehen hatte. Sie spürte erneut Wut in sich hochkommen. Sie hatte gedacht, dass sie die Freundin retten müsste, doch die setzte einfach ihre Geschäfte fort, als sei nichts passiert. Dann hörte sie plötzlich, wie der Taxifahrer wendete und Gas gab.
»Idiot!«
Offenbar war seine Geduld am Ende gewesen. Sie holte ihr Handy heraus, um ein neues Taxi zu rufen, überlegte es sich dann aber anders. Erst wollte sie sich ein wenig umsehen. Soweit sie es durch die Rückscheibe erkennen konnte, war der Wagen leer, und er parkte vor einem verschlossenen Tor, das sich nicht öffnen ließ.
Also ging sie um das Gebäude herum. An einem Fenster auf der Rückseite blieb sie stehen und versuchte hineinzusehen. Das Fenster war von außen so schmutzig, dass sie unmöglich etwas erkennen konnte, und sie holte ein Taschentuch heraus und wischte über die Scheibe.
Im selben Moment hörte sie Schritte.
»Lex, bist du das?«
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Jetzt nimm endlich ab«, murmelte er.
Aber Linnea ging nicht ans Telefon. Nach ihrem Gespräch hatte er ihr einen Auszug aus dem Protokoll seines Gesprächs mit Alexandra Neergaard geschickt, um ihr zu beweisen, dass er nicht einfach etwas erfunden hatte. Aufgrund ihrer Zweifel hatte er die Seiten anschließend erneut durchgelesen. Erst Linneas Ungläubigkeit hatte ihn dazu gebracht, sich alles noch einmal genauer anzusehen, und mit einem Mal war es ihm eiskalt den Rücken heruntergelaufen.
Erst jetzt, als er das Protokoll noch einmal las und sich in Erinnerung rief, wie das Gespräch verlaufen war, ging ihm auf, dass irgendetwas gehörig falsch lief. Damals war er nicht misstrauisch gewesen, weil es keinen Grund dafür gegeben hatte. Das war natürlich ein Fehler gewesen. Er hatte die Frau des Ermordeten automatisch wie ein Opfer behandelt, statt ihr gegenüber auf der Hut zu sein. Der unglücklichen Witwe war der Folterskandal im Irak keineswegs ausversehen herausgerutscht, wie er nun im Rückblick erkannte. Ganz im Gegenteil, sie hatte die Information ganz bewusst bei ihm platziert. Und das obendrein auf eine so intelligente Weise, dass sie ihn glauben machte, er hätte es ihr selbst entlockt.
Die Frage war nur, warum Alexandra Neergaard das getan hatte. Wovon hatte sie ihn mit diesem Manöver ablenken wollen? Warum hatte sie die Polizei auf einen vermeintlichen Mörder angesetzt, von dem sie genau wusste, dass er nicht schuldig war, und damit riskiert, die Person zu decken, die ihren Mann tatsächlich umgebracht hatte? Er konnte sich nur einen einzigen Grund vorstellen: Die Enthüllung des wahren Täters musste etwas mit ihr zu tun haben. Beispielsweise, wenn ihr Mann wegen des Handels mit dem illegalen Kulturerbe ermordet worden war, von dem Linnea erzählt hatte. Es war leicht vorstellbar, dass sie sich mit gefährlichen Typen eingelassen hatten, es Meinungsverschiedenheiten gegeben hatte und ihr Mann deshalb hingerichtet worden war. Genau wie seinerzeit auch der Iraker.
*
»Ist da jemand?«
Linnea öffnete die Tür einen Spalt weit, konnte in der dahinterliegenden Dunkelheit jedoch nichts erkennen. Sie war sich sicher, drinnen kurz zuvor Schritte gehört zu haben, aber jetzt war es wieder still. Sie stieß die Tür ganz auf und ließ sie offenstehen, damit Licht von draußen in den Raum fiel. Es war der Hintereingang zum Lagergebäude. Linnea nahm an, dass er anstelle der großen Pforte an der Vorderseite benutzt wurde, wenn man keine größeren Waren ins Gebäude zu schaffen hatte.
»Lex, bist du hier?«
Linnea rief noch einmal nach der Freundin. Als sie weder eine Antwort erhielt noch ein Geräusch hörte, ging sie ein paar Schritte und stand mit einem Mal mitten im Lagerraum. Er erinnerte an ein normales Warenlager mit verschiedenen Abteilen aus Holzplanken und Hasendraht, in denen Pappkartons und größere Transportkisten aus Holz standen. Einige davon waren geöffnet, und Linnea hatte fast das Gefühl, in Aladins Höhle gelandet zu sein.
Zwar gab es hier kein glänzendes Gold und Edelsteine, dafür aber Steinfiguren, Tontafeln, bemalte Holzkisten und Schmuck, der sicher eingepackt zwischen Stroh und zusammengeknülltem Zeitungspapier lag. Die Holzkisten ähnelten Sarkophagen, die jedoch anders aussahen als die, die sie aus Ägypten kannte. Zwischen den Zeitungsseiten mit arabischer Schrift lagen kleine Skulpturen, die eine Mischung aus Menschen und Tieren darstellten. Linnea nahm eine nach der anderen heraus und betrachtete sie in dem schwachen Licht. Die meisten Figuren hatten schon vor langer Zeit einen Arm oder Kopf verloren, wohingegen man an einigen feinen, guterhaltenen Exemplaren sogar noch einen Hauch von Farbe erkennen konnte. Und schließlich gab es haufenweise von den kleinen Tontafeln, wie sie sie neben der Leiche im Lammefjord gefunden hatte. Sie fuhr mit dem Finger über die Keilschrift auf einer der größten Tafeln.
Irgendwie konnte sie in dem Moment nachvollziehen, warum die Menschen davon fasziniert waren. Dass man Lust bekam, so etwas zu besitzen, anstatt es sich nur im Museum anzusehen, dass man selbst ein Teil der Geschichte werden wollte. Aber sie hatte kein Verständnis dafür, dass man die Ausgrabungsstätten und Museen plünderte, um diese Stücke weiterzuverkaufen. Und an einem solchen Verbrechen hatten Lex und Jonas mitgewirkt. Linnea legte die kleinen Tontafeln wieder zurück. Sie empfand mit einem Mal eine Abscheu gegenüber der Faszination und der Macht, die sie auszuüben schienen.
Plötzlich nahm sie erneut Schritte wahr. Sie drehte sich hastig um. Das Gegenlicht blendete sie, aber sie konnte im Türrahmen eine Frau erkennen.
»Lex?«, fragte sie. »Hast du mich vielleicht erschreckt!«
Doch dann trat die Frau ganz in den Raum, und Linnea begriff sofort, dass es nicht ihre Freundin war. Sie war kleiner und hatte asiatische Züge. Linneas Aufmerksamkeit war allerdings eher auf etwas Glänzendes gerichtet, das die Frau in der Hand hielt.
Linnea versuchte, sie mit ihrem Blick zu fixieren, doch im selben Moment sprang die Frau auf sie zu.
*
Die Autofahrer hupten nervös. Thor machte eine entschuldigende Handbewegung und drängte mit seinem Honda weiter auf die Gegenfahrbahn. Es gelang ihm, sich zwischen einem Lastwagen und einem uralten Toyota wieder einzufädeln und die Kreuzung am Christian Møllers Plads zu überqueren. Seine riskante Aktion wurde von einem infernalischen Hupkonzert begleitet. Kurze Zeit später hatte er auch die nächste Kreuzung hinter sich gebracht und war in den Kløvermarksvej eingebogen, wo er endlich wieder freie Fahrt hatte und sich etwas entspannen konnte.
