37
Es war das erste Mal, dass Linnea vom Anblick einer Leiche übel wurde. Nicht mal im Studium war ihr das passiert. Von Anfang an war sie fasziniert gewesen von der Wissenschaft, die sie sich ausgesucht hatte.
Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie gemeinsam mit ihrer Seminargruppe bei der ersten Identifizierung im Labor zusehen durfte. Im Studium wurde in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Santa Clara County Medical Examiner’s Office ein Programm angeboten, das angewandte humane Osteologie mit konkreten Rechtsfällen und Ermittlungen verband. Dabei handelte es sich vor allem um Fälle nicht identifizierter Leichen. Die Regale im Labor waren voller Pappkartons, die Skelette von Menschen enthielten, die niemand vermisste und deren Identität noch immer unbekannt war. Männer in Schutzanzügen waren damit beschäftigt, unter einer Dunstabzugshaube das Fleisch von den Knochen zu entfernen, und in einer Ecke stand eine Kaffeemaschine und blubberte vor sich hin. Linnea hatte sofort das Gefühl gehabt, endlich einen Ort gefunden zu haben, an dem sie sich heimisch fühlte. Selbst als sie gebeten wurde, an einem Tisch zu helfen, an dem man gerade die Leiche einer Frau untersuchte, die mehrere Tage tot in ihrer Wohnung gelegen hatte, war ihr nicht schlecht geworden. Dabei hatte es so ausgesehen, als bewege sich der Mund der Frau. Als würde sie gerade etwas essen oder etwas sagen wollen. Einer der Laborangestellten hatte über Linnea gelacht, als sie sich näher zur Toten herabbeugt und entdeckt hatte, dass der Grund dafür Maden waren. Es waren so viele, dass sie im Mund um einen Platz kämpften, wodurch sich die Zunge der Toten bewegte.
Aber das hier war trotzdem etwas anderes.
»Kannst du sie nicht davon überzeugen, ihn freizugeben?«, war das Letzte, was Lex am Abend zuvor gesagt hatte. »Damit er beerdigt werden kann. Können sie denn nicht verstehen, dass ich ihn gern zurückhätte!«
Doch als Linnea die Leiche des Mannes ihrer Freundin nun erneut untersuchte, wusste sie, dass es nur einem überdurchschnittlich versierten Bestatter gelingen würde, die Leiche wieder halbwegs präsentabel aussehen zu lassen. Wie üblich war der Körper zu Beginn der Obduktion mit einem langen Schnitt, der vom Kinn bis zum Becken reichte, geöffnet worden. Das war die Aufgabe des Obduktionsgehilfen, der die Leiche anschließend mit groben Stichen wieder zusammengenäht hatte, nachdem man die Organe herausgenommen und obduziert und anschließend wieder in der Leiche platziert hatte. Aufgrund der Schusswunde am Kopf war auch die Kopfhaut durch einen Schnitt von einem Ohr zum anderen teilweise abgezogen worden. Die Blutungen auf und unter der Kopfhaut waren als Folge von stumpfer Gewalt häufig zu finden. Ebenso wie die Frakturlinien und Brüche, die durch die Einschuss- und Austrittsöffnungen verursacht worden waren und zum Glück relativ einfach kaschiert werden konnten.
Linnea hatte unzählige Leichen in verschiedenen Verwesungsstadien zu Gesicht bekommen. Jonas Holm Neergaards Leiche hatte sie bereits am Vortag kurz gesehen. Aber dass sie die Leiche heute einer dezidierten Untersuchung unterziehen musste, war etwas ganz anderes. Und obendrein war der Fall persönlich geworden. Erst gestern Abend noch hatte Lex ihr ein Foto nach dem anderen von diesem Mann gezeigt und ihr von der schönen Beziehung und ihrer gemeinsamen Geschichte erzählt. Er war nicht länger nur ein zufälliges Opfer oder ein Studienobjekt, von dem sie sich distanzieren konnte. Nun war sie auch »befangen«, wie es im Autorisationsgesetz hieß, und hatte daher kein Recht mehr, einen Untersuchungsbericht zu erstellen. Sie entschuldigte es vor sich selbst damit, dass sie trotz allem nicht die reguläre rechtsmedizinische Untersuchung durchgeführt hatte.
Linnea wandte sich dem Computer zu, der neben dem Waschbecken an der Wand stand, und studierte zunächst das etwas abstraktere und dadurch weniger intime CT-Scanning, das die Kollegen am Tag zuvor gemacht hatten. Diese Computertomographie war eine Art Röntgenbild, die einen Querschnitt der Leiche zeigte. Man führte sie vor der Obduktion der Leiche durch. Sie offenbarte eine Menge Details, die sich mit dem bloßen Auge nicht erkennen ließen. Beispielsweise hatte man anfangs angenommen, Neergaard sei von einem Nackenschuss getroffen worden. Bei einem aufgesetzten Schuss wären allerdings deutliche Schmauchspuren auf der Haut zu sehen gewesen. Und selbst bei einer größeren Schussdistanz wären die Spuren zwar nicht vorhanden, aber die Austrittsöffnung hätte größer sein müssen als das Einschussloch und außerdem an den Rändern aufgerissen. Erst nach dem CT und der anschließenden Obduktion hatte der genaue Hergang festgestanden. Es wurde deutlich, dass es sich in Wirklichkeit um einen aufgesetzten Kopfschuss handelte, bei dem die Kugel oben in den Schädel eingetreten war und den Körper durch den Nacken wieder verlassen hatte. Wie Linnea bereits wusste, war es keine Seltenheit, dass Einschusslöcher aufgrund der Todesstarre nur äußerst schwierig zu entdecken waren. Wenn man starb, erstarrten die Muskeln, und die vielen verschiedenen Schichten, die die Oberfläche des Körpers ausmachen, verschoben sich untereinander. Dadurch konnte das Loch eines Projektils schon nach wenigen Stunden sehr klein und oberflächlich aussehen. Zudem war die Haut so elastisch, dass ein Einschussloch wesentlich kleiner erscheinen konnte als das eingeschlagene Projektil.
»Wie wäre es mit einem Eistee?«, fragte Thor, der den Kopf zur Tür hereingestreckt hatte.
»Großartig, gern!«
Linnea nahm die Gelegenheit zu einer Pause dankend an. Sie streifte die Gummihandschuhe ab und die Maske vom Gesicht und trat auf den Flur hinaus.
