6

 

Wir deuten die stumme Sprache des Skeletts«, hatte Linneas Professor in Stanford immer gesagt. »Die Leute fragen oft, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Leiche, die lange in der Erde lag, zu obduzieren und zu untersuchen. Aber es ist nie zu spät. Ganz gleich, wie verwest der Tote auch sein mag – es ist nie ganz unmöglich, eine Todesursache oder Todesart zu bestimmen. Natürlich wird es immer schwieriger, je mehr Zeit vergeht. Doch selbst wenn nur noch das Skelett übrig ist, lassen sich Spuren finden. Und nicht gerade selten sogar die wichtigsten Spuren überhaupt – denn ein Skelett lügt nie!«

Mit diesen Worten hatte er seine erste Vorlesung der Osteologie, der Lehre von den menschlichen Knochen, eingeleitet. Und später hatte er sie zu Beginn jeder einzelnen Sitzung wiederholt, bei der sie sich trafen, um Knochen zu identifizieren und zuzuordnen. Das wäre Linneas wegen gar nicht nötig gewesen, denn sie hatte seine Worte gleich beim ersten Mal wie ein Mantra verinnerlicht, so übertrieben sie auch klingen mochten. Derselbe Professor schockierte immer wieder damit, dass er an den Knochen zu lecken pflegte, die er untersuchte. Während die Nichteingeweihten blass wurden und es für einen morbiden Scherz hielten, wussten seine Studenten, dass er in Wirklichkeit einen guten Grund dafür hatte. Denn wenn man einen Leichenfund machte, war es mitunter schwer, zwischen Knochenresten und Steinchen oder anderem organischen Material zu unterscheiden, das nichts mit dem Skelett zu tun hatte. Knochen besaßen jedoch eine poröse Oberfläche, die man unmittelbar erkannte, wenn man sie mit der Zunge berührte – denn der Knochen saugte sich sofort an ihr fest.

Linnea musste bei dieser Erinnerung lächeln. Sie stellte ihren Latte Macchiato auf dem Tisch ab, um mit der Arbeit fortzufahren. Dann besann sie sich eines Besseren, nahm einen weiteren Schluck und platzierte den Becher stattdessen neben einem Waschbecken. Nachdem aus ihrer Eilanstellung am Rechtsmedizinischen Institut eine etwas längere Schwangerschaftsvertretung geworden war, hatte Linnea versucht, sich an den Kaffee zu gewöhnen, den die übrigen Angestellten hier auch tranken: entweder jenen Thermoskannenkaffee, den die Sekretärinnen in regelmäßigen Abständen in den Konferenzraum stellten, oder den Automatenkaffee aus dem Keller neben dem Leichenschauhaus. Obwohl die Qualität variieren konnte, fand Linnea beide Sorten einfach ungenießbar. Und so hatte sie sich schließlich mit Simone, der einzigen jungen Sekretärin am Institut, zusammengetan, um einen guten Kaffee zum Mitnehmen zu finden. Die Gegend um das Panum Institut und das Rigshospital war allerdings ein merkwürdiges Niemandsland zwischen dem Szene-Teil von Nørrebro und dem mondänen Østerbro. Am Ende hatten sie sich darauf geeinigt, auf dem Weg zur Arbeit abwechselnd in einem kleinen Café in der Elmegade Kaffee zu holen. Zumindest an einem Tag wie diesem, an dem sie dringend eine Aufmunterung gebrauchen konnte.

Sie kehrte zum Obduktionstisch zurück und betrachtete erneut die leeren Augenhöhlen des Skeletts, das vor ihr lag und sie angrinste. Sie befand sich im osteologischen Labor, das auf dem langen Gang der Abteilung für Forensische Anthropologie am Panum Institut lag. Ein Großteil ihrer Arbeit fand zurzeit allerdings auf der gegenüberliegenden Seite des Tagensvej statt, am Rechtsmedizinischen Institut des Rigshospitals. Sie hoffte sehr, dass sie ihre Vertretungsstelle dort bald gegen eine feste Anstellung im Labor für Forensische Anthropologie eintauschen konnte. Denn hier – umgeben von grinsenden Schädeln und Pappkartons mit nicht identifizierten Knochenresten – fühlte sie sich wie zu Hause.