»Verdammt noch mal!«
Die Mappe mit den Papieren war ihm vom Schoß gerutscht, und er wollte sie gerade aufheben, als ihm plötzlich auffiel, dass er die Torvegade bereits so weit entlanggefahren war, dass er sich fast auf der vierspurigen Kreuzung Richtung Amagerbrogade befand. Er schlingerte ein wenig, bekam dann aber gleichzeitig das Lenkrad und die Mappe in den Griff, die sich seitlich hinter der Kupplung verklemmt hatte. Er war verantwortungslos gefahren, aber jetzt, wo es fast nur noch geradeaus ging, hielt sich das Risiko zum Glück in Grenzen. Auf dem Beifahrersitz hatte er seinen aufgeklappten Laptop stehen und das Mailprogramm geöffnet, und zwischen seinen Beinen lagen die Auszüge des Verhörprotokolls. Er hatte versucht, während der Fahrt in beidem zu lesen, was ihm auch tatsächlich gelungen war, bis der Verkehr chaotischer geworden war. Jetzt versuchte er erneut, Linnea anzurufen, kam jedoch nicht durch.
»Jetzt nimm schon ab!«, fluchte er.
Als sie ihn aus Virum angerufen hatte, hatte sie gesagt, dass sie gerade auf dem Weg zur Refshaleinsel sei. Dort hoffte sie Alexandra Neergaard zu finden, in den Lagerräumen, die sie und ihr Mann gemietet hatten. Jetzt war Thor ebenfalls auf dem Weg dorthin. Er versuchte die Schilder im Auge zu behalten, damit er nicht aus Versehen nach Margretheholmen oder zum Amagerværket abbog. Seiner Einschätzung nach war es schneller, den etwas längeren Weg um Christianshavn und Holmen zu nehmen, wo weniger Verkehr herrschte und die Straßen breiter waren. Linneas Zweifel hatten ihn dazu veranlasst, seine Notizen aus dem Verhör noch einmal durchzugehen, und ihre Mail hatte seinen Verdacht nur bestärkt. Daran war ein Foto von der Tontafel angehängt, die am Abend zuvor aus ihrem Büro gestohlen worden war. Einer der Gegenstände, mit denen Neergaard und seine Frau offenbar gehandelt hatten. Er wurde den Verdacht nicht los, dass es Alexandra Neergaard selbst gewesen war, die erst in Linneas Privatwohnung und dann an ihrem Arbeitsplatz eingebrochen war, um herauszufinden, was die Polizei über ihre Geschäfte wusste. Und natürlich, um mögliche Spuren zu beseitigen.
Allmählich dämmerte ihm, dass sie eine außergewöhnlich rücksichtslose Frau sein musste. Linnea hatte sich auf den Weg gemacht, um sie mit ihrem Verdacht zu konfrontieren. Thor fürchtete jedoch, dass sie immer noch davon ausging, Alexandra Neergaard sei eine gute Freundin. Sie würde nicht auf die Idee kommen, dass sie ihr tatsächlich gefährlich werden konnte.
Und damit begab sie sich direkt in die Höhle des Löwen.
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Das kommt davon, wenn man mit den großen Jungs spielt«, sagte die Frau auf Englisch.
Linnea presste ihren Mund zusammen. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, dabei hätte sie zu gern um Gnade gefleht oder um Hilfe gerufen. Doch sie fürchtete, dass das Messer, das fest gegen ihren Hals gepresst war, schon bei der kleinsten Bewegung durch ihre Haut dringen und ihre pulsierende Halsschlagader durchtrennen würde. Sie spürte, wie es an ihren Beinen warm wurde, aber sie konnte nicht unterscheiden, ob es ihre Blase war, die vor Angst nachgegeben hatte, oder ob die Nerven in ihrem Körper brannten.
»Pst, Süße. Wenn du dich entspannst, wird alles schnell vorbei sein. Und du kannst dich darüber freuen, dass dein Tod einen mächtigen Mann stürzen wird.«
Mit der freien Hand hielt die Frau ein Handy. Filmte sie etwa alles? Verzweifelt dachte Linnea, dass die Frau mit dem Messer sie in der Dunkelheit mit jemand anderem verwechselt haben musste. Aber das war inzwischen auch schon egal. Selbst wenn sie nicht das vorgesehene Opfer war, hatte sie bereits viel zu viel gesehen und würde nicht mit dem Leben davonkommen.
Linnea schloss die Augen und erwartete ihr Ende, doch im selben Moment ertönte ein Schrei.
Sie spürte das Messer noch fester an ihrem Hals, und jetzt schrie sie selbst auch. Doch mehr passierte nicht. Und plötzlich fiel ein Körper auf sie.
Linnea riss die Augen auf und sprang zur Seite. Das Messer landete mit einem Klirren auf dem Betonboden, und ihre Angreiferin ging zu Boden. Linnea war gerade noch rechtzeitig ausgewichen, um nicht von ihr mitgerissen zu werden.
Dann starrte sie voller Schreck direkt in Lex’ Augen.
»Was hast du hier zu suchen?«, zischte Lex.
In der einen Hand hielt sie noch immer die schwere Steinfigur, mit der sie die andere niedergeschlagen hatte.
»Du hast mir das Leben gerettet!«
Linnea stieß einen erleichterten Seufzer aus. Noch nie war sie so froh gewesen, einen anderen Menschen zu sehen. Lex nickte ihr zu und zeigte auf eine Tür am Ende des Lagerraums. Linnea warf einen schnellen Blick zu der Frau auf dem Boden und stellte fest, dass sie an der Stirn blutete. Sie lag vollkommen still da, als Lex erst mit dem Fuß das Messer wegstieß und es dann aufhob. Anschließend stieg Linnea über die Frau hinweg und folgte erleichtert Lex’ Aufforderung zu verschwinden. Sie ging in Richtung der Tür, auf die Lex zeigte, und die Freundin folgte ihr.
»Das muss die Frau gewesen sein, die Jonas umgebracht hat«, sagte Linnea dann.
Sie wollte gerade erklären, wie sie selbst zu dem Schluss gekommen sei, dass es eine Frau sein musste, als sie Jonas’ Leiche untersucht hatte, verkniff es sich dann aber. Lex antwortete lediglich: »Gut geraten!«
Linnea wunderte sich über ihren Tonfall und drehte sich in der Türöffnung um, um Lex zu fragen, was sie damit meinte. Zu spät bemerkte sie, wie Lex die Hand hob, die Steinfigur schwang und Linnea damit einen Schlag auf den Hinterkopf versetzte.
Dann nahm sie nichts mehr wahr.
*
Ihr Mund war voller Blut, und Peggy-Lee begriff erst nach einer Weile, dass der warme Fleischfetzen in ihrer Mundhöhle ein Stück von ihrer eigenen Zunge sein musste. Ihr Kopf dröhnte, und einen Moment lang fiel es ihr schwer, klar zu sehen.