»Na, hast du etwas Neues entdeckt?«
»Das kann man wohl sagen.«
*
An seinem Mittagessen war an sich nichts auszusetzen gewesen: zur Vorspeise Austern, Fines de Claire, und anschließend ein zartes Cochon-Duroc-Filet. Allerdings war der teuerste Grand Cru auf der Weinkarte ein Chambertain Domaine Leroy von 2001. Und wenn dies nicht schon die Provinzialität des Restaurants enthüllte, dann tat es spätestens der überzogene Preis von 12.000 Kronen. Für diese Summe hätte es mindestens ein 2002er sein müssen. Kevin Love freute sich darauf, dass er Kopenhagen spätestens in ein paar Tagen den Rücken kehren konnte.
Nachdem er das Le Sommelier in der Bredgade verlassen hatte, machte er sich auf den Weg ins Auktionshaus Ellemose. Sein Kontakt in Kopenhagen hatte bereits einen Teil der Vorarbeit erledigt und mehr als angedeutet, dass Love in den letzten Jahren um ziemlich viel Geld betrogen worden war. Zwar hatte er die ganze Zeit seine zwanzig Prozent Beteiligung an den Einnahmen von den großen Verkäufen in Skandinavien erhalten. Aber jetzt, da er sich entschieden hatte, das Geschäft abzuwickeln, hatte er eine abschließende Revision durchgeführt und war dabei zu äußerst überraschenden Ergebnissen gekommen. Zum einen waren bei Sotheby’s in London ziemlich viele antike Kunstschätze verkauft worden. Außerdem gingen Gerüchte um, dass der Verkäufer Däne sei. Love selbst hatte einen weiteren Teil der entsprechenden Ware im Katalog vom Auktionshaus Ellemose in Dänemark entdeckt. Vermutlich hoffte man, dass er es hier nicht bemerken würde. Die Sachen mussten aus ein und derselben Quelle stammen, was bedeutete, dass es eine Menge Verkäufe gab, über die er nie informiert worden war. Und an deren Ertrag er folglich auch nie beteiligt worden war. Er spürte eine zunehmende Genugtuung darüber, wie er seine Zusammenarbeit mit Neergaard beendet hatte.
Kevin Love betrat das Auktionshaus und sah sich routinemäßig im Raum um. Hinter der Theke stand ein junges Mädchen mit blondiertem Haar an einem Computer bereit, um eventuellen Bietern behilflich zu sein. Dieses junge Ding zu manipulieren wäre fast zu einfach. Mangelnde Herausforderungen bereiteten ihm keine Freude. Andererseits hatte er natürlich auch Wichtigeres zu tun, als hier seine Zeit zu vergeuden. Man hatte ihn übers Ohr gehauen, daran bestand kein Zweifel. Doch die Frage war, wie sehr Neergaard daran beteiligt gewesen war und ob er alleine war oder einen Mitspieler hatte. Dass er überhaupt noch am Leben war, hatte Kevin Love nur seinem ewigen Motto zu verdanken: Ein Mal ist ein Zufall, zwei Male sind ein Zusammenhang und drei eine Verschwörung. Wie auch immer, das Mädchen hier würde ihm garantiert alles ausspucken, was er wissen musste.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Sie könnten damit anfangen, mir eine Adresse herauszusuchen.«
Kevin Love lächelte die junge Frau an.
»Und danach habe ich sicher noch ein paar weitere Fragen, bei deren Beantwortung Sie mir bestimmt ebenfalls gerne behilflich sein werden.«
38
Mein erster Gedanke war natürlich, dass ihn der Täter erst ermordet hat und anschließend zurückgekehrt ist, um die Leiche weiterzuverstümmeln.«
»So ähnlich deutet es auch Nikolajsen in seinem Bericht an. Aber warum? Ich könnte verstehen, wenn es sich um einen symbolischen Akt handelt, um irgendetwas auszudrücken. Aber dies ist ja etwas, was wir erst bei einer näheren Untersuchung herausgefunden haben.«
Linnea nickte eifrig. Thor hatte sie gebeten, die Leiche von Jonas Holm Neergaard noch einmal zu untersuchen. Denn es gab noch immer offene Fragen, darunter die merkwürdigen Frakturen, für die nicht einmal Svend-Erik Nikolajsens ausführliche Obduktion eine zufriedenstellende Erklärung gefunden hatte. Er war ein hervorragender Rechtsmediziner, aber eben kein forensischer Anthropologe. Deshalb hatte Thor über die offiziellen Kanäle Linnea angefragt, damit sie den Leichnam noch einmal untersuchte.
»Genau das ist es«, antwortete sie. »Irgendwas passt nicht. Deshalb habe ich mir die CT-Scans noch einmal gründlich angesehen. Und ich habe eine Theorie, was passiert sein könnte. Der wichtigste Ausgangspunkt ist natürlich, dass die Frakturen post mortem zugefügt wurden.«
Thor stellte seinen halbleeren Becher beiseite, und sie gingen noch einmal in den Obduktionssaal. Obwohl es eine forensisch-anthropologische Untersuchung war, fand sie am Rechtsmedizinischen Institut statt. Drüben am Panum gab es nämlich kein Lüftungssystem, was eine Voraussetzung für den Umgang mit noch nicht skelettierten Leichen war. Sie warf Thor einen Kittel und eine Mundbinde zu, und er fügte sich in die neue Rolle als Pathologe ein. Auf dem Computer zeigte Linnea ihm die Scans. Sie scrollte nach unten, bis sie die richtigen Bildausschnitte und Vergrößerungen fand, die sie zuvor erstellt hatte.
»Wie du hier erkennen kannst, hat er Frakturen auf beiden Seiten. Jemand muss ganz einfach die Handgelenke gepackt und so kraftvoll nach hinten gebogen haben, dass sie gebrochen sind. Eine ähnliche Fraktur findet sich am rechten Fuß, und außerdem wurden auch zwei Rippen gebrochen. Das entspricht ziemlich genau den Symptomen, die man nach einer typischen Schlägerei oder brutalen Bestrafung vorfindet.«
»Sieht man mal davon ab, dass dieses Opfer bereits tot war, als es geschah.«
»Ganz genau. Und das war es auch, was mich dazu veranlasst hat, es noch einmal genau zu untersuchen.«
Sie dirigierte Thor zurück an den Tisch. Nach den vielen Stunden Arbeit an der Leiche war sie wieder in der Lage, eine professionelle Distanz einzunehmen und zu ignorieren, dass hier der Mann ihrer Freundin auf dem Stahltisch vor ihr lag. Sie nahm die rechte Hand der Leiche hoch und zeigte sie Thor.
