14

 

Eigentlich hatte alles im Irak begonnen. Kevin Love konnte sich noch genau daran erinnern, wann das gewesen war. Es war wie eine Szene, die er von außen betrachtete.

Er hatte im Schatten eines amerikanischen Humvees mitten auf einem der Marktplätze von Basra gestanden. Die Hitze war so drückend gewesen, dass die Soldaten mit ihren schweren Splitterschutzwesten zu nichts anderem fähig waren, als träge vor sich hin zu starren und lauwarmes Wasser zu trinken. Sie gönnten sich gerade eine wohlverdiente Pause, bevor die Patrouille weiterfuhr, sobald ihr First Lieutenant seine Geschäfte mit Kevin Love abgeschlossen hatte. Auf dem eigentlichen Marktplatz kauften die Einheimischen trotz der Hitze immer noch eifrig ein. Obwohl Krieg war, herrschte kein Mangel an Waren. Das war vielleicht auf den Dörfern so, wo die Bevölkerung auf die Ernte von ihren abgebrannten Feldern und auf die unregelmäßige Nothilfe angewiesen war. Aber nicht hier, in der zweitgrößten Stadt des Landes, wo man sich aufs Organisieren verstand und die Grenze zwischen legal und illegal nur in der Theorie existierte.

Kevin Love hatte sich mit dem Lieutenant abgesondert, der ihm gerade einen dicken Umschlag mit Dollars überreichte. Er steckte das pralle Kuvert, das sich kaum noch verschließen ließ, unbesehen in seine Tarnjacke. Er wusste, dass der Betrag stimmte. Love war nicht der Einzige im Irak, der gut von den Betrügereien der Besatzungsarmeen, der Bürokratie der Hilfsorganisationen und der Korruption der ortsansässigen Unternehmer profitierte. Er war jedoch derjenige, der die Fäden in der Hand hielt, der alle Geschäfte und Kontakte koordinierte. Sogar an Zalmay Khalizads Beamte zahlte er Bestechungsgelder. Sie liefen mit Koffern voller Bargeld herum, die für das aussichtslose Wiederaufbauprogramm gedacht waren. Ein Großteil davon landete auf schwarzen Konten in der ganzen Welt, hinter deren anonymen Inhabern sich Amerikaner verbargen. Aber Kevin Love war derjenige, den man bezahlte, um überhaupt zu diesem Markt zugelassen zu werden: um illegale Waffen an die Rebellen zu verkaufen, die ausländischen Truppen mit minderjährigen Prostituierten zu versorgen, Bestechungsgelder für Wiederaufbauarbeiten abzuschöpfen, Sicherheitsleute unter der Hand zu bezahlen.

Sie hatten ihr Geschäft gerade abgeschlossen, als ein Offizier mit blauem Barett und Armbinde ihm von der anderen Seite der Marktstände aus zuwinkte. Kevin Love nickte langsam, und der Mann bahnte sich seinen Weg durch das Marktgewimmel, um zu ihnen zu gelangen. Er gehörte dem UN-Kontingent an, das ein wenig südlich von Basra stationiert war. Kevin Love kannte ihn und hatte schon früher mit ihm in Darfur und im Kosovo Geschäfte gemacht. Natürlich befanden sie sich im Prinzip auf entgegengesetzten Seiten des Systems, und die UN-Angehörigen wussten ganz genau, mit wem sie es zu tun hatten. Aber sie wussten ebenso gut, dass sie ihm nie etwas würden nachweisen können. Und so konnte man doch auch ein Verhältnis aufbauen, von dem beide Seiten profitierten. Außerdem war allgemein bekannt, wie großzügig Kevin Love zu denen war, die er kannte und schätzte. In Krisengebieten auf der ganzen Welt erzählte man sich, dass er der Einzige war, der eine Flasche Bollinger herbeizaubern und spontan ein Fest auf die Beine stellen konnte – selbst da, wo alles andere zerstört war.

»Es gibt da jemanden, den du unbedingt kennenlernen solltest«, sagte der UN-Offizier zu Kevin Love. »Er heißt Khalid. Ich glaube, er ist an ziemlich interessanten Geschäften dran.«

Erst danach begrüßte er ihn und den amerikanischen Lieutenant richtig. Sie gaben sich die Hand, und nach einem abschließenden Klaps auf die Schulter des Amerikaners folgte Kevin Love dem UN-Offizier.

»Ist es ein Einheimischer?«, fragte er. »Jemand, den du kennst?«

Der andere nickte.

»Geschäftstüchtig und rücksichtslos. Ein Mann genau nach deinem Geschmack.«

*

Eigentlich hatte der Tag doch so vielversprechend begonnen. Der Donnerstag war Linneas einziger freier Tag vor der Wochenendschicht. Obwohl die Hitze in dem Zimmer mit den niedrigen Decken bereits jetzt am Vormittag unerträglich wurde, hatte sie noch in ihr Laken gewickelt im Bett gelegen, als ihr Festnetztelefon klingelte. Anfangs verstand sie kaum, worum es bei dem Gespräch eigentlich ging.

»Ich bin mir sicher, dass er es ist. Er ist keiner, den man so schnell vergisst.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Linnea. »Sie rufen vom Roten Kreuz aus an?«

Am anderen Ende der Leitung wurde es still.

»Vielleicht war ich etwas zu voreilig«, erklärte der Anrufer schließlich.

Diesmal verstand sie immerhin, dass der Anrufer Adam hieß. Sie war sich nicht ganz sicher, ob das sein Vor- oder Nachname war. Er war Polizeibeamter und arbeitete bei der Einwanderungsbehörde der Polizei im Asylcenter Avnstrup, das vom Roten Kreuz betrieben wurde. Sie überlegte kurz, wo Avnstrup eigentlich lag. Doch noch bevor sie ihn danach fragen und herausfinden konnte, warum er ausgerechnet bei ihr anrief, redete er auch schon weiter: »An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann ihn sicher herausfinden, wenn es wichtig ist. Es muss schon ein paar Jahre her sein, damals war ich noch in der Sjælsmark-Kaserne. Aber ich glaube, er ist es.«

Linnea zog das Laken zur Seite und stieg verwirrt aus dem Bett, während sie weitertelefonierte. Sie ging in die Küche und holte sich ein Glas Wasser.

»Ich kann nicht ganz folgen, von wem reden Sie eigentlich die ganze Zeit?«

Er hielt kurz inne.

»Ich spreche doch mit Linnea Kirkegaard, oder etwa nicht?«

Sie bejahte, und er fuhr sofort in dem gleichen, eifrigen Ton fort.

»Ich meine den, den Sie suchen. Den Toten. Nicht, dass ich mich an alle erinnern könnte, aber genau an ihn hier erinnere ich mich ziemlich deutlich. Ich war bei seiner Registrierung dabei, als er mit den anderen zusammen in Sjælsmark ankam. Sie waren ja in einer streng geheimen Aktion aus dem Irak evakuiert worden. Anschließend wurde er gemeinsam mit ein paar anderen in irgendeiner Jugendherberge einquartiert, während sie darauf warteten, dass die Einwanderungsbehörde ihre Asylanträge bearbeitete. Die Unterkunft war nur eine Notlösung, weil in den Auffanglagern ja extremer Platzmangel herrschte.«

»Ich verstehe immer noch nicht ganz …«, setzte Linnea an, während er unbeirrt weiterredete.

»Er hatte keine Bartstoppeln, so wie auf dem Foto. Da bin ich mir sicher. Auf solche Dinge achtete er immer ganz genau. Er legte großen Wert auf sein Äußeres, sogar hier im Lager, wo das die Leute normalerweise nicht gerade am meisten interessiert.«

»Warten Sie mal«, warf Linnea ein und massierte ihre Schläfen, um nicht schon wieder Kopfschmerzen zu bekommen. »Es ist wahnsinnig interessant, was Sie da erzählen, aber ich verstehe nicht ganz, warum Sie bei mir anrufen. Warum sprechen Sie nicht mit der Mordkommission?«

Sie kramte einen Bleistift hervor und kritzelte seinen Namen auf den Deckel eines Umzugskartons, solange sie ihn noch im Gedächtnis hatte.

»Ich dachte, Sie leiten die Ermittlungen? Den Eindruck hatte ich jedenfalls nach diesem Zeitungsartikel!«

Linnea spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen bildete. Sie hatte das Telefonat mit Adam beendet, nachdem sie ihn gebeten hatte, auf dem Polizeirevier anzurufen und Richard Bodilsen oder jemand anderen aus der Mordkommission zu verlangen. Anschließend war sie wieder ins Wohnzimmer geeilt. Jetzt klappte sie ihr MacBook auf und ging zurück ins Schlafzimmer, um das Laken zu holen und sich darin einzuhüllen.