Sie blieb kurz auf dem kalten Betonboden liegen und untersuchte alle Muskeln und Gelenke. Sie seufzte erleichtert. Sie war zwar von einer Sekunde auf die andere weg gewesen, aber offenbar rechnete niemand damit, dass sie so schnell wieder aufwachte. Jedenfalls hatte man sie ohne Aufsicht und Fesseln hier zurückgelassen. Ihr Jagdmesser war weg, aber die blonde Schlampe hatte sich natürlich nicht die Mühe gemacht, sie nach weiteren Waffen abzusuchen.
Peggy-Lee setzte sich halb auf, spuckte ein wenig Blut aus und streichelte liebevoll über ihre halbautomatische Kel-Tec P-32, die noch immer im Holster unter dem Rock steckte. Nebenan hörte sie ein hektisches Rumoren und hätte am liebsten den Kopf geschüttelt, aber er schmerzte noch zu sehr. Dachte dieses Weib wirklich, ein einziger Schlag reiche aus, um Peggy-Lee Wu außer Gefecht zu setzen?
Es war jedenfalls nicht das erste Mal, dass sie von den Toten wiederauferstand. Ihre kleine Nummer damals im Irak war ein Musterbeispiel dafür gewesen: Sie hatte schon lange nach einer Möglichkeit gesucht, zu verschwinden, als sie bei einer Patrouille von zwei Black-Water-Leuten aufgehalten wurde. Peggy-Lee hatte einen Aufständischen aus dem Verkehr gezogen, mit dem die beiden ein krummes Ding gedreht hatten, wie sich nun herausgestellt hatte. Offenbar hatten die beiden daraufhin geplant, sie aus dem Weg zu räumen, was sie natürlich vereitelt hatte. Es hatte sich als doppeltes Glück erwiesen, dass eins der beiden korrupten Schweine eine Frau gewesen war, die Peggy-Lee in Größe und Statur ähnlich war. Peggy-Lee hatte der Frau ins Gesicht gespuckt, um es anschließend mit Kugeln zu durchsieben und die Uniform mit ihr zu tauschen. Die Frau war ohnehin in Atome gesprengt worden, nachdem Peggy-Lee die Leichen in ein Minenfeld transportiert hatte. Somit konnten selbst die eifrigsten Pathologen der Armee, die routinemäßig alle toten Soldaten obduzierten, nichts Verdächtiges mehr finden. Die Kleidung war daher nur ein Detail, allerdings ein entscheidendes – und Gewissenhaftigkeit war schon immer ihr besonderes Kennzeichen gewesen.
Anschließend war Miss Peggy-Lee Wu offiziell ein Teil von Präsident Bushs peinlicher Irak-Statistik geworden. Ihre posthumen Stellvertreter waren so umtriebig gewesen, dass ihr die ganze Aktion obendrein genug Geld eingebracht hatte, um das Land unbemerkt zu verlassen und in Ruhe neue Pläne zu schmieden.
Sie stand langsam auf und nahm die Pistole aus dem Holster. Dann ging sie den Geräuschen nach. Peggy-Lee Wu zu unterschätzen war lebensgefährlich.
*
Als Thor aus dem Wagen stieg, brannte die Nachmittagssonne nicht mehr, aber die aufgestaute Hitze des Tages wurde noch immer vom Asphalt und den umliegenden Gebäuden abgestrahlt. Alles schien ruhig, abgesehen von einem einzelnen geparkten Lieferwagen gab es in dem Gebiet kein Anzeichen von Leben. Als er den Refshalevej entlanggerast war, waren ihm einige Fahrzeuge entgegengekommen, die Richtung Stadt fuhren. Vermutlich der Verkehr von den verschiedenen kleineren Industriebetrieben, die gerade Feierabend gemacht hatten.
Die Gegend wirkte erneut wie eine Ödnis auf ihn, ohne Leben und ohne Anwohner. Vielleicht war er etwas zu vorschnell seiner Eingebung gefolgt und wie ein Henker hierhergefahren, bloß weil Linnea mal wieder eine neue Idee aufgebracht hatte und seither nicht ans Telefon ging. Überhaupt ärgerte er sich darüber, wie viel Raum Linnea in seinem Kopf immer noch einnahm. Er hatte versucht, sich einzubilden, dass er sich lediglich ganz normale Sorgen machte, als sie ihn anrief und von dem Einbruch erzählte. Aber er hätte sich selbst schlecht gekannt, wenn er nicht schnell durchschaut hätte, dass seine Motive in Wahrheit andere waren.
Als er das Gebäude betrachtete, fiel ihm auf, dass die große Pforte nur angelehnt war, unten war ein schmaler Spalt zu erkennen. Zögernd näherte er sich.
Streng genommen sollte er sich hier besser nicht allein aufhalten, aber es wäre einfach zu albern gewesen, Kraus und Ewald aus ihrer Arbeit am Politigården zu reißen, nur um am Ende lediglich ein paar leere Lagerräume vorzufinden. Er ging zum Tor und wollte es aufziehen.
In dem Moment bemerkte Thor, dass drinnen jemand war. Er kniete sich hin, legte den Kopf an die Türöffnung und versuchte zu lauschen.
Da ertönte ein herzzerreißender Schrei.
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Um sie herum war es stockdunkel, und sie rang verzweifelt nach Luft. Wenn sie versuchte, durch die Nase einzuatmen, kam nur ein pfeifender Laut aus ihrer Kehle, und den Mund konnte sie gar nicht öffnen.
Linnea wimmerte und versuchte, den Kopf zu bewegen. Ihr Herz raste, und ihr war schwindelig. Sie hörte ein fremdes, unterdrücktes Gurgeln, das aus ihr selbst kommen musste. Ihre Nasenflügel weiteten sich, als sie versuchte zu atmen. Doch es half nichts. Sie bekam einfach keinen Sauerstoff, er drang nur bis zur ihrer Kehle, die wie zugeschnürt war. Und sie konnte auch nichts sehen.
Man hatte ihr etwas über den Kopf gezogen. Eine Tüte. Sie war kurz davor zu ersticken.
Sie wälzte sich auf dem Boden herum, konnte jedoch weder Arme noch Beine richtig bewegen. Sie war an Händen und Füßen gefesselt, vermutlich mit Klebeband. Und so konnte sie sich nur von der einen Seite auf die andere rollen. Sie spürte, wie ihre letzten Kräfte schwanden. Wenn sie doch nur Luft bekäme.
Sie bewegte ihren Kopf hin und her, bis er gegen etwas stieß. Der dumpfe Schmerz breitete sich kreisförmig über ihre Stirn aus. Verzweifelt versuchte sie, durch die Nase zu atmen, während sie sich zur Ruhe zwang. Sie schnappte noch immer nach Luft, jetzt aber ruhiger, langsamer.
Es war nur die Panik gewesen. Sie war eingesperrt, gefesselt und wusste nicht, wo sie war. Und das hatte ihr den Atem geraubt. Angstattacken und die Klaustrophobie. Sie musste jetzt einfach nur ruhig bleiben.
Sie zwang sich, ganz still zu liegen. Zählte bis drei, ehe sie durch die Nase einatmete. Zählte bis drei und atmete aus. Zählte bis drei und atmete ein. Sie spürte, wie ihre Muskeln sich entspannten. Allmählich wurde sie ruhiger und konnte ihre Situation durchdenken.