»Wonach schaut man als Erstes, wenn man das Opfer eines Gewaltverbrechens untersucht?«
»Was sich unter den Nägeln versteckt.«
»Genau. Hier können sich Hautreste und anderes verbergen, wenn das Opfer versucht hat, den Angriff abzuwehren. Und wie du siehst, sind die Nägel fast sauber. Und das brachte mich auch auf die Idee, dass diese Verletzungen zwar wie die Folgen einer brutalen Schlägerei aussehen, er sich aber nicht groß gewehrt hat. Der Kampf hat mit anderen Worten nicht nur vor, sondern vor allem nach dem Tod stattgefunden.«
Sie zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich stelle mir das mögliche Szenario so vor: Wir haben zwei Personen und zwei Tatorte. Er wurde ein Stück von seinem Fundort entfernt erschossen, und zwar aus großer Distanz, mit einem Gewehr. Anschließend ist er an den Ort geflüchtet, wo er gefunden wurde. Der Mörder ist ihm gefolgt. Und dann muss der tödliche Schuss gefallen sein, aus nächster Nähe, mit einer Pistole. All das kannst du im Obduktionsbericht nachlesen. Die Analyse der Schussverletzungen und die Schmauchspuren sprechen für sich. Falls ihr die Tatwaffe findet, wird der Lauf vermutlich Spuren von Blut und Gewebe aufweisen, so dass man sie leicht identifizieren kann.«
Sie blickte Thor kurz an und setzte ihre Ausführungen fort: »Wenn ich mich nicht völlig irre, ist der andere Schuss gefallen, als sie miteinander gekämpft haben. Ich stelle mir das ganz konkret so vor, als hätten sie sich dabei umklammert. Du weißt schon, in einer Art Ringerstellung. Und dann muss es dem Mörder gelungen sein, seinem Opfer die Pistole an den Kopf zu setzen und es zu erschießen.«
»Und er war auf der Stelle tot.«
»Daran besteht kein Zweifel. Aber hier kommt das eigentlich Interessante: Anschließend muss das Opfer über den Täter gefallen sein, der wiederum unter dem Gewicht zu Boden ging. Vermutlich suchst du also eine Person, die viel schmächtiger gebaut ist als Neergaard. Es ist garantiert nicht schön, wenn dieser Mann auf einen fällt und man selbst klein und schmächtig ist und noch dazu erschöpft von einem erbitterten Kampf.«
»Aber wie lassen sich dann die gebrochenen Handgelenke erklären?«
»Ich glaube, dass der Täter unter dem Toten gefangen lag. Denk nur mal an die große Menge Blut am Tatort. Der Täter wurde bei dem Kampf wahrscheinlich auch angeschossen und hat viel Blut verloren. Vielleicht hat er aus diesem Grund sogar das Bewusstsein verloren und ist erst viel später wieder zu sich gekommen. Und zu diesem Zeitpunkt hatte die Totenstarre bereits eingesetzt.«
Thor runzelte die Stirn.
»Du meinst, der Mörder lag unter dem Toten gefangen und musste ihm die Handgelenke brechen, um sich zu befreien? Das klingt ziemlich phantastisch.«
Linnea zuckte mit den Schultern.
»Die Todesstarre ist leicht zu lösen, aber es bedarf enormer Kräfte, um einen Knochen zu brechen. Aber das ist vermutlich die einzige realistische Erklärung für die Frakturen. Und wenn du sie akzeptierst, weißt du jetzt zwei weitere Dinge über deinen Mörder. Das eine ist, dass der Betreffende überaus kaltblütig ist, denn es erfordert ziemlich gute Nerven, aus so einer Situation herauszukommen. Stell dir nur mal vor, du wachst unter einem toten Mann auf, der dich im Schwitzkasten hat!«
»Und das andere?«
»Ist das nicht offensichtlich? Bei allem, was ich gegen Chauvinismus und allgemeine Vorteile habe, bin ich bei einer so kleinen und schmächtigen Person doch nicht im Zweifel. Du suchst nach einer Frau.«
*
»Mein Beileid. Darf ich hereinkommen?«
Die Frau zögerte, und er konnte ihr ansehen, dass sie ihm am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. Aber dann öffnete sie die Tür doch ganz, und Kevin Love durfte eintreten. Dabei hielt er ihr diskret einen Blumenstrauß hin, denn es war immerhin ein Kondolenzbesuch.
»Wir können uns in den Garten setzen. Einen Drink?«
Er nickte Alexandra Neergaard ruhig zu und sah sie in der Küche verschwinden, nachdem sie ihm den Weg auf die große Terrasse gezeigt hatte. Er ahnte, dass es ihr in erster Linie darum ging, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Ihn daran zu hindern, im Haus herumzuschnüffeln. Aber das war zu erwarten gewesen. Dagegen erstaunte es ihn, dass sein verstorbener Geschäftspartner mit einer solchen Frau verheiratet gewesen war. Sie sah akzeptabel aus, besonders von hinten, da ihr Hüftschwung ein wenig auffälliger als diskret war. Aber in erster Linie war er sofort von ihren Augen gefesselt gewesen. Und ihm war sofort klargeworden, dass sie nicht das unschuldige Frauchen war, das von den Geschäften des Mannes nichts ahnte. Vielleicht sogar ganz im Gegenteil.
Auf dem Weg durch das Wohnzimmer ging ihm auf, dass dies eine interessante Herausforderung werden könnte. Er war froh, dass die kleine Garrotte in seiner Hosentasche bereitlag, und seine Finger wanderten immer wieder zu der Schnur und dem kleinen Holzstock. Er betrachtete Alexandra Neergaard mit großem Interesse, als sie wieder zu ihm auf die Terrasse kam. Sie tat es ihm gleich. Er zweifelte nicht daran, dass sie genau dasselbe überlegte wie er: ob es nicht leichter und einfacher wäre, sich des Gegenspielers hier und jetzt zu entledigen. Aber er war sich bei ihr nicht sicher, ob sie im Ernstfall tatsächlich kaltblütig genug wäre.
»Ihr Mann und ich haben lange eine gute Zusammenarbeit zur gegenseitigen Zufriedenheit gepflegt.«
»Ich weiß, und ich habe mir gedacht, dass sie an dieser Stelle nicht zu enden braucht.«
Alexandra Neergaard ließ sich neben Love auf der Holzbank nieder, so dass sie sehr nahe beieinander sitzen würden, wenn er nicht wegrückte. Doch er blieb sitzen und registrierte mit Begeisterung, dass sie mit ihm flirtete. Innerhalb von Sekunden hatte sie von mörderischer Kaltblütigkeit auf verführerische Unterwerfung umgeschaltet. Und er wusste genau, dass es diesmal nicht an seinem Überzeugungsvermögen lag. Er wusste, dass ihr völlig klar war, was er hier bei ihr in Virum suchte, und auch, welche Rolle er beim Tod ihres Mannes gespielt hatte. Nichtsdestotrotz saß sie hier und machte ihm schöne Augen; sie war schnell darin, sich mit den neuen Machtverhältnissen in ihrem Spiel zu identifizieren. Er war gekommen, um sich zu vergewissern, dass alle Spuren des gemeinsamen Geschäfts beseitigt waren. Jetzt musste er zu seiner großen Überraschung erkennen, dass er in Wirklichkeit mit jemand ganz anderem zusammengearbeitet hatte, als er gedacht hatte. Diese Frau war seine Geschäftspartnerin gewesen, und zwar viel mehr als nur ein »stiller Teilhaber«, wie es so schön hieß.