Dann ging sie direkt auf die Internetseite von Politiken, konnte dort aber nichts von Interesse finden. Als sie gerade zur Seite des Dänischen Rundfunks wechseln wollte, kam ihr eine andere Idee und sie googelte ihren Namen. Der Knoten in ihrem Magen wurde sofort größer, als sie auf den ersten Treffer klickte. Hin und wieder googelte sie sich selbst aus reiner Eitelkeit. Natürlich tauchten zahlreiche Verweise zu wissenschaftlichen Artikeln und Konferenzen auf, an denen sie teilgenommen hatte. Jetzt allerdings führte der erste Treffer direkt zu Ekstrabladet.dk. Die Überschrift war erstaunlich sachlich für eine Boulevardzeitung: »Polizei identifiziert Skelett«, und der größte Teil des Artikels, den sie hastig überflog, hielt sich an die Fakten: Der Journalist beschrieb den Fund der skelettierten Leiche im Lammefjord und berichtete, die Polizei habe auf einer Pressekonferenz am gestrigen Nachmittag ein rekonstruiertes Foto des vermeintlichen Opfers veröffentlicht und fordere nun alle Zeugen, die Hinweise über die Person auf dem Bild geben konnten, auf, sich bei der Polizei zu melden.

Doch es gab auch einen ergänzenden Artikel, der von Linnea handelte. Oder besser gesagt, vorgab, von ihr zu handeln, denn es stand nicht viel darin, was der Wahrheit entsprach. Sie hatte keine Ahnung, woher der Journalist sein Wissen nahm, aber er hatte auf jeden Fall herausgefunden, dass sie für die Rekonstruktion verantwortlich zeichnete. Zudem wurden ihre Ausbildung und ihr beruflicher Hintergrund erwähnt, den man leicht im Internet recherchieren konnte. Aber der Journalist hatte sich zusätzlich auch dazu berufen gefühlt, die Fakten weiterzudichten, und schwärmte von ihr als einer genialen Knochendoktorin, die auf geradezu magische Weise alles über einen Toten herausfinden könne, allein indem sie sein Skelett studierte. Sie sei die neue Geheimwaffe der dänischen Polizei. Wie die smarte, hartgesottene Heldin einer neuen Krimiserie im Fernsehen wurde sie in dem Artikel beschrieben. Von einer solchen hatte sich der Journalist allem Anschein nach auch inspirieren lassen, denn vieles an der Geschichte war reine Fiktion.

Sie ging unter die Dusche und zog sich anschließend rasch irgendetwas über. Erst danach warf sie einen Blick auf ihren Blackberry und entdeckte, dass außer Adam noch unzählige andere versucht hatten, sie zu erreichen. Sie hatte das Gerät auf lautlos gestellt, als sie sich gestern Abend hingelegt hatte. Die Idee, ihre Mailbox abzuhören, verwarf sie sofort wieder. Sie hatte kein Bedürfnis, den Journalisten bei ihrer Jagd nach einer Story behilflich zu sein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Svend-Erik Nikolajsen anzurufen, weil er der stellvertretende Chef war, während Professor Morewski seine fünfwöchigen Sommerferien genoss. Morewski hätte die Geschichte auf der Stelle dementiert. Aus irgendeinem Grund hatte er sofort die Rolle ihres Beschützers eingenommen. Eigentlich hatte sie das nie für nötig gehalten oder sich gewünscht, wenngleich es niedlich war, dass er das glaubte. Nikolajsen war dagegen nicht ganz so umgänglich.

»Sämtlicher Kontakt zur Presse läuft über mich«, sagte er zu ihr. »Ich war davon ausgegangen, dass Sie das wüssten.«

»Sie glauben doch wohl nicht, ich hätte Ekstra Bladet kontaktiert?«

»›Dank ihrer Expertin Linnea Kirkegaard steht die Polizei vor einem Durchbruch.‹ Ich kann mir nicht vorstellen, wer daran sonst noch ein Interesse gehabt haben könnte.«

Linnea schnaubte.

»Wer außer mir, meinen Sie? Hätte ich dann nicht wenigstens dafür gesorgt, dass alles, was sie über mich schreiben, wenn schon nicht korrekt, dann doch wenigstens wahrscheinlich ist? Da steht, man hätte mich vom FBI abgeworben!«

Das Letzte war die absurdeste Behauptung in dem Artikel. Aber sie bewies immerhin, dass der Journalist seine Informationen aus dem Internet geholt – und auch noch falsch verstanden – und mit niemandem gesprochen hatte, der sie tatsächlich kannte. Zuletzt akzeptierte Nikolajsen widerwillig, dass der Artikel nicht auf ihrem Mist gewachsen sein konnte. Sie einigten sich darauf, dass es die beste Strategie zur Vermeidung eines schlechten Arbeitsklimas zwischen dem Rechtsmedizinischen Institut und der Polizei wäre, wenn sie persönlich zum Politigården fahren und die Sache aufklären würde. Linnea hatte schwach protestiert. Sie hatte eine ungute Vermutung, an wen sie ihre Entschuldigung richten musste, wusste aber gleichzeitig, dass es keinen Zweck hatte, sich zu weigern. Die Tatsache, dass sie sich für etwas entschuldigen sollte, an dem sie keine Schuld traf, war schlimm genug. Aber nicht so schlimm wie die Tatsache, dass es jemand vom Politigården sein musste, der die Geschichte in die Welt gesetzt hatte. Und ihr fiel mindestens ein Kandidat ein.

15

 

Jonas war bereits um fünf Uhr morgens aufgestanden, erschöpft vom Schlafmangel und gezeichnet von den grausigen Alpträumen, die ihn heimgesucht hatten, kaum dass er eingeschlafen war. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem schreienden irakischen Jungen zurück. Doch in seinen Träumen war es nicht Hauptmann Overbye, der das Geschehen lenkte, sondern Firaz, der mit einem Grinsen auf den Lippen immer tiefer in den rechten Zeigefinger des Jungen schnitt, bis das Blut nur so floss. Als der Finger schließlich lediglich an einem dünnen Hautfetzen hing, wandte Firaz sich Jonas zu und reichte ihm lächelnd das große Jagdmesser.

»Möchtest du nicht die Ehre haben, my man?«

Im Traum nahm Jonas das Messer entgegen, wandte sich aber von dem Jungen ab und stach stattdessen auf den Dolmetscher ein, auf seine Wange, ins linke Auge, in den Mund. Wieder und wieder stach er zu, um das höhnische Grinsen aus diesem verdammten Gesicht auszulöschen, während ihn seine Kameraden anfeuerten. Es war stets die gleiche Szene, der er erst entkam, wenn er sich zwang, aus dem Bett aufzustehen.

Er hatte das Bedürfnis gehabt, etwas Alltägliches zu unternehmen, um sich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Er hatte den schönen Sommermorgen und den Spaziergang durch die leeren Straßen seines Viertels genossen. Hier konnte er sich fast der Illusion hingeben, er wäre ein ganz normaler Mann auf dem Weg zum Bäcker, um dort ein paar Brötchen und eine Zeitung zu kaufen. Im Grunde war es logisch, dass seine Gedanken immer um diesen einen schicksalsschweren Tag in Basra kreisten. Alles, was seither geschehen war, alle Entscheidungen, die er getroffen hatte, und die verzweifelte Situation, in der er sich jetzt befand, waren auf jenen Tag zurückzuführen, als bei einem routinemäßigen Verhör alle Grenzen überschritten wurden.

Aber das war eine andere Welt, fernab von Virums beschaulichen Wohngebieten. Als Jonas beim Bäcker ankam, fühlte er sich ganz normal, ja, er konnte sogar über seine eigenen paranoiden Vorstellungen lächeln. Wahrscheinlich war es kein Wunder, dass seine Phantasie einem Hollywood-Gangsterfilm glich, wenn er fast ununterbrochen an diesen brütend heißen Tag im Camp Dannevang zurückdachte. Er musste dafür sorgen, mehr im Hier und Jetzt zu leben. Mit einem Mal erschien es ihm lächerlich, inmitten von Vogelgezwitscher, Blumenduft und Morgensonne an Mord und Totschlag zu denken. Er öffnete die Ladentür, schenkte der jungen Verkäuferin hinter dem Tresen ein breites Lächeln und genoss ihren anerkennenden Blick. Erst als er direkt vor dem Tresen stand, bemerkte er das Gesicht, das ihm von den Zeitungsseiten entgegenstarrte.