Sie versuchte, ihre eine Hand zu befreien, doch die Fesseln saßen zu stramm. Das Klebeband schnitt sich tief in ihre Haut, ihre Füße waren schon ganz taub. Selbst wenn sie sich irgendwann befreien konnte, würde sie vielleicht nicht sofort laufen können.
Auch über dem Mund hatte sie Klebeband. Sie begann wieder nach Luft zu ringen, so dass ihr Kehlkopf erneut pfiff und sie winselte wie ein verletztes Tier.
Dieses Mal hatte sie sich jedoch schnell wieder unter Kontrolle. Ihr Herz klopfte noch immer heftig, aber das war nur das Adrenalin in ihrem Körper. Ein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass sie Energiereserven hatte und damit schneller reagieren und denken konnte. Was dringend nötig war, wenn sie überleben wollte.
Sie blinzelte. Jetzt merkte sie, dass es nicht vollkommen dunkel war. Die Tüte war um ihren Hals geknotet. Zu fest, als dass sie sich selbst daraus hätte befreien können, ganz gleich, wie sehr sie ihren Kopf hin und her drehte. Die Tüte war schwarz, aber durch die Struktur drang ein wenig Licht. Linnea begriff, dass es eine Stofftasche sein musste, keine Tüte, sonst wäre sie längst erstickt.
Sie spürte, dass ihre Kopfhaut feucht war, wusste aber nicht, ob es Blut oder Schweiß war. Sie musste sich irgendwo im Inneren des Gebäudes befinden, vermutlich in einem Teil des Lagers. In ihrem Kopf dröhnte der Schmerz, der aber genauso gut von der alten Wunde über dem Auge kommen konnte, die wieder aufgeplatzt war.
Plötzlich vernahm sie ein heiseres Brüllen und unterdrücktes Keuchen. Die beiden Frauen schienen wie rasend miteinander zu kämpfen, bis zum bitteren Ende. Dann fiel etwas zu Boden. Ein metallisches Klirren war zu hören. Eine Pistole, die aus einer Hand geschlagen worden und heruntergefallen war. Linnea hörte auch, wie sie über den Boden gekickt wurde.
Sie versuchte, sich ein wenig mehr auf die Seite zu rollen, und stellte fest, dass sie mühsam vorwärtsrobben konnte, wenn sie ihre Beine ein wenig anzog und sich damit abstieß, wie ein Trockenschwimmer.
Nebenan erklangen ein weiteres dumpfes Stöhnen und dann ein hastiges metallisches Schaben.
Die Pistole wurde wieder aufgehoben.
*
Als der Schuss fiel, warf Thor sich fluchend auf den Boden. Sein Herz raste. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Befand sich Linnea dort drinnen? War ihr etwas zugestoßen?
Dann kam er wieder auf die Beine. Er zählte bis drei und rannte los. Vier Schritte, dann warf er sich hinter den Lieferwagen, damit er in der Deckung zu seinem Auto gelangen konnte. Der Schuss war im Inneren des Gebäudes abgefeuert worden und hatte vermutlich nichts mit seiner Anwesenheit zu tun. Wenn er Glück hatte, war er noch nicht entdeckt worden. Und je länger das so blieb, desto größer war seine Chance, die Situation in den Griff zu bekommen.
Lautlos öffnete er die Autotür und griff in das Handschuhfach. Er fluchte. Nichts. Verzweifelt wühlte er alles einmal durch, doch ohne Erfolg.
Endlich fiel ihm ein, wo er seine Heckler & Koch zuletzt hingelegt hatte, und holte sie aus dem Seitenfach. Sicherheitshalber ließ er die Tür offenstehen. Dann nahm er sein Handy und flüsterte die Adresse hinein, nachdem er zum Politigården durchgekommen war.
»Verstärkung und einen Krankenwagen«, fügte er noch schnell hinzu. »Es könnte Verletzte geben.«
Anschließend stellte er sein Telefon auf lautlos. Er suchte erneut hinter dem Lieferwagen Deckung, dann nahm er die Pistole und spannte den Hahn. Die Waffe war einsatzbereit.
Noch immer konnte er nichts anderes hören als seinen eigenen, schweren Atem, den er zu kontrollieren versuchte. Mit einem Mal wirkte alles ruhig und friedlich. Der Gedanke, dass er sich getäuscht hatte, war zu verlockend: dass es gar keinen Schuss gegeben hatte.
Die Pistole fest im Griff, rannte er wieder zum Tor, setzte sich einen Augenblick daneben und spähte durch den Schlitz, konnte aber nichts erkennen. Draußen war es zu hell.
Er wartete einige Sekunden. Schließlich hatten sich seine Augen halbwegs an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte mit Sicherheit ausschließen, dass sich jemand in dem Raum aufhielt, der direkt dahinterlag. Er schob das Tor ein Stückchen auf, bis er sich hindurchzwängen konnte. Dabei stieß er mit dem Rücken dagegen, wodurch es weiter aufging und dabei laut knarrte.
Leise fluchend sprang er zur Seite und drückte sich gegen die Wand. Bei geöffnetem Tor war der ganze Raum erleuchtet. Direkt neben dem Eingang standen lediglich einige Umzugskartons, die vermutlich gerade abgeladen worden waren. Er hob die Pistole in Hüfthöhe und bewegte sich langsam auf die offene Tür am Ende des Raums zu, die weiter ins Lager hineinführte und neben dem Tor der einzige weitere Zugang zum Raum war. Er stellte sich direkt neben den Türrahmen und presste sich gegen die Wand.
Er hielt die Pistole in der ausgestreckten Hand. Der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn. Hastig wischte er ihn sich mit dem Handrücken weg.
Dann zählte er erneut bis drei und stürmte in den Raum.
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Ihre Haut war bereits wund, aber durch das stramme Klebeband waren ihre Glieder so taub, dass sie kein Gefühl mehr dafür hatte, wie stark sie blutete. Der Betonboden war rau wie Sandpapier. Dadurch war es Linnea gelungen, das Band, mit dem ihre Hände gefesselt waren, teilweise aufzuscheuern.
Da ein direkter Fluchtversuch mit ihren Fesseln aussichtslos schien, hatte sie sich auf den Rücken gerollt und sich darauf beschränkt, ihre Hände gegen den Boden zu reiben. Sie hatte die Zähne zusammengebissen, als allmählich auch die Haut in Mitleidenschaft gezogen wurde und die Wunden an ihren Handwurzeln immer tiefer wurden. Aber schließlich riss das Klebeband tatsächlich ein Stück ein. Nicht genug, um die Hände zu befreien, doch immerhin so viel, dass sie die Finger an beiden Händen bewegen konnte.
Anschließend war Linnea seitwärts auf dem Boden entlanggerobbt und hatte sich dabei auch noch die Haut an den Ellbogen und Knien abgeschürft. Irgendwann konnte sie sich endlich so weit bewegen, dass sie mit den Fingern an ihre Tasche gelangte. Sie konnte sie problemlos öffnen. Die Hände hineinzustecken und an den Inhalt zu kommen war allerdings schwieriger. Hinzu kam die Angst über das, was nebenan passierte. Die Geräusche, die zu ihr herüberdrangen, wurden immer unheimlicher. Wer auch immer von den beiden den Kampf gewann, würde sich garantiert als Nächstes Linnea vornehmen.