Sie sah zu ihm auf.
»Wir haben so ein gutes Netzwerk aufgebaut. Es wäre eine Schande, wenn das alles zusammen mit Jonas verschwinden würde. Haben Sie jemals in Betracht gezogen, eine andere Partnerin in das Geschäft einzubinden?«
Sie setzte sich zurecht, und Kevin Love wahrte noch immer sein neutrales Gesicht.
»Aber ich möchte auch etwas davon haben. Jonas hat oft davon gesprochen, dass der Ertrag vielleicht ein wenig anders verteilt werden müsste. Denn immerhin tragen wir ja das ganze Risiko.«
Er sah die ehrgeizige Frau an, ohne eine Miene zu verziehen, dabei amüsierte es ihn.
»Meinerseits besteht kein Bedarf an einer Diskussion, wer das größte Risiko trägt. Die Bedingungen haben wir längst geklärt«, sagte er dann.
39
Dir ist schon bewusst, dass wir eine psychisch labile Person grob verunglimpfen, wenn sie nichts mit der Sache zu tun hat?«
»Doch, das hat er, und ich weiß es.«
Daniel Kraus nickte langsam und trank einen Schluck Kaffee. Dann reichte er die andere Tasse Thor, der sie entgegennahm, obwohl er nicht die Absicht hatte, noch mehr von dem braunen Gebräu zu trinken.
»Oder bist du etwa anderer Meinung? Die drei Männer sind in den Fall aus dem Camp Dannevang verwickelt. Ein irakischer Dolmetscher und zwei dänische Offiziere, des Weiteren vier mündige Soldaten, die lediglich verschwommene Zeugenaussagen abgeben. Der Dolmetscher und einer der Offiziere wurden ermordet aufgefunden. Zwar liegen zwischen den beiden Todesfällen eineinhalb Jahre, aber wir finden die Leichen in ein- und derselben Woche. Und der andere Offizier von damals sitzt dort drinnen und will nichts sagen.«
»Und das Wenige, was er gesagt hat, war ganz offensichtlich gelogen.«
Thor nickte. Bisher war das Verhör ziemlich unbefriedigend verlaufen. Wenn der frühere Hauptmann Uffe Overbye Jakobsen überhaupt etwas gesagt hatte, hatte er lediglich bereits feststehende Tatsachen geleugnet. Er hatte bestritten, dass man ihn beschuldigt hatte, seinerzeit im Irak an der Folterung von Gefangenen teilgenommen zu haben. Außerdem behauptete er, den ermordeten Jonas Holm Neergaard nicht näher zu kennen, und weigerte sich zuzugeben, dass er seit seiner Rückkehr vom letzten Einsatz in psychologischer Behandlung war. Er wollte schlichtweg nichts erzählen, nicht einmal, als sie ihm Dokumente gezeigt hatten. Allerdings konnte man schwer beurteilen, ob das verdächtige Verhalten des Mannes tatsächlich damit zu erklären war, dass er etwas zu verbergen hatte und sehr genau wusste, dass es oft am besten war, zu schweigen.
Thor und Daniel Kraus hatten Uffe Overbye am Vormittag unangemeldet aufgesucht. Sie wollten mit ihm über seine Zeit im Irak sprechen, in der er und ein Verhöroffizier eng mit Neergaard zusammengearbeitet hatten. Während sie noch auf das Ergebnis der DNA-Analyse warteten, war es am aussichtsreichsten, sich zunächst im persönlichen Umfeld des Verstorbenen umzuhören. Doch das ging gehörig schief, oder verlief zumindest anders als erwartet.
Uffe Overbye hatte ihnen selbst die Tür geöffnet, in kurzen Hosen und einem legeren Sommerhemd. Er hatte sich sofort geweigert, sie zu einem Gespräch ins Haus zu lassen, und stur darauf beharrt, nichts sagen zu wollen. Er wusste genau, dass er der Polizei lediglich seinen Namen und sein Geburtsdatum nennen musste, solange er nicht als Tatverdächtiger verhaftet worden war. Fast schien es, als hätte er sich in dieser Angelegenheit rechtlich beraten lassen. Als er dann auch die Tür zuschlagen wollte, schob Thor seinen Fuß dazwischen.
»Können wir nicht kurz hereinkommen und uns ein wenig umsehen? Ein Anruf, und ich habe einen Durchsuchungsbefehl. Nicht, dass Sie irgendwelche Waffen oder andere Dinge bei sich herumliegen haben, zu deren Besitz Sie gar nicht befugt sind?«
Daraufhin hatte Uffe Overbye die Tür hinter sich geschlossen und war mit ihnen gekommen.
»Wie konntest du das wissen?«, hatte Kraus ihm auf dem Weg zum Wagen zugeflüstert.
»Nicht schwer zu erraten, das haben die doch alle.«
Anschließend hatten sie allerdings nicht mehr viel aus ihm herausbekommen. Er war insofern kooperativ, als er zum Politigården mitkam und während des ganzen Gesprächs brav sitzen blieb. Dass er kooperierte, konnte man nicht gerade behaupten.
»Wenn er nichts sagt, müssen wir ihn wieder laufen lassen. Wir können ihn nicht festnehmen und ihn die üblichen vierundzwanzig Stunden hierbehalten. Nicht, wenn wir nichts gegen ihnen vorzuweisen haben, und schon gar nicht, wenn er in einem solch labilen Zustand ist.«
Thor nickte. Wie immer war Kraus in der Lage, die Dinge vernünftig und wohlüberlegt zu analysieren, obwohl auch er einen Durchbruch haben wollte.
»Ganz deiner Meinung. Und wir hätten sofort eine Klage wegen unverantwortlicher Behandlung eines psychisch Kranken am Hals, kaum, dass wir ihn haben laufen lassen. Er benimmt sich jedenfalls wie einer, der unter einem Granatenschock leidet, oder wie auch immer die Psychologen das nennen. Aber wir sollten ihm eine letzte Chance geben, uns etwas zu erzählen. Wie gut kennst du dich mit kognitiven Befragungsmethoden aus?«
Statt einer Antwort hielt Kraus die Hand hoch und zeigte mit dem Zeigefinger und dem Daumen einen Abstand von etwa einem halben Zentimeter an.
