25
Irgendetwas musste sie geweckt haben. Sie versuchte die Augen zu öffnen, bereute es aber sofort wieder. Sie wollte nur noch schlafen, oder sogar sterben. Alles in ihr schmerzte, sie war außerstande, sich zu bewegen. Als sie zu schreien versuchte, kam nur ein heiseres Schluchzen dabei heraus. Ein gewaltiger Druck lastete auf ihrer Kehle, so dass sie nur in kleinen, kurzen Stößen Atem holen konnte und zu hyperventilieren begann. Die Luft war von einem süßlichen Gestank nach Blut und einem parfümierten Duft wie von Aftershave getränkt.
Peggy-Lee Wu versuchte sich zu orientieren, doch im Raum war es dunkel. Nur ein schmaler Lichtstrahl drang in eine Ecke herein. War das die Sonne, die gerade aufging? Wie lange war sie eigentlich bewusstlos gewesen? Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, wie sie dort gelandet war und was eigentlich auf ihr lastete und sie zur Bewegungslosigkeit zwang. Es fühlte sich an, als habe sich eine Decke auf sie herabgesenkt. Der Untergrund war kalt und feucht. Ihre Arme und Beine lagen auf den Boden gepresst und wirkten taub. Als sie versuchsweise die Finger der linken Hand bewegte, kehrte langsam das Gefühl in Zeige- und Mittelfinger zurück.
Eins nach dem anderen, dachte sie und nahm die andere Hand zu Hilfe, um ihr Gefängnis zu erforschen.
Ihre Finger tasteten sich vor und nach oben. Sie fühlten zunächst Stoff, dann eine feuchte, klebrige Vertiefung, in der sie verschwanden. Peggy-Lee versuchte, ihr Gehirn zu aktivieren, und die wenigen Kräfte, die ihr noch blieben, dafür einzusetzen, alle Sinneseindrücke zu sammeln und daraus ein Bild zusammenzusetzen. Die Augen halfen ihr nicht, es war zu finster. Außerdem war ihr eines Auge fast völlig von einer Substanz verklebt, wahrscheinlich ihrem eigenen Blut. Sie war noch nicht ganz bereit. Sie musste einen Arm befreien, wenn sie aus ihrer Lage entkommen wollte.
Peggy-Lee biss sich auf die Lippe und stöhnte dumpf, während sie mit aller Kraft versuchte, ihren rechten Arm von ihrem Körper wegzudrücken. Doch nichts geschah.
»Komm schon, verdammt, komm schon, nun komm schon.«
Ihr Flüstern war wie ein Mantra, und dieses Mal gelang es ihr. Ein Arm kam frei, und ihr wurde bewusst, dass das, was sie nach unten drückte, kleiner war, als sie gedacht hatte. Ihre Hände untersuchten die Konturen. Sie spürte noch mehr Stoff, dann etwas Kühles, das sich wie Haut anfühlte, und weiter oben eine raue Fläche.
Peggy-Lee spürte Übelkeit in sich aufsteigen, als sie ganz langsam akzeptierte, was ihre Sinne ihr schon seit mehreren Minuten mitzuteilen versuchten. Es war ein menschlicher Körper, der auf ihr lag. Ein großer, schwerer und ziemlich steifer Körper.
Immerhin konnte diese Starre nur bedeuten, dass ihr Gegner nicht mehr in der Lage war, ihr etwas anzutun. Abgesehen davon, sie hier gefangen zu halten, bis sie wegen ihres hohen Blutverlustes erneut ohnmächtig wurde. Blut. Sie begriff, was ihre Finger zuvor ertastet haben mussten. Sie musste tief in seiner Wunde gebohrt haben. Die Übelkeit übermannte sie, sie konnte sich nicht länger zusammenreißen und übergab sich. Die säuerliche Flüssigkeit schoss in ihren Mund, doch sie konnte sie nirgends loswerden. Sie rang nach Luft, und Galle brannte in ihrer Luftröhre.
Es fehlte nicht viel, und sie wäre an ihrem eigenen Erbrochenen erstickt. Irgendwo in der Ferne glaubte sie ein Röcheln zu hören, aber es musste von ihr selbst stammen. Sie war gezwungen, ihren Mageninhalt in kleinen Portionen wieder herunterzuschlucken. Sie würgte und hoffte inständig, dass es diesmal unten bleiben würde.