Endlich fand Linnea, was sie suchte. Sie unterdrückte einen kleinen Jubelschrei und gleich im nächsten Moment einen entnervten Seufzer, denn sie hielt nicht ihr Pfefferspray in der Hand, sondern lediglich einen Deozerstäuber. Dabei hatte sie ihre ganze Hoffnung darauf gesetzt, wenigstens eine Waffe zu ihrer Verteidigung zu haben. Frustriert kippte sie den gesamten Inhalt der Tasche auf den Boden und durchwühlte ihn. Doch Fehlanzeige, kein Pfefferspray.
Erst war sie resigniert, griff dann aber doch nach dem Deo. Anschließend durchsuchte sie den Tascheninhalt fieberhaft noch einmal, bis sie triumphierend ein Einwegfeuerzeug in der Hand hielt, das sie sich kürzlich zusammen mit den Zigaretten gekauft hatte. Unter großen Mühen gelang es ihr, das Deo in der einen Hand zu halten und das Feuerzeug in der anderen. Dann schmiss sie sich auf die Seite.
Wenn sie jetzt nur keinen Krampf in den Fingern bekäme, wäre sie zumindest ein wenig gewappnet, wenn die Siegerin des Kampfes nebenan die Tür öffnete, um ihr den Garaus zu machen.
Gut möglich, dass ihre Erfolgsaussichten nicht gerade rosig waren, aber dieser improvisierte Flammenwerfer würde ihre Chancen doch immerhin etwas erhöhen.
*
Thor stand im Türrahmen und hatte den Eindruck, der ganze Raum wäre mit Blut verschmiert.
Er ließ seine Pistole sinken und versuchte, den Anblick zu verarbeiten, der sich ihm bot. Er begriff nicht, warum er das Blut nicht schon von weitem gerochen und nur diesen einen Schrei gehört hatte.
Dann presste er die Finger der linken Hand auf die Augen, merkte, wie es schwarz wurde, und versuchte sich erneut zu konzentrieren. Er stand in einem Gang. Rechts führte eine geöffnete Tür zum eigentlichen Lagerraum, weiter vorn zu einer anderen Tür auf der linken Seite. Sie musste zu dem Raum mit dem Fenster gehören, durch das er von außen hineinzusehen versucht hatte. Und in dem Raum, in den er gerade hineinblickte, lagen zwei Personen in einer tödlichen Umarmung verschlungen.
Die oben liegende Gestalt erkannte er als Alexandra Neergaard wieder. Er konnte nicht sehen, ob nur ihre Haare blutverklebt waren oder ob sie der Schuss an der Schläfe getroffen hatte. Er eilte zu ihr und tastete nach ihrem Puls. Dann fiel sein Blick auf die Pistole am Boden.
Er stieß sie mit dem Fuß außer Reichweite. Dann drehte er Alexandra auf die Seite. Blut sickerte aus ihrem Mund, und er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte. Mit Mühe und Not befreite er sie von dem Arm, der über ihr hing. Er gehörte der Frau, die unter Alexandra lag. Er erstarrte, und sein Mund wurde trocken. Doch dann begriff er, dass es nicht Linnea war.
Die Frau hatte asiatische Gesichtszüge, soweit er es erkennen konnte, denn auch sie war blutverschmiert. Konnte das etwa doch die Heckenschützin sein, deren DNA man gefunden hatte, obwohl Lenny Strange von der Botschaft gesagt hatte, sie sei seit mehreren Jahren tot? Ob das Blut in ihrem Gesicht ihr eigenes war oder Alexandras, war nicht zu sagen. Dann bemerkte er, dass an der Seite etwas aus ihr herausragte. Der Schaft eines Messers. Er wagte es nicht, das Messer herauszuziehen, weil er fürchtete, dass es ihre Lungen verletzt haben könnte.
Er trat ein paar Schritte zurück und forderte per Handy einen weiteren Krankenwagen an. Anschließend beugte er sich erneut über Alexandra. Er musste versuchen, ihre Blutungen zu stoppen. Doch im dem Moment nahm er einen unterdrückten Schrei wahr.
Er richtete sich auf, atmete tief ein und hob erneut seine Pistole. Doch nichts war zu sehen. Und es war auch wieder ganz still.
Er ging hastig zu der auf dem Boden liegenden Pistole und hob sie auf. Er steckte sie ein und eilte den Gang entlang in die Richtung, aus der er den Schrei gehört zu haben glaubte. Als er die nächste Tür erreichte, konnte er sehen, dass jemand, mit dem Rücken zu ihm, in dem Raum dahinter lag. Mit einer schwarzen Stofftasche über dem Kopf. Linnea!
»Linnea, ich bin es«, rief er. »Thor!«
Er bemerkte, dass ihre Hände nicht gefesselt waren und im selben Moment eine Spraydose auf den Betonboden fallen ließen.
Thor beugte sich zu ihr und befreite sie von der Stofftasche. Linneas Augenhöhlen waren rot von dem geronnenen Blut, das von ihrer Schläfe nach unten gelaufen war. Sie öffnete die Augen, sah ihn dankbar an und sagte: »Jetzt würde ich eigentlich doch gern ins Krankenhaus.«
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Der Lärm der großen Rotoren übertönte alles. Linnea konnte sehen, wie der Narkosearzt in der Kabine damit beschäftigt war, Lex zu versorgen, und wie der Helikopter dann langsam vom Refshalevej abhob. Der Narkosearzt hatte Linnea erklärt, dass der Hubschrauber sehr schnell flog und sie spätestens in fünf Minuten auf dem Dach des Rigshospitals landen würden. Und in einer Viertelstunde würden sie Lex in der Notaufnahme der Akutstation weiterbehandeln können.
»Wie stehen ihre Chancen?«
»Besser, als wenn sie auf einen normalen Krankenwagen warten müsste.«
Nun schaute Linnea dem roten Helikopter hinterher, der am Himmel über ihr immer kleiner wurde. Wenn Lex ihren massiven Blutverlust als Folge der Schussverletzung überlebte, hatte sie das nur Thors Geistesgegenwart und dem Hubschrauber der Kopenhagener Klinikvereinigung zu verdanken. Der Arzt hatte bereits vor Ort ihre Blutungen gestoppt, und im Helikopter konnte die Erstversorgung weitergeführt werden, bis sie im Krankenhaus ankam.
Linnea wandte sich Thor zu und fasste sich an den Kopf, den der Arzt notdürftig verbunden hatte. Sie war dankbar, ihn zu sehen. Nicht allein, weil er sie gerettet hatte, sondern auch, weil sie ihn vermisst hatte.
»Wer ist die andere Frau?«, fragte sie dann. »Sie muss Lex hierher gefolgt sein. Der Überfall auf mich war eine Verwechslung. Meinst du nicht?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung.«
Thor seufzte, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Er streckte die Arme aus, umarmte Linnea und sah sie mit einem zärtlichen Blick an.
»Sie hatte einen Pass bei sich, der auf den Namen Stacey Kim ausgestellt ist. Aber ihr DNA-Profil entspricht dem einer verstorbenen amerikanischen Heckenschützin namens Peggy-Lee Wu.«
Linnea erzählte ihm, dass der Arzt die Frau kurz untersucht hatte und dass sie aufgrund ihrer Stichverletzungen zwar viel Blut verloren, aber im Gegensatz zu Lex ziemlich gute Überlebenschancen hatte. Erst bei einer gründlicheren Untersuchung würde man feststellen können, ob lebenswichtige Organe verletzt worden waren, aber ihr Zustand wirkte stabil.