»In Schweden hat man damit schon phantastische Ergebnisse erzielt. Du weißt schon, außer bei pathologischen Lügnern oder denjenigen, die gründlich von ihren Anwälten geschult wurden, geht es niemals darum, ob ein Verdächtiger anfängt zu reden, sondern nur, wann er es tut.«
Kraus blickte ihn noch immer verständnislos an.
»Es ist die Aufgabe des Verhörleiters, den Verdächtigen glauben zu lassen, er wisse, dass er der Täter sei, und zwischendurch anzudeuten, woher er es weiß. Aber man erzählt nie direkt alles, was man weiß, und man fragt nie direkt nach etwas.«
Kraus hob die Augenbrauen und tat übertrieben beeindruckt. Dann leerte er seine Kaffeetasse und stand auf.
»Vielen Dank für den Vortrag. Dann lass uns mal loslegen.«
*
»Sie interessieren sich für antike Gegenstände?«
Linnea wandte sich dem jungen Mann zu, der trotz der Hitze Anzug und Hemd trug. Allerdings keine Krawatte, was vermutlich ein kleines Zugeständnis an die hohen Temperaturen war.
»Ja, vor allem für Dinge aus dem Nahen Osten. Ich habe in Ihren Katalogen im Internet gesehen, dass Sie einiges davon verkauft haben. Aber zurzeit scheinen Sie nichts im Angebot zu haben?«, erwiderte Linnea.
Sie folgte ihm zum Tresen neben dem Eingang, wo er sofort etwas in seinen Computer eingab. Auf dem Weg vom Rechtsmedizinischen Institut nach Hause war Linnea zum Auktionshaus Ellemose in der Bredgade gegangen. Die Räume hatten hohe Decken, die Wände waren voller Gemälde. Ringsherum standen Vitrinen mit Schmuck und Antiquitäten, die man vor den anstehenden Auktionen in Augenschein nehmen konnte. Hier gab es Kunst von einem Kaliber, wie man sie normalerweise nur im Museum fand. Kaum zu fassen, dass sich all dies tatsächlich in Privatbesitz befand und nur für kurze Zeit von der Öffentlichkeit bestaunt werden durfte, ehe es für sechsstellige Summen unter den Hammer kam.
Die Idee, hierherzukommen und ein wenig zu recherchieren, war Linnea zufällig gekommen. Die Entscheidung, selbst etwas unternehmen zu müssen, war hingegen schon seit dem Abend zuvor in ihrem Kopf gereift. Obwohl das nicht gerechtfertigt war, hatte sie ein schlechtes Gewissen gegenüber Lex. Es fühlte sich nicht richtig an, dass sie die Leiche von Jonas Holm Neergaard erst untersucht und noch dazu ein zweites Mal obduziert hatte. Zu einem Zeitpunkt, als die Freundin vom Tod ihres Mannes schwer getroffen war und obendrein darum bettelte, ihn endlich beerdigen zu dürfen. Sie empfand sich selbst als Verräterin, und sie hatte ein Bedürfnis danach, etwas wiedergutzumachen und zu helfen. Als sie Thor am Vormittag ihre Ergebnisse vorgetragen hatte, hatte sie ihm auch von der Tontafel erzählt und dass diese vermutlich ein Souvenir aus dem Irak sei. Er hatte dem Ganzen jedoch keine größere Bedeutung beigemessen. Er verfolgte bereits eine vielversprechende Spur. Ihm zufolge hatte der Fall seinen Ursprung wahrscheinlich in einer Verschwörung unter einer Gruppe früherer Soldaten im Irak, die in einen Folterskandal verwickelt waren, den man unter den Teppich gekehrt hatte. Dass auch der tote Iraker ein Souvenir aus seiner Heimat mit nach Dänemark gebracht hatte, sei doch nicht verwunderlich, meinte er.
»Aber warum lag es in seinem Grab?«
Darauf hatte Thor auch keine Antwort gewusst. Mit Sicherheit, so erklärte er, gebe es aber eine Verbindung zwischen den beiden Morden. Linnea war der Meinung, dass sie auch Nachforschungen über die Tontafel anstellen müssten. Sie weigerte sich, an die Erklärung zu glauben, dass Jonas nur wegen eines heimlichen Folterskandals ermordet worden war. Lex hatte ihr alles über den alten Fall erzählt und berichtet, dass Jonas damals in allen Anklagepunkten freigesprochen worden sei. Dadurch fiel es ihr schwer zu glauben, er wäre ermordet worden, weil er geheimes Wissen über den Skandal besaß. Falls Jonas sich tatsächlich etwas hatte zuschulden kommen lassen und in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen war, hätte Lex ihr davon erzählt. Doch mit dieser Argumentation konnte Linnea Thor nicht überzeugen. Natürlich war sie weder Detektivin noch Ermittlerin, aber sie fühlte sich von der Tatsache provoziert, dass die Polizei eine Spur ignorierte, weil sie nicht in ihre vorgefertigte Theorie zu dem Fall passte. Wenn die Tontafel Linnea helfen konnte, etwas über den Mord an dem Iraker herauszufinden, was die Polizei noch nicht wusste, konnte das vielleicht wiederum zu neuen Erkenntnissen über Jonas’ Tod führen.
»Es ist richtig, dass wir in früheren Auktionen recht viel davon im Angebot hatten. Zurzeit jedoch scheint nichts Neues in Aussicht zu sein«, sagte der junge Mann und riss Linnea aus ihren Gedanken.
»Dann sollte ich mich vielleicht bei denjenigen erkundigen, die schon was verkauft haben? Vielleicht haben sie noch mehr anzubieten.«
»Das lässt sich leider nicht bewerkstelligen«, erklärte der Mann. »Sowohl Käufer als auch Verkäufer bleiben anonym.«
Linnea schenkte ihm ihr lieblichstes Lächeln, für das er nicht unempfänglich schien, aber es änderte nichts daran. Sie bat darum, stattdessen mit Anne-Grethe Topsøe sprechen zu dürfen, mit der sie bereits korrespondiert hatte. Er nickte freundlich, verließ den Tresen, um seine Vorgesetzte zu holen.
Linnea blätterte so lange in dem aktuellen Auktionskatalog. Als die junge, blonde Angestellte am anderen Computer zu einem Ehepaar gerufen wurde, das einen wertvollen Teppich begutachtete, blickte Linnea sich hastig um und beugte sich über den Tresen.