Peggy-Lee ahnte nicht, wie lange sie unter der Leiche gelegen hatte. Oder ob der Mann schon die ganze Zeit tot gewesen war. Inzwischen war es wieder dunkel. Konnte sie denn wirklich schon einen Tag oder länger hier gelegen haben? Sie hockte neben einem verfallenen Schuppen, der noch immer viel zu nahe am Tatort lag. Noch war sie nicht weit genug von dort weg, um sich sicher zu fühlen. Aber zunächst brauchte sie Kraft, musste sich wenigstens kurz erholen, bevor sie die Jagd nach einem Versteck fortsetzte.
Erst jetzt hatte sie die Ruhe, ihre Verletzungen näher zu untersuchen. Sie konnte sich noch immer nicht daran erinnern, was genau passiert war. Nach und nach fiel es ihr wieder ein, als sie an sich hinuntersah. Ihr linker Arm war blutverschmiert, und jetzt verstand sie auch, warum. Das Schwein hatte sie angeschossen.
Peggy-Lees Beine zitterten noch immer, und sie musste sich anstrengen, damit die Übelkeit nicht erneut in ihr aufstieg. Sie hatte sich blamiert, aber noch war es nicht zu spät, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie durfte nur nicht noch mehr Spuren hinterlassen als die, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach bereits in dem Toilettengebäude übersehen hatte.
Es hatte sie mindestens eine Stunde und ihre letzten Kräfte gekostet, sich von dem großen Mann zu befreien. In dieser Stunde hatte sie mehr persönliche Grenzen überschritten als in den letzten zehn Jahren zusammen, obwohl das wahrlich nicht wenige gewesen waren.
Sie hatte die Leichenstarre durchbrechen müssen, um mehrere Glieder des Toten zu beugen, ehe es ihr mit einer letzten Kraftanstrengung gelungen war, sich unter ihm hervorzudrücken. Seine Arme hatten sie nur widerwillig entlassen wollen. Als sie sich endlich aus der Umklammerung des Toten befreit hatte, hatte sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten können.
Sie hatte geflucht und geschluchzt, während sie auf allen vieren durch den stinkenden Raum gekrochen war, bis sie eine Wand erreicht hatte. Dann hatte sie sich zur Tür vorgetastet und sie halb aufgestoßen, um ein wenig Licht und frische Luft hereinzulassen. Ihr Körper hatte nur noch weggewollt, weg von der Leiche, dem Gebäude, dieser verfluchten Stadt. Aber sie musste langfristig denken und wenigstens notdürftig hinter sich aufräumen.
Sie hatte ein Stück von dem ohnehin schon zerfetzten Hemd der Leiche abgerissen, sich ein weiteres Mal gezwungen, ihren Arm unter den starren Körper zu schieben und dort, wo ihr Kopf gelegen hatte, so gründlich wie möglich zu wischen. Ihr eigenes Blut zu beseitigen, hatte sie jedoch aufgeben müssen. Nachdem sich die Körperflüssigkeiten mehrere Stunden lang vermischt hatten, war es unmöglich auszumachen, welches Blut von wem stammte. Sie musste weg, solange ihre Kräfte es noch zuließen.
Als Peggy-Lee das Knirschen von Autoreifen auf dem Kies hörte, zuckte sie zusammen. Sie hechtete hinter den Schuppen und jammerte leise, als sie mit dem Arm auf dem Asphalt aufkam. Sie war am Ende. Aber gleichzeitig war sie auch rasend wütend. Jemand musste für diese Sache bezahlen.
*
»Trostloser geht es ja gar nicht. An einem solchen Ort zu sterben!«
Die Blutspuren waren auf dem gesamten Toilettengang verschmiert, wie eine Schleifspur. Selbst ohne die Projektoren draußen und die Männer von der Spurensicherung in ihren weißen Kitteln hätte Thor M. Dinesen keinen Zweifel gehabt, wo er hinmusste. Das gelbe Klinkerhaus neben dem Bauzaun, zu dem er geleitet worden war, stand etwas abseits. Darin gab es anscheinend nur Toiletten und Duschräume. Die Nacht um sie herum war tiefschwarz, und bisher hatten sie gerade erst die allernötigsten Lichtquellen aufgebaut. Die Umgebung war in ein künstliches Licht getaucht, das alles unwirklich erscheinen ließ. Das Blut aber war real und ließ auf das brutale Geschehen schließen, das hier stattgefunden haben musste.
Thor schob sich am Fotografen der Spurensicherung vorbei. Ein zweiter Blick verriet ihm, dass die braunen Flecken an den Kacheln verschmierter Kot waren. Offenbar gab es mehr als nur eine Erklärung für den massiven Gestank an diesem Ort.