Thor zuckte mit den Schultern.
»Ich vermute, dass sie eine Art Auftragskillerin ist«, sagte er dann. »Vielleicht wurde sie von einem Hintermann angeheuert, der sowohl Jonas als auch Alexandra Neergaard loswerden wollte. Aber genau weiß ich es nicht. Wir müssen zusehen, das Ganze endlich richtig aufzuklären. Wir werden das Geschäft der Neergaards einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Und wenn die Frauen überleben, werden wir sie schon früher oder später zum Reden bringen. Die Verbindung zum Mord an Firaz Khalid ist offensichtlich, mit Sicherheit waren sie Geschäftspartner.«
Linnea nickte und musste an Lex denken, die sich wahrscheinlich gerade im Landeanflug auf die Klinik befand. War es womöglich denkbar, dass Lex tief in ihrem Inneren gewusst hatte, dass Jonas’ Leben auf dem Spiel stand, oder hatte sie seinen Tod sogar bewusst mit eingeplant, um das schwächste Glied in der Kette loszuwerden? Der Gedanke war nicht auszuhalten. Ihre Ambitionen hatten fatale Folgen für das Leben mehrerer anderer Menschen gehabt. Linnea seufzte, schaute Thor an und meinte: »Blut fordert Blut, wie schon Macbeth sagte.«
*
Das Stimmengewirr schlug Linnea entgegen wie ein Chaos, in dem sie sich nicht orientieren konnte. Anfangs hatte sie Schwierigkeiten, überhaupt etwas zu verstehen, selbst wenn sich die Leute ihr direkt zuwandten und sie fragten, wie es ihr ginge. Als sie das Lagergebäude erneut betrat, kam ihr ein Gesicht nach dem anderen entgegen. Und plötzlich bemerkte sie, dass der Ort vollkommen seinen Charakter geändert hatte. Vor einer halben Stunde hatte sie dort drinnen gelegen und lediglich gewusst, dass ihr Leben vermutlich von der Gnade eines durchgeknallten Mörders abhing. Und jetzt war er plötzlich in einen Tatort verwandelt, an dem es vor Fotografen, Technikern und anderen Polizisten nur so wimmelte.
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gutgeht?«
Linnea nickte in Richtung des Fragenden, der bereits weiterging.
»Ein bisschen Kopfschmerzen und ein paar Hautabschürfungen, das ist alles.«
Sie bewegte die Lippen, zweifelte aber daran, dass sie überhaupt einen Ton hervorbrachte. Wahrscheinlich war sie in einen Schockzustand gefallen. Sie nahm die Eindrücke nur oberflächlich in sich auf. Als sie Thors Fragen beantwortete und sich von den Ärzten untersuchen ließ, hatte sie sich wie unter einer schützenden Glasglocke befunden. Aber jetzt schienen ihre Sinne wieder zu erwachen und zu erfassen, was eigentlich vorgefallen war.
Sie ging weiter in das Lagergebäude hinein. Menschen eilten geschäftig an ihr vorbei.
»Halt! Sie müssen einen Schutzanzug tragen!«
Ein Mann stoppte sie auf halbem Weg. Sie starrte ihn an und erkannte ihn erst langsam als einen Kollegen von der Spurensicherung. Als ihm auffiel, dass sie sozusagen ein Teil des Tatorts war, winkte er sie durch. Vermutlich würde sie später ihre Kleidung abliefern und sich selbst einer Untersuchung durch die Kollegen aussetzen müssen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie auf ganz andere Weise an einem Fall teilhatte als je zuvor.
Dieses Verbrechen war keines, das sie in ihrer Funktion als Forscherin und forensische Anthropologin einer objektiven Untersuchung unterziehen konnte. Sie selbst war Zeugin und teilweise auch Opfer eines grausamen Verbrechens geworden, das sie kaum fassen konnte.
Linnea musste einen Moment warten, bis sie den großen Raum betreten konnte, da die Techniker noch dabei waren, ihre Sachen zusammenzupacken. Nach allem, was Linnea zunächst gehört und dann gesehen hatte, musste ein erbitterter Nahkampf stattgefunden haben. Dabei war es der Killerin vermutlich gelungen, eine Pistole zu ziehen. Und Lex hatte trotzdem versucht, sie zu erdolchen, wohl wissend, dass ihr Angriff höchstwahrscheinlich einen Schuss zur Folge haben würde. Das grenzte schon fast an Kamikaze, erklärte aber auch, wie es Lex fast gelungen wäre, die andere umzubringen, obwohl diese allem Anschein nach eine professionelle Killerin war.
Vielleicht war sie ganz einfach durchgedreht, aber Linnea zweifelte daran. Wahrscheinlicher schien, dass Lex viel stärker war, als Linnea je gedacht hätte. Offenbar war sie in Wahrheit eine völlig andere Person als die, die Linnea zu kennen geglaubt hatte. Das warf natürlich auch die Frage auf, welche Rolle sie bei den Ereignissen der letzten Tage gespielt hatte. Vermutlich hatte Lex schon immer gewusst, wer der Tote aus dem Lammefjord war. Und Linnea wurde den Gedanken nicht los, dass ihre Freundin auch in diesen Mord unmittelbar verwickelt war.
Dann durfte Linnea endlich den großen Raum betreten. Plötzlich begann ihr Herz erneut heftig zu schlagen, und sie spürte ein Rauschen in den Ohren. Die Panik war wieder da. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, während sie in den Raum starrte. Die Trage, auf die die andere Frau – die nach Thors Vermutung Peggy-Lee hieß – gelegt worden war, stand noch da, aber sie war leer.
Linnea machte auf dem Absatz kehrt, um die Polizisten draußen zu warnen, lief jedoch direkt in Thors Arme.
»Bist du taub geworden? Ich habe schon mehrmals nach dir gerufen.«
Dann bemerkte er ihren verstörten Blick.
»Der Krankenwagen ist gerade gekommen«, erklärte er. »Sie haben sie nach draußen gebracht. Was dachtest du denn? Sie ist doch viel zu schwach, um aus eigener Kraft irgendwo hinzugehen.«
Linnea drehte sich erneut um und ging dann weiter in den Raum hinein. Thor rief ihr hinterher.
»Und du musst auch mit ins Krankenhaus!«
Sie nickte, blieb stehen und starrte auf das viele Blut auf dem Boden, das ihr erst jetzt richtig auffiel. Als Thor sie befreit und nach draußen gebracht hatte, hatte sie davon nichts bemerkt. Jetzt war die große Lache auf dem Boden kaum zu übersehen, in der sich das Blut der beiden schwerverletzten Frauen gemischt und eine Art makabren Rohrschachtest gebildet hatte. Allein bei dem Gedanken daran, was hier passiert war, lief es Linnea eiskalt den Rücken herunter.
Thor trat zu ihr und legte den Arm um sie. Bereitwillig ließ sie sich von ihm hinaus zum Krankenwagen führen.
58
Verbinden Sie mich mit jemandem von der abdominalchirurgischen Abteilung!«
Die Stimme des Sanitäters, der mit der Klinikzentrale sprach, weckte Linnea wieder aus ihrem Dämmerzustand. Der Sanitätshelfer saß am Steuer. Sie selbst hockte ein wenig eingeklemmt zwischen ihm und dem anderen Sanitäter auf der Vorderbank. Auf dem Monitor konnte sie die Meldungen sehen, die zwischen der Wachzentrale und dem Krankenwagen hin und her geschickt wurden.