Sie hatte das Skelett vom Lammefjord in eine natürliche Position gebracht, nachdem sie es von pflanzlichen Resten und den letzten Hautpartikeln befreit hatte. Alle Knochenteile vom Fundort lagen nun anatomisch korrekt angeordnet, mit dem Schädel als Krönung. In Anbetracht dessen, wie ihr heute Morgen beim Aufwachen zumute gewesen war, war sie mit einer verblüffenden Energie an die Arbeit gegangen. Ausnahmsweise hatte es die ganze Nacht und auch am Vormittag geregnet. Das hatte die Temperatur ein wenig gesenkt, und das Wetter war immer noch grau. Während die meisten Menschen über den plötzlichen Wetterumschwung murrten, passte er Linnea ziemlich gut. Nach dem gestrigen Tag war sie noch immer schlecht gelaunt. Der bloße Gedanke daran, auf dem Weg zur Arbeit glücklichen Menschen zu begegnen, die um die Seen oder zum Fælledpark schlenderten, hatte sie fast zur Verzweiflung gebracht.

»Wer rasselt denn da drinnen mit den Knochen?«, hörte sie plötzlich eine Stimme sagen.

»Ach, das ist diese Vertretung, Kirkegaard.«

Erst jetzt begriff sie, dass die Tür zum Labor noch immer offenstand. Den Stimmen nach zu urteilen, unterhielt sich draußen auf dem Gang gerade einer der Doktoranden mit einem der forensischen Anthropologen. Sie hörte die Clogs der Männer über den Boden klappern und hoffte, dass sie nicht auch noch den Kopf zur Tür hereinstecken würden, denn sie hatte für heute schon genug angestrengt gelächelt.

»Wäre die nicht was für dich?«, hörte sie den Doktoranden fragen.

»Wie kommst du denn darauf? Na ja … hübsch ist sie natürlich schon.«

»Ach, du kennst die Gerüchte noch gar nicht? Sie soll total auf alte Männer stehen. Und zwar richtig alte!«

Jetzt lachten sie, und Linnea wandte sich verärgert wieder dem Tisch zu. Sie hörte nun bereits zum vierten Mal an diesem Morgen eine Variante des immer gleichen Witzes. Und natürlich war ihr klar, dass sie sich über die gestrige Ausgrabung am Lammefjord lustig machten, die sich anscheinend bereits herumgesprochen hatte. Beim ersten Mal hatte sie noch zu erklären versucht, dass sie keineswegs behauptet habe, die Leiche vom Lammefjord sei mehrere Tausend Jahre alt. Sie hatte lediglich darauf hingewiesen, dass das Skelett seinem Zustand nach zu urteilen bedeutend älter sei als der seit einem Monat vermisste Drogenabhängige, den nun alle gefunden zu haben glaubten. Und dass sie überdies einen Gegenstand entdeckt habe, der ihrer Überzeugung nach eine wertvolle Antiquität war.

Aber die Witzbolde hatten ihre Erklärung natürlich geflissentlich überhört und weiter ihre Witze gerissen, über die sie allmählich nicht mehr lachen konnte. Vielleicht hatte sie einfach zu lange außerhalb Dänemarks gelebt, um diese Art von Humor zu verstehen. Er erforderte zumindest eine gewisse Eingewöhnungsphase. Möglicherweise waren einige ihrer fröhlichen Kollegen aber auch einfach nur Nervensägen, und bevor ihr niemand das Gegenteil bewiesen hatte, tendierte sie eher zu dieser Annahme.

7

 

Linnea beugte sich wieder über den Tisch und vertiefte sich in ihre Arbeit. Viel gab es in diesem Fall nicht zu beachten. Sie musste lediglich die Standardprozedur für eine forensisch-anthropologische Untersuchung durchführen. Sie untersuchte Alter, Geschlecht, Körperbau sowie die ethnische Zugehörigkeit der Leiche. Zusätzlich analysierte sie die Resultate der Röntgenuntersuchung, mittels derer man in manchen Fällen leichter auf wichtige Verletzungen und Traumata stieß.