»Ich bin noch nicht fertig.«
Thor blickte zu dem Rechtsmediziner, der auf dem Boden kniete und ihm seinen wulstigen Nacken zuwandte. Er streckte ungeduldig die Hand aus, um zu signalisieren, dass es noch ein paar Minuten dauern würde. Eine Diskussion mit diesem Mann würde wenig Zweck haben, denn er erzählte grundsätzlich nichts, ehe er es selbst für richtig hielt. Und so trat Thor stattdessen einige Schritte näher, um ihm schweigend bei der Arbeit über die Schulter zu schauen.
»Pass auf!«, rief der Rechtsmediziner.
Zu seiner Verärgerung bemerkte Thor, dass er gerade in etwas getreten war, was sich bei näherer Betrachtung als Erbrochenes herausstellte. Er wollte sich gerade darüber beschweren, dass die Kollegen nicht ordentlich abgesperrt hatten. Es machte nicht gerade den besten Eindruck, wenn der leitende Ermittler an einem Tatort herumtrampelte und wichtige Spuren zerstörte. Doch dann fiel ihm auf, dass es sich um frisches Erbrochenes handeln musste. Es konnte nicht von dem Mann am Boden stammen, über den sich der Arzt gerade beugte. Denn für die Erkenntnis, dass dieser Mann schon länger tot war, bedurfte es keiner medizinischen Ausbildung. Thor reckte sich vorsichtig wieder nach vorn, aber der Gang war so schmal, dass er noch immer nichts anderes sehen konnte als die Leiche, die in einer merkwürdig verrenkten Stellung auf dem Boden lag. Also ging er stattdessen nach draußen, wo er gierig die kalte Nachtluft einsog und schließlich drauflosschimpfte: »Wer zum Teufel hat da drinnen gekotzt! So eine Sauerei!«
Die Beamten, die gerade das Gebiet absperrten, sahen ihn nervös an. Thor wusste, wie gereizt er klang, aber es gab nun mal nichts, was er mehr hasste als warten. Es gab nichts Schlimmeres, als an den Ort eines grausamen Verbrechens zu kommen, und die Situation war noch nicht unter Kontrolle. Alle eilten verwirrt umher und arbeiteten unkoordiniert in alle möglichen Richtungen, weil es noch an dem Überblick fehlte. Er verspürte den plötzlichen Drang, den Menschen um sich herum Befehle zuzubrüllen, und wusste, dass sie es im Grunde auch von ihm erwarteten, doch in diesem Moment hätte das noch keinen Sinn gehabt. Er musste warten, bis die Kollegen von der Mordkommission ankamen.
»Ein Besoffener hat die Leiche gefunden«, sagte der eine Beamte schließlich. »Er sitzt draußen im Auto, falls Sie mit ihm sprechen wollen.«
Thor warf einen Blick zurück auf das Toilettengebäude, um sich zu vergewissern, dass der Rechtsmediziner noch immer arbeitete. Ihm wäre durchaus zuzutrauen, dass er sich aus dem Staub machte, ohne zu berichten, was er herausgefunden hatte. Das war tatsächlich schon mal vorgekommen, und Thor hatte bis heute nicht durchschaut, ob lediglich Zerstreutheit oder böse Absicht dahintersteckte. Er folgte dem Beamten, der ihn zu dem Streifenwagen führte.
26
Das iPhone hatte Peggy-Lee zu einem kleinen Hafen navigiert, der sich am Ende jenes Wegs befand, an dem auch das Lagergebäude lag. Sie wartete schon seit einer Stunde darauf, dass das Auto, das sie zuvor passiert hatte, endlich wieder in Richtung Stadt zurückfuhr. Auf der elektronischen Karte hatte sie erkennen können, dass dies der einzige Weg in die entgegengesetzte Richtung war. Sie musste also das Risiko in Kauf nehmen, so lange in ihrem provisorischen Versteck hinter dem Schuppen auszuharren.
Damit sie trotz ihrer vielen Verletzungen relativ bequem liegen konnte, streckte sie sich ganz aus. Sie spürte sofort, wie das Adrenalin ihren Körper verließ und ihren Muskeln erlaubte, sich zu entspannen. Die Sonne begann sie zu wärmen, und jetzt, da ihr Puls nicht mehr in den Ohren pochte, hörte sie auch die Vögel zwitschern.
Peggy-Lee hatte ihr dünnes Wolloberteil stramm um die Wunde am Arm gebunden, damit sie keine deutliche Blutspur hinterließ. Ihre Jacke hatte sie als Kissen unter den Kopf geschoben. Für einen kurzen Moment dachte sie, dass dies nicht einmal der schlechteste Ort zum Verbluten wäre, falls es denn so weit kommen musste. Aber zuerst musste sie noch etwas Wichtiges erledigen.