Zu ihrer Enttäuschung war auf dem Bildschirm nur die Homepage des Auktionshauses zu sehen. Doch dann entdeckte sie das Icon für den Verlauf. Ihr junger Helfer hatte sich nicht aus dem Intranet ausgeloggt, sondern die Seite nur minimiert. Sie schnappte sich schnell die Maus und öffnete die Seite erneut. Genau wie erhofft, hatte er nach kürzlich verkauften Gegenständen aus der Gruppe »Ethnografica« gesucht. Anonymität hin oder her, das Auktionshaus musste schließlich eine Buchhaltung führen, und hier waren die Namen von Käufern und Verkäufern jeder einzelnen Auktion zu sehen. Sie traute sich nicht, die Excel-Tabellen genauer durchzulesen, aber das war auch nicht notwendig. Zwei Dinge fielen ihr nämlich sofort ins Auge: Mehrere der Gegenstände waren von ein und derselben Person gekauft worden, deren Namen sie überraschenderweise kannte. Und ein noch viel größerer Teil stammte auch von ein und demselben Verkäufer. Das ging allerdings nur aus einer Steuernummer hervor. Sie war sich nicht sicher, ob sie damit etwas anfangen konnte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Das blonde Mädchen war wieder an seinem Platz und starrte Linnea an, die sich noch immer über den Tresen beugte.
»Ich überlege nur … ob Sie vielleicht eine Visitenkarte für mich hätten?«
Das Mädchen holte eine Karte und reichte sie Linnea, die sich höflich bedankte und hoffte, dass sie sich nicht allzu verdächtig gemacht hatte. Dann nahm sie ihren Blackberry und mailte sich die Steuernummer zu, um der Spur später nachzugehen.
40
Das Büro lag im ersten Stock. Linnea holte die kleine Tontafel aus ihrer Tasche und setzte sich gegenüber von Anne-Grethe Topsøe. Linnea erklärte der Expertin vom Auktionshaus Ellemose, das Stück sei Teil einer größeren Sammlung, die sie zu verkaufen überlege. Sie nahm die Tontafel in die Hand, betrachtete sie interessiert und sagte dann, dass sie froh sei, sie in der Realität zu sehen. Denn nun könne sie auf jeden Fall bestätigen, dass das Stück echt sei.
»Ich bin mir nur nicht ganz sicher, wo die Tafel genau herstammt«, sagte Linnea versuchsweise.
»Solange die Dinge nicht gestohlen oder illegal aus dem Irak ausgeführt wurden, spricht jedenfalls nichts gegen einen Verkauf.«
»Aber genau das weiß ich ja gerade nicht.«
Anne-Grethe Topsøe lächelte beruhigend.
»Das muss nicht unbedingt ein Problem darstellen. Es gibt viele Dinge, die nicht genau dokumentiert werden können, aber deshalb kann man die Leute nicht ohne weiteres kriminalisieren. Man kann den Dingen ja nicht ansehen, ob sie frisch ausgegraben wurden oder nicht.«
»Ist es denn nicht illegal, damit zu handeln?«
»Wie gesagt, es ist eine Grauzone. Selbstverständlich würden wir nichts Illegales tun. Genau wie die meisten anderen Länder hat auch Dänemark eine UN-Konvention gegen den illegalen Handel mit Kulturerbe unterzeichnet. Das bedeutet, dass man einen Kunsthändler oder ein Auktionshaus wegen Hehlerei anzeigen kann, wenn sie etwas Gestohlenes verkaufen. Aber die Beweislast dafür liegt bei dem Land, aus dem die Dinge gestohlen und illegal ausgeführt wurden. Und darüber hinaus muss die dänische Polizei einem beweisen, dass man sich die Dinge im bösen Glauben angeschafft hat. So etwas lässt sich selten zweifelsfrei feststellen.«
Sie zeigte auf einen Empiretisch, der in einer Ecke des Zimmers stand.
»Nehmen Sie nur mal die chinesischen Keramikfiguren, die dort drüben auf dem Tisch stehen. Wir haben sie gerade neu hereinbekommen. Damit ließen sich berühmte Menschen ungefähr achthundert Jahre vor Christus beerdigen, um im Totenreich Soldaten und Bedienstete dabeizuhaben. Meistens werden sie in China illegal ausgegraben und dürfen von dort auch nicht ausgeführt werden. Anschließend werden sie aber nach Russland oder Hongkong geschmuggelt, wo man sie ganz legal erwerben und mit nach Dänemark nehmen kann. Natürlich ist das illegal, weil man sie nicht gerade im guten Glauben kauft. Aber darüber können wir im Prinzip nichts sagen, wenn ein Kunde zu uns kommt und so etwas verkaufen möchte. Wir können uns eigentlich nichts anderes erlauben, als dem Kunden zu glauben, der behauptet, es sei ein Erbstück, das schon seit Generationen im Besitz der Familie ist.«
Sie schob die Tontafel wieder zurück zu Linnea und lächelte professionell.
»Sie sind herzlich willkommen, mit der ganzen Sammlung bei uns vorbeizuschauen, oder wir können einen Gutachter zu Ihnen schicken. Wenn Sie interessante Dinge anzubieten haben, spricht unsererseits nichts dagegen, sie zu verkaufen.«
*
»Wie Sie sehen können, mangelt es uns nicht an Sicherheitsleuten.«
Der Schwarze, dessen Händedruck sanft war und zugleich Stärke vermittelte, hatte sich als Lenny Strange vorgestellt, seines Zeichens Special Agent of the Diplomatic Security Service. Er hielt den Blickkontakt etwas länger, als Thor es normalerweise bevorzugt hätte, während er auf eine Treppe zeigte. Sie mussten an einem weiteren Wachmann vorbei, obwohl Thor bereits zweimal durchsucht worden war, seit er das Gittertor der amerikanischen Botschaft in der Dag Hammerskjölds Allé passiert hatte. Er war noch nie zuvor in dem Gebäude gewesen und gehörte zu den wenigen Beamten bei der Kopenhagener Polizei, die nicht einmal im Laufe ihrer Karriere dorthin abkommandiert wurden, um die Botschaft gegen die vielen Demonstrationen zu schützen, die immer wieder im Diplomatenviertel in Østerbro stattfanden.
Sein NEC-Kontakt am Politigården hatte überraschend schnell ein Treffen arrangiert. Oder besser gesagt, er hatte Thor angerufen und ihm mitgeteilt, dass man seitens der Botschaft ein Treffen wünsche. Dankbar hatte Thor die Gelegenheit wahrgenommen, vom Politigården wegzukommen, wo sie Uffe Overbye ohnehin bald würden gehen lassen müssen. Overbye hätte garantiert Klarheit in die Sache bringen können. Aber er wollte mit nichts herausrücken. Ob er eigentlich selbst involviert war, konnte man schwer sagen. Um das zu erfahren, würden sie ihn wohl mehr unter Druck setzen müssen.