Beide Boulevardblätter brachten dasselbe Bild auf der Titelseite. Ein Farbfoto von einem orientalisch aussehenden Mann, den Jonas sofort als Firaz wiedererkannte. Irgendetwas an dem Bild stimmte nicht ganz, aber Jonas konnte es nicht benennen. Die großen Lettern beseitigten auch den letzten Zweifel. »Das ist der Tote!«, titelte die eine Zeitung marktschreierisch und fragte in der Unterzeile: »Wer kennt diesen Mann?« Die andere Zeitung schrieb: »Wer ist das? Das Skelett hat ein Gesicht bekommen.«

Jonas merkte, wie er langsam erstarrte. Er machte dicht, verließ seinen eigenen Körper, so dass er sich selbst von außen betrachten konnte. Er musste einfach nur weg von hier, weg von diesem Gesicht – und gleichzeitig musste er herausfinden, wie viel die Polizei wusste.

Das Gesicht des jungen Mädchens hinter dem Tresen hatte sich zunehmend verkrampft, während er wie gelähmt dastand. Plötzlich fiel ihm auf, dass er merkwürdige, winselnde Laute von sich gab. Er kämpfte sich in seinen Körper zurück, näherte sich widerwillig den Zeitungen, nahm sich zwei davon und faltete sie so zusammen, dass nur die Rückseite zu sehen war. Dann kramte er einen großen Schein aus der Hosentasche, warf ihn auf den Tresen und stolperte aus dem Laden.

Er rannte nach Hause, ja er sprintete, und versuchte gar nicht erst den Anschein zu erwecken, als laufe er aus Gründen der Fitness. Nachdem er sich hinter der Tür in Sicherheit gebracht hatte, brach er zusammen. Er drehte den Schlüssel ein weiteres Mal von innen im Schloss um. Dann saß er mehrere Minuten lang mit den Zeitungen neben sich auf dem Fußboden im Flur. Als er wieder normal atmen konnte, erhob er sich mühsam und wankte ins Wohnzimmer, wo er eine Flasche Oban Single Malt und ein Glas aus dem Schrank holte. Er schenkte sich mit zitternden Händen ein Glas ein und ließ sich in den Sessel fallen. Dann schlug er die erste Zeitung auf.

Einige Stunden später erwachte er voller Panik. Der Whisky rauschte noch immer durch seinen Körper. Doch anstatt ihn zu beruhigen, schien der Alkohol seine Nervosität nur noch mehr anzufachen. Und vor allem die Angst zu intensivieren. Plötzlich erkannte er klar und deutlich, in welch großer Gefahr sie sich befanden. Er musste unbedingt Lex erreichen, damit sie einen gemeinsamen Weg finden konnten, lebend aus dieser Sache herauszukommen. Am liebsten hätte er nichts getan, bevor er nicht mit ihr gesprochen hatte. Aber er hielt es nicht aus, zu Hause herumzusitzen und zu warten, bis er sie erreichte. Also beschloss er aufzuräumen und dabei so viele Spuren wie möglich zu beseitigen.

Er lud das Auto bis oben hin mit jenen Waren voll, an die er am leichtesten herankam. Versteckte sie unter einer Decke und fuhr Richtung Süden zum Sommerhaus. Es war kein dezidierter Plan, aber immerhin eine Handlung, und damit auch eine Möglichkeit, den wachsenden Drang zu bekämpfen, sich selbst bei der Polizei anzuzeigen. Doch gleichzeitig war ihm bewusst, dass er damit alles aufgab, wofür er so lange gearbeitet hatte. Ihre Chance auf einen gesellschaftlichen Aufstieg und auf Gerechtigkeit.

Jonas hatte die Freisprechanlage eingeschaltet, und nachdem er kurz hintereinander drei Nachrichten hinterlassen hatte, rang er sich durch, nur noch nach jedem Kilometer, den er zurückgelegt hatte, einmal anzurufen. Als er Lex endlich erreichte, hatte er gerade die Abfahrt nach Haslev passiert.

»Ich habe den ganzen Vormittag angerufen. Wo steckst du denn?«

»Jetzt beruhig dich doch erst mal. Bist du im Auto unterwegs? Dann ruf mich wieder an, sobald du irgendwo angehalten hast, okay?«

Sie legte sofort wieder auf, und Jonas suchte auf dem Navi verzweifelt nach Abfahrten oder Rastplätzen, doch ohne Erfolg. Also überquerte er etwas zu abrupt zwei Fahrbahnen und stellte sich mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf den Standstreifen. Diesmal meldete sie sich sofort.

»Was ist denn bloß los? Ich habe dreizehn unbeantwortete Anrufe von dir. Dabei hatte ich doch nur eine Dreiviertelstunde lang den Ton aus.«

Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor. Die ganze Panik, die er nicht mit ihr hatte teilen können, weil sie unbedingt in Skandinavien unterwegs sein und ihre geschäftlichen Kontakte pflegen musste.

»Ich weiß, warum er mich treffen will. Er ist uns auf die Schliche gekommen. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis die Polizei dasselbe tut. Firaz ist in der ganzen Stadt auf allen Titelseiten zu sehen. Ich bin gerade dabei aufzuräumen.«

»Warte mal, Jonas. Haben sie ihn etwa schon identifiziert? Bitte erzähl mir das Ganze noch mal der Reihe nach, in aller Ruhe. Ich habe hier noch keine dänischen Zeitungen gelesen.«

»Irgendwie haben sie es geschafft, sein Gesicht zu rekonstruieren.«

Jonas drehte den Zeitungsstapel um. Er hatte es nicht ausgehalten, mit Firaz’ anklagendem Gesicht neben sich Auto zu fahren. Er blätterte fieberhaft.

»Es sieht ihm zum Verwechseln ähnlich!«

Seine Stimme überschlug sich hysterisch, und Lex schwieg eine Weile.

»Lex, hier steht, dass nur noch ein Skelett von ihm übrig war. Aber jetzt wird nicht mehr viel Zeit vergehen, ehe ihn jemand erkennt. Und die Zeitung schreibt, dass man genug Spuren gefunden hat, um herauszubekommen, wer ihn umgebracht hat. Vielleicht kann uns die Polizei helfen … wir müssen irgendwas tun, wir müssen … Er hat rausgefunden, was passiert ist, und jetzt ist er gekommen, um mich umzubringen!«

Sie unterbrach ihn. Ihre Stimme klang hart.

»Jetzt redest du doch Unsinn, Jonas. Sie wissen von nichts, und du hörst jetzt auf mit deinem Gerede. Außerdem kann das ja gar nicht stimmen. Wenn die Bilder erst heute in der Zeitung waren, konnte er doch nicht schon etwas über Firaz wissen, als er dir die Mail geschickt hat.«

Er verstand nicht, wie sie das alles so gefasst aufnehmen konnte.

»Aber die Lage ist ernst, Lex. Natürlich hat er Kontakte zur Polizei. Er weiß all das, was sie nicht einmal den Zeitungen erzählt haben. Ich sage dir, er will mich umbringen.«

»Dann musst du doch einfach nur dafür sorgen, dass dieser Fall nicht eintritt, oder? Hör mal zu. Vor heute Abend kann ich nicht wieder zu Hause sein. Du drehst jetzt um und fährst nach Hause. Und du wirst nichts ohne mich unternehmen. Verstanden?«

Er murmelte zustimmend und legte auf. Jetzt hatte er immerhin klare Anweisungen. Er blinkte, bog erneut auf die Autobahn und nahm die nächste Abfahrt, um wieder zurückzufahren. Lex hatte recht. Er sollte einfach nur nach Hause fahren. Vielleicht konnte er sogar eine Weile schlafen. Die letzten Nächte hatten schwer an ihm gezehrt, und als er in den Rückspiegel des Autos blickte, sah er in rotgeäderte Augen mit tiefen, dunklen Augenringen. Wenn er wenigstens ein bisschen schlafen könnte, würde er auch klarer denken und sich nicht mehr so irrational aufführen wie heute Vormittag. Lex’ Stärke hatte stets einen beruhigenden Einfluss auf ihn gehabt. Obwohl es ihn in gewisser Weise auch erschreckte, dass sie selbst in den heikelsten Situationen noch so überlegt handeln konnte. Gleichzeitig aber brachte genau diese Art der Problemlösung sie mitunter in noch unüberschaubarere Situationen.

Schließlich war es Lex gewesen, die ihre gemeinsamen Ambitionen bis zu diesem Punkt getrieben und dafür gesorgt hatte, dass er jetzt um ihrer beider Leben fürchtete.

16

 

Selbst unter Wasser musste Kevin Love noch zufrieden in sich hineingrinsen. Man konnte nie ahnen, wie sich ein Geschäft entwickelte. Dieses hier hatte vor vier Jahren im Irak begonnen, und jetzt war er gekommen, um es abzuschließen. Oder besser gesagt, um sich zu vergewissern, dass die Sache ein für alle Mal sauber zu Ende gebracht wurde. Das Geschäft hatte ausgezeichnet floriert, war dann aber aus dem Ruder gelaufen, und für so etwas hatte er keine Kapazitäten übrig.