Zu den ersten Dingen, die man im Studium lernte, gehörte die Analyse der Knochen, die im Laufe eines Lebens alters- und geschlechtsspezifische Veränderungen durchliefen. Das Geschlecht ließ sich anhand des Beckenrings und des Schädels erkennen. Das Alter konnte man bestimmen, indem man die Knochenverbindung des Schambeins und die Verbindung der Gelenkköpfe mit den langen Röhrenknochen untersuchte. Die ethnische Zugehörigkeit zu ermitteln erforderte dagegen eine Beurteilung der Morphologie aller Knochen, insbesondere des Schädels. In dem vorliegenden Fall bestand kein Zweifel daran, dass der Tote männlich war und vermutlich aus dem Nahen Osten stammte. Nachdem sie ihre Ergebnisse mit den Schemata und Berechnungsformeln auf dem Computer abgeglichen hatte, gab Linnea auch die anzunehmende Größe, das Alter, den Körperbau und die übrigen Merkmale ein. Obwohl das Skelett nach der langen Zeit in der Erde ziemlich mitgenommen war, war das alles relativ unkompliziert – jedenfalls verglichen mit dem, was sie in der Vergangenheit erlebt hatte.

In Ruanda war sie bei der Öffnung von Massengräbern dabei gewesen, in denen mitunter Hunderte von Leichen dicht an dicht in einem Grab gelegen hatten; in der Regel Frauen und Kinder, die man mit stumpfen Waffen erschlagen hatte. Im zweiten Jahr ihres Studiums hatte sie sich nach Aufforderung ihres Professors für die Expertenteams beworben, die im Auftrag des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda entsandt wurden. Das war einige Jahre nach dem Völkermord. Sie wurde gemeinsam mit einer Gruppe von Rechtsmedizinern, forensischen Anthropologen und Odontologen dorthin geschickt, um die Opfer der Kriegsverbrechen zu finden, ihre sterblichen Überreste zu identifizieren, falls es möglich war, in jedem Fall aber die Todesursachen beziehungsweise Tötungsmethoden festzustellen. Es war das erste Mal gewesen, dass sie die Forensische Anthropologie in der Praxis erlebte – ein Sprung ins kalte Wasser. Die Toten schienen allgegenwärtig zu sein, sogar in der Luft, die Linnea und ihre Kollegen umgab. Jeden Morgen suchten sie sich einen Ort im Freien zum Frühstücken. Sie gewöhnte sich schnell an, vor dem Essen ihren Schutzanzug abzustreifen, damit kein verwestes Gewebe in die Lebensmittel gelangte. Dem Leichengestank entkam man allerdings nicht. Er hing sogar in ihrer Unterwäsche und ließ sich nicht wieder auswaschen, wenn sie neun Stunden lang immer tiefer in den Bergen gegraben hatten – in einem Land, von dem es hieß, es gäbe dort nicht einen Hügel, unter dem sich keine Leiche verbarg.

Aber es hatte tatsächlich einen tieferen Sinn gehabt, einen solch extremen Einsatz mitzuerleben, der sie bei ihrer Arbeit bis heute verfolgte. Sie hatte das Gefühl, als könne sie sogar den Opfern der grausamsten Verbrechen einen kleinen Teil ihrer Würde wiedergeben, wenn sie die einzelnen Knochen ausgrub und in einer anatomisch korrekten Position vor sich ordnete.

Es war nicht immer sicher, ob sie ihnen zu einer Identität verhelfen konnte, aber sie konnte ihnen immerhin ein wenig Menschlichkeit zurückgeben.

*

Das Handy klingelte. Jonas legte die Hanteln beiseite und setzte sich auf. Der Schweiß lief ihm von der Stirn. Er wusste nicht, wie lange er schon trainiert hatte, doch das Brennen in seinen Muskeln deutete darauf hin, dass er die übliche Trainingsstunde bereits lange überschritten hatte.