»Ich nehme an, Sie wissen, warum ich Sie hergebeten habe?«
»Vermutlich wegen der DNA-Probe, nach der das FBI gestern auf unseren Wunsch hin seine Register durchsucht hat. Ich verstehe nicht ganz, warum das nicht über die üblichen Kanäle läuft, aber ich schätze es natürlich, dass Sie der Sache Priorität einräumen.«
Mittlerweile saßen sie in einem Büro mit einem Ledersofa und zwei Sesseln samt einem altmodischen Schreibtisch, auf dem ein Laptop und ein Computer standen. Ein Schild an der Tür informierte darüber, dass dies das Regional Security Office war. Lenny Strange stand auf, ging zu einem Glasschrank und fragte, ob Thor an einem Drink interessiert sei, doch der lehnte dankend ab.
»Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich wollte lieber persönlich mit Ihnen über die Sache sprechen. Außerdem wurden Teile dessen, was ich Ihnen gleich erzählen werde, als geheim eingestuft. Keine hohe Geheimstufe, aber hoch genug, um mich darauf verlassen zu müssen, dass dieses Gespräch unter uns bleibt, und Ihnen keine Kopien von irgendwelchen Dokumenten aushändigen zu können.«
»Was soll das heißen? Haben Sie etwa jemand Passendes gefunden?«
Thor riss die Augen auf, doch Lenny Strange signalisierte ihm mit einer Geste, er solle sich beruhigen. Der Amerikaner konnte natürlich nicht wissen, dass dies alles andere als eine Routineanfrage gewesen war. Die DNA-Spur war der wichtigste Fund vom Tatort auf der Refshaleinsel, und Thor war überzeugt, dass seine Deutung der Situation korrekt war. Sie konnte von niemand anderem als dem Mörder stammen.
»Warten Sie erst mal ab, was ich Ihnen zu erzählen habe.«
Lenny Strange klappte seinen Laptop auf. Das Dokument, das er Thor zeigen wollte, war bereits geöffnet.
»Die DNA-Probe weist eine Übereinstimmung mit einer Person namens Peggy-Lee Wu auf. Und das sogar mit einer Diskriminanz von 1 : 1 000 000. Was meines Wissens bedeutet, dass die Chance einer Übereinstimmung zwischen Ihrer Spur und dem Profil eine Million Mal größer ist als zu einer zufällig ausgewählten Person. Das muss man als einen perfekten Treffer bezeichnen.«
Thor war bereits aus seinem Sessel aufgesprungen.
»Ich muss schnell zum Politigården zurück. Wir müssen sofort die Fahndung nach dieser Person einleiten. Können Sie mir ein Bild von ihr mailen?«
»Ich muss Sie bitten, sich erst mal wieder zu setzen und mich ausreden zu lassen.«
»Kann ich denn nicht wenigstens einen meiner Kollegen informieren?«
»In ein paar Minuten können Sie gern anrufen, wen Sie wollen. Aber lassen Sie mich Ihnen zunächst von Ihrer Verdächtigen erzählen. Ich bin mir sicher, dass es Sie interessieren wird. Ob es Sie in Ihren Ermittlungen weiterbringt, ist allerdings eine andere Frage.«
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Lenny Strange sah Thor aufmerksam an und brachte ihn dazu, sich wieder zu setzen.
»Wie gesagt, darf ich Ihnen nicht alles erzählen. Und zu einem Teil des Materials habe nicht einmal ich Zugang, aber ich glaube auch nicht, dass das hier und jetzt relevant ist. Peggy-Lee wird 1982 geboren, ist zu einem Viertel Chinesin und in unseren Archiven zu finden, weil sie als 17-Jährige bei den US Marine Corps angeheuert hat. Bereits beim Einführungstraining brilliert sie auf dem Schießplatz und erhält daher eine Spezialausbildung zum Sniper.«
»Also zum Scharfschützen?«
Lenny Strange nickte lediglich und las weiter aus seinem Dokument vor.
»2001 wird sie zum ersten Mal zu einem Kampfeinsatz geschickt, als Teil der ersten großen Invasionseinheit in Afghanistan. Der Einmarsch hatte das Ziel, die Taliban zu stürzen, Mitglieder von Al-Qaida zu jagen und die Aufständischen zu stärken. 2003 wird sie wieder aus Afghanistan abgezogen. So wie ich es interpretieren würde, wird sie im Prinzip gegen ihren Willen zurückgeschickt, weil sie psychisch labil scheint. Was die Armee jedoch nicht daran hinderte, sie bereits im selben Jahr auf eine neue Mission zu schicken. Man brauchte einen erfahrenen Sniper für einen Einsatz, bei dem die US Special Forces in ein Rebellengebiet geschickt wurden und dem kolumbianischen Militär helfen sollten, ihre Ölpipelines zu schützen.«
»Und das, obwohl sie als instabil galt und deshalb aus Afghanistan abberufen wurde?«
»Ja, ich weiß, was Sie
jetzt denken. Ein Präzisionskiller am Rande des
Nervenzusammenbruchs? Ich weiß nicht, ob man einen Anlass sah,
ihren Zustand neu zu beurteilen. Mit Sicherheit weiß ich jedoch,
dass damals viele Fehler begangen wurden und man verzweifelt Leute
brauchte, weil die meisten ja in Afghanistan als unabkömmlich
galten. In jedem Fall gibt es über die Mission in Kolumbien keine
Anmerkungen in ihrer Dienstakte. Als sie am Ende des Jahres wieder
abgezogen wird, beschließt man sofort, dass sie für den Einmarsch
in den Irak bestens geeignet sei. Hier diente sie ein halbes Jahr.
Ich kann nicht näher darauf eingehen, bei welchen Einsätzen. Das
ist auch nicht
so wichtig wie die Tatsache, dass sie im April 2004 starb.
Vermutlich am 17., aber das genaue Datum ist nicht
bekannt.«
Thor schwieg einen Moment.
»Das verstehe ich nicht ganz. Das Profil entspricht genau dem unseres Mörders, aber sie ist tot? Da muss ein Fehler passiert sein. In den Armeearchiven kann etwas nicht stimmen.«
»Ihr Tod steht außer Zweifel. Ihre Leiche wurde zusammen mit der Leiche eines Söldners von Blackwater gefunden. Die Nachforschungen haben ergeben, dass eine Auseinandersetzung wegen der Erschießung eines Aufständischen hinter ihrem Tod steckte.«
Er ließ Thor einen kurzen Blick auf die Datei werfen, aus der er gerade vorlas, und dieser machte eine verzweifelte Geste mit dem Armen.
»Aber das ergibt doch keinen Sinn.«
Lenny Strange lächelte.