Er holte zwischen zwei Schwimmzügen Luft, ehe er wendete und sich wieder abstieß. Die Bahn war nur fünfzehn Meter lang, was zum Kraulen eigentlich zu wenig war. Der Rhythmus wurde ständig unterbrochen, so dass man nie die nötige meditative Ruhe fand, um zu entspannen und die Herausforderungen angehen zu können, die einen sonst ablenkten. Er zog die professionellen 50-Meter-Bahnen vor, aber von einem Hotel in Kopenhagen durfte man natürlich nicht allzu viel erwarten. Wahrscheinlich musste er froh sein, dass das D’Angleterre überhaupt ein Schwimmbecken im Kellergeschoss beherbergte, in dem er seine täglichen Bahnen schwimmen konnte. Das alte Hotel mit Aussicht auf den Kongens Nytorv galt als das mondänste Haus am Platz, was seiner Meinung nach nicht viel aussagte. Er hatte schon einmal in diesem Hotel gewohnt, das in gewisser Weise so klein und provinziell war, dass es schon fast wieder charmant war.

Das Schwimmbecken war nur für eine halbe Stunde reserviert. Mehr ließ sich ohne eine längere Vorlaufzeit nicht einrichten, und er hatte keine Lust gehabt, deswegen eine Szene zu machen. Als Entschädigung wollten sie ihm nach dem Schwimmen eine Flasche Dom Pérignon bereitstellen, ohne sie extra zu berechnen. Er registrierte zufrieden, dass der Champagner bereits auf einem Tischchen neben der Sauna in einem Kühler auf ihn wartete. Es war ein 2000er-Jahrgang. Na meinetwegen, dachte er, schenkte sich ein halbes Glas ein und kippte es in einem Zug herunter, noch bevor er sich den Bademantel überstreifte. Dann holte er seinen PalmPilot aus der Tasche.

In etwas mehr als einem Tag wäre der Fall gelöst, und er konnte Kopenhagen wieder verlassen. Vollständig gelöst. Ihn hatte es fast in den Fingern gejuckt, den Auftrag selbst zu erledigen. Früher hätte er solche Probleme noch höchstpersönlich aus der Welt geschafft. Aber seit er zum letzten Mal jemanden getötet hatte, war viel Zeit vergangen. Sein letztes Opfer war ein philippinischer Großhändler gewesen, der sich etwas zu geizig gezeigt hatte. Die Sache war schnell überstanden gewesen. Nicht mit Waffen oder ausgeklügelten Plänen, die in letzter Sekunde schiefgehen konnten. Nur ein paar neue Kalbslederhandschuhe und dann ein ungläubiger Blick des Philippinen, als Kevin Love das Glas, mit dem sie gerade angestoßen hatten, fallen ließ und seine Hände noch in derselben Bewegung zu seinem Hals schnellten und zudrückten.

Aber das war wie gesagt mehrere Jahre her. Skrupel gegenüber Liquidierungen hatte er keineswegs. Ein Geschäftspartner, der seinen Pflichten nicht nachkam oder versuchte, einen größeren Teil des Kuchens abzubekommen, wusste ziemlich genau, was für ein Risiko er einging, welches Schicksal ihm bevorstand. Doch für Love selbst stand heutzutage mehr auf dem Spiel. Das Risiko, das mit Blut an den Händen immer einherging, konnte er sich als Profi nicht mehr leisten.

»Stör ich? Soll ich später noch mal wiederkommen?«

Ein Mädchen um die zwanzig stand zwischen den Säulen am Beckenrand. Sie war leger gekleidet und trug einen Trainingsanzug, unter dem sich ein Paar dralle Brüste abzeichnete. In der einen Hand hielt sie ein Badelaken. Sie sprach Englisch mit einem leichten baltischen Akzent und lächelte ihn kokett an.

»Nein, du kommst genau richtig.«

Und als er ihr folgte, um eine Weile seine Grübeleien zu vergessen, dachte er, dass er es tatsächlich hin und wieder vermisste – das Töten.

*

Das Treffen im Politigården verlief genau so anstrengend, wie Linnea befürchtet hatte.

Offenbar hatte der Beamte aus dem Asylcenter Avnstrup ausgerecht kurz vor ihrer Ankunft angerufen. Er hatte in den Archiven nachgesehen und herausgefunden, dass der Mann Firaz Khalid hieß. Adam hatte den Iraker seinerzeit selbst befragt, als dieser Asyl beantragt hatte und in der Sjælsmark-Kaserne untergebracht worden war. Er konnte berichten, dass Khalid sein monatliches Verpflegungsgeld zuletzt im November 2008 abgehoben hatte. Das passte ausgezeichnet zu dem von Linnea ermittelten Todeszeitpunkt. Das genaue Datum seines Verschwindens kannte niemand, aber seit diesem Tag war er nicht mehr aufgetaucht, um sich sein Geld abzuholen. Außerdem hatte er seinen Schrank in der Jugendherberge in Holbæk, wo er zuletzt gewohnt hatte, nicht geleert. Das konnte ebenfalls ein Indiz dafür sein, dass er diesen Ort nicht aus freien Stücken verlassen hatte. Andererseits hatte der Schrank auch nichts von Wert enthalten, und der restliche Inhalt war längst entfernt worden. Der Zeitpunkt passte ausgezeichnet. Ob es sich tatsächlich um den gesuchten Mann handelte oder nicht, war vorläufig noch immer eine offene Frage, die Vizepolizeikommissar Richard Bodilsen nicht mit Linnea zu diskutieren gedachte.

»Aber falls es noch andere Dinge gibt, von denen Sie uns nichts erzählt haben, dann sollten Sie das jetzt nachholen.«

Er warf eine Zeitung vor sie auf den Tisch und blätterte dann demonstrativ zu dem Artikel über den Mord. Tage Ewald, der am Fenster stand und versuchte, ein wenig frische Luft zu schnappen, machte im Hintergrund eine entschuldigende Geste. Im Internet waren nur die Bilder des rekonstruierten Kopfes zu sehen, doch in der gedruckten Version nahm Linneas Gesicht mindestens ebenso viel Raum ein. Tatsächlich konnte man sich des Gedankens nicht erwehren, dass dies einer der wichtigsten Gründe für den Journalisten gewesen war, um seine sogenannte Geschichte aufzuziehen: dass er das Foto einer jungen Frau mit einem schiefen Lächeln und großen braunen Augen mit einer sensationellen Überschrift kombinieren konnte. Soweit Linnea sich erinnerte, stammte das Foto von einer Party in ihrem letzten Jahr an der Uni, auf dem sie zum einen wesentlich jünger und zum anderen viel stärker geschminkt war, als sie es sich für ein Porträt in der Zeitung gewünscht hätte. Sie wusste, dass man dieses Foto nicht einfach so im Netz finden konnte. Und sie hatte keine Ahnung, wie der Reporter an das Bild gekommen war. Allein beim Anblick wurde ihr schlecht.

»Sie deuten außerdem an, dass Sie ziemlich gut über den Fall informiert sind.«

Linnea zuckte irritiert mit den Schultern.

»Sie sollten lieber meinen Bericht lesen als die Schlagzeilen in Ekstra Bladet

Damit war das Gespräch im Prinzip beendet. Aber Linnea hatte die Gleichgültigkeit des Polizisten gegenüber seinem Fall provoziert.

»Warum hat man ihn nicht vermisst gemeldet?«, fragte sie deshalb. »Wenn er tatsächlich derjenige ist, den wir identifiziert haben.«

»Vorläufig wird das nur von Ihrem Freund Adam bestätigt. Aber abgesehen davon, ist wohl nicht viel Hokuspokus dabei, wenn die Sache irgendwo im System verlorengeht. Hier leben doch Gott weiß wie viele Iraker. Die Aufnahmelager sind reine Durchgangsstätten. Alle möglichen Leute kommen dort angerannt, um Asyl zu beantragen, und wollen ein Stück von unserem Wohlstandskuchen abhaben. Und sobald sie entdecken, dass sie keine Chancen haben, sich in unseren Staatskassen zu bedienen, verschwinden sie spurlos und versuchen ihr Glück anderswo.«

»Ihnen ist es also egal, dass Menschen einfach so verschwinden?«

»Hören Sie doch auf, mir die Worte im Munde umzudrehen!«

»Aber ganz realistisch betrachtet, ist es Ihnen gleichgültig, weil es nur Asylbewerber sind, und die interessieren uns nicht?«

Linnea war kurz vorm Überkochen, verkniff sich aber weitere Kommentare. Richard Bodilsen betrachtete sie einen Moment lang schweigend, um dann zu einem Vortrag anzusetzen.