Sie hatte es nie bereut, die Armee verlassen zu haben. Obwohl ihr die ganze Geheimniskrämerei bei ihrer neuen Arbeit mitunter auf die Nerven ging, hatte es insgesamt viel mehr Vorteile, sein eigener Boss zu sein. Ihr Stolz darauf, für die amerikanische Armee zu arbeiten, hatte immer mehr nachgelassen. Ihr war aufgegangen, dass ihre besonderen Fähigkeiten nicht in erster Linie der Verteidigung der Demokratie und des Landes dienten, sondern vielmehr dazu, den exklusiven Lebensstil gewisser Menschen aufrechtzuerhalten. Krieg war nichts anderes als Big Business, und so war der Entschluss langsam in ihr gereift – mit jeder internationalen Mission, bei der ihr private Unternehmer und gierige Söldner begegneten, umso mehr. Wenn sie ihr Leben ohnehin damit riskierte, Menschen für Geld umzubringen, warum sollte sie sich dann nicht selbst daran bereichern?
Und als sich ihr die Möglichkeit bot, schlug sie sofort zu. So gab sie ihren Job als staatlich finanzierte Auftragsmörderin auf und wurde stattdessen zu einer freien Agentin mit einem dicken Bankkonto. Sie war stets wählerisch dabei gewesen, welche Aufträge sie angenommen hatte, und wusste, dass sie genau aus diesem Grund so schnell in die höchste Liga dieser Branche aufgestiegen war. Deswegen – und weil sie eine der Besten auf ihrem Gebiet war.
Sie verstand noch immer nicht ganz, was in dem Lagergebäude eigentlich vorgefallen war. Jedenfalls hatte sich der Auftrag, den sie als einfachen Routinejob eingestuft hatte, zu einem Kampf um Leben und Tod entwickelt. Ihre Zielperson war auf ihre Anwesenheit vorbereitet gewesen. Noch dazu hatte der Mann gekämpft wie ein Elitesoldat. Diese Niederlage ließ nur einen Schluss zu: Das Ganze war eine Falle gewesen. Kevin Love fühlte sich von dem Wissen bedroht, das sie nach einem Dutzend Auftragsjobs über ihn und seine Geschäfte gesammelt hatte. In Wirklichkeit hatte sie gar nicht überleben sollen. Aber sie war stärker, als er dachte, und sie würde es ihm mit derselben Münze heimzahlen.
Der Zorn verlieh Peggy-Lee neue Energie. Als sie das Auto kurz darauf endlich vorbeifahren hörte, zwang sie ihren Körper erneut dazu, sich zu bewegen. Erst als sie aufstand, merkte sie, wie dehydriert sie war und dass sie für ihren weiteren Überlebenskampf dringend etwas zu essen brauchte. Ihre Schwäche war nicht verwunderlich, denn inzwischen mussten viele Stunden vergangen sein, in denen sie erst unter der Leiche eingeklemmt gelegen und sich dann freigekämpft hatte. Auf ihrer Wunschliste gab es demnach vor allem drei Punkte: ein neues Versteck und etwas zum Essen und zum Trinken. Und dann war da noch ihr Arm, der dringend verarztet werden musste.
*
Thor wusste nur zu gut, wie die Polizeibeamten und Ermittler ihn sahen: Als einen Mann Ende dreißig, der seit weniger als zehn Jahren Ermittler war und doch schon eine Art Legende unter den Mordkommissaren. Nicht in erster Linie wegen seiner Ermittlungserfolge, sondern vielmehr wegen seines schnellen Aufstiegs. Schon auf der Polizeischule hatte er beharrlich das Ziel verfolgt, zur Kriminalpolizei zu kommen. Tatsächlich wurde er auch ziemlich schnell nicht nur ein Mitglied der damaligen begehrten Abteilung A, sondern auch der zweitjüngste Vizekriminalkommissar überhaupt. Und dann gab es natürlich auch noch ein paar spektakuläre Fälle, die ihm unter seinen engen Mitarbeitern fast schon einen Heldenstatus eingebracht hatten, über die er selbst aber nur selten redete.
Manche Kollegen zogen ihn damit auf, aber eigentlich wussten nur die wenigsten, dass Thor in einer Hippie-Kommune mitten in Jütland aufgewachsen war. Das war nicht gerade eine klassische Brutstätte für Polizisten, aber Thor pflegte zu scherzen, dass er seither schon den Wunsch, sich einen Joint anzustecken, auf hundert Meter Entfernung riechen könne. Seiner besonderen Herkunft verdankte er auch die Gabe, alle zum Reden bringen zu können. Ihm fiel es leicht, das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen. Bereits von Anfang an hatte er ein gutes Netzwerk aus Kontakten und Informanten aufgebaut, die ihm zu einer rasanten Karriere verholfen hatten.