»Jonas, bist du da?«

Lex hatte ihre ungeduldige Stimme aufgesetzt. Er richtete sich ganz auf und wischte sich den Schweiß ab. Dann riss er sich zusammen.

»Entschuldige, ich hatte vergessen, dass das Headset noch eingestöpselt war.«

»Wie ist die Übergabe gelaufen? Bist du wieder zu Hause?«

»Alles im Griff. Wir sehen uns gleich, ja?«, log er mit klopfendem Herzen.

Er wollte gleich wieder auflegen, hatte gehofft, sie abwimmeln und aufhalten zu können, bevor sie alles wieder zerstörte – doch sie war einfach zu schnell.

»Hast du die Schlagzeilen gesehen?«

Da war es schon. Er merkte, wie sich der alte Schweiß mit neuem mischte. Hastig sah er sich im Fitness-Studio um, aber er war allein.

»Was meinst du?«

Er versuchte, seine Stimme ganz natürlich klingen zu lassen. Unbekümmert.

»Sie haben eine Leiche im Lammefjord gefunden.«

»Meinst du, das ist er?«

Seine Frage kam etwas zu schnell, und sie seufzte. Er konnte hören, wie sie mit sich kämpfen musste, um ihren pädagogischen Tonfall beizubehalten.

»Natürlich ist er es, Jonas.«

Nach dem Telefonat saß Jonas eine Weile da und versuchte, ruhig zu atmen und einige der Entspannungsübungen zu machen, die er gelernt hatte. Jonas bemühte sich, innerlich das Mantra des Psychologen herunterzubeten: Du bist zu Hause in Dänemark. Du bist in Sicherheit. Niemand will dir etwas Böses.

Das half ein wenig, zumindest um die schlimmste Panik in den Griff zu bekommen. Seit er heute Morgen im Autoradio die ersten Nachrichten gehört hatte, plagten ihn die vielen Gesichter Firaz’ erneut. Erst sah er den selbstsicheren, höhnisch grinsenden Dolmetscher in Militäruniform vor sich, dann den etwas zu gut gekleideten Asylbewerber mit seinem florierenden Geschäft, der Jonas’ Ehrgeiz und Enttäuschung gezielt instrumentalisiert hatte, und zuletzt … zuletzt sah er stets die Angst in dem sonst so emotionslosen Gesicht.

Jonas war gerade mit einer neuen Lieferung zu Hause in Virum losgefahren, als er die Nachrichten gehört hatte. Er war von einer fast manischen Panik ergriffen worden, hatte die Abfahrt nach Herlev verpasst und war stattdessen weiter nach Süden gefahren. Zunächst planlos, doch als er bemerkte, dass er aus reiner Routine in Richtung Faxe Ladeplads abgebogen war, erinnerte er sich an den alten Brunnen auf ihrem Sommerhausgrundstück. Er konnte jetzt auf keinen Fall so weitermachen wie geplant. Die Ware in Herlev abzuliefern war unmöglich. Vielleicht waren sie ihm sogar schon auf der Spur. Dies war ein Ausnahmezustand, und das einzig Sinnvolle schien ihm, die Ware an einem Ort zu verstecken, wo man sie niemals finden würde. Nach einer halben Stunde hatte er alle Spuren im Wagen beseitigt, und die körperliche Anstrengung und das Gefühl zu handeln beruhigten ihn ein wenig. Anschließend fuhr er nach Norden zurück, erleichtert, aber zugleich von einer nervösen Energie erfasst, die er nur durch einen Besuch im Fitness-Studio loswerden würde.

Plötzlich fiel ihm ein, dass er genau das damals auch über Firaz gedacht hatte: dass man ihn nie finden würde. Und jetzt war der Dolmetscher zurückgekehrt, um Jonas’ Leben ein weiteres Mal in eine Hölle zu verwandeln. Allein der Gedanke daran reichte aus, um Firaz’ kaltes Lächeln und die Hand mit dem Victory-Zeichen wieder vor seinem inneren Auge auftauchen zu lassen. Er sah sich um, vergewisserte sich, dass niemand – inzwischen war er nicht mehr der Einzige im Studio – seine Unruhe bemerkt hatte. Dann machte er mit den Sit-ups weiter. Die körperliche Erschöpfung half ihm, wenigstens für einen Moment Ruhe und Frieden zu finden.