»Auch wenn es Sie überraschen sollte – wir sind tatsächlich dabei, der Angelegenheit nachzugehen. Vermutlich gehört unser verstorbener Freund zu jenen Irakern, denen Asyl gewährt wurde, nachdem sie als Dolmetscher für die Besatzungstruppen im Irak gearbeitet hatten. Der Großteil von ihnen kam im Juli 2007 hierher. Knapp vierhundert von ihnen erhielten Asyl. Allein im Laufe der letzten fünf Jahre reisten mehr als dreitausend irakische Asylbewerber wieder aus Dänemark aus. Sie fallen unter die Kategorie ›vermutlich Ausgereiste‹. Als ich vor kurzem bei der Ausländerbehörde anrief, erfuhr ich, was das bedeutet. Dabei handelt es sich um all jene, die ihren Aufenthaltsort in Dänemark verlassen haben, ohne dass die Behörden wissen, wohin sie verschwunden sind. Bei einigen wurde der Asylantrag abgelehnt, die meisten von ihnen aber verschwanden, noch bevor das Asylverfahren abgeschlossen war.«

»Und was ist aus ihnen geworden?«

Richard Bodilsen zuckte mit den Schultern.

»Das weiß keiner. Einige sind vielleicht zurück in den Irak gegangen. Die meisten werden sicherlich illegal in ein anderes Land weitergereist sein, um dort ihr Glück zu versuchen. Und dann gibt es bestimmt auch einige, die in Dänemark untergetaucht sind. Und es liegt geradezu in der Natur der Sache, dass niemand es genau weiß, da sie jetzt Illegale sind. Und der Punkt ist, dass all diese Menschen mehr als drei Viertel von sämtlichen Ausgereisten und abgelehnten Irakern ausmachen. Bleiben also mehrere Tausend Menschen, deren Schicksal ungeklärt ist. Also kann es schon sein, dass unser Skelett aus dem Lammefjord mit diesem Halal oder wie er heißt identisch ist. Oder er gehört zu den mehreren Tausend anderen, über deren Verbleib wir nichts wissen.«

17

 

Unter dem Vorwand, ihm die Kundenlisten übergeben zu wollen, hatte sich Jonas mit Firaz am üblichen Treffpunkt verabredet. Für gewöhnlich trafen sie sich auf einer alten Bank an einem kleinen Pfad, der einige Minuten Fußweg von der Straße nach Sjællands Odde entfernt lag. Die Gegend wurde immer einsamer, sobald man sich von der verlassenen Imbissbude und den wenigen Autofahrern entfernte, die hier ausstiegen, um sich am Deich vorm Lammefjord die Füße zu vertreten.

Einige Tage zuvor waren Jonas und Lex dorthin gefahren, um die Umgebung zu inspizieren und einen passenden Ort zu finden, an dem Lex sich verstecken konnte, während Jonas sich mit Firaz traf. Idealerweise sollte sie so nah wie möglich bei ihnen stehen, damit sie schnell und ungesehen hinter Firaz auftauchen und ihn mit Jonas’ Pistole bedrohen konnte. Sie fanden schließlich ein nur wenige Meter entferntes Gebüsch, hinter dem sie sich verbergen konnte. Die Pistole war nicht geladen, würde ihre abschreckende Wirkung aber hoffentlich trotzdem nicht verfehlen.

Firaz hatte nervös gewirkt, als er auf Jonas zukam. Er hatte sich mehrmals umgesehen und zum ersten Mal gefordert, Jonas’ Taschen und Kleidung zu durchsuchen. Jonas ließ die Visitation bereitwillig über sich ergehen, setzte sich auf die Bank und forderte Firaz dazu auf, es ihm gleichzutun. Im selben Moment kam Lex angeschlichen.

»Keine Bewegung.«

Sie flüsterte ihm ihren Befehl von hinten zu und bohrte den Pistolenlauf in Firaz’ Hals. Seine Miene erstarrte mitten in einem Grinsen.

»Es gibt da ein paar Sachen, die du uns erzählen solltest, bevor wir uns voneinander verabschieden.«

Jonas genoss seine Überlegenheit und die offensichtliche Angst des Dolmetschers. Er war sich gar nicht darüber im Klaren gewesen, wie sehr er sich nach Rache gesehnt hatte. An diesem kleinen, widerlichen Mann, der seinen geplanten Lebensweg zerstört hatte.

»Ich habe den dringenden Verdacht, dass dein Lager nicht weit von hier liegt. Stimmt das?«

Firaz starrte Jonas hasserfüllt an und spuckte auf den Boden.

Lex, die immer noch hinter der Bank stand, spannte den Abzug der Pistole, und Firaz zuckte zusammen. Sie beugte sich über seine Schulter.

»Wir gehen jetzt mal ganz ruhig zu unserem Auto, das du da drüben links stehen sehen kannst. Und dann erzählst du uns, wo wir hinmüssen, okay?«

Als sie beim Auto angekommen waren, übernahm Jonas die Pistole. Er schubste Firaz auf die Rückbank und setzte sich neben ihn. Lex fuhr auf die Straße und den Anweisungen von Firaz folgend Richtung Norden. Sie bogen in einen holprigen Waldweg ein und nahmen eine weitere Abzweigung. Zwischendurch kamen sie an einigen kleineren Höfen vorbei. Jonas wurde allmählich unsicher, wo Firaz sie hinführen wollte. Als sie einen kleinen Feldweg erreicht hatten und keine bewohnten Häuser mehr zu sehen waren, versuchte Firaz sich zu wehren.

Er warf sich mit aller Kraft auf Lex, und das Auto scherte scharf nach rechts aus und schlitterte gefährlich nahe an einem alten Autowrack vorbei. Lex schrie auf, konnte den Wagen jedoch wieder unter Kontrolle bringen.

Jonas schlug Firaz so brutal mit der Pistole ins Gesicht, dass die Haut aufplatzte, er vor Schmerz aufstöhnte und sich an die Wange fasste.

»Ich werde stillsitzen, verdammt. Wir müssen nach da drüben.«

Er zeigte auf ein Gebäude am Ende des Feldwegs, eine Ruine direkt am Waldrand. Lex lenkte das Auto über den matschigen Boden bis zum Haus. Der am stärksten mitgenommene Teil des Gebäudes schien eine Art Garage zu sein. Firaz nickte in deren Richtung, als sie aus dem Auto ausgestiegen waren.

Jonas reichte Lex die Pistole und ging hinein, um das Gebäude zu untersuchen. Er versank tief in dem Matsch auf dem Hof. Als er sich bis zum Eingang vorgekämpft hatte, sah er in einen großen, düsteren Raum. Innen roch es stechend nach Schimmel, und an der einen Wand konnte er alte Möbel ausmachen. Der Rest des Raums schien mit kaputten Fahrrädern, schwarzen, fast aufgelösten Plastiksäcken und anderem Müll vollgestopft. An einigen Stellen drangen ein paar Sonnenstrahlen durch das weggefaulte Dach.

Es war der richtige Ort, das wusste Jonas sofort. Er erkannte den Geruch der Waren wieder, die Firaz geliefert hatte. Er musste zugeben, dass dieser Ort ein ideales Versteck war. Hier hatte schon seit vielen Jahren niemand mehr gewohnt.

Er entdeckte einen alten Gartenstuhl mit Metallgestell. Der Sitz bestand aus jenen dünnen Gummischnüren, auf denen er damals im Garten schon als Kind nicht gern gesessen hatte. Er erinnerte sich noch genau an das Gefühl der roten Striemen auf den Oberschenkeln. Dann räumte er die Ecke frei, die am weitesten vom Eingang entfernt lag, und stellte den Stuhl an die Wand.

Er ging zum Eingang zurück und winkte Lex und Firaz herein. Mittlerweile fühlte er sich sicher und professionell. Genau auf diesem Gebiet war er schließlich Experte. Jonas band Firaz am Stuhl fest. Und Lex bohrte ihm den Lauf der Pistole in die Schläfe.

Anschließend untersuchte Jonas die Umgebung des Hauses. Er wurde schnell fündig, an einer Stelle, an der erst kürzlich gegraben worden war. Dort lagen Firaz’ Waren, in Plastiktüten und Zeitungspapier gewickelt, im Waldboden vergraben. Niemand, der nicht genau wusste, wonach er suchen musste, würde hier etwas finden.

Er rief es Lex triumphierend zu.

»Seid ihr euch darüber im Klaren, was passiert, wenn ihr die Sachen anrührt?«

Firaz’ Stimme war schrill.

»Ich stecke doch nicht allein dahinter, verdammt. Die Sache ist viel größer, als ihr ahnt. Es gibt da jemanden, der nicht mit sich spaßen lässt, kapiert?«

Lex ging in die Hocke, mit dem Gesicht ganz nah an dem von Firaz.

»Und du glaubst, wir könnten nicht mit den großen Jungs spielen? Du bist doch der Einzige, den wir zu nichts gebrauchen können. Dein Lager haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch deine Kontakte, und dann kannst du dich aus dem Staub machen.«

Er spuckte ihr ins Gesicht.