»Wie weit ist es noch?«, fragte sie.
Der Sanitäter sah sie an.
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gutgeht? Vielleicht sollte man Sie wegen des Verdachts auf Gehirnerschütterung untersuchen.«
Sie starrte ihn verwundert an. Er hatte es tatsächlich gewagt, sie mit seinen braunen Augen anzuflirten, als er ihr einen Platz auf dem Beifahrersitz angeboten hatte.
Sie wollte ihm gerade säuerlich mitteilen, dass sie die erforderliche Diagnose problemlos selbst stellen konnte und auf keinen Fall eine Gehirnerschütterung hatte, als sie bemerkte, worauf er anspielte. Er zeigte mit einem ironischen Grinsen nach draußen, wo bereits der Haupteingang des Rigshospitals am Blegdamsvej zu erkennen war. Sie musste unterwegs eingeschlafen sein.
»Fahr direkt da rüber, wir wollen sie ja nicht verlieren.«
Der Rettungssanitäter gab eifrig Zeichen, um seinen noch jüngeren Gehilfen zu dem Hof hinter dem Hauptgebäude zu dirigieren, wo es zur Notaufnahme und der Intensivstation des Rigshospitals ging. Hinten im Rettungswagen lag Peggy-Lee auf einer Trage unter der Aufsicht eines Anästhesisten der Intensivstation. In der Notaufnahme hielt sich ein spezielles Trauma-Team bereit, das genau für solche Notfälle ausgebildet war: ein Narkosearzt, ein Unfallchirurg, eine spezialisierte Krankenschwester sowie zwei Radiologen.
*
»Sie kommen allein zurecht?«
Der Sanitäter wartete Linneas Antwort gar nicht erst ab und sprang aus dem Rettungswagen. Natürlich kam sie allein zurecht. Sie humpelte ein wenig und war todmüde und erschöpft, aber mehr auch nicht. Sie war zwar mitgefahren, um sich untersuchen zu lassen, rechnete aber nicht damit, dass die Ärzte etwas finden würden, was sich nicht mit einer Handvoll Paracetamol und ein paar Tagen Krankschreibung beheben ließe.
Die beiden Männer waren bereits dabei, Peggy-Lees Trage aus dem Rettungswagen zu schieben. Der Sanitäter nahm die Trage entgegen, als sie das letzte Stück herausgezogen wurde und das Fahrgestell sich automatisch ausklappte. Anschließend sprang auch sein Assistent aus dem Wagen, und sie rollten die Trage schnell zur Notaufnahme. Das Kopfende war nicht heruntergeklappt, und die rote Decke sorgte dafür, dass man nicht viel mehr von Peggy-Lee erkennen konnte als die Beatmungsmaske über Nase und Mund. Linnea dachte plötzlich, dass sie ziemlich unbequem liegen musste, obwohl das in Anbetracht ihres Allgemeinzustands eher nebensächlich war. Die Trage war mit einer Vakuummatratze versehen, die den Patienten bestmöglich stabilisierte. Soweit Linnea aber erkennen konnte, schien die Matratze nicht optimal an Peggy-Lee angepasst worden zu sein, doch das hatte der Arzt bestimmt im Blick.
Sie ging in Richtung des Eingangs und drehte sich noch einmal um. Wo war der besagte Arzt eigentlich geblieben?
»Warten Sie mal!«, rief sie den beiden Sanitätern zu, die mit der Trage vor dem Aufzug warteten.
»Wollen Sie mitfahren?«, fragte der Sanitäter, als Linnea sie erreichte.
Er lächelte und machte aus Spaß eine einladende Geste.
»Sind Sie sicher, dass Sie die Richtige mitgenommen haben?«, sagte Linnea und zeigte auf die Trage.
Dann riss sie hastig die Beatmungsmaske herunter.
»He, was machen Sie denn da?«, rief der Sanitäter. »Sind Sie völlig durchgedreht?«
Linnea stand mit der Maske in der Hand da und blickte auf die Trage herunter. Die beiden Sanitäter mussten dasselbe gedacht haben wie sie, als sie aus dem Wagen gesprungen waren: dass der Anästhesist schneller gewesen und bereits in die Notaufnahme gerannt war, um alles vorzubereiten. Doch weit gefehlt.
Das entblößte Gesicht war nicht das der schwerverletzten Patientin, sondern das des Anästhesisten. Und seine schläfrigen Augen deuteten auf den Einsatz eines Beruhigungsmittels in großzügigen Dosen hin.
»Verdammter Mist! Ist sie etwa abgehauen?«
»Unmöglich, sie war doch völlig geschwächt nach dem Blutverlust. Man hatte ihr ein Messer in die Seite gerammt.«
Linnea sah sich in alle Richtungen um, während die beiden Sanitäter versuchten, wieder etwas mehr Leben in den Mann auf der Trage zu bringen. Doch sie konnte nirgends etwas entdecken. An beiden Seiten befanden sich Eingänge zu den anderen Abteilungen der Klinik, neben der Rampe parkten Fahrräder, und überall waren Menschen, die das Gebäude betraten oder verließen. Nichts war also leichter, als hier zu entkommen. Und trotzdem hatte Linnea irgendwie das Gefühl, dass Peggy-Lee nicht in der Menge untergetaucht war. So schnell konnte sie gar nicht abgehauen sein. Es war an sich schon beeindruckend, dass es ihr irgendwie gelungen war, sich aufzurappeln. Obwohl sie ihre Schwäche anscheinend zu einem gewissen Grad nur gespielt hatte, musste sie dennoch ungewöhnlich robust sein, um diese Anstrengung mit ihren Verletzungen zu bewältigen. Und nicht zuletzt würde sie mit ihrer zerrissenen Kleidung und ihrem Verband um die große Bauchwunde Aufmerksamkeit erregen.
»Jetzt rufen Sie doch endlich die Polizei!«, rief Linnea den Sanitätern zu. »Uns ist eine professionelle Killerin entkommen.«
59
Als der Sanitäter endlich sein Handy in die Hand nahm, ging Linnea die Rampe entlang. Sie war lediglich von einem Drahtzaun abgegrenzt, der nur ein leichtes Hindernis darstellte, und dahinter lag der Fælledpark. Am Abend kamen noch viele Leute hierher, die sich mit ihren Einweggrills und Bierdosen überall auf den großen Rasenflächen niederließen. Der Park wäre jedenfalls der Ort, an dem Linnea selbst am ehesten Unterschlupf suchen würde, um in der Menge unterzutauchen. Mit dem auffälligen Verband würde das für die Killerin jedoch schwierig werden.
Einer Eingebung folgend, ging sie stattdessen zurück zum Rettungswagen, dessen eine Tür immer noch weit offenstand. Sie kletterte hinein. Die Flasche mit dem Lachgas lehnte direkt neben der Tür, und etwas weiter hinten stand der offene Behandlungskoffer, in dem die Kompressionsverbände ganz oben lagen. Daran hatte garantiert reichlich Bedarf bestanden. Aber das war es nicht, was sie dazu veranlasste, noch tiefer in den Rettungswagen hineinzugehen.