Dass ihn dieses Kontaktnetz einmal beinahe auch seinen Job gekostet hätte und ihm ein schweres Kreuz auferlegt hatte, an dem er noch immer zu tragen hatte, war eine andere Sache.
Der junge Mann, der auf der Rückbank des Streifenwagens saß und darauf wartete, nach Hause gebracht zu werden, erlebte wohl gerade das Gegenteil eines Highs. Vermutlich war er feiern gewesen und hatte an diesem Samstag in der Stadt ein paar Pfeifchen geraucht. Doch die Entdeckung des toten Mannes hatte ihn anscheinend aus seiner Benebelung geweckt. Und jetzt saß er nur noch bleich und nervös da.
»Ich musste einfach nur pinkeln. Hätte genauso gut auch woanders hingehen können.«
»Was hatten Sie denn ausgerechnet hier zu suchen? Sie sind doch wohl nicht den ganzen Weg bis hierher gefahren, nur um zu pinkeln?«
»Ich war im Dragens Hule.«
Der junge Mann sah hastig zu Thor auf. Er blinzelte gegen die grelle Innenbeleuchtung des Wagens.
»Das ist eine Konzerthalle. Genau da drüben.«
Er zeigte auf einen undefinierbaren Punkt vor sich. Thor schielte zu dem Polizeibeamten hinüber, der nickte, als wolle er bestätigen, dass sie diese Angabe schon überprüft hatten.
»Und Sie haben nichts gesehen, als Sie hierherkamen?«
»Ich sah diesen Toten, verdammt, ist das etwa nicht genug? Ich war nur auf dem Heimweg.«
»Und Sie sind sich sicher, dass er bereits tot war, als Sie kamen?«
»Wie meinen Sie das?«
Dann begriff er, was Thor mit seiner Frage sagen wollte, und begann zu protestieren. Auf seiner Stirn sammelte sich kalter Schweiß. Man konnte ihm ansehen, wie die Panik in ihm aufstieg. Es hatte keinen Zweck, ihn zu diesem Zeitpunkt zu verhören. Er stand ganz offensichtlich unter Schock. Jeder noch so mittelmäßige Anwalt hätte eine Zeugenaussage, die in einem solchen Zustand abgegeben wurde, als unrechtmäßig abgeschmettert und einen ansonsten perfekten Fall gekippt.
Thor bahnte sich vom Auto den Weg durch die Dunkelheit und zu den drei Gebäuden zurück. Seit man ihn angerufen hatte, war eine Stunde vergangen, und er hatte nur wenige Stunden im Bett gelegen. Eigentlich hatte er einen gemütlichen Abend mit Fernsehen, ein paar Flaschen belgischem Bier und einer schlafenden Tochter auf dem Schoß geplant. Stattdessen war er völlig gerädert ins Bett gefallen, nachdem er den ganzen Tag in einem Reihenhaus im Hulgårdsvej drei Zimmer in einem gruseligen lila Farbton gestrichen hatte. Die Hauseigentümerin, eine sonnengebräunte Frau Ende sechzig mit schwerem Goldschmuck an Hals und Händen, war die Witwe des Polizeihauptmanns Greive, einem früheren Kollegen von Thor, der im Dienst getötet worden war. Unnachgiebig bat sie ihn an fast all seinen freien Tagen um einen Gefallen. Diesmal hatte sie ihm ihre überschwängliche Dankbarkeit zusätzlich dadurch bewiesen, dass sie ihn gebeten hatte, den Müll mitzunehmen, als er endlich nach Hause fahren durfte.