»Vergiss es, du Schlampe. Wenn ihr mir etwas antut, wird er es euch tausendfach zurückzahlen.«

18

 

Bist du noch da?«, flötete Veronica. »Mach weiter. Deine Hand streichelt meinen Oberschenkel. Jetzt gleitest du bis nach ganz oben und spielst mit deinem Finger daran herum. Und jetzt mehr!«

Kevin Love grunzte zurück. Allmählich war sein Stöhnen ebenfalls tiefer und leidenschaftlicher geworden. Sein Körper war mittlerweile so warm und entspannt, dass ihm das Telefon beinahe aus der Hand geglitten wäre. Er wandte sich ein wenig um und sah kurz zu der Masseuse auf, die intensiv und gezielt seinen Rücken bearbeitete, ohne seinen Blick zu beachten. Ihre Körperformen waren füllig und aufreizend, so dass er sie im ersten Moment fast für eine Prostituierte gehalten hätte. Aber sie massierte ihn gekonnt und professionell im Wellnessraum neben dem Schwimmbecken des D’Angleterre. Sie wusste, was sie tat, und falls sie doch käuflich war, wäre sie garantiert nicht billig. Umso besser.

»Ich fühle, dass du schon ganz feucht bist«, säuselte er ins Telefon und legte sich wieder gerade hin. »Du bettelst mich an weiterzumachen.«

Er fuhr fort, in allen Details zu beschreiben, was er mit ihr anstellte. Veronica am anderen Ende der Leitung klang hingebungsvoll, und er ahnte nicht, ob das nur gespielt war. Natürlich war es eine Art Schauspiel, aber er war sich nicht sicher, ob sie sich darüber selbst im Klaren war. Er hatte sie schon seit vielen Jahren im Verdacht, sich perfekt in die Rollen einzuleben, die von ihr erwartet wurden, und nicht mehr unterscheiden zu können, was echt war und was nicht.

Im Grunde kümmerte es ihn auch nicht. Sie war fünfzehn Jahre jünger als er, ein ehemaliges Model. Obwohl sie die fünfunddreißig bereits überschritten hatte, war bei ihr, abgesehen von einer kleinen Brust-OP, noch nie ein Eingriff nötig gewesen, was ihm ausgezeichnet passte. Er hasste zu viel Künstlichkeit. Sie wohnte die meiste Zeit des Jahres in ihrem gemeinsamen Haus in Nizza. Er selbst zog das Leben in New York vor, wenn er nicht gerade geschäftlich unterwegs war. Nizza war ein Ort, an dem es nicht viel anderes zu tun gab, als braungebrannte Dekolletés zu begaffen und Drinks zu schlürfen. Daran war nichts auszusetzen, aber ihm persönlich war das auf Dauer zu langweilig. Wenn es Veronica zufriedenstellte, hatte er nichts dagegen, solange sie ihm zur Verfügung stand, wenn er sie brauchte. Bisher bereute er seine Entscheidung nicht, sie sich als Ehefrau zuzulegen. Und so unternahm er ein paar Mal im Jahr einen Ausflug nach Nizza. Der kurzfristige Besuch in Kopenhagen war lediglich ein Zwischenstopp.

»Nicht so sanft, Liebling«, säuselte Veronica ins Telefon. »Härter!«

Kevin Love schlug geräuschvoll den Auktionskatalog zu. Einer seiner dänischen Kontakte hatte ihm die Kataloge besorgt, und während seines Telefonats mit Veronica hatte er ein Exemplar vor sich auf dem Boden liegen gehabt und mit der freien Hand geblättert.

»Du kennst die Regeln. Ich muss mich auch um meine Geschäfte kümmern. Gib mir mal Sonny.«

Er konnte den Atem seiner Frau am anderen Ende hören. Dann herrschte nur für einen kurzen Moment Stille. Schließlich konnte er hören, wie sie das Telefon beiseitelegte.

»Den Rest erledigen wir später«, sagte er zu der Masseuse.

Sie sah ihn überrascht an.

»Sind Sie sicher? Sie könnten sich auch umdrehen?«

Er schüttelte den Kopf, versorgte sie mit reichlich Trinkgeld und wiederholte, dass sie nun gehen könne. Während sie die Tür hinter sich schloss, nahm er einen neuen Auktionskatalog aus dem Stapel. Er begann darin zu blättern, kam aber nur bis zur Seite mit den Antiquitäten und Sammlerobjekten, dann hatte er auch schon den Leibwächter in der Leitung.

»Bist du jetzt in Kopenhagen?«, fragte Sonny. »Ich dachte, die Lage wäre unter Kontrolle?«

»Ist sie auch. Sie haben Khalid tot aufgefunden. Sieht so aus, als hätte man ihn schon damals vor eineinhalb Jahren aus dem Weg geräumt. Die Leiche wurde jedoch erst jetzt gefunden. Kann sein, dass er es nicht besser verdient hat, aber sie hätten mich sofort darüber informieren müssen. So lauten die Regeln. Es besteht jedenfalls kein Zweifel daran, wer dahintersteckt. Ich habe dem Dänen seinerzeit eine Chance gegeben, die er offenbar nie hätte kriegen dürfen. Jetzt bleibe ich hier und wickle das Geschäft ganz ab, sobald mich die Nachricht erreicht, dass unsere kleine Freundin ihren Job erledigt hat.«

Es entstand eine kurze Pause. Dann fragte Sonny: »Gibt es etwas, was ich tun kann?«

»Du behältst Veronica im Auge, bis ich komme. Ich habe das Gefühl, sie hat etwas mit einem dieser braungebrannten Gigolos am Laufen, mit denen sie sich umgibt.«

»Soll ich Fotos machen?«

»Glaubst du, ich bin pervers? Es genügt, wenn du ihr einen Zeh abschneidest, sobald du merkst, dass sie sich auf Abwegen befindet.«

*

Im Schatten der Kolonnaden ließ es sich aushalten, doch kaum war Linnea nach draußen getreten, wurde sie fast von der Hitze erschlagen. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn, aber sie ignorierte das und eilte am Pförtner vom Politigården vorbei auf den Polititorv. Für einen kurzen Moment überlegte sie, nach Hause zu gehen. Von hier aus konnte es zu Fuß höchstens zehn Minuten dauern. Dann beschloss sie, stattdessen einen Spaziergang zum Hafen zu machen. Sie konnte kaum atmen und sehnte sich nach einer kühlen Brise. Nicht allein wegen der Hitze, sondern auch um die Standpauke zu verdauen, die sie sich hatte anhören müssen.

Sie ging Richtung Wasser. Als sie den Frederiksholms Kanal erreicht hatte, kam der Sorte Diamant, ein Teilgebäude der Königlichen Bibliothek, in Sicht. Selbst am späten Nachmittag wimmelte es im Café der Bibliothek noch immer vor Touristen und Studenten. Und plötzlich verlor sie die Lust, am Wasser entlang weiterzugehen, obwohl sie schon oft dort an der Hafenfront gesessen und den Abend genossen hatte. Eine Sekunde lang dachte sie geradezu paranoid, dass man sie wiedererkennen würde, wenn sie sich an einem solchen Ort zeigte, und schob sich ihre neue Chanel-Sonnenbrille auf die Nase. Aber das war natürlich Unsinn. Niemand würde sie wiedererkennen, und selbst wenn, wäre es den Leuten vermutlich egal. Sie setzte ihren Weg fort und bog dann links in den Bibliotheksgarten ab, wo sie hoffentlich allein sein würde.

Morgen würde wahrscheinlich wieder jemand anderes die Titelseiten der Zeitungen zieren, und in diesem Augenblick hatte sie vor allem das Bedürfnis, in Ruhe nachzudenken.

»Ist das nicht Hans Christian Andersen? Den hätte ich mir aber größer vorgestellt.«

Linnea hatte gerade ihren Blackberry aus der Tasche geholt und wollte ihn einschalten, legte ihn dann aber wieder weg, als sich ein paar lärmende Touristen auf dem Kopfsteinpflaster näherten. Es waren Amerikaner, dem Dialekt nach aus dem Mittleren Westen. Garantiert hatten sie mit einem der Kreuzfahrtschiffe angelegt und nun gerade mal vierundzwanzig Stunden oder noch weniger Zeit in Kopenhagen zur Verfügung. Zum Glück kamen sie nicht auf die Idee, sich ebenfalls in den Bibliotheksgarten zu setzen. Nachdem sie die obligatorischen Fotos von der Statue geknipst hatten, gingen sie weiter, und Linnea hatte die kleine Oase hinter der Bibliothek wieder ganz für sich allein.