8

 

Linnea hatte noch fast eine Stunde gebraucht, um die letzten Untersuchungen am Skelett abzuschließen. Während der Arbeit hatte sie die Ergebnisse auf ein Diktiergerät gesprochen, um sie von einer Sekretärin abtippen zu lassen, so dass sie der Polizei bereits am Abend den vorläufigen Untersuchungsbericht mailen konnte.

Sie bekam mit, wie die Tür zum Labor erneut geöffnet wurde.

»Haben Sie schon einen Todeszeitpunkt für uns?«

Vizepolizeikommissar Richard Bodilsen kam direkt auf sie zumarschiert. Eine der Sekretärinnen musste ihm erzählt haben, wo er Linnea finden konnte. Er blieb etwas zu nahe vor ihr stehen, so dass sie seinen säuerlichen Schweiß riechen musste.

»Oder lassen Sie mich raten«, fuhr er fort, »fünftausend Jahre minus ein paar Stunden?«

Er stieß ein kurzes, heiseres Lachen aus, das schließlich in ein ebenso kurzes, aber noch heisereres Husten überging.

»Ihr Humor ist nicht gerade originell. Und wenn ich mir Ihren Husten so anhöre – Sie sollten endlich das Rauchen lassen. Dafür ist es nie zu spät, wissen Sie.«

Er glotzte sie einen Moment lang an, ging dann aber nicht weiter auf ihre Bemerkung ein und schlenderte zum Obduktionstisch hinüber. Er beugte sich über das Skelett und streckte die Finger aus, als wolle er die Knochen berühren, zog sie dann aber wieder zurück. Sie nutzte die Gelegenheit, sich noch weiter von ihm zu entfernen, und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen.

»Oder ist die Untersuchung etwa noch nicht abgeschlossen? Wir erwarten keine wissenschaftliche Abhandlung, nur dass Sie es wissen.«

Linnea hatte ihm den Rücken zugewandt und drehte sich blitzschnell um. Am liebsten hätte sie ihn angezischt und gefragt, ob er Angst vor Frauen mit einer höheren Ausbildung als er selbst habe. Aber dann fiel ihr auf, dass er ihr zu keinem Zeitpunkt direkt in die Augen gesehen hatte. In Wirklichkeit schien er eher eingeschüchtert von ihr zu sein. Also trocknete sie sich die Hände ab und sagte nur: »Mit der Identität des Opfers kann ich noch nicht dienen. Die Zähne sind gerade zur Analyse im Institut für Forensische Odontologie. Vielleicht können die Ihnen weiterhelfen, sobald sie eine Zahnkarte erstellt haben. Kann ja sein, dass sie mit einer vermissten Person übereinstimmt. Aber ich kann Ihnen jetzt schon berichten, dass es sich um einen Mann handelt, der ungefähr eins achtzig groß war, relativ kräftig gebaut, Mitte bis Ende dreißig und aus dem Nahen Osten stammte. Ich würde behaupten, dass diese Zähne nie eine klassische dänische Schulzahnpflege gesehen haben.«

Diesmal verkniff Bodilsen sich seine dummen Kommentare. Linnea ging erneut zu dem Skelett und zeigte auf den Schädel, den Bodilsen kurz zuvor nicht zu berühren gewagt hatte. Sie nahm ihn hoch, drehte ihn halb und hielt ihn Bodilsen näher hin, als ihm sichtlich lieb war.