Und als er schließlich in einen tiefen Schlaf gesunken war, hatte das Telefon geklingelt. In der Notrufzentrale war der Anruf eines verwirrten, möglicherweise betrunkenen jungen Mannes eingegangen, der von einer Leiche berichtet hatte, über die er buchstäblich gefallen sei. Abgesehen davon, dass er irgendwo auf der Refshaleinsel ganz in der Nähe der Kläranlage war, hatte er nicht genau erklären können, von wo er anrief. Man hatte ihn gebeten, sich nicht von der Stelle zu rühren, und einen Streifenwagen geschickt. Zu diesem Zeitpunkt war es zwei Uhr nachts gewesen, und der junge Mann war den Beamten auf dem Refshalevej in Richtung Margretheholm entgegengekommen, sein Fahrrad neben sich her schiebend. Sie waren davon ausgegangen, dass er abhauen wollte, nachdem er seine Tat bereut hatte – in diesem Punkt war ihre Erklärung etwas unklar. Vermutlich hatten sie ihn ziemlich unsanft behandelt und ihn dann mitgenommen, damit er sie zu der Leiche führte. Die beiden Streifenpolizisten hatten schnell festgestellt, dass der Mann tatsächlich tot und höchstwahrscheinlich an einer Schussverletzung am Kopf gestorben war. Ein Rechtsmediziner war bereits unterwegs, und man rief die mobilen Mitarbeiter der Spurensicherung hinzu. Gleichzeitig stellte die Abteilung für personengefährdende Kriminalität am Politigården ein Team zusammen und berief den Vizekommissar Thor M. Dinesen zum Leiter der Voruntersuchung. Und das alles noch in derselben Nacht.
»Was zur Hölle ist das hier für ein Ort?«
Thor drehte sich um und begrüßte seinen Kollegen Daniel Kraus, dessen aufgedunsenes Gesicht und verquollene Augen darauf hindeuteten, dass man ihn gerade aus dem Tiefschlaf geklingelt hatte. Müde klopfte er eine Zigarette aus seinem Päckchen und zündete sie an. Mittlerweile standen überall Scheinwerfer, in deren gleißendem Licht sie lange Schatten warfen, wenn sie sich am Tatort bewegten.
»Warte mal ab. Dieser Ort ist jedenfalls perfekt für einen Mord. Es gibt hier keine unmittelbaren Nachbarn, abgesehen von einigen Proberäumen und einer Konzerthalle, die etwas weiter weg liegen, und der Kläranlage und dem Hafen mit ein paar alten Schiffwracks. Außerhalb der normalen Arbeitszeiten hält sich hier wahrscheinlich kein Mensch auf. Und wie du sehen kannst, ist es hier nachts finster wie in einem Grab. Und auch genauso heimelig, wenn du mich fragst. Das Gebäude vor uns ist eine Bootswerft für kleinere Schiffe. Und der Anbau ist das Seltsamste, was ich seit langem gesehen habe. Man denkt, es wäre eine normale Werkstatt oder so was, aber stattdessen wimmelt es dort vor Monstern.«
»Monstern?«
»Ja, verdammt. Modelle von Dinosauriern und Riesenkraken und solche Sachen, in Lebensgröße. Wirklich sehr merkwürdig. Aber lass uns reingehen und die Leiche ansehen. Der Rechtsmediziner müsste eigentlich fertig sein.«
Daniel Kraus blieb einen Moment stehen und starrte in die Dunkelheit, aber allmählich wurde auch er wach. Unter seinen schweren Augenlidern blitzte jetzt die Neugier auf – der alles bestimmende Drang, immer genau herausfinden zu wollen, was geschehen war. Das war einer der Gründe, warum Thor die Zusammenarbeit mit dem gleichaltrigen Kollegen immer mehr schätzen gelernt hatte.
»Und was ist mit dem Typen, der versucht hat, von hier abzuhauen?«
»Ich zweifle daran, dass er der Täter ist. Er war völlig bekifft und kam gerade von einem Konzert. Das können wir leicht nachprüfen. Und wenn es stimmt, glaube ich nicht, dass er etwas mit der Sache zu tun hat. Wer nimmt schon eine Pistole mit zu einem Konzert und erschießt anschließend jemanden, der ihm zufällig über den Weg läuft. Ich glaube, dass er die Leiche gefunden hat, genau wie er behauptet, und dann plötzlich in Panik geriet. Wahrscheinlich war er einfach nur verkatert und paranoid von dem vielen Haschisch, und dann hat er auch noch einen Schock erlitten. Er ist nicht unser Mann.«
27
Das ausgediente Segelboot wirkte völlig verlassen, und Peggy-Lee war anscheinend nicht die Erste, die darauf Zuflucht suchte. Die Tür war schon vor langer Zeit aufgebrochen worden, und auf den Planken lagen leere Bierdosen herum. Im ganzen Boot roch es moderig, und alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Doch solange das bedeutete, dass niemand sie stören würde, passte ihr das ausgezeichnet.