Wäre die ganze Situation nicht so ärgerlich für sie gewesen, hätte sie eigentlich darüber lachen können. Mittlerweile war ihr klargeworden, dass sich Nikolajsen am meisten über die Behauptung ärgerte, man hätte sie vom FBI abgeworben. Das hatte ihn offenbar stark in seiner Eitelkeit gekränkt, während sie selbst es eher amüsant fand. Es stimmte, dass sie einmal auf einem Seminar vom FBI einen Vortrag gehalten hatte. Vermutlich hatte dies den Journalisten zu einer Weiterdichtung inspiriert, nachdem er ihr Skript im Internet gefunden hatte. Aber die Behauptung mit dem Headhunting konnte gar nicht wirklichkeitsferner sein. Eigentlich war es ja auch kein großes Geheimnis, dass sie vor anderthalb Jahren nach Dänemark gekommen war. Das Rätsel lag viel mehr darin, warum sie das Land nicht längst wieder verlassen hatte.

Wurde sie nach ihrer Nationalität gefragt, dann antwortete sie immer »Dänisch«, obwohl ihr weder Frage noch Antwort sinnvoll erschienen. Sie war in Nairobi geboren worden, als ihr Vater politischer Ratgeber für irgendein Auslandsprojekt gewesen war. Ihre frühesten Kindheitserinnerungen waren alle mit Afrika verknüpft. Ihre ersten Schuljahre verbrachte sie auf einer internationalen Schule in Bangkok, nachdem ihr Vater dort eine Stellung bekommen hatte. Anschließend war die Familie dem Vater und seiner rasanten Karriere quer durch Asien hinterhergereist. Nie mehr als ein paar Jahre an einem Ort, bevor der Vater einen neuen Posten antrat. Sie selbst war größtenteils ihren verschiedenen Nannies und Ayahs überlassen worden. Womit sich ihre Mutter eigentlich die Zeit vertrieben hatte, war ihr nie richtig klargeworden.

Als Linnea in die siebte Klasse kam, waren ihre Eltern der Meinung, es wäre eine gute Idee, sie in eine dänische Schule zu schicken. Also nahm der Vater eine Stelle beim dänischen Außenministerium an. Wenn sie genauer darüber nachdachte, war die Reihenfolge wahrscheinlich in Wirklichkeit umgekehrt. In jedem Fall war die Zeit in Dänemark schnell vorbei gewesen. Weder ihre Mutter noch der Vater hatten sich dort zurechtgefunden. Dem Vater wurde schnell bewusst, dass seine neue Anstellung eine karrieremäßige Sackgasse war. Die Mutter konnte sich nicht recht mit den bescheideneren Lebensverhältnissen im neuen Land abfinden, in dem sie weder einen Koch noch einen Chauffeur oder ein Dienstmädchen hatten. Bereits ein halbes Jahr später war der Vater wieder in Seoul, und Linnea und ihre Mutter folgten ihm, sobald das Schuljahr zu Ende war. Eigentlich war Linnea froh darüber, denn auch sie gewöhnte sich in dieser Zeit nicht richtig ein. Sie kam sich wie ein Paradiesvogel vor, und die anderen Kinder sagten ihr ständig, wie merkwürdig sie Dänisch spreche.

Erst als Linnea in die Oberstufe kam, beschlossen Linneas Eltern erneut, nach Dänemark zu ziehen. Diesmal schien es ihnen wirklich ernst. Sie kauften ein Haus und engagierten eine philippinische Hausangestellte. Linnea protestierte – natürlich erfolglos – mit jenem hartnäckigen Trotz, den nur ein Teenager aufbringen konnte, fing auf dem Øregaard-Gymnasium in Hellerup an und entdeckte zu ihrer großen Überraschung, dass es ihr gut gefiel. Aller Anfang war schwer, aber sie war ausnahmsweise nicht die Einzige, die neu anfing. Bereits nach einem halben Jahr hatte sie dort mehr Freundinnen als an jedem anderen Ort der Welt, an dem sie schon gelebt hatte.

Die neue Kontinuität hielt aber nur bis ein Jahr nach dem Gymnasium an. Sie war in der 13. Klasse von zu Hause ausgezogen und teilte sich nach dem Abitur eine Wohnung mit einer Freundin. Es wurde ein Jahr mit wilden Partys, wechselnden Männerbekanntschaften und einem festen Stammtisch im Jazz House. Doch kaum war sie zu ihrem eigenen Erstaunen in Stanford angenommen worden, hieß es, auf in die USA – ohne jegliche Intention, jemals wieder nach Dänemark zurückzukehren. Abgesehen von ihren fernen Jugendjahren, hatte Linnea also keine Verbindung zu Dänemark mehr. Sie konnte auch weder unter beruflichen noch unter privaten Gesichtspunkten erkennen, was sie hier eigentlich hielt. Und noch dazu befand sie sich jetzt seit eineinhalb Jahren in der Stadt und hatte sich immer noch nicht dazu aufgerafft, in irgendeiner Weise weiterzukommen. Oder wenigstens herauszufinden, was sie eigentlich wollte.

Mit einem Mal bemerkte Linnea, dass sie über eine halbe Stunde dagesessen und nur in die Luft gestarrt haben musste. Sie stand auf, um sich ein Café zu suchen und ein Sandwich zu essen, verharrte dann aber doch kurz vor der Statue des berühmten Philosophen, dessen Name ihrem so ähnlich war. Vermutlich hätte das zu vielen schlechten Witzen Anlass gegeben, hätte sich nicht der Großteil ihrer Karriere im Ausland abgespielt, wo niemand wusste, dass Kirkegaard auf Dänisch Friedhof bedeutete.

Sie holte entschlossen ihr Handy hervor, ging auf die eingegangenen Anrufe, scrollte nach unten und rief die Nummer an. Das Telefon klingelte lange, doch schließlich meldete sich Adam aus dem Asylcenter doch noch.

»Können Sie mir ein Foto von Khalid besorgen?«

»Haben Sie denn nicht gesagt, Sie wären in dieser Sache nicht zuständig? Ich habe das Foto bereits an die Polizei gemailt. An Bodilsen, so hieß der Mann meines Wissens.«

»Dann kann es doch höchstens ein paar Sekunden dauern, es auch an mich zu schicken?«

Er zögerte eine Weile.

»Haben Sie wirklich für das FBI gearbeitet?«, fragte er schließlich.

19

 

Als Jonas zum ersten Mal Kevin Loves Stimme hörte, überraschten ihn der vornehme Dialekt und der sanfte Tonfall des Engländers. Im Grunde wusste er nicht, was er sich vorgestellt hatte. Aber seine Vorstellung von einem mörderischen Gangster, der alle seine Gegner kaltmachte, passte nicht recht zu der angenehmen Stimme am Telefon. Andererseits kam man ohne einen gewissen Stil wahrscheinlich nicht so weit nach oben, dachte er, nachdem er aufgelegt hatte.

Er konnte sich noch gut an die Geschichten erinnern, die im Irak über ihn kursierten. Kevin Love war der allgegenwärtige Hintermann, mit dem man es sich nicht verscherzen durfte, wenn man etwas erreichen wollte. An ihm führte kein Weg vorbei, wenn man nicht an Bürokratie, Verzögerungen oder von Explosionen zerstörten Straßen scheitern wollte. Oder wenn man irgendetwas brauchte, was über die üblichen Feldrationen hinausging. Er hatte seine Finger überall dort im Spiel, wo Geld zu holen war. Und jetzt, wo Jonas es wusste, erschien es ihm ziemlich einleuchtend, dass sie die ganze Zeit mit ihm Geschäfte gemacht hatten und Firaz nur ein Mittelsmann gewesen war. Diese neue Erkenntnis machte ihren Plan aber nicht weniger beängstigend. Ganz im Gegenteil.

Jonas hatte mehrere Tage gebraucht, eher er sich getraut hatte, die Nummer anzurufen, die sie in Firaz’ Telefon gefunden hatten. Lex hatte taktisch klug gewartet und ihn nicht unter Druck gesetzt, Love zu kontaktieren. Obwohl sie es nie zugegeben hätte, wusste sie, dass sie eine Grenze überschritten hatte, das spürte er. Aber die Kettenreaktion war angestoßen worden. Und wenn das alles nicht umsonst gewesen sein sollte, musste er handeln, ehe Love selbst darauf kam, dass etwas nicht stimmte.

Drei Tage später war Jonas nach einer weiteren Nacht mit Alpträumen erwacht, seine täglichen fünf Kilometer gejoggt und hatte sofort zum Telefon gegriffen, als er aus der Dusche kam. Er rief von einer Prepaid Card aus an, die er sich eigens zu diesem Zweck angeschafft hatte. Es klickte ein paar Mal am anderen Ende, bis ein Freizeichen ertönte. Schon nach dem zweiten Klingeln meldete sich die Stimme.

»Wie kommen Sie an diese Nummer?«

Jonas räusperte sich und versuchte, mit fester Stimme zu reden.