»Hier haben Sie natürlich ein einleuchtendes Indiz. Möglicherweise sieht dieser Riss aus wie eine zufällige Beschädigung, die durch die lange Zeit im Waldboden entstanden ist. In Wirklichkeit aber handelt es sich um ein Einschussloch. Er wurde aus nächster Nähe erschossen. Direkt über dem linken Ohr. Über das Kaliber kann ich noch nichts sagen. Möglicherweise finden die Männer von der Spurensicherung ja etwas, wenn sie den Fundort durchsuchen. Die Schussrichtung und alles Weitere können Sie dann in meinem Bericht nachlesen.«

Linnea sah ihm direkt in die Augen.

»Wenn Sie mich fragen, wirkt das wie eine eiskalte Hinrichtung.«

Linnea legte den Schädel wieder auf den Tisch zurück. Dann fuhr sie mit ihrem Bericht fort.

»Eigentlich ist der Rest des Skeletts sogar noch interessanter. Oder zumindest geheimnisvoller. Ich habe Brüche am rechten Wangenknochen und Oberkiefer festgestellt, des Weiteren am linken Ellbogen und an der Speiche, am Wadenbeinknochen und an zahlreichen Rippen auf beiden Seiten. Alles infolge von stumpfer Gewalt.«

»Um den Todeszeitpunkt herum?«

»Das will ich meinen. Möglicherweise hätte das allein schon als Todesursache gereicht – aber man hat ihm ja auch noch in den Kopf geschossen. Andererseits sind die Verletzungen so unregelmäßig verteilt und das Muster ist so unklar, dass es auch andere Erklärungen als bloße Gewalteinwirkung dafür geben könnte. Zuerst dachte ich an Folter. Das würde ja gut dazu passen, da wir es hier wahrscheinlich nicht mit einem Dänen zu tun haben. Vielleicht wurde er in seiner Heimat gefoltert und ist daraufhin nach Dänemark geflüchtet, wo ihn dann allerdings auch ein brutales Ende erwartete. Das wäre zwar ein naheliegender Gedanke, aber normalerweise kann man die Anzeichen einer beginnenden Heilung von Knochenbrüchen ziemlich schnell erkennen. Ich neige deshalb mehr zu der Annahme, dass die verschiedenen Brüche und Verletzungen kurz vor dem Einsetzen des Todes zugefügt wurden, und dann verhält sich die Sache anders.«

»Sie meinen, er wurde hier in Dänemark gefoltert?«

»Sieht ganz danach aus.«

Bodilsen schniefte kurz und wandte sich von dem Stahltisch ab, als wollte er wieder gehen.

»Sorgen Sie einfach dafür, alle Spekulationen aus Ihrem Bericht herauszuhalten. Denken Sie daran, dass ich der leitende Ermittler bin und unqualifizierte Mutmaßungen in alle Richtungen nicht Teil Ihrer Arbeit sind. Aber wenn wir es hier wirklich mit einem Flüchtling zu tun haben, endet die Sache hoffentlich sowieso an dieser Stelle. Davon verschwinden ja jedes Jahr Hunderte, ohne dass zwangsläufig ein Verbrechen zugrunde liegt.«

Linnea presste die Lippen zusammen.

»Und was hat es mit der Tontafel auf sich, die ich neben der Leiche gefunden habe?«

Jetzt glotzte er sie ausgesprochen dümmlich und verständnislos an.

»Diese kleine Antiquität, über die sich gewisse Personen hier so amüsieren konnten«, erklärte sie entnervt. »Ich weiß nicht, was ein Experte dazu sagen würde. Aber ich würde darauf tippen, dass sie aus dem Nahen Osten stammt. Sie liegt noch in meinem Büro.«

»An diesem Ort gab es doch haufenweise Gerümpel, das muss ja nichts mit dem Toten zu tun haben. Natürlich schicke ich jemanden, um die Tontafel abzuholen. Ich würde es allerdings mehr zu schätzen wissen, wenn Sie mir erzählen könnten, wie lange dieser Mensch in der Erde gelegen hat?«

Linnea holte tief Luft und grinste in sich hinein.