»Sie wissen doch, was Sherlock Holmes sagt: ›Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrigbleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.‹ Aber natürlich haben Sie recht, es ergibt keinen Sinn. Sie wissen genauso gut wie ich, dass man bei einer DNA-Übereinstimmung von der niedrigsten Akzeptanzgrenze dafür spricht, wie sehr zwei Fragmentlängen voneinander abweichen dürfen. Und das kann natürlich zu Irrtümern führen. Man kann von verschiedenen Standards ausgehen, was ebenfalls zu falschen Schlüssen führt. Nicht zuletzt könnte auch Ihre Probe verunreinigt sein. Ich würde vorschlagen, Sie bitten Ihr Labor, eine neue Probe zu erstellen, ehe wir alle Hebel in Bewegung setzen, um nach einer toten Heckenschützin zu suchen!«
»Oder aber sie ist gar nicht tot.«
»Diese Möglichkeit halte ich für noch unwahrscheinlicher.«
Er stand auf und ging erneut zum Barschrank und holte zwei Gläser heraus.
»Sind Sie immer noch sicher, dass Sie keinen Drink möchten?«
*
Sie lächelte ihn verführerisch an. Sie war auf jeden Fall gut im Improvisieren, und Kevin Love überlegte kurz, wie alles ausgegangen wäre, wenn sie beide von Anfang an zusammengearbeitet hätten. Dem Haus der Neergaards nach zu urteilen, hatten sie mit ihren Geschäften mehr als genug verdient. Vermutlich würde sich bei einer genaueren Prüfung herausstellen, dass sie nicht nur versucht hatten, ihn zu betrügen, sondern auch noch ziemlich erfolgreich dabei gewesen waren. Ihn überraschte es sehr, dass es überhaupt so weit hatte kommen können.
Kevin Love hatte sich im Irak auf seine bisher lukrativsten Geschäfte gestürzt. Sie versprachen enormen Profit, sogar noch viel mehr als im ehemaligen Jugoslawien. Hier wimmelte es wie in keinem anderen Krieg nur so vor Söldnern und Menschen, die Waren in großem Stil liefern konnten. Und das in einem wahnsinnig reichen Land, das man nicht nur ausgiebig plündern konnte, sondern das durch das Öl-für-Geld-Programm bereits im Vorfeld von Korruption durchsetzt und in die Methoden westlicher Pfuscherei eingeweiht war. Ganz zu schweigen von den Bestechungsgeldern, Verschwendungen und Schwindeleien im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau, bei dem ortsansässige Gangster und amerikanische Entsandte mit Koffern voller Geld eine unheilige Allianz eingingen. Die Plünderung archäologischer Ausgrabungsstätten und Museen war daher nur ein Geschäftszweig unter vielen, die Kevin Love entdeckte, als er den Kontakt zu einem Iraker vor Ort vermittelt bekam, dem er nur ein wenig auf die Sprünge helfen musste, ehe sie das große Geld scheffeln konnten. Nachdem er den Iraker in seiner eigenen Arbeitsweise geschult hatte, war dieser zu einem Bestandteil von Loves Imperium aus wechselseitigen, aber voneinander unabhängigen Geschäften geworden. Der Iraker handelte auf eigene Faust und musste sich von Kevin Love nichts genehmigen lassen – er hätte auch gar keine Zeit, bei Hunderten von Operationen, in die er rund um die Welt verwickelt war –, hatte jedoch einen Teil seines Gewinns abzugeben. Im Gegenzug konnte er, wenn notwendig, von Kevin Loves Netzwerk profitieren. Wenn der Iraker seinen Handel trieb, konnte er damit drohen, dass er unter dem Schutz von Kevin Love stand. Und wenn er jemanden für eine Spezialaufgabe brauchte, konnte er auf einen der vielen anderen Männer zurückgreifen, die auf dieselbe Weise für Love arbeiteten. Das System funktionierte perfekt. Kevin Love erzielte einen enormen Gewinn, war tatsächlich aber nur wenig eingebunden und daher schwer für irgendetwas zur Verantwortung zu ziehen. Dass der Iraker sein Geschäft nach Dänemark verlagerte, war seine Sache. Doch als Neergaard mitteilte, dass er das Geschäft des Irakers übernommen hatte und weiterführte, hätte Kevin Love reagieren müssen.
Als er seinen Gedankengang beendet hatte, wandte er sich an die Frau neben sich.
»Was haben Sie sich eigentlich vorgestellt?«
Eigentlich war das alles furchtbar banal, dachte Kevin Love und stand auf, nachdem die Diskussion überstanden war. Letztendlich ging es immer nur um Geld. Und ein Problem, das sich mit Geld zunächst nicht lösen ließ, war mit einer größeren Summe irgendwann doch aus der Welt geschafft.
»Eins müssen Sie noch bedenken.«
Alexandra Neergaard erhob sich schnell und legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Wir haben all das zusammen angestoßen. Ich weiß über alles Bescheid, was vor sich gegangen ist. Es müsste also auch in Ihrem Interesse sein, wenn ich zufrieden bin?«
Kevin Love nickte ihr zu. Kaum zu glauben, aber er war sich sicher, dass sie ihm drohen und ihn verführen wollte. Sie hatte ihn tatsächlich beeindruckt. Er ließ sich von ihr aus dem Garten geleiten, bemüht darum, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Vielleicht war sie ihm nicht besonders unähnlich, vielleicht war das alles nur Teil des Spiels gewesen. Aber plötzlich erinnerte ihn diese Situation sehr an seinen eigenen Vater, der im Grunde genommen dieselben windigen Geschäfte gemacht hatte wie er. Allerdings von seinem Ecktisch in der Oxford Bar aus. Ob es darum ging, Hehlerware zu verkaufen und den Handel über ein paar abgestandenen Bierresten abzuschließen oder an den Brennpunkten der Welt internationalen Schmuggel und Waffenhandel zu betreiben, machte eigentlich keinen großen Unterschied. In beiden Fällen hing alles von der Erkenntnis ab, dass derjenige, der die Menschen am besten einschüchterte, in dieser Welt alles erreichen konnte, und dass man sich anderen Menschen gegenüber alles erlauben konnte, um sein eigenes Ziel zu erreichen.
Er spielte erneut mit der Garrotte in seiner Tasche, mehr denn je versucht, das Ganze hier und jetzt abzuschließen. Sie die Schnur um den Hals spüren zu lassen und zuzuziehen. Diese Frau war nicht nur anspruchsvoll, sondern auch gefährlich. Als er die Einfahrt erreicht hatte, drehte er sich ein letztes Mal um.
»Sie hören von mir.«
Am Wagen angekommen, suchte er in seinem Handy sofort nach seinem dänischen Kontakt. Er war nicht sonderlich glücklich darüber, die Aufgabe von einem Ortsansässigen übernehmen zu lassen, denn das Risiko war trotz allem größer. Aber allem Anschein nach war seine beauftragte Expertin vorübergehend außer Gefecht gesetzt, und die Angelegenheit musste schnellstmöglich über die Bühne gebracht werden.