»Spreche ich mit Kevin Love?«

Eine Weile lang blieb es am anderen Ende der Leitung still. Dann folgte ein tiefer Atemzug, der Ungeduld verriet.

»Ich habe wohl nicht deutlich genug gesagt, dass man unter dieser Nummer nicht anruft, ohne sich vorzustellen und sein Anliegen vorzutragen.«

Dann legte er auf. Jonas stand mit dem Telefon in der Hand da und fühlte sich wie ein Schuljunge. Er beeilte sich, die Wahlwiederholung zu drücken, und wieder war das zweifache Klicken zu hören. Diesmal ging Love schon nach dem ersten Klingeln dran.

»Ja?«

»Bitte verzeihen Sie. Jonas Holm Neergaard mein Name. Wir haben über Firaz zusammen Geschäfte getätigt. Einige Änderungen haben stattgefunden.«

Loves reservierter Tonfall stand in direktem Kontrast zu seiner behaglichen Stimme.

»Dänemark, aha. Ich höre. Und würde immer noch gern erfahren, woher Sie meine Nummer haben.«

Fast ohne Stottern erzählte Jonas die Geschichte, auf die er und Lex sich geeinigt hatten: Firaz habe nebenbei andere Geschäfte gemacht und sich dadurch Probleme mit einheimischen Gangstern eingehandelt. Die Sache sei eskaliert, weshalb er gezwungen gewesen sei, von einem auf den anderen Tag zu fliehen und weit weg von hier unterzutauchen. Vor ein paar Tagen sei er unangemeldet bei Jonas zu Hause aufgetaucht und habe ihn gebeten, die Zusammenarbeit mit Love zu übernehmen. Denn er sei ja bereits in die Sachlage involviert und habe die wichtigen Kontakte zu den Kunden.

Nachdem Jonas seine Erzählung beendet hatte, entstand eine längere Pause. Er konnte spüren, wie der Puls gegen seine Schläfen pochte. Dort auf dem Stuhl in der Garage hatte Firaz geschworen, er habe Love nichts von seinen Plänen gesagt, die Geschäfte ohne Jonas weiterzuführen. Aber wer konnte schon genau ahnen, welche Lügen er erzählt hatte, um sein Leben zu retten? Wenn Love etwas wusste, hatte Jonas soeben sein eigenes Todesurteil unterschrieben.

»Khalid hatte seine Gier noch nie richtig unter Kontrolle. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihn in die Bredouille bringt. Aber ich hätte gedacht, er würde mehr tun, um dieses lukrative Geschäft aufrechtzuerhalten.«

Es klang fast so, als würde Love mit sich selbst reden. Jonas hielt den Atem an und wartete, dass Love weitersprach.

»Du bekommst eine Chance, eine einzige Chance. Du sorgst dafür, dass die nächste Ladung sicher in Dänemark eintrifft. Ein bisschen Praxiserfahrung kann dir nicht schaden. Erledigst du diese Aufgabe erfolgreich, können wir anschließend über die Details verhandeln. Falls es etwas zu verhandeln gibt.«

Die zuschlagende Tür versetzte Jonas zurück in die Gegenwart. Er sah auf die Waffe in seinen Händen und danach auf seine Uhr. Drei Stunden hatte er hier im Schlafzimmer gesessen und seine alte Beretta gereinigt. Erschrocken legte er die Pistole weg und war plötzlich nicht mehr ganz sicher, welchen Gedanken er da nachgehangen hatte.

Er erinnerte sich wieder, dass er sich auf das Treffen vorbereiten wollte, dass er zum Handeln gezwungen war, sich in großer Gefahr befand und sich selbst schützen musste. Aber er hatte auch das furchteinflößende Gefühl, dass seine Gedanken immer wieder zu der Möglichkeit zurückwanderten, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Die Pistole für das Einzige zu nutzen, was diesen Wahnsinn stoppen konnte. Gegen einen Mann wie Kevin Love war er ohnehin machtlos. Und wenn es morgen nicht vorbei war, würde es immer so weitergehen – so lange, bis er tot war. Vielleicht sogar so lange, bis auch Lex tot war. Ihnen blieb keine andere Möglichkeit, als sich der Polizei zu stellen, alles zu enthüllen und um Schutz zu bitten. Er musste Lex dazu bringen, zu verstehen, dass alles andere Wahnsinn war.

Jetzt rief sie da draußen nach ihm, aber irgendetwas brachte ihn dazu, ihr nicht zu antworten. Als ob die Sekunden, die er damit gewann, ihr nicht in die Augen zu sehen, wertvoll waren.

Ihm fiel auf, dass seine linke Hand erneut die Pistole umklammerte. Lex öffnete die Tür zum Schlafzimmer.

»Hier versteckst du dich also. Ich habe im ganzen Haus nach dir gesucht.«

Jonas stellte verständnislos fest, dass sie beinahe glücklich aussah. Sie lebten wirklich in zwei verschiedenen Welten. Sie setzte sich neben ihn und küsste ihn auf die Wange. Mit einem Mal wurde ihm von ihrem süßlichen Parfum übel.

»Alles lief eigentlich total gut! Ich bin mir sicher, dass wir ihnen noch mehr verkaufen können. Kann sein, dass wir unser kleines zusätzliches Lager bald loswerden müssen.«

Er sah sie mit einem schwachen Lächeln an.

»Wie gut, dass du zufrieden bist.«

Aber an ihr prallte aller Sarkasmus ab. Sie machte ein aufgesetzt ernstes Gesicht und ergriff Jonas’ rechte Hand. Zu der Pistole, die noch immer schwer in seiner linken wog, sagte sie nichts.

»Ja, aber zunächst einmal geht es doch um ein Problem, das wir beide lösen müssen. Ich habe noch mal über unser Gespräch heute Morgen nachgedacht. Und ich glaube, du hast recht, dass Love dich aus dem Weg räumen will. Er hat bezüglich Firaz Verdacht geschöpft, und vielleicht auch wegen unseres kleinen Nebengeschäfts.«

Sie sah nachdenklich in die Luft.

»Obwohl ich einfach nicht verstehe, wie er uns auf die Schliche gekommen sein könnte. Aber er scheint auf jeden Fall ein Mann zu sein, der alle Spuren gründlich beseitigt. Er ist eine Gefahr für dich, Jonas. Du musst etwas unternehmen.«

Jonas spürte die Hoffnung in sich wachsen. Also hatten sie doch eine Wellenlänge, wenn es ernst wurde. Lex war also keine eiskalte Verbrecherin, und er war es auch nicht. Eine ausweglose Lage, für die sie selbst nichts konnten, hatte sie dazu gebracht, unüberlegt zu handeln. Aber noch waren sie nicht so abgestumpft, noch konnten sie das Ganze aufhalten und zu ihren Handlungen stehen. Und dafür war jetzt der Zeitpunkt gekommen. Solange sie noch am Leben waren.

»Du hast recht, Lex«, sagte er leise und drückte ihre Hand. »Wir müssen etwas unternehmen.«

Sie sah ihm in die Augen.

»Gut, dann sind wir uns ja einig. Und Jonas – es ist schön zu sehen, dass du unseren Plan durchführen willst.«

Sie machte eine vielsagende Kopfbewegung in Richtung Pistole.

»Wir sind schon zu weit gegangen, als dass wir jetzt noch aufgeben könnten.«

Sie küsste ihn energisch auf den Mund und stand auf.

»Und ich muss dir einfach sagen, wie sexy du mit einer Pistole in der Hand aussiehst, Schatz.«

Sie sah ihn mit einem merkwürdigen Lächeln an, ehe sie das Zimmer verließ. Es lag eine Zärtlichkeit darin, die er lange nicht an ihr gesehen hatte. Plötzlich merkte er, wie sehr er fror, und ließ sich auf das ordentlich gemachte Bett zurückfallen. Er war so unglaublich müde. Aus der Küche hörte er, wie Lex eine Flasche Wein öffnete und dann zwei Gläser einschenkte. Er lag da und hielt den Atem an, genau wie er es als Kind immer getan hatte. Wenn er nur bis hundert zählte, ohne Luft zu holen, würde sie mit einem Glas hereinkommen und ihn ansehen, ihn richtig wahrnehmen, und verstehen …

Dann hörte er die Kellertür. Er atmete aus, war nicht einmal bis fünfzig gekommen. Er wünschte, sie wäre nicht nach unten gegangen. Nicht jetzt, da alles direkt vor seinen Augen zusammenbrach. Da Firaz’ Leiche irgendwo bei der Polizei lag und wahrscheinlich längst identifiziert worden war. Und Kevin Love sicherlich bereits Pläne schmiedete, wie er seine amateurhaften und gierigen dänischen Handlanger am besten loswurde.

Und nicht zuletzt jetzt, da das schreckgeweitete Gesicht des Dolmetschers Jonas heimsuchte, ganz gleich, wo er war und was er gerade tat.