»Mit dem größten Vergnügen. Zum Glück hilft uns die Natur dabei, das Alter zu bestimmen. Eine Vielzahl von Bakterien, Insekten und Pflanzen beteiligen sich an der Zersetzung einer Leiche, die in der Erde lagert, und hinterlassen diese vollkommen skelettiert. Die Fliegen und ihre Larven sind von Anfang an da, und schon im Laufe des ersten Jahres stürzen sich auch die Speck- und Pelzkäfer und die Käsefliegen auf den Toten. Am faszinierendsten ist jedoch der Buntkäfer. Seine Larven schlüpfen über der Erdoberfläche und können sich anschließend sogar bis zu einer relativ tief vergrabenen Leiche in die Erde hineinbohren. Von dort aus kehren sie schließlich als vollentwickelte Insekten an die Oberfläche zurück. Später kommen auch noch die Buckelfliegen, Raubmilben und viele andere Besucher hinzu. Die letzten Gäste der Leiche leben von Exkrementen und anderen Abfällen, die ihre Vorgänger hinterlassen haben, ehe sie wiederum selbst dem Schimmelpilz zum Opfer fallen. Bei der Altersbestimmung geht es also nur darum, all diese Zeichen der Natur richtig zu deuten. In unserem Fall würde ich annehmen, dass der Tote sich etwa eineinhalb bis zwei Jahre in der Erde befunden hat. Sobald die Ergebnisse meiner Analyse vorliegen, kann ich diese Angaben präzisieren.«

Linnea hatte Bodilsen trotzig und nicht ohne Genugtuung fixiert, während sie ihren Vortrag heruntergeleiert hatte. Er hatte seine Antwort erhalten, allerdings mit einer kleinen Zugabe. Und sie hätte schwören können, dass der erfahrene Kommissar, der auf einmal keine weiteren Spitzfindigkeiten von sich gab und plötzlich zu einer dringenden Sitzung musste, ein wenig bleich ausgesehen hatte, als er fluchtartig das Labor verließ. Die rechtsmedizinische Entomologie gehörte eigentlich nicht zu ihren Spezialgebieten, aber mit einem Mal hatte sie einen unwiderruflichen Drang verspürt, ihn mit einem kleinen Vortrag über die faszinierende Welt der Kleinstlebewesen zu beglücken.

Sie lächelte vor sich hin. Eigentlich sollte ich mich schämen, dachte sie.

*

Jonas wusste jetzt, dass ihn das Bild von Firaz auch weiterhin verfolgen würde. So lange, bis er endgültig zusammenbrach oder in irgendeiner Weise die Strafe erhielt, die er verdiente. Er würde ein ernstes Gespräch mit Lex führen müssen, auch wenn sie dann enttäuscht von ihm wäre. Doch er hielt es einfach nicht länger aus. Sie hätten sich nie auf diese Sache einlassen sollen, aber vielleicht war Lex ja nur viel stärker als er. Manchmal blieb ihm noch immer der Atem weg, wenn er daran dachte, dass sie sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte. Und er würde es wohl nie richtig verstehen.

Denn Lex war so offensichtlich von einem anderen Format als er, der er stark von seiner Kindheit in einer einfachen Dreizimmerwohnung auf dem Kronens Kvater geprägt worden war. Im Herzen von Albertslund, wie sein Vater auch noch immer stolz betonen musste. Seine Familie sah er nicht mehr besonders häufig. Die beiden älteren Geschwister hatten sich ebenfalls in Albertslund niedergelassen, wenngleich sie in der gesellschaftlichen Hierarchie ein wenig aufgestiegen waren: Seine Schwester wohnte mittlerweile in einem kleinen Reihenhaus, und sein Bruder und dessen Friseurgattin hatten es sogar zu einem Fertighaus am Rande des Viertels gebracht. Doch wenn Jonas sie besuchte, dachte er immer noch, dass man ihn als Kind vertauscht haben musste; ein Gefühl, das ihn schon seit der ersten Klasse verfolgte. Und genau dieses Gefühl hatte ihn auch dazu gedrängt, die Familie bei der ersten Gelegenheit zu verlassen. Seine Eltern waren gutmütig und liebenswürdig, hatten aber nie verstanden, was in ihm vorging. Zum Glück, denn es hätte seinem Vater sicher das Herz gebrochen, wenn er gewusst hätte, wie sehr Jonas seinen polternden Fahrlehrerjargon verachtete.