Vorsichtig zog sie die zerschlissenen geblümten Gardinen vor, damit sie sich frei bewegen konnte. Sie erkundete dann die Kombüse, die direkt an die große Kajüte anschloss, die einmal als Speisesaal gedient haben musste. Peggy-Lee öffnete nacheinander jeden der kleinen Oberschränke und fegte mit ihrem unverletzten Arm Stricke, vergilbte Kreuzworträtselhefte und einen Würfelbecher zu Boden. Sie jubelte innerlich, als sie ein Plastikkörbchen mit Konserven entdeckte. Es schien, als hätten ihre Vorgänger andere Bedürfnisse gehabt als Hunger. Oder sie waren einfach nur weniger verzweifelt gewesen als Peggy-Lee. Sie prüfte das Haltbarkeitsdatum auf einer Dose, die aussah, als enthielte sie Thunfisch, und beschloss dann, sich nicht weiter mit Details aufzuhalten. Eine rostige Schere musste als Dosenöffner herhalten, und ein Glas braunes Wasser aus dem Hahn rundete die Mahlzeit ab.
Bereits nach der ersten Dose fühlte Peggy-Lee sich gestärkt und dankte den militärischen Feldrationen dafür, dass sie ihren Magen abgehärtet hatten. Nun brauchte sie all ihre Kräfte für den nächsten Punkt auf der Tagesordnung und wagte gar nicht daran zu denken, wie viel Blut sie wohl verloren hatte. Sie durchsuchte ein weiteres Mal die Schränke und fand einen kleinen Verbandskasten, der, wie sich bei näherer Untersuchung herausstellte, allerdings nur eine große Rolle Heftpflaster und eine stumpfe Schere enthielt. Keine große Hilfe. Peggy-Lee wühlte weiter, bis sie schließlich eine alte Nagelbürste sah, die sie für ihr Vorhaben verwenden konnte. Hinter einem Stapel stinkender Rettungswesten entdeckte sie eine Flasche mit einer braunen Flüssigkeit, die von den früheren Eindringlingen übersehen worden war. Sie enthielt unverkennbar starken Alkohol, der ihr ebenfalls nützlich sein konnte.
Peggy-Lee setzte sich auf das Polster am Esstisch, um vorsichtig den Verband von ihrem Arm zu entfernen. Der Stoff wollte sich nicht lösen, er hatte sich bereits mit der Wunde zu einer Kruste aus Schorf und Eiter verbunden. Sie holte tief Luft und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Der Alkohol brannte in ihrem Magen und hinterließ einen bitteren Geschmack im Mund. Aber er betäubte. Die Sache würde schmerzhaft werden, doch wenn sie die Wunde nicht reinigte, hätte sie bald schon eine fiebrige Infektion und somit das nächste Problem.
Also riss sie den Stoff mit einem Ruck ab und schrie vor Schmerz auf. Sie zog ihr Oberteil aus und wankte mit der Nagelbürste in der linken Hand und der Flasche unter dem Arm zum Waschbecken. In kurzen Abständen musste sie vor Schmerz aufheulen. Dann tränkte sie die Bürste mit Alkohol, glitt auf den Boden, stopfte sich ihr Oberteil in den Mund, biss fest darauf und bürstete mit energischen Bewegungen über die Wunde. Der Schmerz war so brennend, dass sie Sterne sah und ihren Urin nicht mehr halten konnte. Er breitete sich warm in ihrem Slip aus und durchnässte ihre Strümpfe. Doch Peggy-Lee schrubbte weiter.
Bis sie das Bewusstsein verlor.
*
»Ihr könnt ihn gerne mitnehmen, ich bin fertig. Er ist schon seit mehr als vierundzwanzig Stunden tot. Seit Freitagnacht, würde ich tippen, aber Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich die normale Obduktion durchgeführt habe.«
Thor nickte dem Rechtsmediziner zu. Inzwischen war die gesamte Abteilung versammelt. Thor hatte ungeduldig darauf gewartet, dass der Rechtsmediziner endlich fertig wurde, damit sie hineingehen und sowohl Leiche als auch Tatort eingehender untersuchen konnten. Die Techniker waren inzwischen auch fast fertig, aber weder die ausführlichsten Videoaufnahmen noch eine detaillierte fotografische Dokumentation vom Tatort konnten die Bilder ersetzen, die sich ihm bei einer gründlichen Begehung einprägten.
Zumindest war inzwischen geklärt, dass ihr haschischbenebelter Zeuge nichts mit dem Todesfall zu tun haben konnte. Kraus warf einen Blick in den Flur hinter ihnen.