Sie duckte sich, um unter den Regalen und Schränken mit Wiederbelebungsausrüstung und Defibrillatoren hindurchzugehen. Ganz hinten lag eine graue, nicht ordentlich zusammengelegte Decke auf dem Boden, so als wäre sie auf den Boden gezogen worden, um etwas zu verbergen.
»Oder jemanden«, murmelte Linnea vor sich hin.
Sie drehte sich um, um den Wagen wieder zu verlassen. Es war schwierig zu sagen, wohin Peggy-Lee verschwunden war. Aber alles deutete darauf hin, dass sie irgendwann während der Fahrt den Anästhesisten überwältigt und auf die Trage gelegt hatte, nachdem sie ihn ruhiggestellt hatte. Mit einer gewaltigen Dosis Schmerzmittel, von dem es hier genug geben musste. Und anschließend hatte sie sich unter der Decke versteckt, während die nichtsahnenden Sanitäter ihren Kollegen aus dem Wagen gehoben und ihn davongeschoben hatten. Dann musste sie aus dem Rettungswagen gesprungen und spurlos verschwunden sein.
Linnea kramte mit der einen Hand in der Tasche nach ihrem Handy und versuchte mit der anderen, den Sanitäter herbeizuwinken. Sie wollte ihn gerade rufen, als sie von hinten einen Stoß versetzt bekam.
Sie fiel mit dem Kopf gegen die Innenwand des Krankenwagens und stöhnte auf, als ihr ohnehin schon schmerzender Kopf auf dem Seitenfenster aufschlug.
Sie wurde noch einmal gestoßen und sank unter dem Schmerz der Kopfwunde, die erneut aufgeplatzt war, zusammen.
Als sie nach dem Lachgas greifen wollte, um sich zu wehren, sah sie ihre Angreiferin.
»Diese Sache geht dich nichts an.«
Es war Peggy-Lee, die sie auf Amerikanisch anfauchte. Sie trug die gelbe Jacke des Anästhesisten und hatte ein Skalpell in der Hand, das sie nun unter Linneas Kinn hielt. Sie starrte ihr direkt in die Augen.
Linneas Pupillen weiteten sich, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie spürte das Skalpell an derselben Stelle auf ihrer Haut wie nur wenige Stunden zuvor das Messer. Peggy-Lee musste genau in dem Moment versucht haben, den Rettungswagen zu verlassen, als Linnea dort hineingeklettert war. Sie hatte zusammengekauert in der rechten Ecke unter den Schränken gehockt, wohl wissend, dass es nur eine Frage von Sekunden war, bis Linnea sie entdecken würde.
Peggy-Lee streckte nun ihre andere Hand aus, in der sie eine Kompressionsbinde hielt. Sie öffnete weit ihren Mund, um Linnea zu bedeuten, dasselbe zu tun, und stopfte ihr dann die Binde tief hinein. Erneut fixierte Peggy-Lee Linneas Augen. Linnea hatte das Gefühl, in einen endlosen schwarzen Abgrund zu schauen.
Dann krabbelte sie auf allen vieren aus dem Rettungswagen und warf von außen die Tür zu.
Linnea riss sich sofort die Kompressionsbinde aus dem Mund. Sie spuckte zornig aus, rannte zur Tür und zerrte sie auf.
»Sie ist geflüchtet!«, rief sie den beiden Sanitätern zu.
Die beiden starrten sie nur verständnislos an. Natürlich hatten sie von alledem nichts mitbekommen. Erst als Linnea dasselbe noch einmal rief, kam endlich Bewegung in die Männer. Erschöpft setzte sich Linnea auf den Boden des Rettungswagens, und die Anspannung nach den Anstrengungen und dem Schock fiel von ihr ab. Langsam rappelte sie sich wieder auf und stieg aus dem Wagen. Sie glaubte nicht daran, dass es ihnen gelingen würde, Peggy-Lee zu fangen. Diese Frau war nicht nur professionell, sondern auch derart willensstark und kaltblütig, dass sie anscheinend immer und überall entkam und überlebte.
Linnea holte ihr Handy hervor und scrollte nach Thors Nummer. Aber im selben Moment kam ein Anruf. Sie nahm ihn an, noch ehe das Telefon geklingelt hatte.
»Das ging ja schnell«, meinte Thor.
»Ich konnte sehen, dass du es warst.«
»Hat man dir schon von Alexandra Neergaard erzählt?«
Linnea verneinte und ging weiter zum Zaun vor dem Fælledpark.
»Sie ist gestorben, kaum dass sie im Krankenhaus eingetroffen ist. Die Ärzte sagen, es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch so lange gelebt hat. Bist du noch da?«
Aber Linnea antwortete nicht. Das musste warten. Alles konnte warten. Sie konnte nur noch in die Ferne starren, zu den vielen Menschen drüben im Park, ohne sie richtig wahrzunehmen. Direkt auf der anderen Seite des Zauns genossen die Menschen den Sommerabend und hatten Spaß – und schienen dennoch so weit weg.
60
Anschließend wusste Jonas nicht mehr, wie er Firaz gequält hatte, was er eigentlich genau getan hatte. Aber er erinnerte sich noch an die Schreie des Dolmetschers und an seine eigene Blutrünstigkeit, die er nie zuvor so stark erlebt hatte wie in jenem Moment, als sie vor dem Erdloch standen, aus dem er und Lex in größter Eile die Waren ausgegraben hatten. Und er erinnerte sich an Firaz’ Gesicht, als er endlich unter dem Druck zusammenbrach und mit blutigen Lippen einen Namen flüsterte.
Lex sah auf seinem Handy nach und nickte Jonas zu. Und dann kam der Augenblick, den Jonas in Gedanken immer wieder durchlebte, der Augenblick, wo er diesem kleinen Schurken eine letzte Demütigung verpassen wollte – ihn dazu bringen wollte, sich vor Schreck in die Hosen zu machen, so wie der Junge in Basra, nachdem Firaz ihn denunziert hatte. Ihn so sehr zu brechen, dass er es nie wieder wagen würde, sie zu belästigen.
Jonas riss den Kopf des Dolmetschers an den Haaren nach oben. Er sah ihm tief in die Augen und drückte die Pistole an seine Schläfe.
»Say good bye, Firaz, my man.«
Firaz’ dunkle Augen wurden vollkommen schwarz vor Angst.
Jonas blickte hinein und drückte den Abzug.
Auf der Fahrt nach Hause starrte Jonas wie betäubt aus dem Seitenfenster. Lex saß am Steuer.
»Aber Jonas, tief in deinem Inneren wusstest du doch schon, dass die Pistole geladen war, oder?«
Er spürte, wie die Mischung aus Schweiß, Erde und Blut in seinem Gesicht allmählich trocknete. Noch immer füllte der beißende Geschmack von Magensäure seine ganze Mundhöhle aus. Er hatte sich so lange übergeben, bis nur noch Galle übrig war.
»Was hattest du dir auch vorgestellt? Dass wir einfach so sein Geschäft übernehmen, ihm ein paar Schläge verpassen und dann nie wieder etwas von ihm hören? Wir hatten doch gar keine andere Wahl.«
Lex streckte den Arm aus, um ihm über den Kopf zu streicheln. Doch Jonas rückte von ihr weg, starrte immer gebannter auf die Bäume am Straßenrand, an denen sie vorbeirauschten.
»Nur ich hatte keine Wahl«, sagte er leise.