Jonas war ein aufgeweckter Junge gewesen, viel schlauer als der Durchschnitt auf der Brøndagerschule. Doch er lernte schon früh, dass Intelligenz etwas war, das man besser nicht an die große Glocke hängte. Und als er bereits eine Woche nach Schulbeginn mit einer blutigen Nase und einem in Schulmilch getränkten Ranzen nach Hause kam, zeigte ihm die Reaktion seiner Mutter, dass er auf diesem Gebiet nicht mit dem Verständnis der Eltern rechnen konnte. Er hatte noch genau vor Augen, wie er in dem dunkelbraunen Wohnzimmer in einem Korbstuhl gesessen und schluchzend berichtet hatte, dass er doch nur geantwortet habe, als die Klassenlehrerin zuerst gefragt hatte, wie viele Länder mit A sie kannten, und dann mit B. Aber als sie bei C angekommen waren, hatte sie seinen ungeduldigen Zeigefinger ignoriert und stattdessen die anderen in der Klasse gefragt. Nach der Schule hatten einige der Jungs auf ihn gewartet und ihn in eine Rumpelkammer gezerrt. Seine Mutter, die jeden Morgen ab vier Uhr im Krankenhaus putzte und anschließend nach Hause hastete, um dort weiter zu putzen, hatte ihm über die Wange gestrichen, ihn verwundert angeschaut und ihm ein Stück Lebensweisheit anvertraut, das ihn über viele Jahre hinweg begleitet hatte: »Aber Jonas, Kind, was nützt es denn, sich vor den anderen so mit seinem Wissen aufzuspielen? Natürlich macht man sich damit unbeliebt.«

Er hatte gespürt, wie die Tränen erneut in ihm aufstiegen, und plötzlich begriffen, dass er eins der wichtigsten Gesetze der Welt überschritten und sich damit nicht nur Probleme in der Schule eingehandelt, sondern sich auch noch als grundlegend anders als der Rest seiner Familie entpuppt hatte. Jonas hatte sich wieder aufgerichtet, die Nase hochgezogen und gesagt: »Bitte sag Papa nichts davon!«

Das restliche Schuljahr hatte er alles darangesetzt, die Klassenkameraden dazu zu bringen, seine anfänglichen Ausrutscher zu vergessen. Und auch zu Hause hatte er sich bemüht, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Mit der Zeit gelang es ihm, einen guten Mittelweg zu finden, wie man in der Schule leicht über die Runden kam, ohne sich zu sehr von den anderen abzuheben. Glücklicherweise war er immer gut in Sport gewesen und konnte in den Pausen und nach der Schule auf dem Fußballplatz punkten. Als sich später herausstellte, dass die Mädchen obendrein verrückt nach seinen blauen Augen waren, hätte er der König der Kommunalschule werden können. Stattdessen war er wegen seiner zurückhaltenden und freundlichen Art beliebt, und die Eltern waren mit ihrem Nesthäkchen zufrieden und ließen ihn in Ruhe.

Sie ahnten nicht, dass er all seine Zeit darauf verwendete, von ihnen wegzukommen. Kaum war er alt genug, teilte er Zeitungen aus, später half er regelmäßig an der Tankstelle aus. Schon in der zehnten Klasse nutzte er seine gesamte Freizeit für Nebenjobs. Als Jonas dann aufs Gymnasium kam, hatte er genug Geld gespart, um problemlos allein über die Runden zu kommen, und zog in eins der Jugendzimmer gegenüber der Schule. Das war der erste Schritt in ein neues Leben. Seine Träume waren nie besonders konkret gewesen. Er hatte lediglich schon immer gewusst, dass er etwas anderes – und mehr – erreichen wollte als seine Eltern; dass er nicht für dasselbe Dasein geschaffen war wie sie.

Er hatte nie genug Phantasie besessen, um sich auszumalen, welche Form dieses andere Leben konkret haben sollte. Nicht, ehe er Lex traf.