»Was ist hier wohl vor sich gegangen? Haben wir es mit einem Opfer des Bandenkriegs zu tun, das entsorgt wurde? Ein Stück weiter draußen liegt ja ein Nachtclub, der bei den Rockern ziemlich beliebt zu sein scheint.«
»Er wurde auf jeden Fall hier erschossen«, erklärte der Rechtsmediziner. »Aber mehr kann ich jetzt noch nicht sagen. Die Leiche weist einige Frakturen auf, die merkwürdig sind, und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Ich freue mich schon darauf, sie mir näher anzusehen. Man stößt ja nur so selten auf etwas, was man vorher noch nie gesehen hat.«
»Freut mich, dass der Fall Ihr Interesse geweckt hat«, bemerkte Thor trocken.
Sie schoben sich an dem Rechtsmediziner vorbei und betraten den Korridor. Thor wandte sich Kraus zu.
»Ich glaube, die Scheiße gehört hier eher zur Standarddekoration. Aber das Blut würde ich so interpretieren, dass der Typ irgendwo draußen angegriffen wurde. Es ist wohl ziemlich aussichtslos, jetzt noch Spuren zu finden, nachdem alle hier herumgetrampelt sind. Er muss entkommen und schwer verletzt zu den Toiletten gekrochen sein, wo er dann eingeholt wurde. Das würde jedenfalls die Blutspuren erklären. Dort drinnen muss ein erbitterter Kampf stattgefunden haben.«
Es ging darum, die Muster wiederzuerkennen. Kraus sah ihn mit gerunzelter Stirn an, als versuche er, Thors Gedankengang zu folgen. Für Thor war das Aufspüren von Mustern der Schlüssel zur Aufklärung eines Falles. Diese Technik erforderte Intelligenz, Wissen und Erfahrung. Die Erfahrung brauchte man, um die Fakten zu analysieren und zu ordnen, die man sammelte – mit dem Ziel, die Zahl der Möglichkeiten einzuschränken. Und am Ende kamen natürlich die Intuition oder das Bauchgefühl dazu, die einem letzten Endes erlaubten, alles Unwesentliche auszusortieren, damit man imstande war, das zu erkennen, was sonst niemand bemerkte. Damit man die richtigen Schlüsse schneller als andere ziehen konnte.
Thor hatte schon früh gemerkt, dass er diese Kunst bis zur Perfektion beherrschte. Aber es war viel Zeit vergangen, bis er verstanden hatte, wozu er sein Wissen anwenden konnte, und bei der Kriminalpolizei war er im richtigen Fach gelandet. Zwar hatte er nicht schon als Kind davon geträumt, zur Polizei zu gehen, und seine Eltern hatten ihn garantiert nicht dazu animiert. Ganz im Gegenteil – wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten, dann hätten sie sicher dagegen protestiert, dass Thor sich in einem relativ hohen Alter an der Polizeischule bewarb. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte er seit über zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen und auch keinerlei Interesse verspürt, dass sie Einfluss auf seine Lebensplanung nahmen. Er hatte die gleiche Ausbildung und Lehre durchlaufen wie alle anderen Polizisten. Aber etwas musste doch anders sein. Obwohl er den meisten seiner Klassenkameraden sicher schon aufgrund seines Alters an innerer Reife überlegen war, war er sich bewusst, dass dies nicht allein die Ursache war. Er war einfach anders und hatte eine vollkommen andere Herkunft als die meisten, und deshalb konnte er auch andere Verbindungen herstellen und andere Schlüsse ziehen als sie.
Ihm fiel es leichter zu verstehen, dass man sein Leben auf unterschiedliche Weise leben konnte. Thor war erst anderthalb gewesen, als seine Eltern von Kopenhagen in eine große Kommune nach Mitteljütland zogen. Sie war nicht streng politisch gewesen, eher eine richtige Flower-Power-WG, in der zu viel Tolkien gelesen und zu viel Hasch geraucht wurde. Das war auch die Erklärung dafür, dass er mit seinem zweiten Namen nach dem Mond benannt war. M stand für Måne. Soweit er sich erinnerte, hatten seine Eltern sich nie besonders viel um ihn gekümmert. Aber in der Kommune gab es stets andere Erwachsene, die für sie einsprangen. Abgesehen von einem Tag, wo seine Eltern hätten da sein sollen, jedoch versagt hatten, weil sich ihre Selbstverwirklichung längst in Pillen und Bier aufgelöst hatte. Er hatte das Chaos jener revolutionären Jahre im Guten wie im Schlechten erlebt.
Thor warf einen Blick in Richtung des Rechtsmediziners, der immer noch nicht gegangen war, als wolle er sich vergewissern, ob dieser seiner Deutung zustimmen konnte. Der Rechtsmediziner nickte und rief ihnen im Weggehen zu: »Wenn ihr mich fragt, sieht das wie eine eiskalte Hinrichtung aus.«